»Mut und Demut«

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Mut und Demut – überholt und altmodisch?

Im Januar waren wir in Chile. Im Norden, in der Atacama-Wüste auf 3.000 m Höhe ist die Luft so rein und klar wie sonst kaum auf der Welt. Deswegen steht hier eines der wenigen Observatorien, die die Welt und das All vermessen. Dort in der Wüste standen wir in der Nacht, weit und breit kein Licht von irgendeiner Zivilisation.

Der Sternenhimmel überwältigte uns, die Milchstraße war zum Greifen nah. Der Himmel deckte uns zu. Ich dachte plötzlich: Und wir winzigen Menschen sollen die einzigen in diesem großen Kosmos sein, die auf unserer kleinen Erde mit Verstand und Würde ausgestattet existieren? Ich empfand Demut. Dann habe ich darüber nachgedacht.

WAS IST DENN DEMUT ÜBERHAUPT?

Im Alten Testament, das in hebräischer Sprache abgefasst ist, ist demütig ( הָוָנֲע / anavah) im Sinne davon, den von Gott zugewiesenen Platz einzunehmen, also sich ihm zu unterwerfen, äußerlich wie innerlich. Solche Bilder kennen wir. Unterwürfig ist unangenehm. Oft wissen wir auch nicht, was diejenige oder derjenige wohl denkt, wenn sie oder er den Kopf senken und den Augenkontakt abbrechen. Im Neuen Testament, das in griechischer Sprache geschrieben wurde, steht Demut (τɑπεɩνοɸροσύνη/ tapeinótita) dagegen für so etwas wie Bescheidenheit, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.

Wichtig schon, aber eben nicht zu wichtig. Keine Nächstenliebe ohne Eigenliebe. Sicher, es gibt auch falsche Bescheidenheit. Dazu gehört für mich, wenn jemand eine Gruppe von Menschen aufzählt, zu denen er ode sie gehört und sich selbst dann zum Schluss als »meine Wenigkeit« bezeichnet. Warum das denn? Das klingt auch nur bescheiden und soll Eindruck schinden. Es ist also das Gegenteil von bescheiden. »Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr…«

Das reimt sich schon mal nicht und ist auch noch falsch. Frechheit siegt nicht auf Dauer. Man kommt weiter mit einer guten Mischung von Leistung und sozialer Verantwortung, von Selbstbewusstsein und Bescheidenheit. Und: Bescheidenheit untereinander, das macht auch das Zusammenleben in einer Gruppe oder Gemeinschaft viel angenehmer.

UND MUT? DA WISSEN DOCH ALLE, WAS DAS IST. ODER?

Auch hier gibt es Unterschiede zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Sie sind aber nicht so groß. Im Hebräischen ( הרובג / gʼvurah) wird mit Mut so etwas wie eine »starke Hand haben« verbunden. David war mutig im Kampf gegen Goliath. Im Griechischen wird Mut (θάρσος/ thárros) im Sinne von »Zuversicht und ohne Furcht« verwendet. So ist auch die Losung des diesjährigen Deutschen evangelischen Kirchentages in Hannover zu verstehen. Sie lautet »mutig – stark – beherzt«. Mut ist in diesem Sinne also zuallererst eine Haltung.

Man muss kein Muskelprotz sein, um mutig sein zu können. Eine Haltung der Zuversicht reicht. Innere Stärke schlägt äußere Kraft. Das ist schwer genug, schaut man sich in der Welt um. Woher die Zuversicht nehmen? Geht nicht alles den Bach runter? Aber beklagen wir uns nicht doch ein bisschen zu sehr? Wäre nicht auch hier ein bisschen mehr Demut im Sinne von Bescheidenheit angebracht? Wir sind nicht die einzigen auf der Welt und schon gar nicht in der Weltgeschichte, die großen Herausforderungen ausgesetzt sind.

Sonntags singen wir gerne die Lieder von Paul Gerhardt. Sie sind im 30-jährigen Krieg geschrieben, einem Vorboten eines modernen Massenkrieges mit verheerenden Totenzahlen und Verwüstungen. Paul Gerhardt beschreibt das Elend der damaligen Zeit schnörkellos und drastisch, und doch vermitteln diese Lieder einen tiefen Geist der Zuversicht. Das müssten wir doch eigentlich auch können, wo wir doch weit weg sind von so einer Welt, wie sie Paul Gerhardt beschreibt. Warum eigentlich nicht?

Und dann gibt es im Zusammenhang mit Mut ein schönes altmodisches Wort namens Wagemut, nicht zu verwechseln mit Tollkühnheit. Da wird aus Mut nicht nur eine Haltung der Zuversicht, sondern ein Handeln, und zwar selbst dann, wenn es mit Risiken verbunden ist. »Wer wagt, gewinnt.« Nicht immer natürlich…

Tun wir das? Wenn es heute heißt »man dürfe ja doch nichts mehr sagen« und deswegen müsse man die Klappe halten oder heldenhaft mutig widersprechen, dann ist das doppelt falsch.

Dann zeigt das eine Unterwürfigkeit, die gar nicht nötig ist, und beschwört einen Mut, der keinen Wagemut braucht. Gegen eine angebliche oder wirkliche Mehrheit zu widersprechen, dafür braucht es in unserem Land keinen Mut, vielleicht aber Sachverstand und Traute. Aber wenn eine Frau im Iran vor der Weltöffentlichkeit ihren Schleier abzieht, dann ist das mutig. Und ich füge hinzu: wenn Soldaten ihr Land und die Freiheit mutig verteidigen oder alles dafür tun, damit es zu keinem Angriff kommt, dann ist das mutig und verdient Unterstützung.

Maulhelden, auch das ist ein treffender, selten verwendete Begriff, der mir gut gefällt. Erklären muss man ihn nicht. Maulhelden haben wir genug in unserem Land, aber zu wenige, die sich zuversichtlich und bescheiden für etwas engagieren, das nicht dem eigenen Fortkommen dient.

Mut und Demut in dem beschriebenen Sinne sind für mich kein Gegensatzpaar. Demut im Sinne von Bescheidenheit, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen, aber ohne Unterwürfigkeit und falsche Bescheidenheit, und das gegründet auf einer zuversichtlichen Haltung. Das passt gut zusammen. Und daraus kann ein starkes und wirksames Engagement erwachsen.

Unterwerfung ist unangebracht, falsche Bescheidenheit stört, Wutgeschrei nervt. Eine zuversichtliche Bescheidenheit oder – umgedreht – bescheidene Zuversicht, das stünde uns allen gut zu Gesicht. Dann ist vielleicht sogar der Himmel zum Greifen nah, nicht nur in der Atacama-Wüste.

Dr. Thomas de Maizière (CDU)
hatte verschiedene politische Ämter inne.
Aktuell ist er u. a. Vorsitzender des Vorstands
der Deutschen Telekom Stiftung und Präsident
des Fördervereins Dresdner Philharmonie.
2023 war er Präsident des Evangelischen Kirchentages.