»Familie«

MAGAZIN »Leben in der Frauenkirche« > HEFT 3/2024 > INHALT > Meditation zum Gleichnis vom verlorenen Sohn

Das kommt in den besten Familien vor – eine Meditation zum Gleichnis vom verlorenen Sohn

Das kommt in den besten Familien vor: Der Konflikt, den Jesus in diesem Gleichnis (Lukas 15, 11-32) erzählt, hat sich so oder in ähnlicher Form wohl schon hunderttausendfach in der Welt zugetragen.

Da gibt es zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Der jüngere Sohn will seine Träume leben, will hinaus in die Welt. Die vorgefertigte »Karriere« als Landwirt auf dem väterlichen Hof ist nicht sein Traum.

»Vater, gib!«

Gib mir meinen Anteil am Erbe und lass mich ziehen. Ich will’s wissen, auch wenn die Zukunft ungewiss ist! Der Vater teilt das Erbe unter den Söhnen auf. Er will seinem Jüngsten nicht im Lebens-Weg stehen. Schweren Herzens lässt er ihn gehen. Und der Ältere? – Was bedeutet für ihn die Auszahlung des Erbteils? Ist es nicht bloß totes Kapital? – Jetzt, da der kleine Bruder weg ist und er mit allem allein dasteht? Nicht nur der Vater wurde verlassen; auch der daheimgebliebene Bruder... Der Jüngere jedenfalls zahlt sein Lehrgeld in der Fremde. Berauschende Feste mit falschen Freunden – bald ist das Erbe verprasst. Der Aussteiger landet bei den Schweinen. Ganz unten angelangt, gelingt ihm das, was jedem von uns so schwer fällt: Er besiegt den Stolz. Und geht den schweren Weg nach Hause.

»Vater, vergib«

Der Verlorene, der Verlierer – wird nun zum Held, zum Gewinner. Grund zum Feiern! Der erste Gratulant zur Lebenswende ist der Vater, der dem jüngeren Sohn entgegenläuft und ihn umarmt. Vergeben und vergessen die sorgenschweren Tränen, die schlaflosen Nächte. Nur einer feiert nicht: der Bruder, der zuhause geblieben war. Dem platzt der Kragen. Der Jüngere hat seine Umkehr hinter sich, aber damit stürzt er den daheimgebliebenen Bruder in die Krise. Alte Wunden werden wieder aufgerissen. »Wäre dieser Bruder doch bloß in der Fremde geblieben! Ich hatte mich mit meinem Leben schon abgefunden.«

Es wird nicht berichtet, aber man kann es sich lebhaft vorstellen, wie der Ältere gelitten hat. Er trägt das Los des Erstgeborenen. Er würde gemäß der Tradition einmal den Hof übernehmen: Erbesein ist kein Privileg, es ist Aufgabe. Die Liebe zum Vater, das Verantwortungsbewusstsein lassen keinen Platz für Träume. Seine Sehnsüchte, seine Träume – irgendwo verkümmert zwischen Acker und Stall. Hatte er überhaupt eine Wahl – damals, als auch ihm sein Erbteil ausgehändigt wurde? War es nicht bloß totes Kapital???

Umso bitterer muss in den Ohren des älteren Sohnes klingen, was der Vater sagt: »Alles, was mein ist, ist dein!« Vielleicht ist es das ja gerade, was weh tut: Dass der Ältere bisher eben gar keine Freiheit sah, sich selbst etwas zu schaffen, sich selbst auszuprobieren und das Kapital zu nutzen. Vielleicht ... vielleicht war ja die Zeit für diese Entdeckung im Haus des Vaters noch nicht reif... – Der Held ist zweifellos der jüngere Bruder. Der große Hoffnungsträger ist in meinen Augen aber der Ältere! Denn auch er ist vom Vater zum Fest des neuen Lebens eingeladen. Auch für ihn tun sich jetzt neue Chancen auf, weil sein Bruder wieder da ist. Aber – er muss sich entscheiden: Will er dem Bruder versöhnend die Hand reichen, einen Neuanfang wagen und am Fest teilnehmen?

Für ihn wäre jetzt die Zeit gekommen zur großen Umkehr, oder besser: zum großen Aufbruch – heraus aus Schmerz, Zorn, Neid und unterdrückter Sehnsucht. Auch er – ein Verlorener, kann zum Gewinner werden. Es kann so geschehen, wenn er entdeckt: Die Liebe des Vaters macht sogar Tote wieder lebendig. Die Liebe des Vaters reicht für uns beide, für meinen Bruder und für mich. In meines Vaters Armen ist für beide Kinder Platz.

Liebe Lesende, auch das kommt in den besten Familien vor – Gott sei Dank! Amen

Pfarrerin ANGELIKA BEHNKE
Frauenkirchenpfarrerin und Sprecherin
des Arbeitskreises Nagelkreuzgemeinschaft Dresden