»Einsamkeit«
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Einsamkeit: Herausforderung, kein Verhängnis
Das Wort EINSAMKEIT hat heute keinen guten Klang. Es wird überwiegend negativ konnotiert, als Ausdruck von etwas Defizitären. Die mit zunehmendem Alter oft immer stärker empfundene Einsamkeit wird mancherorts schon als »soziale Epidemie« bezeichnet. Also als Krankheit – schädlicher als Alkohol, Übergewicht oder Rauchen. In Großbritannien gibt es bereits das Amt eines »Beauftragten Ihrer Majestät für Einsamkeit«. Eine gewisse Tendenz wird hier erkennbar, die Krankheit Einsamkeit strategisch-therapeutisch bekämpfen zu wollen.
Dabei ist Einsamkeit zunächst einfach ein sehr persönliches Empfinden, das sich einer Objektivierbarkeit entzieht. Belegbar ist es für viele ein schmerzhaftes Gefühl, also eindeutig negativ besetzt. Besonders virulent wird das alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit. Eine Studie hat – noch vor Corona – ergeben, dass jeder Neunte über 65 sich einsam fühlt.
Das sind fast zwei Millionen Menschen. Und 68 Prozent von ihnen schämen sich dessen. 33 Prozent verbringen täglich vier Stunden und mehr vor dem Fernseher und jeder Dritte bleibt über Weihnachten allein. Auch Jüngere fühlen sich oft einsam – nicht zuletzt alleinerziehende Mütter, die weder Zeit noch Geld haben für einen Kneipenbesuch oder das Engagement in einem Verein.
Aber das sind »nur« die statistischen Zahlen. Im ganz persönlichen Leben kann Einsamkeit furchtbar weh tun. Eine Physiotherapeutin erzählte mir einmal, eine ältere Patientin habe während der Behandlung geweint: Es sei das erste Mal seit Jahren gewesen, dass jemand sie berührt habe.
Einsamkeit kann unendlich traurig machen. Nicht nur, aber besonders im Alter, wo mit dem Nachlassen der Aktivitätspotentiale der Lebensradius kleiner und das Angewiesensein auf andere größer wird. Hinzu kommt: Strukturen wie eine geregelte Arbeit oder ein Tagesablauf mit Kindern sind passé.
Wenn dann auch noch der Partner, die Partnerin stirbt, fühlen sich viele ältere Menschen einsam. Die Kinder leben anderswo, die Freunde sterben. Man spürt: Ich muss mir neue Strukturen für den Alltag suchen – das kostet im Alter viel Kraft.
Und dann natürlich das spürbare Erleben, d.h. oft Erleiden der eigenen Vergänglichkeit. Vielleicht geht es irgendwann mit dem regelmäßigen Joggen oder Radfahren nicht mehr, oder die Augen ermüden schnell beim Lesen. Die Angst, nicht mehr am echten Leben dranzubleiben, macht sich breit.
Anselm Grün, der bekannte Benediktinerpater und Bestsellerautor setzt dagegen: »Wer vom Älterwerden redet, spricht nicht nur von nachlassenden Kräften, Verfall und Schwäche. Im Gegenteil: Bis ins hohe Alter gibt es Chancen und positive Möglichkeiten des Wachsens, des Reifens und der Vollendung.«
Das ist in dieser Generalisierung sicher nicht falsch. Aber mir ist das doch ein zu schöner, harmloser Sound. Es ist und bleibt wahr: Altwerden ist nichts für Feiglinge!
Für jedes Lebensalter gilt: Wenn der Partner, die Partnerin plötzlich nicht mehr da ist, findet man sich mit einem Mal in einer unendlichen inneren Leere wieder. Die Seele ist im Ausnahmezustand.
Wenn die Beziehung zerbricht und man gefühlt in der Einsamkeit angelangt ist, schaut man angestrengt zurück. Oft idealisiert man eine Beziehung im Rückblick. Dann ist das Gefühl, versagt zu haben und die damit einhergehenden Selbstvorwürfe, umso größer.
Schon am Anfang Bibel heißt es über den von Gott zur Krönung seines Schöpfungswerkes erschaffenen Menschen: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will ihm ein Gegenüber machen, das ihm entspricht« (Genesis 2,18).
Damit wird auf den ersten Seiten der Bibel etwas Elementares ausgesagt: Der Mensch ist auf anderes »hingeordnet«, und zwar auf seines gleichen. Beziehungshaftigkeit ist eine Conditio humana.
Mit dem Alleinsein ist es aber so eine Sache. Man sollte sie differenziert anschauen. Ich selbst bin immer wieder auch gerne allein. Ohne diese Eigenschaft hätte ich es vor vier Jahren nicht gewagt, den Schritt von Freiburg nach Dresden zu gehen, der das Zurücklassen meiner Familie und das Einüben einer »Fernehe« mit sich brachte.
Ich kann es manchmal auch genießen, abends in eine leere Wohnung zu kommen und die Zeit ganz frei gestalten zu können. Da fühle mich gar nicht einsam. Aber natürlich hat das damit zu tun, dass ich mich in einem Netzwerk aufgehoben weiß von Familie und Freund*innen.
Würde mich das Elend der Einsamkeit überfallen, könnte ich sofort jemand aus meinem Nahumfeld kontaktieren. Es ist ja eine Binse: Existenz in dieser Welt heißt, in antagonistischen Dimensionen zu leben. Nur wer mit sich selbst sein, also auch allein sein kann, kann auch Beziehungen leben, die ihm und anderen guttun.
Gemeinschaft und Rückzug sind nicht wie Feuer und Wasser, sondern sie bedingen einander. Man muss schweigen können, um sinnvoll reden zu können. Auch das können wir schon in der Bibel lesen. Die großen »Reich-Gottes-Figuren«, nicht nur Jesus selbst, haben immer wieder Zeiten und Räume des Rückzugs, der Einsamkeit gesucht, um dort Gott und damit auch sich selbst neu zu finden.
Von Dietrich Bonhoeffer, den die, die ihn gut kannten, als begnadet zur Freundschaft beschrieben, wird berichtet, dass er, der große Kommunikator, zugleich ein existenzielles Bedürfnis nach Rückzug, nach Alleinsein hatte. Das ging so weit, dass er bei abendlichen Gesellschaften in seinem Elternhaus, in dem er auch als Erwachsener noch lange wohnte, sich immer mal wieder für einige Zeit in sein Zimmer zurückzog, bevor er sich wieder unter die Gäste mischte.
Kurz gesagt: Alleinsein hat auch seinen eigenen Zauber. Es kann auch gut sein, ja es ist sogar notwendig, dass der Mensch allein sei – von Zeit zu Zeit! Im Übrigen gilt: Es ist nicht defizitär, allein zu leben.
Wer in einer Partnerschaft lebt, kann einsam sein. Wer als Single lebt, muss nicht einsam sein. Dafür spricht auch, dass es bekanntlich immer mehr Singlehaushalte gibt. In ihnen leben mitnichten nur Menschen, weil sie es »müssen«; viele wollen diese Lebensform auch.
Alleinsein aber ist das eine. Einsamkeit ist etwas sehr anderes.
Gefühlt jedenfalls, und für sehr viele Menschen. Für sie ist Einsamkeit eine Lage, die als bedrängend erlebt wird, weil sie manchmal tagelang keine echte menschliche Stimme hören, mit niemandem sprechen können. Einsame Menschen ziehen sich oft mehr und mehr zurück, fangen an misstrauisch zu werden, suchen keinen Kontakt mehr und so wird ihre Situation immer isolierter. Ein Teufelskreis.
Dass im reichen Norden unserer globalisierten Welt eine offenbar unaufhaltsam wachsende Zahl an Menschen sich einsam fühlt, liegt neben anderem sicherlich auch daran, dass das Phänomen der sogenannten multilokalen Großfamilie überhandnimmt: Die Familie lebt weit verstreut über halb Deutschland. Zusammenkommen, jenseits von Weihnachten, wird schwierig.
Zugleich betonen Wissenschaftler, dass Einsamkeit nicht nur schmerzhaft und belastend ist, sondern die Persönlichkeitsentwicklung auch positiv beeinflussen kann. In der Philosophie gibt es interessante Ansätze, Einsamkeit als eine anthropologische Konstante, als zum Menschsein gehörig anzusehen.
Als ein Gefühl, das von Menschen zu allen Zeiten erlebt wurde und eine wichtige Rolle spielte bei dem Versuch, sich durch Religion, Kunst und Philosophie selbst zu definieren. Aus dieser Blickrichtung greift die Mainstream-Wahrnehmung, der Mensch sei ganz und gar ein Gesellschaftstier und Einsamkeit daher schlecht, weil defizitär, zu kurz.
In der Tat kannten Philosophie und Kunst schon immer die positive Potenziale der Einsamkeit. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass Einsamkeit, Rückzug eine Bedingung der Möglichkeit des Schaffens von (großer) Kunst ist. Berühmte Beispiele gibt es genug. Friedrich Nietzsche hat die Momente einer bewusst gewählten Einsamkeit als einen Raum der »Selbstvertiefung, Selbstbesinnung und Selbstvergrößerung« beschrieben.
Man könnte prägnanter auch sagen: Einsamkeit ist ein Nährboden für Transzendenz. (Es ist kein Zufall, dass das Mönchtum historisch »aus der Einsamkeit« kommt: die ersten Exponenten dieser radikalen spirituellen Lebensform waren Eremiten in der Wüste.)
Heute suchen viele Menschen transzendentes Erleben in Begegnungen mit der Natur, wie sie etwa der bekannte Schriftsteller Henry David Thoreau (1817 – 1862) auf der Basis seiner eigenen Eremitage in den Wäldern Neuenglands geschildert hat. Da kann eine heitere Einsamkeit erlebbar werden, die sich über ein Überwältigungserlebnis in der Natur einstellt. Man löst sich aus den gesellschaftlichen Banden und Konventionen und kann sich vorbehaltlos auf sich einlassen.
Die Tatsache, dass ich mich, wenn ich mit anderen bin, immer auch von außen wahrnehme, wird durch das einsame Naturerlebnis vorübergehend kontrastiert. Der Blick eines anderen fehlt, und ich kann Seiten an mir entdecken und ausprobieren, die ich vielleicht noch nicht kannte. Wenn ich die ganze Zeit in Gesellschaft bin, geht das nicht.
Was ist es aber mit der immer wieder vorgetragenen Zeitdiagnose, dass Menschen gerade in den hochentwickelten modernen Gesellschaften besonders gefährdet seien, in Einsamkeit und soziale Isolation abzurutschen?
Ein (marxistisch inspirierter) Argumentationsstrang der Philosophiegeschichte legt nahe, dass wir unter dem Leistungs- und Verwertungsimperativ der kapitalistischen Ökonomie in ein »entfremdetes« und letztlich einsames Verhältnis zu den Dingen und Menschen geraten, die uns umgeben und mit denen wir arbeiten.
Soziologen weisen indessen darauf hin, dass diese These kaum verlässlich zu belegen ist. Mehr spräche für eine umgekehrte Lesart: Die Liberalisierung, die mit dem Kapitalismus einhergegangen ist, habe auch ganz neue Chancen eröffnet, sich aus Einsamkeit zu befreien.
Menschen, die zuvor in strikte soziale Normen eingebunden gewesen seien, hätten im Zuge dieser Entwicklung neue persönliche Freiheiten erlangt. Hier liegt sicherlich auch eine der großen Potentiale der Digitalisierung, die auf vielen Feldern beides zugleich ist, Fluch und Segen.
Freilich lässt sich kaum bestreiten, dass moderne Gesellschaften spezifische neue Formen der Einsamkeit hervorgebracht haben. Insbesondere durch die »Globalisierung«. Die mit ihr einhergehende Tendenz zu permanenter Intensivierung, Beschleunigung, Optimierung nicht nur von Arbeitsabläufen, sondern der Lebens- und Selbstgestaltung, haben die Kehrseite, dass Inseln der Muße, der Begegnung, des »zweckfrei Sozialen« zu kurz kommen.
Verschärft wird dies dadurch, dass auch in diesem Kontext in Deutschland – stärker als in ähnlich entwickelten Ländern – ein kausaler Zusammenhang zwischen den sozialen Lebensbedingungen und dem Risiko der Vereinsamung besteht.
Wie bei der Bildungs(un)gerechtigkeit gilt auch hier: je instabiler die wirtschaftliche und soziale Situation, desto größer die Gefahr, in die Einsamkeit abzurutschen. Altersarmut = Alterseinsamkeit: in Deutschland eine gefährliche Gleichung.
Abschließend gefragt: Was kann man gegen Einsamkeit tun?
Ich denke, mehr als es uns scheint. Erst einmal können wir vorsorgen durch Freundschaften, Bekanntschaften, die wir pflegen - und zwar bevor wir alt werden. Soziale Beziehungen, wenn sie tragfähig sein sollen, brauchen Zeit, und kosten auch Zeit. Aber es ist eine Investition, die sich unbedingt lohnt.
Viele Menschen sind in der Rushhour ihres Lebens so sehr mit Beruf und Familie beschäftigt, dass ihnen gefühlt Zeit und Kräfte fehlen, darüber hinaus Beziehungen zu pflegen. Zwar kann man auch im Alter noch Freundschaften aufbauen, aber in der Regel sind es langjährige gemeinsame Erfahrungen, Höhen und Tiefen des Lebens, eine gemeinsame Geschichte, die diese Beziehungen festigen.
Und wichtig ist auch, sein Beziehungsnetz nicht nur innerhalb des eigenen oder von verwandten beruflichen Milieus zu knüpfen, in dem man sich sowieso den ganzen Tag bewegt. Das kann leicht zu dem heute verbreiteten Phänomen der »Existenz in der eigenen Blase« führen.
Ein früherer Spitzenpolitiker, der einen beeindruckend breiten Freundeskreis aus Menschen unterschiedlichster Herkünfte und Professionen hat, sagte mir, er habe von Anfang seiner Laufbahn an bewusst darauf geachtet, seine Freundschaften vor allem im außerpolitischen Raum zu suchen. Das ist sehr lebensklug.
Und schließlich natürlich, jenseits persönlicher Freundschaften: die unübersehbar vielen zivilgesellschaftlichen Angebote! Chöre, ehrenamtliches Engagement in Vereinen, Initiativ- und Quartiersgruppen oder Kirchengemeinden, ein gemeinsamer Buchclub, und und und...
Überall dort freut man sich, wenn Menschen dazu kommen. Da lassen sich gut Kontakte knüpfen. Es geht darum, sich aufzumachen, hinzugehen, den Schritt vor die eigene Tür zu wagen. Am Ende gilt der kleine schöne Kanon, den wir vor Jahrzehnten auf den Evangelischen Kirchentagen gerne gesungen haben:
»Einsam bist du klein / aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein!»
Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer und
Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche Dresden