»Mut und Demut«
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Auf der Suche nach Verzauberung
Kürzlich besuchte ich die Dresdner Frauenkirche. Weit vorne Platz genommen schaue ich nach vorne zum Altar. In der Mitte des Altars ist Jesus im Garten Gethsemane zu sehen. Verlassen, verängstigt und allein sitzt er da. Seine Hände sind gefaltet und er kniet. Seine Freunde schlafen, gerade jetzt hätte Jesus sie so dringend gebraucht. Er bleibt in dieser Situation jedoch nicht ganz allein. Ein Engel wendet sich ihm zu. Im Lukasevangelium heißt es dazu:
»ES ERSCHIEN IHM ABER EIN ENGEL VOM HIMMEL UND STÄRKTE IHN.«
In einem Moment tiefer Verlassenheit bricht etwas Unerwartetes ein. Jesu Blick geht zu diesem Engel. Er schaut von sich selbst weg und schaut zu etwas Größerem hin. Für mich ein Moment der Verzauberung. Es ist Schönheit, die verzaubert. Der Altar in seiner Schönheit tröstet und versetzt ins Staunen. Momente des Verzaubertseins empfange ich von etwas anderem als mir selbst.
Es ist ein Moment der Verwandlung, der Verbundenheit und des Aufgehobenseins. Von etwas, einem Gedanken, einem Bild, einer Begegnung, einer Musik oder einem Ort, tief berührt und getröstet zu werden, darin liegt für mich ein Verzaubertsein.Diesem Verzaubertsein liegt eine Haltung der Offenheit und Unverfügbarkeit zugrunde. Es ist vielleicht eine spielerische und sanfte Sehnsucht nach einem »Es muss doch mehr als alles geben«, so ein Buchtitel der evangelischen Theologin Dorothee Sölle.
Ich frage mich in diesen Tagen immer wieder, ob unser Leben nicht zu stark entzaubert wurde? Ein Leben voller Verzweckung, Funktionalität, Berechnung und stetiger Kalkulierung, ist das wirklich alles? Stillt das den Hunger und den Durst der Seele? Unsere Seele bleibt doch schutzlos zurück, wenn sie allein einem Zweck und Nutzen unterworfen wird.
Der Philosoph Jonas Zorn beschreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch »Ökonomisierung des Persönlichen. Wie der Markt Freundschaft und Liebe erobert« (Reclam, 2024), wie kapitalistische Strukturen und ökonomische Prinzipien sich auf freundschaftliche und intime Beziehungen abfärben. Jonas Zorn fragt sich auch, wie unsere Beziehungen von der Logik der Marktwirtschaft befreit werden können. Er beschreibt am Ende seines Buches Haltungen des Widerstands gegen eine Ökonomisierung des Menschlichen: Verbundenheit, Dankbarkeit, Zweckfreiheit, Absichtslosigkeit und Fürsorge.
Gesellschaftlich sprechen wir vermehrt über Einsamkeit und Vereinzelung. Das ist gut so, wobei die Scham über die Erfahrung von Einsamkeit zu sprechen, weiterhin hoch ist. Die Erfahrung von Einsamkeit passt eben schwer in ein Leben, das den Glauben an die größtmögliche Selbstverwirklichung und Autonomie stark pflegt. Einsamkeit, Trauer und Verluste darf es in diesen Glaubenssätzen nicht geben, wenn dann nur um diese wieder einem Optimierungsstreben zu unterwerfen, eben schnell wieder glücklich zu sein.
Es braucht ein Dagegenleben zu diesen Glaubenssätzen. Ich sehne mich nach einer Gesellschaft, die viel mehr auf Beständigkeit menschlicher Beziehungen setzt. Wie wäre es, wenn wir im Kleinen aus der Logik der Vereinzelung aussteigen und uns öfter einander fürsorglich und absichtslos zuwenden? Ohne Zweck und Kalkül, sondern aus Fürsorge und Verbundenheit? Für den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber ist das lebensnotwendig:
»WENN WIR AUFHÖREN UNS ZU BEGEGNEN, IST ES, ALS HÖRTEN WIR AUF ZU ATMEN«.
Gerne schaue mit einem kindlichen Blick in den Himmel und das voller Staunen. Wir haben das als Kinder gekonnt und können das wieder lernen.
Wenn ich in den weiten Himmel schaue, erahne ich in solchen Momenten: Das Leben ist eingebettet in etwas Größeres. Ich bin als Mensch im Geheimnis des Lebens aufgehoben. Das weckt Demut und Ehrfurcht. Der Theologe Fulbert Steffensky meint: »Vielleicht hat die Entzauberung der Welt dazu geführt, dass wir in grenzenlos imperialer Geste uns alles unterwerfen. Wer kein Tabu kennt und die Heiligkeit der Dinge nicht sieht, wird zu ihrem Zerstörer.«
In der Demut liegt eine stille Kraft. Sie ist ein altes Wort. Mit Demut ist keine niedergedrückte Lebenshaltung gemeint, sondern in einer demütigen Haltung liegt Würde verborgen. Demut heißt im Lateinischen so wunderbar »humilitas«. Humilitas kommt von »humus«, also Erde: Ich bin aus Erde und werde zur Erde zurückkehren. Ich bin Erdwesen und ich weiß als Mensch um meine Möglichkeiten und Grenzen.
Demut ist jedoch mehr als eine Tugend. Sie ist die im Innersten des Menschen gespürte Lebensgewissheit, dass das Leben verdankt, eben ein Geschenk, ist. Eine Offenheit, die aus der Vereinzelung löst und zu dem Anderen öffnet, dem Größeren, hin. Von mir selbst wegzuschauen und mit offenen Augen das Andere sehen, das tut unserer Gesellschaft gut.
Seit einigen Jahren gehe ich mit Menschen schweigend um den Schlachtensee. Wir nehmen die Schönheit der Natur wahr, auch ihre verletzte Seite. Bei dem Gang um den See geht es um das Einüben einer Haltung des Lauschens: Von Tieren, Bäumen und Pflanzen sind wir umgeben. Sie sind Schwestern und Brüder, wie sie der Heilige Franz von Assisi in seinem »Sonnengesang« bezeichnet.
Für viele Menschen ist das eine neue Erfahrung: Wir sind mit allem Leben verbunden. Den Zauber des Lebens zu spüren, meint dem Leben und allem Lebendigen mit Ehrfurcht zu begegnen und damit den Eigenwert zu entdecken.
Die Krisen unserer Zeit können erschöpfen und ängstigen. So braucht es gerade jetzt in dieser Zeit eine spirituelle Ansprache unserer Seele. Sie ist so lebensnotwendig. Das können Bilder, Texte, Orte, Begegnungen und Melodien sein, die inmitten aller Bedrängnis Halt geben und ein Gefühl des Aufgehobenseins stiften. Ich finde in dieser Zeit Halt und Inspiration in Liedern.
Das Lied »Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott« (Melodie: Anders Ruuth, um 1968; 1984 »La paz del señor«) geht mir in diesen Tagen besonders zu Herzen. Es ist ein Lied in Spannung von Sehnsucht und Melancholie. Das Lied begeisterte 1984 bei einem Chorkonzert in Frankfurt am Main so sehr, dass sich Eugen Eckert, Pfarrer und Liedtexter, dafür entschied, einen deutschen Text zu verfassen.
Bis heute wird dieses Lied zu verschiedenen Anlässen gerne gesungen. In der zweiten Strophe heißt es:
»Bewahre uns, Gott, behüte uns, Gott, sei mit uns in allem Leiden. Voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten, voll Wärme und Licht im Angesicht, sei nahe in schweren Zeiten.«
Die Sehnsucht nach Gottes Nähe in Zeiten der Bedrängnis und des Leidens kommt in der zweiten Strophe bittend zur Sprache.
In Zeiten des Aufbruchs, des Wandels und des Verlustes eben nicht allein zu sein, aus diesem Vertrauen zu leben, das tröstet. Dieses sanfte Vertrauen weist auf das Mehr unseres Lebens hin. Kann es mehr als das alles geben? Regelmäßig verbringe ich einige Tage in einem Benediktinerkloster. Es ist ein Ort, wo mein Leben Momente der Verzauberung erfährt.
Dort ahne ich das Geheimnis, vom göttlichen Geist umgeben und getragen zu sein. Während der Tage im Kloster lasse ich mich ganz auf den Alltag der Mönche ein. Die Gebetszeiten geben dem Alltag eine heilsame Struktur. Die Psalmen werden während der Stundengebete gesungen.
Besonders gerne singe ich den Hymnus zu Beginn des Mittagsgebets am Mittwoch: »Die Glut des Mittags treibt uns um, die Stunden eilen wie im Flug; du, Gott, vor dem die Zeiten stehn, lass uns ein wenig bei dir ruhn.« Diese Worte gehen mir immer wieder zu Herzen. Sie drücken meine Sehnsucht aus.
Bei Gott zu ruhen, in ihm geborgen zu sein, das ist eine Grunderfahrung spirituellen Lebens. Mein Kraftort »Kloster« ist für mich zu keinem Ort der Weltflucht geworden, sondern zu einem Ort, der mich mitten in dieser Welt, immer wieder neu Kraft und Hoffnung schöpfen lässt.
Ich gehe anders von ihm in den Alltag zurück: Manchmal mit einer offenen Frage, einer Inspiration, auch Wehmut kommt mal vor, doch vor allem mit Vertrauen und Dankbarkeit.
Günther Hänsel
studierte Religions- und Gemeindepädagogik (M.A.) an der
Evangelischen Hochschule Berlin. Seit 2021 ist er
Pfarrer der Kirchengemeinde Berlin-Schlachtensee.
Er lehrt an der Evangelischen Hochschule Berlin zu Spiritualität.