»Familie«
MAGAZIN »Leben in der Frauenkirche« > HEFT 3/2024 > INHALT > Lass uns darüber reden, um die Familie zu heilen
Lass uns darüber reden, um die Familie zu heilen
Jede Familie hat Geheimnisse – bewusst oder unbewusst, unaussprechbar. Wenn sie nicht ans Tageslicht gebracht werden und unverarbeitet bleiben, wirken sie weiter, Generation um Generation. So habe ich es erlebt. Und damit bin ich nicht allein. Ich bin in England geboren, meine Mutter ist Deutsche. Mein Großvater war General in der Wehrmacht, hat an der Ostfront und danach in Italien bis zum Ende des Krieges gekämpft. Dann war er drei Jahre lang Kriegsgefangener der Engländer. Ich habe ihn nie kennengelernt, eine Woche nach meiner Geburt ist er gestorben. Trotzdem wirkten sein Leben und seine Erlebnisse – in der Nazizeit, im Zweiten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach – in mir weiter.
Sie waren mir als junge Frau erstmal unterbewusst erschienen, mit unterschiedlichen, unerklärlichen Symptomen wie Depressionen, Schuldgefühlen, Scham und Suchtverhalten. Schon als Kind hatte ich das Gefühl, dass sich in der einen Woche, die wir auf Erden teilten, unsere Wege gekreuzt haben, als er dem Tod entgegenging und ich dem Leben. An dieser Kreuzung überreicht er mir so etwas wie einen Staffelstab. Ich habe viereinhalb Jahrzehnte gebraucht, um zu begreifen, dass er mir auf irgendeine Art und Weise die Aufgabe der Verarbeitung seiner Traumata und Taten übergeben hat. Inzwischen ist bekannt, dass viele Deutsche in zweiter, dritter und vierter Generation ein »emotionales Erbe« in sich tragen, dass durch das Verschweigen der Familiengeschichte fortlebt. Schmerz, Gräueltaten, Traumata, Trauer … alles, was nicht verarbeitet wird, sucht eine Erlösung in den Nachfolgern der Opfer und Täter.
Und, wie ich es entdeckt habe, führt ein Prozess der Erkenntnis und des Bewusstseins zu großer Erleichterung von dieser Last. Und nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachfahren. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es nicht ausreicht, nur die schmerzvollen Fakten aufzudecken. Die Gefühle die damit verbunden sind, oft aber verdrängt werden, müssen gefühlt werden. Es kann natürlich sehr schmerzhaft sein. Doch ich merkte, dass nichts, was ich über meinen Großvater erfuhr, mehr schaden konnte, als mir das Nichtwissen bereits geschadet hatte. Man wird nie mit diesem Thema »fertig«, kann jedoch lernen, mit den unheilvollen Gefühlen und Kräften umzugehen.
Lasst uns darüber reden! Für mich ist das einer der wichtigsten Schritte…
ANGELA FINDLAY
Angela Findlay ist eine britisch-deutsche Künstlerin, Autorin und Rednerin.
Seit 20 Jahren untersucht sie unverarbeitete Nachkriegsfolgen des Zweiten
Weltkriegs sowohl in Ihrer Familie als auch in unterschiedlichen Ländern und
Nationalitäten. »Im Schatten Meines Großvaters« ist ihr erstes Buch.