»Einsamkeit«

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»Dass uns werde klein das Kleine«

Einsamkeit als Lebenshilfe

Als Abkömmling einer sehr protestantischen Familie gehöre ich im Blick auf das zutiefst katholische Phänomen Fastnacht/Karneval/Fasching zur Nullbock-Fraktion. Um eines aber beneide ich die katholischen Geschwister doch: um den Aschermittwoch. »Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehrst« (Genesis 3,19): dies ist das älteste Memento mori überhaupt, das Gottes-Wort an die beiden ersten Menschen, das ihre Vertreibung aus der Unschuld des Paradieses begründet.

Es wird den katholischen Christ*innen am Aschermittwoch vom Priester buchstäblich »auf den Kopf zugesagt«, zusammen mit dem Aschkreuz, das er auf die Stirn zeichnet. Es wirft uns nach der Selbstvergessenheit der »tollen Tage« mit ihrem Schlüpfen in das Uneigentliche der Maskerade und der fremden Rollen, wieder ganz auf uns selbst, in die Eigentlichkeit zurück.

Die Erinnerung daran, dass unsere »natürliche Grundkonsistenz« nichts als (wertloser) Staub ist, passt wie die Faust aufs Auge, oder besser: wie die Asche auf die Stirn zur siebenwöchigen Passions- und Fastenzeit, die mit Aschermittwoch beginnt. Staub ist auch die Grundkonsistenz der Wüste. Und die sieben Wochen der Passionszeit kommen biblisch gesehen aus der Wüste.

Denn dass die Kirche, beginnend im 4. Jahrhundert, die Dauer der vorösterlichen Bußzeit auf 40 Tage festlegte, hat seinen Grund darin, dass Jesus zu Beginn seines öffentlichen Wirkens, unmittelbar nach dem »Initiationsritus« seiner Taufe im Jordan durch seinen Vetter Johannes, sich für 40 Tage in die Einsamkeit des Fastens und der Meditation in die Wüste zurückzog.

Dass es gerade 40 Tage waren, ist wiederum den 40 Jahren der Odyssee der »Kinder Israel« durch die Sinai-Wüste nach dem Auszug aus Ägypten geschuldet, an welcher Jesus Maß nahm. Wir sollen also das Eigentliche unseres Menschseins, worauf das Aschermittwochs-Ritual verweist, dadurch entdecken, dass wir am eigentlichen Menschen Jesus Christus Maß nehmen in diesen 40 Tagen.

Passionszeit als Wüstenzeit. Ein starkes Bild. Von tiefer Doppeldeutigkeit und Ambivalenz. Das durchzieht die ganze Bibel. Die 40jährige Odyssee der Israeliten durch die Sinai-Wüste ist einerseits eine Zeit der Dauernörgelei, der Blasphemie, der Lebenslügen und wehleidigen Vergangenheitsverklärung. Der »Wutbürger« ist kein Phänomen erst aus unserer Zeit. Zugleich aber wird diese Region der Dürre und des Todes den verfolgten Israeliten zum Zufluchtsort.

Die Bibel weiß: gerade in der Wüste kann Leben wachsen. Bei Jesaja wird die lebensbedrohende Wüste zur blühenden Landschaft, ein Bild für die ersehnte Heimkehr aus dem babylonischen Exil. Johannes der Täufer ruft in der Wüste Menschen zu Umkehr und Neuanfang. Jesus geht in die Wüste und ist dort einerseits »bei den wilden Tieren«, andererseits aber sind »die Engel um ihn« (Matthäus 4,11).

Wüste: das ist die Welt in ihrer äußersten Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Und sie ist ein Raum für das Elementare. Wasser und Brot braucht es, um zu überleben.

Dort fällt alles von einem ab, was banal und überflüssig ist, und es bleibt das, was wirklich wichtig ist. In der Wüste sind wir ganz auf uns selbst zurückgeworfen, und erfahren so die abgründigen Kräfte, die an uns zerren.

In der Wüste können wir aber auch erleben, wie sich der Himmel öffnet. Wüste ist für die Bibel der Raum, in dem man ganz und gar angewiesen ist auf Gott – oder man geht zugrunde. »Großer Gott, steh uns bei!« – es ist ungewöhnlich, die Bildzeitung zu loben. Aber mit dieser Schlagzeile am 12. September 2001 traf sie den Nerv einer verstörten Welt, hat sie das eigentlich Unsagbare in Sprache gebracht und ausgedrückt, was bleibt, wenn wir uns in die Wüste gestoßen erfahren.

Es ist alles andere als ein Zufall, dass das Mönchtum als die Lebensform, die am radikalsten die Eigentlichkeit des Daseins sucht, in der Wüste entstanden ist. Die ersten Mönche waren Eremiten, die bewusst in die Wüste gegangen sind, um das existenzielle Angewiesensein auf Gott zu erfahren, und sich darüber selbst zu finden. Einsamkeit ist also nicht nur – wie in der vernetzten, kommunikationsobsessiven Jetztzeit der Mainstream uns einredet – ein böses Schicksal.

Viele ahnen das, und fliehen deshalb aus der digitalen Dauervernetzung in eine bewusst gewählte Einsamkeit auf Zeit. Unser Bischof Tobias Bilz ist einer von ihnen. Er begibt sich jedes Jahr für eine Woche in eine Eremitage. In diesem Heft schreibt er über seine Erfahrungen damit.

Keine Wüste aber ohne hin und wieder eine Oase! Auch das hat die Kirche in ihrer Gestaltung der »Österlichen Bußzeit«, wie die Passionszeit eigentlich heißt, klug bedacht. Die 40 Tage vor Ostern beginnen nämlich darum schon am Mittwoch (statt, wie die korrekte Zählung ergeben müsste, am Samstag), weil die sechs Sonntage, die in diese Zeit fallen, vom Fastengebot ausgenommen sind.

Jeder Sonntag ist seit alters her als Gedenk- und Feier-Tag der Auferstehung Jesu ein »Ostern light«. Deshalb sind die sechs Passionssonntage, auch wenn das österliche Halleluja an ihnen verstummt, die Oasen in der Wüste der Passionszeit. Oasen geben ein Stück Heimatgefühl und Zeit zum Durchatmen. Aber sie bieten keine Bleibe auf Dauer, sie sind Durchgangsstationen.

Auch die Oasen unseres Lebens. Nach ihnen kann jederzeit wieder Wüste kommen. Aber keine Wüste ist grenzenlos. Auch die aus gedehnteste Wüste kommt irgendwann an eine Grenze, jenseits derer wieder Zivilisation ist.

»Sieben Wochen ohne«, lautet jedes Jahr das evangelische Leitmotto für eine »wüstengemäße« Gestaltung der Passionszeit. Sieben Wochen ohne das, was man in der Wüste ohnehin abwerfen muss, weil es überflüssig und nicht lebensnotwendig ist.

Welcher Ballast das jeweils ist, muss in evangelischer Freiheit jeder selbst entscheiden. Entscheidend ist, diesem siebenwöchigen Wüstengang eine Struktur zu geben, so dass wir eine Ahnung von dem bekommen, was eine alte Liedstrophe so ausdrückt:

»EWIGKEIT, IN DIE ZEIT
LEUCHTE HELL HINEIN:
DASS UNS WERDE KLEIN DAS KLEINE
UND DAS GROSSE GROSS ERSCHEINE«
Marie Schmalenbach

Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer und Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche Dresden