»Familie«
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Leitbild »Ehe und Familie« und die Bibel?
Am Beispiel der Homosexualität
»Die evangelische Kirche schafft sich ab«, urteilte der erzliberale Spiegel. Die konservative FAZ befand ungnädig über die EKD: »Windige Zeitgeistsurfer«. Seltene Eintracht zwischen politisch sehr unterschiedlichen Leitmedien. Für die katholischen Geschwister war die Sache erst recht klar. Zwei Kardinäle, der erzkonservative Meisner und der liberale Lehmann, hielten der evangelischen Kirche einen Hieb gegen die Ökumene vor. Und ein Altbischof und ehemals führender Repräsentant der EKD überschrieb einen Zeitungsbeitrag zum Thema lakonisch mit einem Wort: »Orientierungslos«.
Ich habe das alles noch sehr vor Augen und in Erinnerung. Obwohl es schon 11 Jahre her ist. Damals, im Sommer 2013, schaffte es die evangelische Kirche über Wochen in alle wichtigen Medien. Das wünschen wir uns ja eigentlich, aber damals war das nicht vergnüglich. Anlass war eine sog. »Orientierungshilfe« mit dem Titel »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken«, die der Rat der EKD vorgelegt hatte. Diese Schrift enthielt neben anderem die Aussage, dass verantwortlich gelebte gleichgeschlechtliche Partnerschaf ten heterosexuellen ethisch gleichzustellen sind.
Heute sind in nahezu allen Gliedkirchen der EKD Trauungen zwischen schwulen und lesbischen Menschen möglich und kirchenrechtlich geregelt. Von daher ist es nur noch schwer nachvollziehbar, welch mittleres Erdbeben diese Schrift damals in und v. a. außerhalb unserer Kirche auslöste. Ich war seinerzeit Dekan in der grünliberalen südbadischen Universitätsstadt Freiburg. In unserem Kirchenbezirk lösten diese Aufgeregtheiten damals eher Kopfschütteln aus. Von daher ist es nur noch schwer nachvollziehbar, welch mittleres Erdbeben diese Schrift damals in und v. a. außerhalb unserer Kirche auslöste. Die Haltung unserer Pfarrer*innen und einer großen Mehrzahl der Gemeindeglieder war: Endlich nimmt unsere Kirche die vielfältigen Veränderungen in den familiären Konstellationen und im Familienbild ernst…
Wer damals jene 160 Seiten dicke EKD-Schrift wirklich gelesen hatte, musste auf jeden Fall anerkennen, dass sie es sich alles andere als leicht machte mit einem Themenfeld, das wie nur wenige emotional befrachtet und so komplex ist, dass sich schnelle und abstrakte Urteile verbieten. Es gibt hier kaum ein schwarz und weiß, sondern sehr viele Zwischentöne. Windiges Zeitgeistsurfing sähe anders aus. Bis heute wird in den Kirchen das »Leitbild Ehe und Familie« hochgehalten. Es hat Vorrang vor allen anderen Lebensformen. In der katholischen Kirche ist dies ganz explizit so und dogmatisch abgesichert, es ist die offizielle Lehre der Kirche, nach der sich die Gläubigen zu richten haben (hätten).
In der evangelischen Kirche werden »Ehe und Familie« zwar weiterhin als »Leitbild« angesehen, dies hat sich aber ausdifferenziert.
Es gibt erstens nicht mehr die unbedingte Vorordnung biblischer Aussagen gegenüber geschichtlichen Entwicklungen und dem soziokulturellen Wandel von Wertvorstellungen, sondern ein gegenseitiges Durchdringen beider Dimensionen. Und zweitens geht es im Protestantismus immer auch um das von den Reformatoren sog. Schriftprinzip, d. h. die Frage, wie mit biblischen Texten und Aussagen hermeneutisch umzugehen ist, wie sie zu lesen und zu verstehen sind. Wenn man sich dieser Frage stellt, wird man früher oder später an der Erkenntnis nicht vorbeikommen: Wenn es um Lebensformen geht, insbesondere um Ehe und Familie, kam immer schon viel zeitbedingte Ideologie ins Spiel, und Vorstellungen, die weniger biblisch als vielmehr bürgerlich, also erst wenige 100 Jahre alt sind.
So wissen wir schon seit langer Zeit, dass man aus der Bibel keinesfalls die bürgerliche Ehe, wie wir sie kennen, ableiten kann. Diese gab es zu biblischen Zeiten noch gar nicht. Das weiß auch jeder katholische Bischof. Ich denke jetzt gar nicht nur an die in Teilen der Bibel – etwa in den berühmten »Erzvätergeschichten« der Genesis – selbstverständliche Polygamie. Relevanter ist die Eheethik, wie sie in den sog. »Haustafeln« entfaltet wird, die uns in einigen Briefen des Neuen Testaments begegnen. Ein prägnanter Satz daraus: »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie sich's gebührt im Herrn« (Kol 3,19).
Die katholische Kirche hat diese Sätze ihrer Zeitbedingtheit entnommen und sie zu einem in seiner Architektonik faszinierenden, in der Sache aber diskussionswürdigen Lehrgebäude dogmatisiert. Dieses besteht aus einer dreifach abgestuften Analogie. So wie Christus der Sohn im Gehorsam gegen den Vater seiner Sendung treu geblieben ist, so besteht die Sendung der Kirche als Braut Christi im Gehorsam gegen ihr Haupt Christus; und dieses Verhältnis wiederum wird in der Ehe als sozietärer Urzelle der Kirche abgebildet im Gehorsam der dienenden Frau gegen den Mann als ihrem Haupt. Hätten wir nicht staatskirchenrechtlich abgesichert, dass die Kirchen ihre Angelegenheiten nach ihren Maßstäben regeln können, würde diese Verhältnisbestimmung, die gegen jede Gleichstellung verstößt, vom Verfassungsgericht als grundgesetzwidrig kassiert.
Man kann aus soziokulturellen Gründen für einen Vorrang der bürgerlichen Ehe vor anderen Formen der Partnerschaft plädieren. Darüber darf und soll man diskutieren. Wer diesen Vorrang aber aus der Bibel als gottgewollt und zeitlos gültige Schöpfungsordnung im Sinne eines sog. »Naturrechts« herausliest, der betreibt keine Exegese, sondern Eisegese: er projiziert seine Wertvorstellungen in die Bibel. Der größte Aufreger jenes »Familienpapiers« der EKD von 2013 war, dass damals behauptet wurde, es werde hier die Gleichrangigkeit der Ehe mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften postuliert. Aber diese Kritik war so nicht zutreffend. Das EKD-Schrift hat nicht in Frage gestellt, dass es keine Stelle in der Bibel gibt, die sich positiv über Homosexualität äußert. Das ist unstrittig.
Die Frage aber, die sich für die damaligen Verfasser wie für jeden ernsthaften evangelischen Christen stellt, ist: Wie gehen wir mit dem – übrigens äußerst schmalen! – biblischen Befund zu diesem Thema um? Eine der wenigen Stellen dazu, die etwa in manchen Kirchen des globalen Südens, aber auch in den orthodoxen Ostkirchen noch aufgerufen wird, steht im 3. Buch Mose, im sog. Heiligkeitsgesetz (3. Mose 17-26), wo lapidar festgehalten wird, dass Homosexualität »dem Herrn ein Gräuel« ist und mit dem Tode bestraft werden muss. Dazu kann es keine zwei Meinungen geben: Das ist eine grausige, unmenschliche Feststellung, die nur zeitbedingt gelesen werden kann. Sie ist für uns Christen so wenig maßgeblich wie andere Rechtsvorschriften im Alten Testament, die vom neutestamentlichen Liebesgebot her schlicht zu kritisieren bzw. als nicht relevant anzusehen sind.
Das Heiligkeitsgesetz untersagt z. B. den Verzehr von Blutwurst. Hat das jemals jemand, der bibeltreu sein will, in Gewissensnot bei seinen Essgewohnheiten gebracht? Oder ernsthafter: Eine Kirche, die sich von der berühmten Aussage des Paulus »Die Frau schweige in der Kirche« (1. Kor 14,34) nicht (mehr) abhalten lässt, Frauen ins geistliche Amt zu ordinieren, weil sie diese Ansicht des Apostels zu Recht als historisch bedingt relativiert, darf diese Perspektive getrost auch auf andere umstrittene Themen wie etwa die Homosexualität anwenden. Würde sie das nicht tun, sondern den Wortlaut solcher Stellen als vom Himmel gekommenes, verbindlich zu nehmendes Wort Gottes verstehen: Wir hätten in unserer Kirche bis heute nicht, was seit etwa 60 Jahren sich als großer Segen erwiesen hat: Pfarrerinnen.
Ich habe, manchmal hinter etwas vorgehaltener Hand, oft von katholischen Kollegen gehört, wie sehr wir dort um die Möglichkeit, Frauen ins geistliche Amt zu ordinieren, beneidet werden. Man nimmt in der katholischen Kirche sehr wohl wahr, mit welchen Pfunden wir mit unseren Pfarrerinnen wuchern können.
Ich meine jedenfalls: Sachliche Kritik an biblischen Aussagen, eine Einordnung in ihren historischen Kontext ist, anders als Fundamentalisten behaupten, kein Indiz für Unglauben.
Als Protestantenkönnen wir uns hier auf einen unverdächtigen Zeugen berufen. Martin Luther entwickelte den Grundsatz, die biblischen Texte an Jesus Christus als der »Mitte der Schrift« zu prüfen. Diese Perspektive geht davon aus, dass es in der Bibel, einer riesigen Bibliothek von Schriften verschiedenster Gattungen, deren Entstehung sich über mehr als 1.000 Jahre erstreckt, mehr und weniger zentrale Aussagen gibt. Auch die katholische Kirche sieht das inzwischen so. Das II. Vatikanum spricht in einem seiner wichtigsten Texte, der Dogmatischen Konstitution Dei verbum im Blick auf die Autorität der Bibel von einer »Hierarchie der Wahrheiten«, der zufolge es verbindlichere und weniger verbindliche biblische Aussagen gibt.
Luther rechnet sogar mit der Möglichkeit, dass Bibeltexte von der »Mitte der Schrift« her zu tadeln sein können, weil sie nicht wirklich christusgemäß sind. Er hat das auch kräftig getan, im Blick z. B. auf den Jakobusbrief und die Johannesoffenbarung. Beide Bücher hätte er lieber nicht in der Bibel gesehen. Prüft man die Aussagen der Bibel zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen vom Evangelium von Jesus Christus her, dann fällt zunächst ins Auge, wie dünn der biblische Befund hier ist. Homosexualität ist in der Bibel ein Randthema unter etlichen anderen.
Jesus war es offenbar nicht wichtig, denn es gibt keine einzige Aussage von ihm dazu. Nirgends findet sich auch ein Hinweis, wie Menschen und auch die Kirche mit dem Phänomen gelebter Homosexualität umgehen sollen. Die gab es ja zu allen, auch zu biblischen Zeiten. Diese Frage, die heute sehr wichtig ist, war schlichtweg nicht im Horizont der biblischen Autoren. Paulus hatte, als er sich im 1. Kapitel des Römerbriefs mit einigen wenigen, aber verstörend harten Sätzen zur Homosexualität äußerte, das in der Antike weitverbreitete Phänomen der sog. Ephebophilie, der Knabenliebe vor Augen. Und die Prostitution mit Lustknaben, wie sie Leute wie Sokrates und Platon praktizierten, die wir als Giganten abendländischer Kultur bewundern.
In Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit gelebte gleichgeschlechtliche Partnerschaften, wie sie heute selbstverständlich sind: das gab es damals schlicht nicht. Man kann das vielleicht damit vergleichen, dass man in der Bibel auch keine Aussagen über Geschwindigkeitsbeschränkungen oder über privaten Waffenbesitz oder über Windkraftwerke findet. Man muss auch da aus dem Gesamtzusammenhang erschließen, was jeweils für uns heute dem Willen Gottes entspricht. Also bei der Geschwindigkeitsbeschränkung etwa das Argument, dass dadurch Leben geschützt wird – was Gottes Willen entspricht –, oder bei Kraftwerken der sorgsame Umgang mit den natürlichen Ressourcen, was ebenfalls biblisch verankert ist.
Die biblischen Autoren lebten alle mit dem Vorurteil, dass Homosexualität grundsätzlich eine Abweichung vom »Natürlichen« und daher als abnorm zu verurteilen ist. Homosexualität taucht in der Bibel jedenfalls immer als Kampfbegriff auf. Selbst der hochintellektuelle Paulus schreibt über sie in einer Sprache, die man von unseren Wertemaßstäben her als zutiefst diskriminierend bezeichnen muss. Für Paulus ist Homosexualität gleichbedeutend mit Habgier, Neid, üble Nachrede, Mord. Aus solchen Kampfbegriffen ein Gottesurteil über verantwortlich gelebte gleichgeschlechtliche Beziehungen und entsprechende Familienmodelle zu folgern (wie dies bei Menschen aller großen Religionen immer noch der Fall ist) wäre ein unhistorischer und damit unevangelischer Umgang mit der Bibel.
Die biblischen Autoren taten nicht mehr und nicht weniger als die Gottesferne ihrer Zeitgenossen mit Hilfe eines verbreiteten Vorurteils zu illustrieren. Heute würde man menschliche Gottesferne am Beispiel mit Kriegstreiberei, Korruption und Geldgier, in Ver-
weigerung von Menschenrechten oder Gewalt in Beziehungen (hetero- wie homosexuellen) in Verbindung bringen. Homosexualität als solche als Beispiel für die Selbstsucht und Gottlosigkeit des Menschen anzuführen, erscheint uns heute als absurd. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften können mit demselben ethischen Ernst gestaltet werden wie heterosexuelle. Und sie werden es auch mehr und mehr – nicht zuletzt in dem Maße, indem homosexuelle Menschen aus dem Ghetto herausgeholt werden, in das sie jahrhundertelang (unter tatkräftiger Mithilfe der Kirchen) gedrängt waren.
Jeder Mensch ist mehr als seine sexuelle Orientierung.
Schwule und Lesben sind nicht mehr und nicht weniger als Heterosexuelle, mit Luther zu reden, gerecht und Sünder zugleich – und als solche von Gott unbedingt angenommen. Als Protestanten sind wir dankbar (und ja, auch ein bisschen stolz), »Kirche der Freiheit« zu sein. Ein solche kann ihren Mitgliedern nicht nach der Devise »Die Kirche aber lehrt!« vorschreiben, was sie zu glauben haben, um noch Glieder der Kirche zu sein. Sie achtet das Gewissen des Einzelnen als höchstes Gut. Gewissen aber kann sich nur bilden, wenn man Gottes Wort immer wieder befragt, was in dieser und jener Situation Gottes Wille ist. Dazu braucht es ein ehrliches, unbefangenes Wahrnehmen der Realitäten – und zwar wie sie sind, nicht wie sie »aus kirchlicher Sicht« wünschenswert wären.
Denn in diesen Realitäten leben die Menschen, für die wir als Kirche da sind. Deshalb ist es kein Zeichen von Schwäche, oder gar ein Verrat an der Bibel, wenn die Kirche mit Texten wie jenem Familienpapier von 2013 sorgfältig, differenziert und vorurteilsfrei hinschaut und beschreibt, in welcher Vielfalt an Konstellationen es heute familiäres Leben gibt. Zu fragen, wie unter den unterschiedlichen familiären Bedingungen die essentiellen biblischen Dimensionen wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Solidarität gestärkt werden können, anstatt gleichgeschlechtlichen Elternpaaren oder alleinerziehenden Müttern dogmatische Richtigkeiten entgegenzuhalten à la: »Wir lieben euch Sünder – aber wir hassen eure Sünde!«: das ist aller Ehren (und allen Streites) wert.
Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer