»Mut und Demut«
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Kein Mut ohne Demut
Meine Frau hat an den Kühlschrank auf kleinen Magnetstreifen lauter Wörter angepinnt, die früher einmal zur Alltagssprache gehörten und inzwischen vom Aussterben bedroht sind. Sie will diesen Prozess des Verschwindens von Worten, die sie schön findet, so für sich selbst gewissermaßen aufhalten. »Blümerant« steht da, und »Lichtspielhaus«. »Sommerfrische« und »liebreizend«. »Kaltmamsell«, I-Männchen« und »Backfisch«. Auch »Aura« hängt am Kühlschrank – zuletzt »Jugendwort des Jahres« 2024!
Eine mehr als erstaunliche Wahl, kommt »Aura« doch aus dem bürgerlichen Bildungsjargon – also eigentlich zum Aussterben bestimmt. So kann man sich täuschen. Dasselbe gilt für das Wort »Demut«. Es ist noch nicht so lange her, da war dieses schöne alte Wort – außerhalb christlicher Milieus – für viele ein Fremdwort geworden. Es war da allenfalls noch eine ferne Erinnerung, eine Art geistiges Echo, das im säkularen wie kirchlichen Bereich meist negativ besetzt war.
Als ich vor 35 Jahren Vikar war, wurde in meiner Landeskirche das Bußgebet noch mit der agendarischen Wendung eingeleitet »Demütiget euch mit mir vor dem Herrn, lasst uns beten!« Irgendwann sagte mir eine Frau nach dem Gottesdienst, sie empfände es als schrecklich, vom Pfarrer aufgefordert zu werden, sich so klein zu machen. Das hat mich damals getroffen. Ich gebrauchte dann diese Wendung nicht mehr, irgendwann war sie auch aus der Gottesdienstagende verschwunden.
Demut wurde damals oft mit Servilität und heuchlerischer Unterordnung gleichgesetzt. Wenn das Wort noch im allgemeinen Sprachgebrauch auftauchte, dann in seiner negativen Bedeutung – im Sinn von »demütigen«. Überraschenderweise hat sich das total verändert. »Demut« ist nicht nur ein selbstverständlicher Teil unseres Wortschatzes geworden, das Wort hat längst geradezu Hochkonjunktur. Zahlreiche Publikationen belegen das.
Schon 2009 forderte Papst Benedikt in seiner Sozialenzyklika »Caritas in Veritate« mehr Demut in der Wirtschaft. Ebenso tun es Bundespräsidenten in Weihnachtsansprachen. US-Präsidenten (Donald Trump ausgenommen) betonten in ihren Reden zur Lage der Nation regelmäßig, sie übten ihr Amt in Demut aus. Der CEO der führenden Investmentbank Goldman Sachs rief während der Finanzkrise 2009 seine Branche zu »kollektiver Demut« auf.
Medienmogul Rupert Murdoch sagte, als er sich vor dem britischen Unterhaus zu kriminellen Abhörmethoden eines seiner Blätter erklären musste, dies sei für ihn ein Tag »größter Demut«. Politiker*innen reden an für sie erfolgreichen Wahlabenden getragen davon, dass sie den Auftrag zum Regieren »mit Demut« annehmen. Und taffe Fußballprofis, gewohnt, bei Vertragsverhandlungen das Maximum für sich rauszuholen, erklären heute nach wichtigen Siegen souverän, jetzt gelte es »demütig« zu bleiben.
Dass ein ursprünglich genuin religiöses Wort in einer Zeit, in der der Grundwasserspiegel des Christlichen immer mehr verdunstet, heute sogar in solchen Sphären beheimatet ist, zeigt nicht nur, dass es sich von seinem religiösen Herkunftskontext emanzipiert hat und ins Säkulare ausgewandert ist. Mehr noch, Demut ist ein Zeitgeist-Phänomen geworden.
Nicht mehr nur Theolog*innen und religiöse Menschen beschäftigen sich mit dem Wert der Demut; Manager, Unternehmensberater und Wirtschaftsjournalisten tun es genauso. Galt plakativ zur Schau gestelltes Gewinnstreben in den 1990er Jahren in Managementkreisen noch als akzeptiert (»Profit, Profit, Profit!« lautete das schlichte Mantra des damaligen Daimler-Benz-Bosses), kann man heute eher mit demonstrativer Demut punkten.
Demut, so liest man in Management-Ratgebern, ist heute einer der Parameter, die es braucht, um eine »Kultur der Wertschätzung«, der »Transparenz« und der »guten Arbeit« in Organisationen zu etablieren. Demut schützt eine Führungskraft davor, selbstherrlich zu werden. Wer demütig ist, weiß, dass er nicht alles weiß und kann. Er wird eher bereit sein, seinen Kolleg*innen mit Respekt zu begegnen und anzuerkennen, dass sie auf ihren Gebieten eine höhere Expertise besitzen, auf die er angewiesen ist.
Wer demütig führt, kann Fehler einräumen. Damit trägt er entscheidend dazu bei, dass im Unternehmen eine »Kultur der Fehlerfreundlichkeit« gelebt wird, wie man das heute nennt. Das klingt erstmal nach verquastem Mangerjargon, der auf Folien und in Leitbildern immer gut kommt, aber den Stresstest der Realität nicht besteht, wenn nämlich gravierende Fehler passieren, die der Organisation schaden.
Fehlerfreundlichkeit meint freilich nicht, dass Fehler freudig begrüßt werden. Vielmehr nimmt das Wort die dem sog. jüdisch-christlichen Menschenbild entspringende Einsicht auf, dass der Mensch »diesseits von Eden« unvollkommen ist, dass er ständig Fehler macht, dass, wo Menschen miteinander arbeiten, Fehler dazugehören und selbstverständlicher Teil des Miteinanders, also zu akzeptieren sind. Errare humanum est - eine Kultur der Perfektion ist mithin im Wortsinn inhuman.
Wenn Mitarbeiter ihre Führungskraft als demütig und fehlertolerant erleben, werden sie eher geneigt sein, ihrerseits Fehler einzugestehen. In einer globalisierten Welt, in der Unternehmen weltweit konkurrieren, ist »Fehlerfreundlichkeit« essenziell, da sie Innovationen fördert. Es ist also von Vorteil, Demut zu zeigen. (Dass Donald Trump eindrucksvoll beweist, wie weit man es auch mit Hochmut bringt, ist – einstweilen noch – die Ausnahme, die die Regel bestätigt.)
Aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Demut sprechen? Etymologisch wird Demut von der deutschen Sprache als eine Form des »Muts« bestimmt. Das Wort leitet sich vom Ausdruck »dien-muot« ab, was in etwa »Wille zum Dienen« bedeutet. Andere Sprachforscher führen die Bedeutung des Wortes Demut auf die Wortstämme »Deus« (Gott) und »Muoth« (altdeutsch Mut) zurück.Die Demut kann damit verstanden werden als der Mut, sich von etwas Großem, Gutem abhängig zu machen.
Der bekannte Benediktiner und christliche Bestseller-Autor Anselm Grün formuliert, Demut sei »nicht Dienen im Sinne von ›ducken‹, sondern eine Haltung, eine kraftvolle Übernahme von Verantwortung.« Grün beschreibt die Wortherkunft der Demut so: »Das griechische Wort für dienen heißt ‚diakonein‘, und das meint den Tischdiener. Für mich ist das ein Bild: der Tischdiener möchte, dass uns das Leben schmeckt. Dienen heißt daher: dem Leben dienen, Leben hervorlocken in den Menschen, Leben wecken.«
Weiter erklärt er: »Demut ist der Mut, hinabzusteigen in die Tiefen der Seele und alles, was da in mir ist, anzunehmen: Das gehört auch zu mir. Wenn ich es annehme, verliert es an Gefährlichkeit. Dieses Hinabsteigen in die Tiefen der eigenen Seele meint Jesus, wenn er sagt: ›Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden‹ (Lk 18,14).«
Vielleicht am radikalsten macht sich, was Demut meint, im christlichen Bereich bei der sog. Prostration anschaulich. So heißt der Moment beim Ritus der katholischen Priesterweihe, wo die zu weihenden Diakone sich bäuchlings auf den Boden legen. Über ihnen der hohe Raum der Kathedrale, vor ihnen das Kreuz Jesu Christi und dessen Stellvertreter, der sie weihende Bischof. Bevor sie die Priesterweihe empfangen, und damit ein für alle Mal dem »Volk« entnommen und zum »alter Christus« werden, demonstrieren sie ihre Haltung zu Gott.
Wahrscheinlich manifestiert sich Demut als Kernhaltung des christlichen Glaubens in kaum einer Geste so stark wie in dieser: Der Diakon inszeniert seine absolute Ergebenheit, seinen unbedingten Gehorsam vor Gott und dem Bischof. Sein liegender Körper, das zum Boden gewandte Gesicht sind Signal dieser Demut. Als Protestant ist mir diese Unbedingtheit der Unterwerfung und des Gehorsams fremd.
Aber ich gestehe, dass mich dieser Ritus, den ich bei Priesterweihen im Freiburger Münster einige Male erlebt habe, doch eigenartig berührt und beeindruckt hat. Auch wenn es mir letztlich unzugänglich bleibt, empfinde ich tiefen Respekt vor Menschen, die diese Form radikaler Demut und »Selbstentäußerung« auf sich nehmen und leben können, weil sie nicht(s) auf sich, sondern alles auf Gott (und katholischerseits: die Kirche) setzen.
Der Demütige ist dienend. Nicht weil er keine andere Wahl hätte, sondern weil er es für richtig hält. Der Kirchenvater Augustinus hat die Demut in seiner Morallehre zur »Mutter aller Tugenden« erklärt. Für den in der Zeit des Übergangs von der Untergrund- zur Staatskirche wirkenden Bischof ist sie die Grundtugend, ohne die jede andere Tugend gar keine solche sein kann, weil sie von der superbia, der Ursünde des Hochmuts, infiziert ist, die nicht Gott, sondern sich selbst die Ehre gibt: also in der Tradition der heidnischen griechischen Philosophie den Menschen zum Maß aller Dinge erklärt.
Protagoras, der diesen Satz im 5. vorchristlichen Jahrhundert geprägt hat, war damit gleichsam ein ganz früher Vor-Denker dessen, was wir seit 250 Jahren Aufklärung nennen. In deren Tradition, von der wir alle geprägt sind, ist die Lebenshaltung der Demut eine Provokation für unser Selbstverständnis als »moderne Menschen«. Mit der Aufklärung verlor die Vorstellung einer alle Sphären des Daseins beherrschenden Gottheit unwiderruflich ihre Macht; der Mensch übernahm die Hoheit über sich und entriss sie der himmlischen Sphäre.
Im 19. Jahrhundert ging der eigentlich alles andere als aufklärerische Friedrich Nietzsche so weit, das Christentum (dem er als Pastorensohn selbst entstammte) als »Sklavenreligion« und Demut als Sklavenmoral zu brandmarken: als Haltung eines kriechenden Wurms, der nur im Sinn habe, bloß nicht getreten zu werden.
Die hier einen fulminanten Ausdruck findende Diskreditierung der Demut in der Moderne hat auch damit zu tun, dass die existentielle Haltung gegenüber Gott als dem schlechthin Größeren, Überlegenen zur Unterwürfigkeit vor kirchlichen wie staatlichen Autoritäten umgedeutet wurde. Traurigerweise haben die christlichen Kirchen zu dieser Diskreditierung ihrer Ur-Tugend viel beigetragen.
Insofern ist es wohl gut, dass es hinter den Zeitenbruch der Aufklärung für uns kein Zurück geben wird. Die vor einigen Jahren nicht nur von Kirchenleuten beherzt ausgerufene »Wiederkehr der Religion« hat sich eher als Pfeifen im Wald erwiesen. Davon sind wir jedenfalls in der nördlichen Hemisphäre ganz weit entfernt. Und doch macht sich etwas breit, das der Philosoph Charles Taylor schon vor 30 Jahren mit dem Ausdruck »Unbehagen an der Moderne« beschrieb.
Damit meinte er ein sich ausbreitendes Empfinden, die Emanzipation von einer höheren Instanz habe nicht nur zur Befreiung des Menschen geführt, sondern auch eine Leerstelle hinterlassen, einen Mangel an moralischer Verbindlichkeit. Es war spannend zu
erleben, wie vor 20 Jahren der erzliberale Jürgen Habermas, der Denker der Aufklärung in unserer Zeit, in der berühmten Münchner Debatte mit dem konservativen Kardinal Joseph Ratzinger genau diese Leerstelle als Erblast der Aufklärung einräumte.
Er, der sich in jenem Gespräch etwas elegisch als »religiös unmusikalisch« charakterisierte, wies der christlichen Religion hoffnungsvoll ein Potential zu, diese Leerstelle zu füllen. 250 Jahre nach der folgenreichen Selbstermächtigung des Menschen, die man Aufklärung nennt, meldet sich der Wunsch nach einer neuen Selbstverpflichtung gegenüber höheren Werten wie Solidarität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit. M.a.W., der Wunsch nach einer neuen Form von Demut.
Abschließend möchte ich zwei Blitzlichter werfen auf das, was in meinen Augen glaubwürdig gelebte Demut ist. Vor 15 Jahren lief in den Kinos ein französischer Film, der mich damals sehr berührt hat. »Von Menschen und Göttern« war der Titel des mit internationalen Preisen überhäuften Streifens. Er erzählt die (wahre) Geschichte eines kleinen Konvents von Trappistenmönchen, die sich im algerischen Atlas-Gebirge niedergelassen hatten.
Über viele Jahre leben sie in enger Nachbarschaft mit der einheimischen muslimischen Bevölkerung. Die Dorfbewohner konsultieren Bruder Luc, der Arzt ist, oder lassen sich von den Mönchen im Umgang mit den Behörden helfen. Aber dann kommen radikale Islamisten und machen die Gegend unsicher. Ihre Forderung: Alle Ausländer müssen hier weg! Als sie eine Gruppe kroatischer Arbeiter niedermetzeln, stellt sich für die Mönche die Frage: bleiben oder gehen?
Das Angebot der Behörden, das Kloster militärisch zu bewachen, lehnen sie ab. Eine schwierige Zeit beginnt, in der die Mönche immer wieder abwägen zwischen ihrem Wunsch nach Sicherheit und der von ihnen empfundenen Verpflichtung, die Menschen hier nicht im Stich zu lassen. Am Weihnachtstag tauchen islamistische Kämpfer auf und führen sieben Mönche ab; zwei können sich noch verstecken. Die sieben verschleppten Mönche werden später tot aufgefunden. Die stärkste Szene des Films ist der
Vorabend vor jener Verschleppung.
Schweigend, wie es ihrer Regel entspricht, essen die Mönche miteinander. In dieser Mahlgemeinschaft scheint etwas auf, was das irdische Geschehen durchlässig macht für eine himmlische Wirklichkeit. Nach diesem Abend, fühlen sich die Brüder gestärkt: Was immer auch kommen mag, wir nehmen es aus Gottes Hand. Das ist Demut.
Zweite Erinnerung: Evangelischer Kirchentag 1977 in Berlin, der erste, den ich mitmachte. Wir wollten in eine Veranstaltung in einer großen Messehalle, sie war sehr begehrt, eine lange Schlange bildete sich vor dem Eingang. Plötzlich sah ich weit hinter mir, am Ende jener Schlange ein prominentes Gesicht: Herbert Wehner, mit seiner Frau.
Der gebürtige Dresdner war als Fraktionschef der regierenden SPD damals einer der mächtigsten Politiker der BRD. Es wäre ihm sicherlich ein Leichtes gewesen, sich ohne Anstehen durch einen Nebeneingang in die erste Reihe geleiten zu lassen. Herbert Wehner tat es nicht, sondern reihte sich als einer von mehreren Tausend in die lange Schlange ein.
Ein Mann, der wegen seiner legendären Begabung zur Polemik und persönlichen Attacke auf politische Gegner vielen nicht als Verkörperung von Demut in Erinnerung ist, zeigte hier auf eine unspektakuläre Weise, wie Demut in ganz alltäglichen Situationen aussehen kann.
Diese beiden Erinnerungen sind persönliche, andere werden anderes mit Demut verbinden, als demütig erlebt haben. Was gelebte Demut, wenn sie glaub-würdig ist, aber immer deutlich macht: ohne Mut gibt es sie nicht. Deshalb steckt »Mut« zurecht in »Demut« drin. Mag sie zurzeit als Haltung zeitgeistig sein, »am Ende des Tages« bleibt Demut immer unzeitgemäß und provokativ – weshalb sie immer Mut braucht.
Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer