»Familie«

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Wie wir zur »Familie« wurden…

Meine beiden Pflegekinder (sie sind bereits Jugendliche) habe ich im April 2022 kennengelernt. Damals kamen sie mit ihrer Mutter aus der Ukraine zu uns in die Gemeinde. Nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat unsere Gemeinde entschieden, dass wir eines unserer Gemeindehäuser öffnen und den Menschen, die flüchten müssen, ein Zuhause auf Zeit anbieten. Dieses Angebot habe ich in meinem Amt als Diakonin gemeinsam mit Jugendlichen und einem bunt gemischten Kreis vieler Gemeindeglieder verantwortet. Schnell stellte sich heraus, dass die Mutter meiner beiden Pflegekinder und ich uns gut verstehen und wir etwa gleichaltrig sind.

So entwickelte sich nach und nach eine Freundschaft, und wir als Gemeinde konnten der Familie – der Vater war zwischenzeitlich auch nach Deutschland gekommen – eine Wohnung zur Verfügungstellen. In diesem Fall war das wirklich ein sehr großer Glücksgriff für die Familie, denn sowohl die Mutter als auch der Vater war bzw. ist immer noch schwer krank. Gute anderthalb Jahre habe ich eine besonders freundschaftliche Zeit mit der Mutter verbracht und die Kinder zwar immer mal wieder gesehen und wir haben nett miteinander geschnackt, aber den intensiveren und tiefer verbundenen Kontakt hatte ich in meiner Wahrnehmung zur Mutter. Wir haben uns tatsächlich regelmäßig mindestens einmal die Woche verabredet.

Im Mai 2023 hat die Mutter den Kampf gegen den Krebs verloren, und so haben meine beiden Pflegekinder nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Mutter verloren. Nach dem Tod der Mutter hatte ich sporadisch Kontakt zu den Kindern und dem Vater. Die Rückmeldung war meistens, dass alles gut wäre und sie alles im Griff hätten. Bei der Trauerfeier der Mutter sagte ich den beiden dann, dass, egal was wäre, ich immer da und ansprechbar wäre.

Es vergingen einige Wochen, doch plötzlich meldeten sich die Kinder bei mir. Daraufhin haben wir uns immer mal wieder getroffen. Deutlich war, dass sich das Verhältnis zum Vater nicht einfach gestaltete. Auch die Schule meldete sich bei mir, und somit war ich mit der Familie vor den Sommerferien 2023 wieder in intensiverem Kontakt. Im September 2023 änderte sich dann aber ganz schnell alles für die Kinder – und auch für mich. Meine Pflegetochter meldete sich bei mir mit der Bitte, dass wir uns dringend treffen und miteinander sprechen müssten. Ich wollte mein Wort halten und wir haben uns getroffen – viel gesprochen haben wir allerdings nicht, denn sie kam mit einer ganz klaren Botschaft zu mir: »Wir wollen nicht mehr mit Vater zusammen wohnen! Dürfen wir zu dir kommen?«

Der Vater stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Entlassung aus dem Krankenhaus. Ich habe mein Wort gehalten und ihnen angeboten, erstmal zu mir zu ziehen. Das war an einem Sonntag. Am nächsten Tag um 17:00 Uhr holte ich die beiden aus der Wohnung ab. Mein Pflegesohn packte seinen Koffer in mein Auto mit den Worten: »Willkommen im neuen Leben«. Der Krisendienst und das Jugendamt wurden eingeschaltet, und die Kinder durften erstmal bei mir bleiben. Schnell stellte sich heraus, dass eine gemeinsame Unterbringung der Geschwister anderswo nicht möglich war. Nun stand die Idee im Raum, dass die beiden bei mir in Pflege bleiben könnten.

So sind wir nun gemeinsam seit September letzten Jahres als Familie unterwegs. Wir leben mit den Herausforderungen; die Jugendlichen erfahren Struktur und was es heißt, getragen zu sein mit allen Höhen und Tiefen, die das Familienleben mit sich bringt. Auch wenn es nicht immer einfach ist, bin ich froh, dass wir als Familie zusammenwachsen dürfen.

Diakonin KIRSTEN GOLTZ
Berlin