»Wir haben die Wahl«

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Von der Kostbarkeit der Freiheit

Joachim Gauck zum Beispiel

Freie Wahlen und Wahlfreiheit sind ein unmittelbarer Ausfluss einer freiheitlich verfassten Gesellschaftsordnung. Wir können nicht dankbar genug sein, dass wir hierzulande in einem Gemeinwesen leben, das uns enorme Freiheiten garantiert.

Wie wenig selbstverständlich das ist, dämmert uns inzwischen, angesichts der massiven Angriffe auf unsere liberale demokratische Ordnung, von außen und vor allem von innen. Spät, hoffentlich nicht zu spät, stehen die Gottseidank immer noch vielen aus der Mitte der Gesellschaft mittlerweile gegen die Verächter der Demokratie auf. Der Ausgang dieses »Aufstands der Bürger« ist freilich noch offen.

Am Ende dieses (Wahl)Jahres werden wir klüger sein. Aber eigentlich hätte es dieser bedrohlichen Entwicklung in unserem Land nicht bedurft, um uns bewusst zu werden, was für ein Geschenk es ist, in einer freiheitlichen Demokratie zu leben. Die sog. westlichen Gesellschaften sind ja im globalen Maßstab kein Mehrheitsmodell. Grundrechte, die für uns seit 75 bzw. 33 Jahren selbstverständlich sind, sind in zu vielen Staaten dieser Erde immer noch Vision statt Wirklichkeit.

Aber eben weil die Freiheit für uns selbstverständlich geworden ist, ist »Freiheit« auch ein abgedroschenes Wort geworden. Man beruft sich irgendwie darauf und geht dann zur Tagesordnung über. Freiheit versteht sich angeblich von selbst, sie ist allenfalls ein Thema für Sonntagsreden.

Wenn aber, wie etwa vor 10 Jahren in der Ukraine auf dem Maidan, ein autoritäres Regime, das systematisch bürgerliche Freiheiten beschnitten hatte, gestürzt wird, bekommt Freiheit für einen Moment wieder Klang und Glanz, auch bei uns. Dann erscheint Freiheit als etwas, für das Menschen kämpfen und dabei ihr Leben riskieren, sogar verlieren können.

Wir haben uns an die Freiheit gewöhnt

Aber nur für einen Augenblick. Wir haben uns an die Freiheit gewöhnt – was umso leichter fällt, wenn man nicht um sie hat kämpfen müssen. Wir sind auch bei der Freiheit mehr Konsumenten als Produzenten. Wir sind auch zu sehr damit beschäftigt, über die Übel in der Welt und hierzulande zu klagen. Über die Irrtümer des Pandemie-Managements. Die zu vielen oder zu wenigen Maßnahmen gegen die Erderwärmung. Die zu vielen Migranten und ihre mangelnde Integration.

Die zu vielen oder zu wenigen Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Boni der Bosse in Zeiten der Inflation. Die Windräder und die Wärmepumpe. Die Schuldenbremse und das erratische Agieren der Bundesregierung. Und in all dem ganz allgemein über »die da oben«, die Übles gegen das eigene Volk im Schilde führen oder gar von »geheimen Mächten gesteuert« sind.

Freude über die Freiheit kann bei so viel Übellaunigkeit schwer aufkommen. In Deutschland schon gar nicht, denn es gehört zum deutschen Wesen, das halbvolle Glas lieber als halbleer anzusehen. Und diese selbstkritische Seitenbemerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Selbst meine evangelische Kirche, die in den Nuller-Jahren selbstbewusst und durchaus mit Grund sich im Ensemble der christlichen Konfessionen zur »Kirche der Freiheit« erklärte, vermag von dieser ihrer geistlichen DNA eingestifteten Freiheit keinen überzeugenden, auf andere ausstrahlenden Gebrauch zu machen. Lieber Kirche der Sicherheit, der Erwartbarkeit als Kirche der Freiheit sein: Darin ist die evangelische Kirche hierzulande dann doch ziemlich deutsch.

Wo ist die Freude über die Freiheit?

Warum wird es uns so schwer, Freude an der Freiheit zu empfinden und das auch zu inszenieren? Beim Nachdenken darüber kommt mir Joachim Gauck in den Sinn. Pastor, Bürgerrechtler, Stasi-Aufklärer und unser vorletzter Bundespräsident. Vor zwei Jahren hielt er bei uns in der Frauenkirche eine eindrucksvolle Rede über die Kostbarkeit der Freiheit. Man hörte ihm gebannt zu, nicht nur, weil er als gelernter Pastor einfach reden kann, sondern weil bei ihm das Vergnügen an der Freiheit auch nach über 30 Jahren Freiheitserleben noch mit Händen zu greifen ist.

Der in der Unfreiheit des SED-Regimes groß Gewordene hat sich noch nicht gewöhnt an die Kostbarkeiten, die unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung garantiert: Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, die Freiheit der Berufswahl, Versammlungsfreiheit, Forschungs- und Publikationsfreiheit. Die Freiheit, die es erlaubt, ja sogar fördert und belohnt, Vereine, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und Parteien zu gründen und damit zu zeigen, dass Freiheit nicht mit schrankenlosem Individualismus zu verwechseln ist, sondern zur Übernahme von Verantwortung ermutigt. Für andere ebenso wie für sich selbst.

Eine politische Kultur der Kritik, des Diskurses und, ja, auch des Streits: Wer es, wie Gauck, noch anders erlebt hat, weiß, dass diese keine Selbstläufer, sondern Kostbarkeiten sind. Die Freude an der Freiheit setzt voraus, dass man noch darüber staunen kann, wie über ein Geschenk. Dazu eine berührende Passage aus Joachim Gaucks Erinnerungen »Winter im Sommer – Frühling im Herbst« aus dem Jahr 2010: »Ich kannte aus zahllosen Gesprächen der letzten Jahre die Diskrepanz des Erlebens zwischen mir, dem im Kern ostdeutsch Geprägten, und meinen Freunden und Bekannten aus Westdeutschland.

Ich kannte den mitleidigen Blick jener, die meine beständige Freude an der westlichen Freiheit für naiv hielten, irgendwie rührend. Hundertmal hatte ich diesen Kulturtrifft-Natur-Blick von Ethnologen oder Feuilleton-Artisten aushalten müssen, die mich anschauten, als wäre ich gerade aus einer primitiven Kultur zugewandert. Doch ich wollte und will mir jene warme und tiefe Zuneigung zur Freiheit erhalten.

Ich vertraue ihrer verändernden Kraft, auch wenn sie angesichts so vieler und so komplexer Herausforderungen in der modernen, globalisierten Welt manchmal verloren zu gehen scheint. Ich habe ihre tiefgreifende, zur Selbstverwirklichung befähigende Dimension selbst erfahren. Und so werde ich genau wie viele andere aus dem Osten Europas die Freiheit wohl ebenso lange in hohen Tönen loben, wie ich die Spätfolgen der Unfreiheit in mir spüre.«

Ohne Freiheit ist alles andere nichts

Diese unstillbare Freude an der Freiheit war auch der Cantus firmus von Joachim Gaucks Präsidentschaft 2012–2017. Immer wieder hat er mit der Kraft des Wortes, der einzigen Macht, mit der unsere Verfassung den Bundespräsidenten versieht, die Überzeugung buchstabiert, dass Freiheit nicht alles, aber ohne Freiheit alles andere nichts ist. Das beherzte, wenn es sein muss kämpferische Streiten für Freiheit ist kein Nachhutgefecht, 34 Jahre nach dem Ende der DDR. Freiheit, politisch verstanden, hat durchaus existenzielle Wurzeln.

Auch dies hat Joachim Gauck unserem Land neu ins Bewusstsein gebracht. Er sprach diesbezüglich gerne von »Ermächtigung«. Ein überraschender Ausdruck, in Deutschland aufgrund unserer jüngeren Geschichte eigentlich eher toxisch. Er ist aber treffend gewählt, denn es ist ja so: Indem man seine Freiheit ergreift, ermächtigt man sich zur Eigenverantwortung und wird damit frei dafür, Verantwortung für andere zu übernehmen.

Bis hin zum Gemeinwesen, das in der Freiheit des Einzelnen gründet und diese zugleich ermöglicht. »Ermächtigung« gehört so gesehen nicht nur zum politischen, sondern auch zum existenziellen Vokabular. So wie Freiheit nicht nur ein Regelwerk für menschenfreundliche Politik, sondern eine Lebensmacht ist. Wir leben aus ihr.

PFARRER MARKUS ENGELHARDT
ist seit 2021 Pfarrer der Frauenkirche Dresden und
Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche Dresden.