»Mut und Demut«

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MUT und DEMUT: Ein psychologischer Blick auf zwei Lebensprinzipien

Die Redaktion dieses Heftes fragt mich für diesen Artikel an und ich spüre beides eigentlich sofort: Es braucht Mut mich zu äußern, weil ich es wichtig finde, sich diesem Thema zu stellen. Und gleichzeitig spüre ich auch Demut, weil ich das Thema sehr komplex und überfordernd finde und Zweifel habe, mich öffentlich in der Kürze des Textes gut zu äußern.

Für mich bedeutet es, mutig zu sein, hier einen Artikel zu schreiben. Das tue ich nicht oft, ich verlasse die Komfortzone meiner Praxis und äußere mich öff entlich zu solch bedeutsamen Worten: Mut und Demut. Das fordert heraus und dennoch möchte ich es versuchen, weil ich denke, dazu kann auch ich als Psychotherapeut etwas sagen. Damit ist das Spannungsfeld für diesen Text abgesteckt und ich möchte beginnen, die Begriffe im Einzelnen konkret etwas genauer anzuschauen.

Beginnen möchte ich mit dem bekannteren und auch für mich leichteren. Mutig sein kann sehr viele Bedeutungen haben. Leicht kommt man auf den Gedanken, etwas Gefährliches tun erfordert Mut, eine Klettertour vielleicht oder ein Wechsel des Arbeitgebers.

Sich einer neuen Situation stellen, sich etwa einer Demonstration anschließen, etwas unterstützen, sich etwas entgegen zu stellen, über die eigene Grenze hinweg gehend eine sichere Situation verlassen, sich dem eigenen Gefühl, am häufigsten erwähnt hier der eigenen Angst stellen.

Als Profi möchte ich hier sagen, dass es auch ganz andere Gefühle sein können, die schwer auszuhalten sind – Scham wäre mir hier am wichtigsten zu erwähnen. Scham kann ja sehr klein sein und für andere fast unsichtbar. Solche Gefühle spüren und wahrnehmen, vielleicht auch zeigen, fällt mir aus meiner Arbeit ein als etwas, das ich mutig finde und das vielen Menschen sehr schwerfällt. Hilfe erfragen, sich schwach zeigen oder verletzlich.

WAS BRAUCHT ES DAFÜR, MUTIG ZU SEIN?

Mutig sein kann man zunächst für sich ganz allein. Etwas Neues ausprobieren, ein Gefühl genauer untersuchen, sich fragen, was will ich eigentlich. Eine neue Stadt erkunden, eine unbekannte Reise buchen, den eigenen Rahmen verlassen. Weniger Kontrolle hat man, wenn die Situation erfordert, dass man sich anderen gegenüber bekennt. Eine mutige Entgegnung, wenn man sich für andere oder für sich selbst einsetzt. Sich verletzlich vor einem Freund oder Partner zeigen, oder sogar offen sein gegenüber Menschen, die man weniger gut kennt.

Mut setzt deshalb eine Auseinandersetzung innerer Art voraus. Sie zeigt uns, dass uns etwas stört und wir, um das Gewünschte zu erreichen, mehr tun müssen, als bislang in unserem Alltag nötig war. Etwas Anderes, Neues, Ungewohntes tun. Uns dem stellen, dass wir nicht kennen, das uns fordert. Dass Bereitschaft benötigt und Ressourcen an Kraft und manchmal auch Mitteln, die wir nicht gewohnt sind einzusetzen. Wir verlassen unsere Komfortzone.

Ich glaube auch, Mut führt uns nach einem Entschluss in den Prozess des Handelns. Dann gibt er uns Fokus, das zu tun, was uns unsicher macht, was uns aber wichtig ist. Dabei blenden wir Störendes, Hinderndes oder auch die reale Gefahr aus. Lassen andere Menschen für den Moment außer Betracht und fokussieren auf uns. Wir beziehen Haltung, werden also sichtbarer.

Ein bisschen schwieriger finde ich ist es, sich dem Begriff Demut zu nähern. Historisch bekannt ist sicher Demut als ein Begriff einer christlich religiösen Grundhaltung gegenüber Gott. Da dieser Sicht hier an dieser Stelle häufiger Raum gegeben wird, denke ich, ich möchte ich mich dem Begriff aus der Philosophie und der Psychologie nähern.

In der Philosophie und Politik wird Demut als indirekter Indikator für die eigentliche Würde des Menschen erkannt, eines als freiheitlichen vernünftig lebendes Wesen, das anerkennt, dass es in der Realität und in der Wirklichkeit Grenzen gibt. Demnach braucht Demut eine realistische Einschätzung unseres Beitrages und die Anerkennung der Arbeit anderer.

In der Psychologie spielt der Begriff interessanterweise aktuell im deutschsprachigen Raum eher im Management, der Führung von Menschen eine Rolle. Hier wird gemeint, dass Menschen in jeder Position wichtig sind und wir jeden einzelnen benötigen, um zum Erfolg zu kommen: Den klügsten Kopf einer neuen Idee genau wie den Monteur, der die letzte Schraube montiert.

In der Philosophie ist der Begriff im Bereich der Erkenntnistheorie am meisten verortet. Die Fähigkeit des Menschen die Welt zu erkennen gilt als begrenzt und seine Unkenntnis oder Unfähigkeit Dinge zu erkennen wird dann als Demut gegenüber der Welt benannt. Wir erstaunen über die Dinge, die wir schwer erfassen können. Religionsgeschichtlich wurde hier Gott als Erklärung eingeführt, der lenkt und herrscht und dem gegenüber Demut die richtige Haltung.

Solche Prozesse kenne ich aus meiner Arbeit mit Forschenden. Diese zweifeln häufig an den Ergebnissen Ihrer Arbeit.

 

 

DANKBARKEIT BEINHALTET DEMUT – EINE ERKENNTNIS,
DASS WIR OHNE DIE UNTERSTÜTZUNG ANDERER NICHT SEIN KÖNNTEN,
WAS WIR SIND ODER WO WIR IM LEBEN STEHEN.

Robert Emmons

 

Meine Arbeit macht mich insgesamt oft demütig, weil sie mir zeigt, wie und was genau Menschen in ihrem Alltag leisten. Mir wird beim Zuhören deutlich, wie genau andere Welten funktionieren, welche zahllosen Details nötig sind, bis das Produkt funktioniert, bis die Aufgabe gelöst ist.

Ich merke dann, wie anstrengend Dinge sind, die wir gewohnt sind und für alltäglich halten. Und da wird mir klar, dass Demut genau das bedeutet: Sich interessieren für andere, deren Beitrag für unsere Gesellschaft.

Spontan fällt mir da die Geschichte eines Supermarkt Mitarbeiters ein, der täglich früh um vier aufsteht, Ware aus dem Lager holt, diese in die Regale einräumt und pünktlich zur Öffnung des Supermarktes um acht Uhr ist alles an Ort und Stelle, an dem von uns erwarteten Regal. Obst und Gemüse frisch, wo wir es wie selbstverständlich beim Einkauf vorfinden.

Ich habe diese Geschichte nie vergessen und gehe seitdem tatsächlich bewusster und mit dem Gefühl von Demut in den Supermarkt und sehe, was hier immer wieder geleistet wird, damit wir Dinge für unser Leben so einfach aus dem Regal entnehmen. Man könnte sagen, mein Beruf hat mich demütig und dankbar werden lassen und Ja, das ist tatsächlich aus meiner Sicht ein positiver Effekt.

So wird eine intensive Begegnung ermöglicht und das Interesse für das Leben anderer gesteigert, und diese Begegnungen haben in mir Demut weiter entstehen lassen. Die Überwindung unseres eigenen Egos und vielleicht auch das Verlassen unseres eigenen gewohnten Rahmens, unseres Blickes auf den Alltag, ermöglichen uns Einsichten in eine andere Welt. So erkennen wir die Welt der Menschen neben uns, entdecken Unbekanntes und hinterfragen unsere nicht selten unreflektiert stolze Haltung. Vielleicht ist das schon das Fazit dieses kleinen Textes.

Mut und Demut sind keineswegs Gegensätze. Wenn wir mutig sind, dann verlassen wir unseren sicheren gewohnten Raum und machen neue Erfahrungen, mit welchem Ausgang auch immer. Das ist gar nicht so häufig, weil wir Sicherheit so lieben und unsere gewohnten Dinge gern so tun wie immer. Demut als Haltung entsteht, wenn wir uns für Anderes, Unbekanntes ernsthaft interessieren, genau hinhören, und verstehen, was es wie genau bedeutet.

Dafür müssen wir die Sicht des anderen Menschen einnehmen, Empathie einsetzen. Anerkennen, was andere leisten. Beides zusammen hilft im Wechselspiel des Zusammenlebens und ja, es ist eine Aufgabe, uns zu entwickeln und reifer zu werden. Unsere Aufgabe, uns unserer Grenzen, Stärken und Schwächen und der Möglichkeiten bewusst zu werden, und diese mutig auszuloten, wo es möglich ist. Demut hilft uns, wenn es um die Anerkennung der Leistung anderer geht.

Ich finde den Text soweit tatsächlich stimmig, weil er mir selbst geholfen hat, meine Sicht der Dinge zu formulieren und die beiden Begriffe begrifflich klarer zu fassen und ins Verhältnis zu setzen. Ich hoffe es ist gelungen, ohne sie zu schwierig oder unverständlich und gleichzeitig profan erscheinen zu lassen.

Ich bin gespannt, ob es Ihnen vielleicht auch hilft und ein kurzer Aha-Moment entsteht. Mich interessiert Ihre Meinung und bin gespannt darauf, welche Reaktion Sie als Leser haben. Ich bin mutig und sende den Text ab.

Prof. Hans Müller-Steinhagen,
Dr. Claus Kulke hat in Dresden und Bochum
Psychologie studiert. Seit 2004 widmet er sich
der Behandlung von Erwachsen und
ist aktiv in der Psychotherapieausbildung.