»Einsamkeit«

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Der volle und der leere Rucksack – Einsamkeit als Lebenshilfe

Der sächsische Bischof Tobias Bilz zieht sich jedes Jahr für eine Woche in eine Eremitage in den bayrischen Bergen zurück. Hier erzählt er von seinen Erfahrungen mit dieser selbstgewählten Einsamkeit.

Ich stelle meinen Rucksack ab und schließe die Tür. Der Geruch dieser Holzhütte im Alpenvorland ist mir vertraut. Ich liebe diese Mischung aus Holz und Feuerduft. Zum siebten Mal bin ich hier für eine Woche selbstgewählte Einsamkeit. Mein Blick schweift durch den Raum. Das Bett und der Herd, die alten sorgsam aufgearbeiteten Stühle am Tisch.

Ein paar Gegenstände sind anders sortiert, sonst ist alles vertraut – auch im zweiten Raum der Franziskusklause, der für das Gebet und die Meditation eingerichtet ist. Da ist das Kniebänkchen und der große geschnitzte Franziskus, das Kruzifix und einige sorgsam ausgewählte Hilfen zur Sammlung.

Bruder Christian wird am Abend kommen, mein geistlicher Begleiter für diese Tage. Ich rufe mir die Regeln in Erinnerung, die er für den Aufenthalt in »seiner« Hütte bestimmt hat. Handy auf Flugmodus, kein Kontakt zur Außenwelt, keine Literatur,jeden Tag eine Stunde praktische Arbeit und am Abend ein Gespräch mit ihm. Sonst? Nichts. Einsamkeit. Bäume. Eine Lichtung.

Ich werde erstmal ausschlafen und mir dann täglich zwei bescheidene Mahlzeiten zubereiten. Gewaschen wird sich kalt am Brunnen und sitzen werde ich unter dem Vordach, viele Stunden. Meine Schritte werden mich in den umliegenden Wald führen. Bekannte Wege werde ich wieder unter die Füße nehmen und neue Pfade suchen.

Alles ganz langsam, immer Ausschau haltend nach dem, was sich einstellen will. Alles Geschaffene kann reden, meint Bruder Christian, in allem sei der Schöpfer. Seiner Meinung nach gilt das auch für die Motorsäge, die sich aus der Ferne kreischend meldet. Wirklich?

Aus Erfahrung weiß ich, dass in den ersten drei Tagen mein innerer Rucksack spürbar werden wird. Ich werde ihn absetzen, wie den anderen gleich am Anfang. Es wird nur etwas länger dauern. Meine Träume werde ich aufschreiben und im Abendgespräch vorlesen. Mein Zeitgefühl wird sich völlig verändern.

Die Zeit wird ins Atmen kommen, sich ausdehnen und immer wieder für besondere Augenblicke zusammenziehen. Und so lebe ich diese Tage in zunehmendem Einklang mit mir selbst und im lebendigen Kontakt zur Schöpfung und ihrem Ursprung.

Am Ende der Tage schreibe ich auf, was passiert ist. Bruder Christian meint, das sei wie das Aufsammeln von Perlen in eine Schatzkiste. Sie lesen sich wie Botschaften, die zu mir gekommen sind oder sich in mir gebildet haben: »Halte das Nichts aus, bis es dir zum Alles wird… Suche nicht, du hast… Verzichte auf Wissen, damit die Weisheit kommen kann… Hoffe unerschütterlich, dann siehst du die Wege… Lebe deine Einsichten mit deinen Mitteln… Nimm die Gottesruhe mit, ich bin der HERR.« Ich berge einen großen Schatz.

Es gibt Einsamkeit, an der man sterben kann und es gibt die, die zum Leben hilft. Meine Hüttenzeit ist mir zur Lebensquelle geworden. Ich plane die Termine dafür lange im Voraus und verteidige sie entschlossen. Jedes Jahr ist es anders. Manchmal spüre ich den Lebensatem der Schöpfung um mich her so stark, dass ich gewiss bin, nie wieder etwas anderes zu brauchen.

Alles ist wie verstärkt: die Bewegung der Blätter und das Wandern der Wolken, das Schreien der Raubvögel und der Geschmack des Selbstgekochten, was ich ganz langsam esse. Andermal tauche ich tief in mein Inneres hinab und staune über die Quellen des Herzens. Ich bleibe im Gebetsraum und rede mit Gott wie mit einem Freund.

Aber auch das passiert: Ich habe das Gefühl ausgeliefert zu sein, etwa bei einem schweren Gewitter in der Nacht oder wenn ich mich meinen dunklen Seiten stelle. Es wird dann klar, dass ich mir an entscheidenden Punkten nicht selbst helfen kann. Wenn das so ist, dann muss ich es auch nicht. Das befreit mich mehr, als es mir Angst macht. Ich bin in Gottes Hand.

Ich blättere noch einmal in meinem Tagebuch und finde den kurzen Satz: »Tobias, freue dich auf das, was kommt!« Die Schatzkiste ist verstaut, ich hucke meinen Rucksack auf und verlasse die Hütte mit einem letzten Blick zurück. Ich wünsche dem, der nach mir kommt, dass er genauso gesegnet wird, wie ich. Dann schreite ich aus, um in das »andere« Leben zurückzukehren.

TOBIAS BILZ
Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens