»Mut und Demut«

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BRRRAAAAVOOO! Schhhhhhhhh!!!

Ein Beitrag von DR. MARTIN MORGENSTERN | Freier Kulturjournalist

»Wird es in zwanzig Jahren noch klassische Konzerte geben?«

Mit diesem bangen Satz begann der Geiger Daniel Hope vor nun schon fast zwanzig Jahren seinen »Wegweiser für Konzertgänger«, der damals in gemeinsamer Arbeit mit dem inzwischen verstorbenen Musikjournalisten Wolfgang Knauer entstand. Der heutige Artistic Director der Frauenkirche Dresden und sein über dreißig Jahre älterer, langjähriger ›Partner in Crime‹ schrieben über die Bemühungen, dem allerorts umworbenen Publikum von morgen die Schwellenangst zu nehmen. Die beiden erörtern, was man ins Konzert am besten anzieht (es schadet ja nicht, sich ein bisschen Mühe zu geben), fachsimpeln über Frauen am Dirigentenpult, sie diskutieren, wo »der beste Platz« im Konzertsaal sei – eine Frage, die gerade in der Frauenkirche nicht ohne ist, und die wir vielleicht irgendwann einmal aufgreifen sollten –, und im allerletzten Kapitel, wann man im Konzert eigentlich klatschen darf.

Vorher wird der Transzendenzromantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder zitiert, der, lese ich in einer seiner Erzählungen, den (fiktiven) Tonkünstler Joseph Berglinger als idealen Konzertbesucher beschrieb:

»Wenn Joseph in einem großen Konzerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre – ebenso still und unbeweglich, und mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen. (...) Seine ewig bewegliche Seele war ganz ein Spiel der Töne; – es war, als wenn sie losgebunden vom Körper wäre und freier umherzitterte, oder auch, als wäre sein Körper mit zur Seele geworden, – so frei und leicht ward sein ganzes Wesen von den schönen Harmonien umschlungen, und die feinsten Falten und Biegungen der Töne drückten sich in seiner weichen Seele ab.«

Wie gern würde ich mir mehr Konzertbesucher wünschen, die dieses Verhalten zeigten! Aber das ist nur ein Wunschtraum. Am Bratschenpult eines Liebhaberorchesters sitzend, durfte ich mich kürzlich über Beifall nach jedem Satz der Vierten Sinfonie von Anton Bruckner freuen. Dirigent und Konzertmeisterin sahen sich bei dem aufbrandenden Applaus jeweils freundlich an und taten so, als ob sie nichts hörten.

 

Und obwohl jüngst zum Gedenkkonzert anlässlich der Zerstörung Dresdens in der Kreuzkirche über Lautsprecher vor Konzertbeginn darum gebeten wurde, auf Applaus zu verzichten, explodierte eine Zuhörerin nach dem Verklingen des letzten Tons in einer Orgie von »Bravo«-Rufen und wildem Applaus. Erschrocken wurde sie von ihren Sitznachbarn niedergezischt, aber der Schaden war angerichtet. Das stille Gedenken der dreitausend Zuhörer war komplett dahin, der Konzerteindruck im Eimer, die weihevolle Stimmung zerstört. Und das, wo doch die Kaff eesachsen der neuen Musik gegenüber immer erst einmal misstrauisch sind! Richard Wagner beschrieb das in seinen Lebenserinnerungen: 

»Dass sich das Publikum mit so großer Bestimmtheit, als es der Fall war, für mich erklärte, war insofern außerordentlich, als sich das Publikum ähnlicher Städte, wie Dresden, nie in der Lage befindet, über ein Werk von irgendwelcher Bedeutung nach seiner ersten Auff ührung gültig zu entscheiden, und daher auch gegen die Arbeiten unbekannter Autoren sich in einer erkältenden Befangenheit befindet.«

Der Musikjournalist Axel Brüggemann kommentierte diese Woche ziemlich angefressen in einem Wut-Text, es sei eine Mischung aus Dummheit und Egoismus, die das Publikum heutzutage dazu treibe, möglichst vor allen anderen aufzuspringenn und den Musikern lautstark Beifall zu spenden. Seine Erklärung leuchtet ein:

»Wer Klassik als Tourismus verkauft , darf sich nicht beschweren, wenn die Touristen von der Mona Lisa nur ein Instagram-Foto aufnehmen wollen.«

Mit der neuen Strategie der Veranstalter, klassische Musik erreichbar und niederschwellig als Genussmedium anzubieten, kauft man sich eben auch die Begleiterscheinungen dieser Entwicklung mit ein. Was Axel Brüggemann nur in einem kurzen Nebensatz anklingen lässt: zu Zeiten der Wiener Klassik war begeistertes Reinklatschen (und das Niederzischen der Nachbarn an leisen Stellen!) eher die Normalität, wurde teils sogar vom Komponisten eingeplant, wie wir etwa einem Brief von Wolfgang Amadeus Mozart entnehmen können. Wolfgang schrieb am 3. Juli 1778 aus Paris an seinen Vater Leopold über die Urauff ührung seiner »Pariser Sinfonie«:

»Die Sinfonie fing an, und gleich mitten in ersten Allegro war eine Passage, die ich wohl wußte, daß sie gefallen müßte. Alle Zuhörer wurden davon hingerissen – und es war ein großes Applaudissement (...) Das Andante gefiel auch, besonders aber das letzte Allegro – weil ich hörte, daß hier alle das letzte Allegro wie das erste mit allen Instrumenten zugleich und meistens unisono anfangen, so fing ichs mit den 2. Violinen allein im Piano nur acht Takte an – darauf kam gleich ein Forte – mithin machten die Zuhörer, wie ichs erwartete, beim Piano ›Sch!‹ – dann kam gleich das Forte – das Forte hören und in die Hände zu klatschen war eins!«

Erst im 19. Jahrhundert begann das Publikum sich, was den Applaus angeht, etwas mehr zu disziplinieren – und das durchaus auch gegenseitig. In der oben erwähnten Autobiografie Wagners lesen wir zum Beispiel:

»Nach der Ouvertüre begann man zu applaudieren; dagegen aber wurde stark gezischt, und den ganzen Abend wagte sich kein Applaus mehr hervor.«

Dass Komponisten auch weiterhin »dramaturgisch« mit Applaus arbeiteten, beweist die folgende entlarvende Erinnerung Wagners:

»Meine besorgten Freunde, Röckel und Heine, [hatten] es für nöthig erachtet, zu künstlichen Mitteln zu greifen, um [den ersten Sänger des Tannhäuser, Joseph Tichatschek] in guter Laune für seine Rolle zu erhalten. Um namentlich auch dem Verständnisse der, allerdings unklar ausgeführten und doch so äusserst wichtigen Entscheidung der letzten Scene eine drastische Beihülfe zu geben, hatten Jene mehreren jungen Leuten, namentlich Malern, einige Applaus-Explosionen an Stellen anempfohlen, welche gewöhnlich von einem Opernpublikum als nicht applausprovocirend angesehen werden. Es fand sich nun merkwürdiger Weise, dass ein auf diese Weise eingegebener starker Beifallserguss (...) mit einem Male dem gesammten Publikum die bedeutsame Situation klar zu machen schien. Für alle Aufführungen blieb dieser, in der ersten Vorstellung gänzlich unbeachtete Moment, eine Hauptstelle für die Kundgebung der Sympathie des Publikums. «

Nachdem dann im 20. Jahrhundert die vornehme Zurückhaltung sozusagen die erste Bürgerpflicht des wissenden Klassikfans wurde, versteht es heute eine neue Künstlergeneration, sich gegen diese stille Tugend aufzulehnen, und setzt sich für ein gelockertes Applausverhalten wider die vermeintlich verstaubte Konvention ein. Darunter würde ich Dirigenten wie Gustavo Dudamel, Teodor Currentzis oder Yannick Nézet-Séguin zählen, aber auch Bühnenstars wie Yuja Wang, die die Publikumsreaktion ja geradezu herausfordern und spontane Beifallsstürme dann entspannt und herzlich entgegennehmen.

Wenn Sie Ihr eigenes Applausverhalten professionalisieren wollen, wäre mein Rat: versuchen Sie, die Situation im Konzertsaal zu erfühlen. Wenn ein Tastenlöwe in den letzten Takten des ersten Satzes eines virtuosen Klavierkonzerts schier ausrastet und man von seinen Fingern nur noch unscharfe Konturen erkennen kann, schadet es sicherlich nicht, ihm die Begeisterung für diese Leistung sofort kundzutun. Aber wenn – wie in der Frauenkirche zum Beispiel am 17. Mai – ein tiefsinniges Werk wie Alban Bergs Violinkonzert auf den Notenpulten steht, laufen Sie Gefahr, mit Ihrem Zwischenapplaus die Trance Ihrer Sitznachbarn zu stören.

In so einer Situation würde ich nicht nur auf Applaus zwischen den beiden Sätzen verzichten, sondern versuchen, mich insgesamt mit Räuspern, geflüsterten Bemerkungen und Ähnlichem absolut zurückzuhalten. Und wenn Sie doch einmal ratlos sind und nicht genau wissen, ob Sie jetzt klatschen sollten, hilft vielleicht folgendes: wenn der Dirigent die Arme oben hält und die Streicher wie erstarrt den Bogen über den Instrumenten schweben lassen, definitiv nein.

Wenn der Dirigent die Arme fallen lässt, die Solistin anlacht und sich die beiden zum Publikum umdrehen, definitiv ja! Alles dazwischen ist Verhandlungssache. Und wenn zwischen den Sätzen geklatscht wird, müssen Sie ja nicht unbedingt einstimmen. Aber grollen Sie den Klatschern nicht, sondern seien Sie innerlich vergnügt und erleichtert: Sie sitzen in einem Konzert, das ganz off ensichtlich den Weg zu einem »Publikum von morgen« erfolgreich eingeschlagen hat. Daniel Hope hat das Thema am Ende ganz einfach so zusammengefasst: Wenn Beifall ehrlich ist, ist er bei den Künstlern auch immer willkommen.

 

Dr. MARTIN MORGENSTERN
seit 2007 Chefredakteur von »Musik in Dresden«, lehrte an den Universitäten
und Musikhochschulen von Dresden, Halle/Saale-Wittenberg, Bremen, Eichstätt,
Stuttgart und Leipzig und arbeitet freiberuflich als Kulturjournalist.