»Familie«

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Familie – im Spannungsfeld von tiefem Vertrauen/inniger Verbundenheit und schmerzhaften Enttäuschungen/ Verletzungen

Familie – für viele Menschen Ort tiefer Verbundenheit, wechselseitiger Fürsorge, Nähe und höchster Verlässlichkeit. Für viele andere aber Ort schmerzlichster Enttäuschung, Einsamkeit, Verlassenheit bis hin zu beständiger Angst vor wiederkehrenden Erfahrungen von verbaler oder / und körperlicher Gewalt. In diesem großen Spannungsfeld prägen unsere Familienerfahrungen in Kindheit und Jugend unser Leben, alle weiteren Beziehungen und Kontakte, die ggf. eigene Familiengründung, schlichtweg unser Vertrauen oder Misstrauen in die Welt und ihre Menschen.

Es ist ein schwieriges Unterfangen, diesem Thema in einem kurzen Artikel gerecht zu werden. Lassen Sie mich deshalb mit einer kurzen Verortung in unserer Lebensrealität beginnen: Laut Statistica Research Department (22.02.2024) leben in Deutschland 12,04 Millionen Familien mit Mutter, Vater und mindestens einem Kind, aber auch 2,4 Millionen alleinerziehende Mütter und 580.000 alleinerziehende Väter mit mindestens einem Kind. Ferner leben in Deutschland 9,4 Millionen Ehepaare ohne Kinder, 21.000 Lebenspartnerschaften von Männern und 13.000 Lebenspartnerschaften von Frauen kommen hinzu. Alleine im Jahr 2023 gab es in Deutschland 69.626 Ehescheidungen mit 115.843 betroffenen minderjährigen Kindern. Familie ereignet sich also in einer bunten Vielfalt – »die Familie« gibt es nicht.

FAMILIE ALS ORT DES VERTRAUENS UND INNIGER VERBUNDENHEIT

Alle Paarbeziehungen mit und ohne Trauschein eint die Hoffnung auf Liebe, Nähe und Verlässlichkeit – allermeist gedacht für ein Leben lang. Viele Paare eint ferner das Ziel, Kinder zu bekommen – Familie zu werden. Familie als das große sinnstiftende Ziel, in dem die Hoffnung auf liebevollesGeben und Nehmen, wechselseitige Fürsorge und Verständnis, geteilte Freude und Humor aber auch Zusammenhalt in schweren Tagen die grundlegenden Werte und Hoffnung bilden. Entsprechend gibt es viele Sprüche, die diese Sehnsucht nach Familie ausdrücken: »Zuhause ist dort, wo Familie ist«, »Familie ist wie ein Anker – Zusammenhalt auch in stürmischen Zeiten«, »Familie heißt, Teil von etwas Einmaligen und Wunderbaren zu sein«.

Und »JA, es gibt sie«, die Familien, in denen tiefes wechselseitiges Vertrauen gelebt wird, in denen Zusammenhalt spürbar ist – auch ein Leben lang, in Liebe, Humor und gutem Miteinander und Füreinander. ABER: Auch in diesen Familien fällt Harmonie nicht einfach vom Himmel runter und bleibt dort beständig liegen! Auch in diesen Familien gibt es schwierige Situationen, in denen Kompromisse immer wieder durchaus auch mit viel Mühe und manchem Konflikt gefunden werden. Es erfordert eine hohe Reflexion und viel offene ehrliche Kommunikation aller Familienmitglieder, damit diese Harmonie nicht zulasten einer Person oder mehrerer Personen geht, die sich um der Harmonie willen stets anpassen und eigene Bedürfnisse zurückstellen.

Eigenheiten der einzelnen Familienmitglieder zu respektieren und nicht das eigene Fühlen und Denken zum Maß aller Dinge zu machen, sondern in ehrlichen Austausch der Meinungen zu gehen, ist eine weitere große Herausforderung. Kompromisse müssen von beiden Seiten je gewollt und angegangen werden und Konflikte offen besprochen werden, damit Urvertrauen zwischen Kindern und ihren Eltern aber auch zwischen Partnern oder Geschwister wachsen kann: »Ja – ich stehe hinter Dir, in allem was kommt, auch wenn mir bewusst ist, dass Du auch Wege gehen wirst, die ich selbst ablehne, auch für mich ablehnen darf und nicht gutheißen muss«. Kinder benötigen dieses unbedingte JA zu ihrer Person, diese unbedingte Liebe ihrer Eltern, um ein Urvertrauen ausbilden zu können in ihre Eltern, in sich selbst, in die Welt.

Familie ist wie ein Anker – Zusammenhalt auch in stürmischen Zeiten

Kinder brauchen ein »Gesehen werden«, »Anerkennung und unbedingte Liebe« für eine gesunde Entwicklung. Kinder brauchen jedoch auch Grenzen und Eltern, die ihnen diese Grenzen auch aufzeigen und konsequent dafür einstehen. Andererseits brauchen auch Eltern von ihren Kindern dieses »Gesehen werden«, »Anerkennung und Zeichen der Liebe« wie auch gegebenenfalls Grenzen aufgezeigt bekommen. Auch Kinder müssen mit zunehmendem Alter in den Perspektivwechsel gehen, Bedürfnisse der Eltern anerkennen, respektieren und unterstützen. Familie ist keine Einbahnstraße von den Eltern zu den Kindern und ebenso wenig von den (erwachsenen) Kinder zu den Eltern.

Familie gelingt dann, wenn sich (Ehe-)Partner aber auch Kinder an gemeinsamen Werten orientieren, aber auch andere Einstellungen respektieren, auch Loslassen können, in dem Vertrauen, dass ihre Beziehung dies aushält und nicht daran zerbricht oder endet, sondern gerade dadurch gestärkt wird. Manchen Eltern mag es dabei schwerfallen, wenn der Sohn oder die Tochter einen Partner / Partnerin mitbringt, die nicht ihren eigenen Hoffnungen entspricht. Andererseits sind (erwachsene) Kinder gefordert, wenn neue Partner/innen der möglicherweise getrennten Eltern zur Familie stoßen.

Guter Familienzusammenhalt wird dann gelebt, wenn mit großer Behutsamkeit jeder sich selbst immer wieder überprüft, ob er die Entscheidungen des anderen ernst nimmt und auch von eigenen Meinungen ablassen kann, wenn es zuvorderst um Inhalte geht, die andere Familienmitglieder mehr betreffen. Dass in keiner Familie ein 100% gelingt, ist selbstverständlich – deshalb gehören Kritikfähigkeit, Sich-Entschuldigen-Können, Verzeihen und Verzeihung annehmen können zu den Grundlagen, die gelungene Familienbeziehungen bedingen. Wer in solchen familiären Beziehungen aufwachsen durfte, hat einen Schatz in sich, der alle weiteren Beziehungen positiv (nicht naiv!) prägen wird, durch Misserfolge trägt und Neubeginne leichter ermöglicht. Was jedoch, wenn man selbst diesen Schatz eben nicht so in der eigenen Familie erfahren hat dürfen?

FAMILIE IM SPANNUNGSFELD VON UNTERSCHIEDLICHEN ERWARTUNGEN, (ÜBER-)FORDERUNGEN UND ANDEREN KONFLIKTEN

Auch in hoffnungsvoll begonnenen Beziehungen gibt es leider oft, dass mehr oder weniger schnell erkannt wird, dass die Partner sehr unterschiedliche Ideale, Erwartungen und Werte haben und leben oder in ihrer Persönlichkeitsausprägung sehr unterschiedlich fürsorglich, egoistisch oder rechthaberisch sind. Dies bedingt entweder, dass sich ein Partner/in sehr stark zurücknimmt und anpasst, gegebenenfalls bis zur Selbstaufgabe, oder dass mehr oder weniger fruchtbare Konflikte zur Dauerbelastung werden. Oft werden Familienbeziehungen von überhöhten Erwartungen, übergriffigem oder eifersüchtigem Verhalten hoch belastet. Unter dem Deckmantel von Liebe oder Fürsorge können erdrückende, fordernde und übergriffige Verhaltensweisen die eigentlichen Werte traurig pervertieren und ad absurdum führen.

Konflikte in der Partnerschaft potenzieren sich häufig, wenn zur Partnerschaft das erste Kind, weitere Kinder kommen. Frauen fühlen sich dann häufig alleingelassen und überfordert, Männer übersehen und außen vor, aber auch viele andere Belastungen können die Partnerschaft und damit immer auch die ganze Familie belasten: ungleiche Anteile von Arbeit/Freizeit, Eifersucht, Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, unterschiedliche Erziehungsmethoden, Einmischungen von Eltern/Schwiegereltern, Alkohol und andere Drogen, Krankheiten von Kindern oder Eltern sind nur die häufigsten. Konflikte in der Partnerschaft bedingen häufig rasch auch Überforderungen der Kinder: Sie entwickeln Trennungs- und Verlassenheitsängste infolge der häufigen Streitereien der Eltern, Kinder werden als Partnerersatz missbraucht, Kinder rutschen in Parentifizierungen, fühlen sich verantwortlich für das Wohlergehen des/der Eltern und stellen eigene Bedürfnisse übermäßig zurück, um die Traurigkeit der Mama oder des Papas auf zufangen. Dies ist oft umso grausamer, da selbst zunächst dem Kind sehr zugewandte Eltern, in längeren Konflikt/Trennungssituationen nicht selten ausschließlich um sich selbst und ihre eigenen Verletzungen durch den Partner/in kreisen und dabei die Bedürfnisse des Kindes, seine Überforderungen und Einsamkeit nicht mitbekommen.

Neben diesen äußerst belastenden Konflikten wischen den Eltern, können aber auch Konflikte zwischen den Generationen Familien stark belasten: Nichtakzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe führen häufig zu Unverständnis, was dann wiederum Distanzierungen bis hin zu Kontaktabbrüchen zwischen dem (erwachsenen) Kind und den Eltern/einem Elternteil bedingen können. Wenn es Eltern schwer fällt Vertrauen in ihre Kinder zu haben und den veränderten Lebensentwürfen der nächsten Generation mit viel Skepsis, Ablehnung und Besserwissen gegenüberstehen, können selbst bis dahin vertraute Familienbande großen Schaden erleiden.

Toleranz, Respekt und Vertrauen, dass die nachfolgende Generation sicher manches anders, aber deshalb nicht weniger gut machen wird, sind deshalb unabdingbar für Familien mit heranwachsenden oder gar schon erwachsenen Kindern. Insbesondere wenn die »Kinder« selbst Eltern werden, ist die Gefahr für übergriffiges besserwisserisches Verhalten durch Eltern groß – auch wenn sie es noch so gut meinen! Konflikte mit den Eltern nach eigener Familiengründung können nur bei beidseitiger großer Achtsamkeit für die je Meinungen und Leistungen der je anderen vermieden werden: Junge Familien müssen sich ausprobieren dürfen, andere Wege einschlagen dürfen, als deren Eltern – selbst wenn sich diese Wege als Sackgassen herausstellen sollten.

Ebenso sollten jedoch auch junge Eltern, die Erfahrungen ihrer Eltern nicht schlichtweg abtun oder grundsätzlich als veraltet ansehen. Nur im gegenseitigen Zuhören und Anerkennen, kann Verbundenheit zur Herkunftsfamilie erhalten bleiben, auch wenn in der neuen jungen Familie (auch) andere Einstellungen und Werte gelebt werden. Echte Bereicherung und wachsende Verbundenheit - auch mit der neuen Schwiegertoch- ter/sohn oder der neuen Schwiegermutter/vater - kann dann stattfinden, wenn sich die Generationen wechselseitig Respekt, Anerkennung und Vertrauen entgegenbringen und nicht ängstlich und übergriffig, eigene Territorien und Werte stets kampfbereit vertreten (müssen).

KONFLIKTE ZWISCHEN GESCHWISTERN/STIEFGESCHWISTERN KÖNNEN FAMILIE STARK BELASTEN

Nicht nur zwischen den Generationen, sondern auch Konflikte innerhalb einer Generation, im Besonderen Geschwisterkonflikte, können Familien entzweien und negative Kreise ziehen. Geschwisterbeziehungen sind die Beziehungen, die in unserem Leben normalerweise die je längsten Beziehungen sind. Weder mit den Eltern, noch mit dem/r Lebenspartner/in oder den Kindern verbindet uns so lange Lebenszeit, wie mit unseren Geschwistern oder Stiefgeschwistern. Während die einen, ihre Geschwister als ihre stabilste Größe im Leben spüren und bezeichnen, belasten die anderen Unverständnis, Ablehnung, Eifersucht und Kontaktabbruch durch das Geschwister.

Nicht selten sind diese Kontaktabbrüche nicht in beidseitiger Absicht, sondern einseitig motiviert. Manchmal erfolgt parallel der Kontaktabbruch durch ein Geschwister auch zu den Eltern, manchmal aber ist die Ablehnung doch auch konkret auf ein Geschwister fokussiert. Geschwister/Stiefgeschwister sind häufig sehr verschieden und kein Geschwister, hat sich sein Geschwister aussuchen können. Hier liegt eine große Herausforderung, die je Eigenheiten des anderen zu akzeptieren und tolerieren, zumal diese Eigenheiten meist nicht nur in der Kindheit das eigene Tun stark begrenzen oder beeinflussen.

So entstehen häufig Schuldzuschreibungen derart: »Du bist ja immer schon bevorzugt worden«, »Du hast ja noch nie Rücksicht auf mich älteren/jüngeren Bruder/Schwester genommen«, »Du war ja schon immer dominant und hast mich nie gelten gelassen«. Verallgemeinerungen dominieren über differenzierte Sichtweisen. Ganz besonders schwierig wird es, wenn das Geschwister, sich in seiner Sicht durch das Elternteil/die Eltern noch bestätigt fühlt. Ob solche Verhärtungen nochmal durch Weiterentwicklungen infolge von Schicksalsschlägen, neuen Partner/innen oder andere Lebenserfahrungen verändert werden können, bleibt immer möglich, ist aber nicht zu erzwingen.

In der Regel leidet immer ein Geschwister mehr unter den Konflikten als das andere/die anderen Geschwister. Ob durch die Person mit dem höchsten Leidenspegel aber Veränderungen in der Geschwisterbeziehung eingeleitet werden können, zum Beispiel durch eine Einladung, einen Brief mit Perspektivwechsel, ist davon abhängig, ob das andere Geschwister/die anderen Geschwister auch einen gewissen Leidenspegel hat/haben, oder sich mit der gegebenen Situation der Ablehnung ganz gut eingerichtet hat/haben und kein Leidenspegel daraus spürbar wird.

Beziehung kann also innerhalb der Generation genauso wenig erzwungen werden wie zwischen den Generationen. Es bleibt eine Herausforderung, die in jeder Begegnung neu angenommen werden muss: wie kann ich mir als Schwester/Bruder treu bleiben und die gegebenenfalls ganz andere Einstellung meines Geschwisters mit Respekt dennoch auch gelten lassen? Kann und will ich statt dem Trennenden, das Gemeinsame suchen und in den Vordergrund stellen?

FAMILIE AN IHREN GRENZEN: GEWALTERFAHRUNGEN UND INOBHUTNAHMEN

Nach der Statistik des Bundeskriminalamts sind 240.547 Menschen im Jahr 2022 Opfer von häuslicher Gewalt geworden. Beinahe jeden Tag versucht in Deutschland ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten, nicht selten sind Kinder anwesend. Die Jugendämter nahmen 66.444 Kinder und Jugendliche im Jahr 2022 zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut (Statistica 2023). In den meisten Fällen – nämlich rund 29.800 – wurden Minderjährige wegen dringender Kindeswohlgefährdungen in Obhut genommen, ein Anstieg von fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 28.600 wurden nach unbegleiteten Einreisen in Obhut genommen, 8.000 hatten selbst um den Schutz gebeten.

Hinter jeder einzelnem Kind, Frau oder seltener Mann stehen massive Grenzverletzungen, Bedrohung, Angst und vollzogene Gewalt – häufig unter dem Deckmantel von Familie, weder von Nachbarn, Lehrern oder Arbeitskollegen erkannt oder angezeigt. Und dabei sind die Dunkelziffern noch um ein Vielfaches höher! Wie viele Kinder und Frauen warten eingeschüchtert, von Angst gelähmt darauf, dass es jemand sieht? Wo sind Grenzen erreicht? Was machen verbale oder körperliche Gewalterfahrungen mit Kindern in Familien, die ihnen eigentlich Schutz und Ort der Liebe sein sollten? Als Psychotherapeutin werde ich jeden Tag mit diesen häufig lebenslangen Wunden konfrontiert und sehe, wie unglaublich stark die se in allen Lebensbereichen häufig belasten. Und selbst wenn diese Menschen endlich »gesehen werden« und Schutz durch Institutionen und professionelle Helfer erfolgt, wer kann diese tiefsten Erschütterungen auffangen?

121.000 Minderjährige lebten 2023 in Heimen und 86.000 Kinder in Pflegefamilien. Viele hoch engagierte Helfer versuchen den Kindern dort, wieder ein Stück Vertrauen in die Menschen zurückzugeben, ihnen wieder verlässliche Unterstützung, »eine Art Familie« zu werden. Manches kann so heilen oder zumindest durch positive Erfahrungen erweitert werden. Und wir alle wissen: trotz bestem Willen, gelingt auch dies nicht immer: die Traumata der Kinder sind manchmal zu tiefgreifend, die Pflegefamilie muss nochmal gewechselt werden oder das Kind erlebt wiederholte Wechsel zwischen leiblichen Eltern und Pflegefamilie, der Platz im Heim bedingt immer wieder andere Bezugspersonen oder im schlimmsten Fall auch dort Erwachsene, die wiederum traumatisieren. Es ist unser aller Auftrag hinzusehen, verbaler und körperliche Gewalt entgegenzutreten, anzuzeigen und dann auch diese Menschen nicht nur professionellen Helfern zuzuleiten, sondern jeder von uns kann und soll diesen Menschen durch eine behutsam achtsame Zuwendung wieder ein klein wenig Hoffnung in die Menschen und die Welt schenken.

UNERFÜLLTE SEHNSUCHT NACH FAMILIE

Laut einer Umfrage, welche von Oktober 2019 bis Januar 2020 unter kinderlosen Männern und Frauen aus Deutschland durchgeführt wurde, waren 42 Prozent der 25- bis 29-jährigen Befragten zum Befragungszeitpunkt ungewollt kinderlos. Unter den Befragten im Alter von 35 bis 39 Jahren waren 64 Prozent gewollt kinderlos, also 36 Prozent ungewollt (Statista Research Department, 02.01.2024). Häufig werden belastende und auch sehr teure Kinderwunschbehandlungen in Kauf genommen, um den Kinderwunsch doch noch realisieren zu können und zur Familie zu werden.

Das Leid dieser ungewollt Kinderlosen ist oft dermaßen groß, dass die Beziehung daran kaputt geht und die Menschen, die sich nach eigener Familie sehnen, dann ganz alleine dastehen, manchmal keine schwangere Frau ansehen können, jedem Kinderwagen oder jeder Familie mit tiefem Schmerz nachsehen oder ausweichen, Freundschaften mit Familien meiden und in soziale Isolation rutschen aus der Überforderung, in einer Welt mit so vielen Familien selbst ohne Familie einen guten Platz für sich zu finden.

Diejenigen, denen es über meist tiefe Krisen doch noch gelingt leibliche Eltern, Adoptiveltern oder Pflegeeltern zu werden, haben oft eine große Dankbarkeit für diese Bindungen zum Kind und leben Familie sehr bewusst. Anderen bleibt die große Aufgabe, mit dem Unerfülltem im Leben einen Weg zu finden, nicht zu verbittern, sondern sich neuen anderen Bindungen und sinnstiftenden Aufgaben im Leben nicht zu verschließen. Diese schwierige Neuorientierung sollte im Bewusstsein unserer Gesellschaft sein, wenn wir kinderlosen Menschen begegnen: ganz häufig ist diese Kinderlosigkeit ungewollt!

ZENTRALE WERTE IM MITEINANDER

Was bleibt uns als Auftrag für diese unsere Gesellschaft mit Familien, mit Alleinerziehenden, mit Gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kind, mit gewollt und ungewollt kinderlosen Menschen, mit Menschen mit gelungenen familiären Bindungen oder mit Traumata, Vertrauensverlust und Schmerz? Familie im Kleinen – wie Gesellschaft im Großen kann nur mit wechselseitiger Achtsamkeit und Fürsorge, Respekt und in Gewaltfreiheit gelingen. Wir sind füreinander verantwortlich: Eltern für die seelische Gesundheit ihrer Kinder, aber Kinder auch für ihre Eltern, Familien mit Kindern für Kinderlose und aber auch Kinderlose für Familien mit Kindern.

Wir haben einen großen Auftrag für das Erkennen von Gewalt in unserer Gesellschaft, für Ausgrenzung und Stigmatisierung und für den Schutz der Hilflosen. Keiner kann in einer Familie wie Gesellschaft vom anderen einfordern, übergriffig das eigene Wohl über das Wohl des anderen stellen. Wenn uns Familie nicht mehr im Kleinen gelingt, ist auch unsere Gesellschaft in großer Gefahr. Der Mensch braucht zunächst das Urvertrauen und die unbedingte Liebe in der Herkunftsfamilie, um dann auch in eigener Familie wie im Wirken in der Gesellschaft für diese Werte eintreten zu können.

Fehlt diese verlässliche unbedingte Elternliebe, können diese Menschen dennoch selbst zu wunderbar liebevollen Menschen werden, wenn sie durch andere Menschen Vertrauen und Liebe erfahren. Bei durchgängig fehlenden eigenen Erfahrungen von Liebe und Annahme besteht aber auch die große Gefahr, dass die menschliche Seele am Schmerz verkümmert, keine Bindungen mehr eingehen mag oder kann und nur mehr Gewalt weitergeben kann. Vertrauen und Verantwortung bedingen einander: Und so möchte ich mit Antoine de Saint-Exupéry aus »Der kleine Prinz« schließen: Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was Du Dir vertraut gemacht hast«.

»Zeitlebens« nach dem Wort des Kleines Prinzen heißt: man »hat« niemals eine liebevolle verlässliche Familie, sondern Familie bleibt beständige Aufgabe und Herausforderung unser Leben lang. Familie ist immer »ein Gesamtkunstwerk im Prozess«

PD Dr. Dipl.-Psych. Dipl. Theol. RITA BAUER
seit 2007 als Psychologische Psychotherapeutin,
seit 2014 als Dozentin zunächst am Universitätsklinikum in Regensburg,
seit 2013 am Universitätsklinikum Dresden,
sowie seit 2018 in eigener Psychotherapeutischer Privatpraxis tätig.