»Wir haben die Wahl«
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Aufbruch ins Offene
Herr Politycki, in der medialen Öffentlichkeit nimmt man Sie in einer Doppelrolle wahr. Zum einen als Autor, der die ganze publizistische Bandbreite zwischen Roman, Erzählung, Gedicht, Essay, Kommentar und Rede bedient, zum anderen als Debatten-Initiator oder -Antreiber. Gehören diese Rollen zusammen, oder muss man sie unabhängig voneinander betrachten?
Einen Großteil meines Lebens habe ich geglaubt, ich sei kein politischer Autor. Das genuin Literarische war – und ist – mir weitaus wichtiger. Es gab mal eine Zeit, als mich Günter Grass gern für den SPD-Wahlkampf gewonnen hätte, aber ich bin nun mal der Auffassung, der angemessene Platz für einen Schriftsteller ist der zwischen allen Stühlen. Andrerseits wuchs ich in einer Zeit auf, in der Denkräume immer offener und weiter wurden, und ich beobachte mit Sorge, daß sie sich jetzt wieder verengen.
Und daß Debatten immer emotionaler und teilweise bereits irrational geführt werden. Nachdem ich meinen ‚Abschied von Deutschland‘ veröffentlicht hatte, wurde ich oft eingeladen, an solchen Debatten teilzunehmen, plötzlich wurde es auch für mich an der Zeit, ganz klar Stellung zu beziehen. Bisweilen fließt das dann in meine literarischen Texte ein.
Wer die heutige Literaturszene in den Blick nimmt, erkennt eine deutliche ebenso wie befremdliche Tendenz zum Mainstream, ein dem Zeitgeist und entsprechenden Narrativen verpflichtetes Schreiben, das inhaltlich und sprachlich nicht mehr den originären, den solitären Zuschnitt sucht. Die Debatten um das, was literarisch und sprachlich erwünscht ist, gerieren sich zunehmend dogmatischer. Was zu denken gibt. Wie steht es in diesen Tagen um die Maßstäbe zur Beurteilung von Literatur und den Blick auf das Wesentliche?
Ich glaube, die Interessen haben sich verschoben, Literatur ist in unsrer Gesellschaft kein Leitmedium mehr. In unsrer Jugend war es undenkbar, ohne Buch ins Bett zu gehen, und über das Gelesene haben wir häufig miteinander diskutiert. Angeregt von Literatur, lernten wir in unseren Diskussionen, mit konträren Meinungen umzugehen – vielleicht die urdemokratische Fähigkeit schlechthin. Es ging nicht darum, zu gewinnen, und schon gar nicht um klare Kante zu zeigen, im Gegenteil. Jeder der Beteiligten empfand es als Gewinn, sich auszutauschen.
Heutige Debatten spiegeln eher den transintellektuellen Zustand, in den unsere Gesellschaft eingetreten ist. Es geht nicht mehr um das bessere Argument, sondern um die heftigere Empörung – im Grunde das Ende einer Gesprächskultur. Und vielleicht ja auch einer Kultur ganz generell. Was die Beurteilung von Literatur betrifft, spielen formale Kriterien kaum noch eine Rolle, hingegen Sympathie mit der Hauptfigur oder eben Antipathie. Kunstvoll beschreibende Passagen werden als störend empfunden, es zählt allein der Plot. Ein offenes Ende gilt als unbefriedigend. Eine derart simple Leselust kann KI jetzt schon befriedigen.
Ältere Generationen unter den Literaturaffinen erinnern sich durchaus noch an Zeiten, etwa in den 60ern bis 90er Jahren, als die wesentlichen Debatten angeschoben wurden von Protagonisten der Szene wie Hans Mayer, Joachim Kaiser, Walter Jens, Fritz Joachim Raddatz, Peter Wapnewski, Marcel Reich-Ranicki oder Peter Hamm. Das waren Persönlichkeiten, die bei aller Streitbarkeit und Unterschiedlichkeit Geist und Literatur verkörperten, die die wegweisenden Texte der Geschichte gelesen hatten und vor diesem Hintergrund Urteile generierten. Muß man diese Rundumexpertise als verlorene Größe deklarieren, mit den entsprechenden Implikationen?
Intellektuelle gibt es auch heute noch. Sie stehen allerdings nicht mehr im Zentrum der Debatten, denn sie denken für unsre Zeit zu komplex. Heute sind ganz andere Qualitäten gefragt, beispielsweise das »Framing«. Es bedeutet: seine Ansichten mit plakativ eingängigen Begriffen so »einzurahmen«, daß jedem sofort klar ist, was gemeint ist, ja mehr noch: was gut ist, gut auch immer für die Gesellschaft und am besten für die ganze Welt.
Die goldenen Jahre für Intellektuelle sind vorbei. Geschichte verläuft ja nie linear, sondern in Wellenbewegungen; nicht nur was unsre Gesprächskultur betrifft, befinden wir uns derzeit mitten in einer Abwärtsspirale. Ich kenne fast niemanden, der sich angesichts dieser Entwicklung keine Sorgen machen würde. Und zwar nicht nur Sorgen wegen Krieg, Verarmung, Gefährdung der Demokratie, sondern ganz grundsätzlich um den Fortbestand dessen, was bis vor kurzem noch selbstverständlich war: die Art und Weise unsres Zusammenlebens, nennen wir es Kultur. Alltagskultur, Gesellschaftskultur, Kulturkultur.
Sie haben Deutschland 2021 in Richtung Wien verlassen und diese Entscheidung publizistisch in Zeitungen und in dem Band »Mein Abschied von Deutschland – Wovon ich rede, wenn ich von Freiheit rede« begründet. Auch das löste in Deutschland rege Debatten aus. Welche Reaktionen haben Sie als besonders eindrücklich, bemerkenswert oder auch als schockierend empfunden?
Aufgrund meines »Abschieds« habe ich hunderte von Emails erhalten, meist von Leuten, die ich gar nicht kannte und die mir ihr Schicksal schilderten: etwa Akademiker aus dem Mittelbau der Universitäten oder Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die einfach dankbar waren, daß da zum ersten Mal auch einer aus der klassischen Linken Kritik an dem äußerte, was wir als Ideologisierung der Sprache und des Miteinander-Sprechens seit Jahren erleben. Nun war das Schweigen durchbrochen, nun hatten sie alle plötzlich auch eine Stimme.
Daß es so viele waren, die sich da bei mir meldeten, ja, das hat mich tatsächlich schockiert. Seitdem sind drei Jahre vergangen, und unser gesellschaftliches Klima hat sich zwar eher verschlechtert, durch den Druck der Ereignisse sind jedoch die Debattenräume wieder durchlässiger geworden.
Eines der zentralen Elemente Ihres poetologischen Konzepts und Denkens ist das Reisen. Viele Ihrer erfolgreichsten Bücher stehen im Zeichen des Aufbruchs in die Fremde. Als Schriftsteller waren Sie weniger touristisch unterwegs, sondern tauchten ein, ich unterstelle erwartungsfroh und mit größter Offenheit, in unterschiedliche Kulturen und Landschaften. Würden Sie so weit gehen, diese vielgesichtigen Erfahrungswerte als Basis Ihres Schreibens zu begreifen?
Auf jeden Fall, und sogar als Basis meines Lebens generell. Meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg überlebt und sich geschworen, auf die Menschen, die sie als Feinde betrachten mussten, zuzugehen. Insbesondere in Frankreich haben sie Freundschaften gesucht, und ich war als kleines Kind natürlich dabei. So wurde es für mich zur Selbstverständlichkeit, über Grenzen zu gehen, erst die benachbarten, bald auch entferntere Kulturen kennenzulernen. Gegen Ressentiments, beispielsweise daß es so etwas wie Erbfeinde gibt, ist man aufgrund eigner Anschauung bestens gewappnet, ja, man ist für keinerlei Ideologie mehr anfällig.
Der Sehenswürdigkeiten wegen reise ich nicht, sondern weil ich den Alltag anderer Menschen entdecken möchte, ihre Ansichten und Überzeugungen. Übrigens reise ich auch nicht, weil ich mir Inspiration fürs Schreiben erhoffe. Allerdings erlebt man in einem fremden Alltag immer wieder herbe Überraschungen, das sorgt schon für Irritationen – und die entsprechende Kreativität. Die wesentlichen Sätze meiner Texte, ob Prosa oder Lyrik, habe ich auf Reisen notiert, meist in Eile oder wenn der Druck zu groß wurde. In der Konfrontation mit dem Unbekannten, nicht selten auch mit Gefahren und Misslichkeiten, reduzieren sich Sätze ja ganz von selber aufs Wesentliche, sie haben eine ganz andre Kraft als diejenigen, die man dazu nachträglich zu Hause schreiben könnte.
Ebendeshalb will ich aufs Reisen auch nicht verzichten, es verändert die Weltwahrnehmung, und unter ständig wechselnden Rahmenbedingungen entsteht nicht nur ein literarischer Fundus, sondern auch ein kritischer Blick auf die eigene Gesellschaft – insofern ist Reisen für mich auch eine politische Haltung.
In der Fremde, am Fremden sich neu erfinden?
Ein anderer werden, immer wieder, ein Leben lang. Erst in der Fremde erkennen wir, daß Alltag auch ganz anders gedacht und gelebt werden kann. Und daß man auch die großen Fragen des Lebens völlig anders als wir beantworten kann. Besonders bemerkenswert fand ich immer, daß sich in der Fremde Problemlösungen auftun, die einen zunächst tüchtig verstören. Ich muß dann erst einmal, wieder einmal umdenken, ehe sie mich beflügeln können. Etwa in Afrika fallen Antworten nicht selten sehr viel radikaler aus als in Deutschland, wir würden derlei zur Zeit nicht mal zu denken wagen.
Stichwort Afrika, Ihr aktueller Roman »Alles wird gut – Chronik eines vermeidbaren Todes« führt uns auf einen Kontinent, der den meisten allenfalls bekannt ist aus Nachrichten oder Zeitungen. Schauplatz der Handlung ist Äthiopien. Wieder ist einer der Protagonisten Europäer, ein Wiener, eine verkrachte Existenz, die sich verliert und verliebt in einem Land, das ihn gründlich überfordert. Sie verknüpfen in diesem Roman mehrere Ebenen. Entlang der Liebesgeschichte geben Sie eigenen Erfahrungen einer Äthiopienreise, landestypischen Eigenheiten und Ritualen, Geschichte und Geschichten Raum. Sie überblenden europäische und afrikanische Kultur, spiegeln das eine im anderen. Worin genau liegt die unbedingte Botschaft des Buches?
Die Botschaft, an die ich während des Schreibens freilich nie gedacht habe, könnte vielleicht lauten, daß Dinge, die am Anfang einfach und klar erscheinen, Figuren, die man spontan mag oder ablehnt, Handlungen, von denen man begeistert ist oder entsetzt, in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn man sich mit der Sache oder den Figuren eingehender beschäftigt hat. Auf der letzten Seite weiß man dann nicht mal mehr, wer der Gute war, wer der Böse, was richtig war, was falsch. Das ist der Unterschied zwischen einem Roman und einer Talkshow oder einem Leitartikel, er stellt die Sachverhalte so kompliziert dar, wie sie nun mal sind.
Auf spielerische Weise leistet er Widerstand gegen all die Vereinfachungen, die Unterhaltungsformate oder emotional aufgeladene Diskurse anbieten. Literatur ist das Gegenteil von Zeitgeist und Mainstream. Im besten Fall vermittelt sie sogar Lust, den Reiz von Komplexität wiederzuentdecken. Einschließlich eines komplexen Satzbaus, der ja eine ganz andere Musik hat, als ein auf Effizienz getrimmter Satz.
Die Wahl Ihrer Romanschauplätze darf durchaus als extravagant und unkonventionell bezeichnet werden. Damit stehen Sie in der Literaturgeschichte in kraftvoller Tradition. Hat Ihnen diese Affinität und Neugier gegenüber dem Fernen, dem Anderen und Fremden jemals den Vorwurf strategischen Exotismus eingebracht?
Nein, bislang wurde ich eher mit schmeichelhaften Attributen wie ›der Weltreisende‹ oder ›der Abenteurer unter den deutschen Schriftstellern‹bedacht. Aber natürlich bieten exotische Schauplätze den Vorteil, daß man dort Sujets verhandeln kann, wie sie unter den derzeit herrschenden Produktionsbedingungen im heimischen Milieu kaum darstellbar wären.
Vor allem aber zahlt jede Reise ein auf ein Generalkonto an Lebens- und Menschenkenntnis. Und immer mal wieder kann ich meinen Lesern davon etwas mitbringen, was ich ihnen vom heimischen Schreibtisch aus nicht hätte bieten können – stärkere Erschütterungen, aber auch unverhoffte Heiterkeiten.
→ Die Fragen stellte Martin Hoffmeister.
MARTIN HOFFMEISTER
arbeitet seit 4 Jahrzehnten als Redakteur und Publizist für Radio-, TV-, Print- und Online-Medien. Er publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitschriften.
MATTHIAS POLITYCKI
ist ein deutscher Schriftsteller, der Romane, Erzählungen, Hörbücher, sowie Gedichte und Essays publiziert. Er gilt als einer der vielseitigsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur und als großer Stilist.