»Einsamkeit«

Der Karsamstag

Hinabgestiegen in das Reich des Todes

Ist Karsamstag ein Feiertag? Die meisten würde diese Frage wohl irritieren. Was sollte es an diesem Tag zu feiern geben?! Die Christenheit kennt keine Karsamstagsfeier. An dem Tag, an dem die Welt jedenfalls aus christlicher Sicht wie erstarrt, eingefroren ist, gibt es nichts zu feiern.

Aber: Wenn Karfreitag (für Protestanten nach landläufiger Überlieferung sogar »der höchste«) Feiertag ist, dann müsste der Karsamstag, den es ja nur wegen des Karfreitags gibt, doch auch irgendwie einer sein. – Wie immer man das sieht, jedenfalls ist der Karsamstag wohl der eigenartigste, sicherlich einer der bemerkenswertesten aller (Feier)Tage im Kirchenjahr. Als der zweite Tag des Triduum sacrum, der heiligsten drei Tage im Kirchenjahr, ist Karsamstag der Tag, an dem des sog. Descensus ad inferos Christi gedacht wird.

Im Glaubensbekenntnis, in dem die entscheidenden Taten der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen verdichtet in Sprache gebracht sind, ist dies durch die von uns wenig beachtete, wohl oft gedankenlos dahingesagte Aussage aufgenommen: »Hinabgestiegen in das Reich des Todes«.

Das österliche Triduum findet sich in einer aufs Äußerste kondensierten Form im Credo wieder:

»Gekreuzigt, gestorben und begraben« (Karfreitag) –
»Hinabgestiegen in das Reich des Todes« (Karsamstag) –
»Am dritten Tag auferstanden von den Toten« (Ostern).

So ist der Karsamstag als Tag der Grabesruhe Jesu der Tag der Stille schlechthin. Alles kommt zum Schweigen. Selbst die Klage, die traditionell die Karfreitagsstimmung prägt, verstummt. Liturgisch bringt die Kirche das dadurch zum Ausdruck, dass dies der einzige Tag des Kirchenjahres ist, an dem die »Gnadenmittel«, die Sakramente nicht gespendet werden.

Die Katholischen Christen feiern an Karsamstag keine Eucharistie; es werden lediglich die an Gründonnerstag konsekrierten Hostien als Wegzehrung, als sog. »Sterbekommunion« gereicht. Auch die Kirchenglocken bleiben vielerorts stumm. In ländlichen Gegenden ertönt statt ihrer von den Kirchtürmen ein eher unschönes, durch hölzerne Lärminstrumente erzeugtes Geräusch, das sog. Ratschen. Und natürlich ist jeder gemeindliche Gesang verstummt.

So gesehen müssten wir in der Frauenkirche an Karsamstag eigentlich auch unseren täglichen Betrieb drastisch herunterfahren. Wir tun das aber nicht, weil wir eben nicht nur ein Gotteshaus, ein liturgischer Ort sind, sondern ein Hybrid, wie man neudeutsch sagt. Als Gotteshaus sollten auch wir an diesem Tag verstummen, keine Frage.

Aber wir sind eben auch Wahrzeichen eines weltbekannten Stadtbildes und damit ein Touristen-Hotspot. Das Osterwochenende mag aus Kirchenjahrs-Sicht noch so heilig sein – für uns als touristischer Anziehungspunkt ist es auch ein Wochenende, an dem Dresden voller Besucher ist. Unter Hinweis auf liturgische Traditionen die Kirche am Karsamstag geschlossen, oder sie zumindest »still« zu halten, ohne Orgelandacht: das ist heute nicht mehr vermittelbar.

Die genannten liturgischen Karsamstags-Gepflogenheiten sind alles äußere Zeichen, die auf etwas Tieferes verweisen. Ich möchte versuchen, dieses Tiefere noch ein wenig geistlich auszudeuten. Warum eigentlich ist Christus »am dritten Tage« auferstanden? Warum nicht früher oder später? Was war mit ihm seit dem elenden Karfreitag? War er buchstäblich kalt gestellt? Oder verliefen diese zwei Tage anders, unsichtbar für uns, aber so ausgefüllt, dass er nicht eher zurückkehren konnte ins Leben?

Einer der tiefsten Hinweise darauf ist die schon genannte Aussage unseres Glaubensbekenntnisses: »Gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes«. Im Totenreich also hat er die Zwischenzeit zugebracht. Ich vermute, kaum ein Geheimnis unseres Glaubens ist uns so fern gerückt wie dieses »Hinabgestiegen in das Reich des Todes«.

Dieser seltsame Tag, den wir den Karsamstag nennen, ist nämlich nicht weniger als der Tag des Todes Gottes.

»O GROSSE NOT!
GOTT SELBST LIEGT TOT.
AM KREUZ IST ER GESTORBEN…
Johann Rist, Ev. Gesangbuch 80,2

Der Karsamstag nimmt die ungeheuerliche Erfahrung unserer Zeit vorweg, dass Gott für uns einfach abwesend ist. Dass das Grab ihn zudeckt, dass er nicht mehr aufwacht, nicht mehr spricht, so dass man ihn nicht einmal mehr zu bestreiten braucht, sondern einfach ohne ihn leben und gut leben kann.

»Gott ist tot, und wir haben ihn getötet«: Dieses abgründige Wort von Friedrich Nietzsche drückt gewissermaßen den Gehalt des Karsamstags aus, das »Hinabgestiegen in das Reich des Todes«.

Eine solche Gott-ist-tot-Theologie ist mitnichten erst ein Produkt unserer Moderne. Denn die uns fremde, beiseitegeschobene Karsamstag-Aussageim Glaubensbekenntnis »Hinabgestiegen in das Reich des Todes« erinnert uns daran, dass zum Gott unseres Glaubens nicht nur sein Reden, sondern auch sein Schweigen gehört.

Wenn sich heute viele zur Überzeugung bekennen: Gott ist tot, es gibt ihn gar nicht! – dann haben sie am Karsamstag ihre Heimat gefunden. Man kann es so sagen: Der Karsamstag ist der Ehrentag der Gottlosen im Kirchenjahr. Wir sind Gott losgeworden, er ist auf der Erde nicht mehr da, untergegangen ins Grab.

»HINABGESTIEGEN IN DAS REICH DES TODES«

Gott ist bis dorthin gelangt, wo wir unsere Toten ablegen, nämlich ins Grab – so dass er selbst im totalen Schweigen des Grabes noch für uns erreichbar ist. Christus hat nach seinem Tod also keineswegs brav und still dagelegen und den dritten Tag abgewartet, sondern er hat gerungen, gekämpft und gesiegt – im Land der Finsternis und der Toten.

»Hinabgestiegen« dorthin ist er, und das ist ja schon etwas Aktives. Er war also nicht kaltgestellt, sondern gerade dort am Werk, wo wir uns ein aktives Wirken nicht mehr vorstellen können, sondern nur noch ohnmächtiges Erleiden und totale Einsamkeit. Denn er ist in diesen letzten Abgrund des Daseins gestiegen, um den Tod wegzuräumen, die Gräber leer zu machen, hinein in seine Auferstehung.

Christus macht sich nach seinem Tod auf den Weg zu allen Toten, er steigt hinab in die Tiefen, in die Vergangenheiten: weil die Toten zuerst vom neuen Leben hören sollen. So sind also genau genommen gar nicht »die Frauen am Ostermorgen« die ersten Zeuginnen der Auferstehung. Sondern die Toten. Sie zuerst werden vom neuen Leben erfüllt.

Das ist eine Explosion der Liebe: Christus verschließt die Hölle, nicht nur vorübergehend, sondern für immer und ewig. Kein Gestern und kein Vorgestern, kein Abgrund bleiben von ihm vergessen. Das ist die tröstliche, leuchtende Innenseite des dunklen Karsamstags.

Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer