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Ein Platz für die Ewigkeit
Inge Polster ist eine kleine Person Anfang achtzig. Sie ist mit dem Zug aus Chemnitz gekommen, um einen Sitzplatz in der Frauenkirche auszusuchen – für ihre Annett, wie sie sagt. Annett war die Tochter von Frau Polster. Sie ist im April 2021 verstorben, nachdem sie sich tragischerweise bei einem Krankenhausaufenthalt mit einem multiresistenten Keim infiziert hatte. Den Eltern brach der plötzliche Tod der Tochter das Herz. Herr Polster verstarb nur wenige Wochen nach seiner Tochter. Vorausgegangen war eine lange Krankheit aber letztendlich war es der schwere Schicksalsschlag, der ihn traf.
Inge Polster möchte, dass ihrer Tochter Annett ein Sitzplatz gewidmet wird, weil sie mit der Frauenkirche eine ganz besondere persönliche Geschichte verbindet. Christoph Wetzel, der die Malereien der Innenkuppel der Frauenkirche ausführte, hatte Annett Polster Anfang der 1990er Jahre portraitiert. Damals war sie 23 Jahre alt. Annett Polster war durch ihre geistige Behinderung besonders. Wetzel sah dies als Herausforderung und war begeistert vom Wesen der jungen Frau mit dem lieblichen Blick. Ein Foto dieses Portraits hat Frau Polster am Tag unseres Treffens dabei und zeigt es mir stolz. Bei jedem Satz den sie spricht, spürt man den Schmerz, den der Verlust der Tochter hervorruft.
Wir besuchen mehrere Sitzplätze und dann fällt sehr schnell eine Entscheidung.
Oft ist es ein Bauchgefühl, dem die Spenderinnen und Spender bei der Wahl eines Sitzplatzes folgen. Noch während wir in der zweiten Empore C sitzen, beschließt Frau Polster kurzerhand, einen Platz neben dem ihrer Tochter für sich zu reservieren. Auf diese Weise können beide immer zusammen sein. Viel Emotionalität ist auch bei Ines Hermann zu spüren, als sie die Nummer des Spendenservice wählt. Erst wenige Tage zuvor war ihre Mutter gestorben. Frau Hermann hatte sie bis zuletzt begleitet.
Am Sterbebett gab sie ihr das Versprechen, dass sie einen Sitzplatz in der Frauenkirche bekommen würde. Bereits zwei Tage nach unserem Telefonat sind wir in der Frauenkirche verabredet. In meiner Hand halte ich einen kleinen Zettel mit den vier Plätzen, die wir uns anschauen werden. Die Großeltern von Frau Hermann hatten in der Frauenkirche geheiratet, ebenso ihre Tochter. Ihr Vater wurde in der Frauenkirche getauft. Der Bruder des Vaters stiftete einen Sitzplatz für Ines Herrmanns Großeltern im Kirchenschiff.
Die Frauenkirche spielte in der Familie immer eine bedeutende Rolle.
Als die Mutter von Ines Hermann nach einer schweren Krankheit verstarb, wollte die Familie für den verwitweten Ehemann einen Erinnerungsort schaffen. Rolf Opitz verlor nach 66 Ehejahren sein »Mädel«, wie er Ursula Opitz liebevoll nannte. Gemeinsam suchen wir einen Platz in der zweiten Empore aus – direkt über den Plätzen der Großeltern. An einem Freitagvormittag kommen drei Generationen in die Frauenkirche, um in der Empore bei dem gewidmeten Platz an die geliebte Frau, Mutter und Oma zu gedenken. »Dass meine Großeltern in der Frauenkirche geheiratet haben und mein Opa immer mit der Straßenbahn zu jedem Hochzeitstag an die Ruine der Frauenkirche fuhr, hat mich sehr beeindruckt. Auch die Erinnerungen meines Vaters an das zerstörte Dresden und den umgestürzten Luther, die ihn heute noch begleiten, sind sehr emotional für mich«, sagt Ines Herrmann.
Theo Druijven kommt mindestens einmal im Jahr aus den Niederlanden in die Frauenkirche und besucht den Sitzplatz, den er 2017 für seine Schwester und sich gestiftet hat. »Das Band zwischen uns Geschwistern war so stark, dass ich 43 Jahre nach ihrem Freitod den Platz in der Frauenkirche aussuchte, « sagt Theo Druijven. Die kleine Schwester nahm sich mit nur 20 Jahren das Leben. Ihr Tod war in der Familie ein Tabuthema. Das namenlose Grab wurde bereits 1989 beseitigt. Heute sind Theo und Annemarie Druijven zumindest symbolisch immer zusammen auf der 3. Empore.
Für mich persönlich ist es jedes Mal etwas Besonderes, einen Sitzplatz für jemanden auszusuchen.
Oft spielt der Verlust eines Menschen dabei eine Rolle, jedoch glücklicherweise nicht immer. Es gibt auch Familien, die einem kleinen Täufling einen Sitzplatz widmen möchten – als bleibende Erinnerung an dem besonderen Tag in dieser besonderen Kirche. Auch Ehepaare, die sich mit Dresden und der Frauenkirche verbunden fühlen, haben gemeinsam Sitzplätze gestiftet. Mit Gewissheit kann ich sagen, dass die Liebe zur Familie bei einer Sitzplatzwidmung immer eine Rolle spielt.
In meiner beruflichen Rolle fühle ich mich als Bindeglied zwischen dem Ort Frauenkirche und der Geschichte, die hinter der Sitzplatzwidmung steht. Bei jedem Platz, den ich aussuche und vorschlage, versuche ich mich in die jeweilige Spenderin oder den Spender hineinzuversetzen. Ich sage immer, dass man merkt, wenn man seinen Platz gefunden hat. Ist ein persönlicher Besuch in der Frauenkirche nicht möglich, fotografiere ich die Plätze und auch den Ausblick vom Platz. Es kann sogar vorkommen, dass ich kleine Videoclips verschicke, die die Entscheidung erleichtern sollen.
Möchten auch Sie einen Platz in der Frauenkirche stiften, bin ich gern behilflich.
UTA DUTSCHKE
Referentin Fundraising