»Wir haben die Wahl«

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»...vor Feuer und Wasser gestellt: Wähle!«

Sirach 15,16

Der Publizist und Philosoph Michel Friedman schloss das Podium „Demokratieforum“ in der Frankfurter Paulskirche am 10. März mit dem äußerst denkwürdigen Satz: „Die Demokratie lässt den Menschen die Freiheit, sie auch abzuwählen...“

Eine Wahrheit, die das Wesen der Demokratie in aller Konsequenz vor Augen führt. In ungefährlichen Zeiten ist das eine Aussage, auf die ein Land, eine Gesellschaft stolz sein kann. In kritischen Zeiten beschreibt sie jedoch eine beklemmende Wahrheit, denn sie macht die Einbahnstraße bewusst: Es gibt einen der Demokratie inhärenten Weg von der demokratischen Staatsform in den totalitären Staat, nicht aber die Möglichkeit, aus dem Innern eines totalitären Staatswesens heraus auf dem legalen Weg von Wahlen zu einer freiheitlichen Regierungsform (zurück) zu gelangen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben zahlreiche Sicherungen eingebaut, um gar nicht erst in diese Einbahnstraße einzubiegen.

Doch wir befinden uns schon mindestens in der Kurve, haben bis hierher bereits etliche Hinweisschilder – ich will nicht von Ampeln reden – überfahren.
Was macht es so reizvoll, in die Einbahnstraße abzubiegen? – Es gibt Stimmen, die meinen, die Gesellschaft langweile sich und müsse wie ein verwöhnter Teenager den Kick im Risiko suchen, nach dem Motto: No risk, no fun! Viele erklären sich dieses Ausbrechen aus der Demokratie mit der Überforderung der Bürgerinnen und Bürger aufgrund der Komplexität freiheitlicher Verfasstheit des Staates. Das Individuum sehnt sich nach überschaubaren Strukturen, nach leicht zu erfassenden Denkmustern und Einteilungen in schwarz und weiß. Grautöne, gar andere Farben des ganzen Spektrums, verunsichern und erschweren das Zurechtfinden in der Welt. Extremistische Gruppierungen bieten einfache Lösungen an, über die niemand lange nachdenken muss.

Es wird einem zum Beispiel gesagt, wer deutsch ist und wer nicht und dass die Idee eines geeinten Europa Identitätsverlust bedeutet, was Angst schürt. Es wird beschrieben, wie eine »richtige« Familie auszusehen habe. Es wird erklärt, dass sich die Kirche allein um das Evangelium zu kümmern habe und sich der Politik enthalten müsse, weil das andernfalls eh nur in einer linksgrün ausgerichteten Gedankenwelt ende. Es wird gesagt (!), dass man nichts mehr sagen darf, usw., usf.

»Prüfet alles,
aber das Gute
behaltet!«
1.Thess 5,21

Ich rege an, das, was hier biblisch nach altkluger, vielleicht auch moralinsaurer Belehrung klingt, mal ganz pragmatisch zu verstehen – wie der Rat der lebensweisen Großmutter, die schon so manches in ihrem Erdendasein hat kommen und gehen sehen. Ja, das Prüfen, das Wählen-Können ist anstrengend. Und – ja, es ist auf den ersten Blick nicht immer eindeutig erkennbar, was »das Gute« ist, das es zu behalten, im besten Wortsinn: zu »konservieren« gilt. Doch es gibt einige einleuchtende ethisch-moralische Kriterien, die das Lebensdienliche offenlegen. Diese Kriterien werden nicht von der Politik ersonnen; Politik kann ethisch-moralische Standards jeweils nur aufnehmen, aber nicht selbst setzen. Kirche spielt hier (noch) eine wichtige orientierende Rolle.

Das entscheidende Kriterium ist jenes der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen. Es gründet in der biblisch-theologischen Rede von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen. Damit sind weitere Kriterien aufgerufen: Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und Nächstenliebe. »Prüft alles« – das steht bei Paulus bewusst im Plural. Mit der Suche nach den »guten« handlungsleitenden Maßstäben ist niemand alleingelassen.

»Rede und schweige nicht!«
Apg 18,9

Als Frauen und Männer des Wortes ist uns Pfarrerinnen und Pfarrer diese Weisung Gottes ins Stammbuch – oder vielmehr ins Herz geschrieben. Und ich will auch nicht schweigen, will nicht zuschauen und zuhören, wie der Umgangston immer rauer und ungehöriger wird, wie Menschen mit Migrationshintergrund und/oder anderer Religionszugehörigkeit überlegen, wohin sie auswandern müssten, wenn sie hierzulande nicht mehr erwünscht sind. Und eben nicht zu schweigen von den Geflüchteten, die gar keine Wahl haben. Ich will nicht schweigen, wenn Menschen mit Behinderungen und andere uns diakonisch Anbefohlene um ihren Schutz und ihre Inklusion fürchten müssen.

Ich möchte nicht zu denen gehören, die ausländische Fachkräfte einfach ziehen lassen, weil sie sich und ihre Familien den Anfeindungen nicht weiter aussetzen wollen. Und dabei geht es mir erst in zweiter Linie darum, dass uns das wirtschaftlich, in Forschung und Pflege weit zurückwirft – manches Krankenhaus und Pflegeheim könnte endgültig schließen, weil es kein Personal mehr gäbe – zuerst und vor allem geht es mir um das soziale Miteinander, das Menschliche und Tolerante, das Offene einer Gesellschaft, das hier augenblicklich auf dem Spiel steht.

»[D]er Ursprung des Politischen [ist] dort zu finden, wo einer auf den anderen achtet, ihn in seiner Not und in dem, was er/sie mitzuteilen hat, wahrnimmt. Dies macht den Status politicus aus, wie ihn die christliche Tradition in den Blick gerückt hat«, so der Ethiker Hans G. Ulrich. Ich verstehe mich als Bürgerin und Pfarrerin im Status politicus befindlich, und diesen verlasse ich auch nicht auf der Kanzel. Wer meint, ich solle mich als Kirchenvertreterin der Politik enthalten, der spricht mir diesen Status ab. Ich müsste dann aufhören zu reden, könnte meinen Be-Ruf nicht mehr ausüben. »Es gibt keine menschliche Äußerung, die nicht in den Lauf der Dinge eingreift.« (B. Waldenfels, Vielstimmigkeit der Rede, 113) Insofern ist auch jede Kanzelrede politisch.

Der Theologe Manfred Josuttis spitzt zu: »Jede Predigt ist politisch, oder sie hat aufgehört, Predigt zu sein.« Jesus steht an der Seite der Schwachen, der Entrechteten, der Ausgegrenzten. Er ergreift für sie Partei und mit ihnen das Wort. Er fordert ethisches Handeln in Nachfolge. Das ist Evangelium. Davon habe ich zu reden. Damit rufe ich politische Themen auf. Die Rolle der Kirche ist es nicht, Politik zu treiben. Es ist aber ihre Aufgabe, Menschen zu selbständigen gewissenhaften politischen Entscheidungen auf dem Boden der Heiligen Schrift zu befähigen und zu ermutigen, ihr Urteilsvermögen, ihre Empathie und Nächstenliebe zu wecken und zu stärken und sie auf diesem Weg im Gebet zu begleiten. Weltlicher und geistlicher Bereich, so die Unterscheidung nach Martin Luther, sind nicht voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen.

Paulus hört Gottes Stimme, die ihn (be-)ruft: »Fürchte dich nicht, rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.«
Dieses Volk ist bunt und lässt sich nicht völkisch-national vereinnahmen. Dieses Volk erhebt seine Stimme auf Kundgebungen und Demonstrationen, in der Straßenbahn und bei der Familienfeier. Jede und jeder hat die Wahl. Jede und jeder hat eine Stimme, die sie und er erheben können. Keine schweigende Mehrheit, sondern redende, singende, leidenschaftlich argumentierende Mehrheit von Menschen guten Willens.

»Zur Freiheit hat uns Christus befreit!
So steht nun fest und
lasst euch nicht wieder
das Joch der Knechtschaft auflegen!«

Galater 5,1

Das eingangs erwähnte Zitat von Michel Friedman beschreibt die Stärke der Demokratie, die zugleich ihr verletzlichster Punkt ist. Wir haben die Freiheit, ja, die Macht des »démos«, des Volkes, die Demokratie in die Selbstzerstörung zu treiben oder sie freiheitlich im Sinne der Menschenwürde zu gestalten. Die Demokratie ermöglicht den Sozialstaat. Er fördert Sie, liebe Leserinnen und Leser, er fördert mich, uns alle entsprechend unseren Möglichkeiten und Defiziten. Die Demokratie garantiert den Rechtsstaat. Er schützt Sie, er schützt mich und uns alle.

Da ist prinzipiell kein Platz für Willkür oder etwa Urteile ohne rechtmäßige Verfahren und Verteidigung. Wir können auf der Basis des inzwischen 75-jährigen Grundgesetzes alles werden, alles sagen, ohne fürchten zu müssen, dass staatliche Sanktionen und Repressalien drohen. Meine Kindheit und Jugend in der DDR hat mich gelehrt, wie es sich anfühlt, eben nicht alles sagen zu dürfen, eben nicht alles werden zu können. Das Gefühl von Unfreiheit war ständiger dumpfer Begleiter, ohne dass ich das damals als Kind oder Jugendliche hätte genau fassen und beschreiben können.

Was ich aber damals schon erkannte, war: Wenn ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger einsperren muss und dazu einen Schießbefehl erlässt, damit alle bleiben, kann da ja irgendwas nicht stimmen. Heute sage ich: So ein Staat hat seine Legitimation spätestens mit dem ersten Mauertoten verspielt. Ein Vergleich mit den gegenwärtigen Zuständen in Deutschland verbietet sich und verhöhnt die Opfer von damals.

Frei zu sein heißt alles selbst entscheiden
Fragen stellen manchmal unbequem
Herden können Eigensinn nicht leiden
Freie sind nicht immer angenehm

Ich habe Lust an der Freiheit. Ich schätze es, die Freiheit zu haben, für etwas oder gegen etwas zu sein. Ich habe die Freiheit, mich einzubringen, etwas voranzubringen, nicht auf das Vergangene festgelegt zu werden. Ich habe die Freiheit, etwas aushalten zu können, was noch der Verbesserung harrt. Ich habe die Freiheit, zugunsten anderer auf eigene Vorteile zu verzichten. In Freiheit kann ich den anderen einfach so sein lassen, wie er ist.

Das führt mich zu ganz neuen Perspektiven auf das Leben. Ich kann ganz frei Menschen wählen, die für den Erhalt der Freiheit eintreten, ich kann frei auf Leute setzen, die sich in den allermeisten Themen besser auskennen als ich und die mir ihre Fachexpertise nach bestem Wissen und Gewissen zur Verfügung stellen. Dass es anstrengend ist, jedes Mal wieder neu und frei zu entscheiden, stellt ja nicht die Freiheit an sich in Frage.

Fußball wird ja auch nicht abgeschafft, bloß weil Gegner, Siege und Tore so anstrengend sind. Im Gegenteil: Meine Motivation steigt. Und die Freude, selbst etwas errungen zu haben, ist größer und motivierender, als wenn mir das Erkämpfte von anderen in den Schoß gelegt wird – wobei ich aber auch hier die Freiheit habe, das von anderen Errungene dankbar anzunehmen und davon zu profitieren. Ich schätze die Freiheit, die mich in die Verantwortung nimmt. Ich bin frei, der Freiheit Leitplanken zu geben und mich an diese zu halten, damit sie nicht der Beliebigkeit oder dem Chaos anheim fällt.

»Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert:
nichts als Gottes Wort
halten und Liebe üben und demütig sein
vor deinem Gott.«

Micha 6,8

Leitplanken liefert mir der christliche Glaube. Dessen »Echoräume« sind die Kirchen. Sie sind keine Garanten der Freiheit und der Menschenwürde – das zeigt ihre Geschichte, leider auch die jüngste. Doch sie behält ihre prophetische Stimme und sie hat ihre versöhnende Kraft darin, zu wissen und zu orientieren, wie Leben mit und nach der Schuld gehen kann, wie Neuanfänge möglich werden.

In diesem Sinne erinnere ich an zwei Zeugnisse der Kirchengeschichte, an denen der sächsische Landesbischof, Dresdner Superintendent und Pfarrer der Frauenkirche Hugo Hahn (1886-1957) seinerzeit beteiligt war.
In der Barmer Theologischen Erklärung, die Ende Mai 1934 von führenden Mitgliedern der Bekennenden Kirche auf der Synode in Wuppertal-Barmen verfasst wurde und die sich damit 2024 zum 90. Male jährt, wird der Auftrag der Kirche so beschrieben: »Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.«

Von bleibend hoher Aktualität sind die Worte aus dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945: »Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.
So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: ›Veni, creator spiritus!‹«

Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke
ist seit 2016 Pfarrerin der Frauenkirche Dresden.