»Einsamkeit«
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Gegen das Vergessen
Erinnerung und Mahnung
Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz präsentiert der Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano sein beeindruckendes Projekt »GEGEN DAS VERGESSEN« an der Frauenkirche. Großformatige Porträts von Überlebenden der NS-Verfolgung werden auf dem Neumarkt und in der Frauenkirche ausgestellt und bieten Besucher*innen die Möglichkeit, sich intensiv mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und einen Beitrag zu einer lebendigen Erinnerungskultur zu leisten.
DIE GESICHTER DER ERINNERUNG
Luigi Toscano begann 2014 mit der Dokumentation von Zeitzeug*innen, um ihre einzigartigen Geschichten zu bewahren. Mittlerweile umfasst das Projekt über 400 Porträts von Überlebenden aus Ländern wie Deutschland, den USA, Israel, der Ukraine und Russland.
Toscanos Arbeit ist nicht nur ein künstlerisches Statement, sondern auch eine Mahnung: »Wenn wir die Vergangenheit vergessen, sind wir verdammt, sie zu wiederholen.« Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Projekt und erinnert daran, dass das Schweigen der Zeitzeugen bald endgültig sein wird.
Die Geschichten hinter den Porträts erzählen von unfassbarem Leid und Verlust, aber auch von Widerstand und Menschlichkeit. Jede Begegnung ist ein Einblick in das Leben derjenigen, die den Holocaust überlebt haben, und gibt auch denen eine Stimme, die nicht mehr gehört werden können.
EINE BRÜCKE ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND GEGENWART
Im Januar und Februar 2025 werden Toscanos Bilder in Dresden präsentiert und dabei durch ein Rahmenprogramm ergänzt. Besonders die Einbindung von lokalen Zeitzeug*innen und deren Geschichten gibt der Ausstellung eine regionale Tiefe.
Schüler*innen aus Dresden sind aktiv eingebunden: Sie setzen sich in Schulprojekten mit den Schicksalen von Überlebenden auseinander. Die Beschäftigung mit der NS-Zeit und den Erfahrungen der Überlebenden wird so für junge Menschen greifbarer und fördert ein tieferes Verständnis für die Konsequenzen von Ausgrenzung und Verfolgung.
ERINNERUNGSKULTUR IM ZEICHEN VON DEMOKRATIE UND MENSCHLICHKEIT
Die Bedeutung des Projekts liegt auch in seiner zeitlosen Aktualität. In einer Welt, in der rechtspopulistische Stimmen und Ressentiments gegen Minderheiten zunehmen, setzt Luigi Toscano ein Zeichen gegen jede Form von Ausgrenzung und für die Werte Offenheit, Toleranz und Demokratie. Er zeigt eindrucksvoll, dass wir als Gesellschaft mehr Gemeinsamkeiten haben, die uns verbinden, als Unterschiede, die uns trennen.
Die Ausstellung GEGEN DAS VERGESSEN war bereits an vielen bedeutenden Orten weltweit zu sehen: 2018 in New York zum Internationalen Holocaust-Gedenktag, bei den Vereinten Nationen in Genf, Paris und Washington, und auf unzähligen Plätzen und Städten, wo sie Millionen Menschen berührt hat. Nun kommt das Projekt nach Dresden, wo es den Raum und die Zeit für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und eine bewusste Reflexion über die Gegenwart schaffen soll.
Toscano zeigt die emotionalen und schmerzhaften Erinnerungen, die oft schwer greifbar sind, in Form großformatiger Porträts, die im öffentlichen Raum zugänglich sind. Dieser demokratische Ansatz trägt das Projekt an zentrale Orte und direkt in das Bewusstsein der Gesellschaft.
PROGRAMM RUND UM DIE AUSSTELLUNG
Die Ausstellung an der Frauenkirche wird von einer Reihe begleitender Veranstaltungen ergänzt, die das Thema vertiefen. Der gleichnamige Dokumentarfilm, der 2018 Premiere hatte und für den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis nominiert wurde, wird gezeigt. Der Künstler wird vor Ort sein und in sein Werk und seine Arbeit einführen.
Gottesdienste und Friedensandachten in der Frauenkirche schaffen weitere Anlässe zur Auseinandersetzung mit den Themen der Ausstellung. Die Besucher*innen werden so ermutigt, sich auf verschiedenen Ebenen mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und ihre ganz persönlichen Lehren für die Gegenwart zu ziehen.
EIN LEBENDIGES DENKMAL
GEGEN DAS VERGESSEN ist ein lebendiges Denkmal, das sowohl die Menschen als auch die Geschichte, die es repräsentiert, ehrt und schützt. Luigi Toscano zeigt, dass Erinnerung nicht nur eine Angelegenheit von Büchern und Museen ist, sondern dass sie Teil unseres Alltags und unseres Verständnisses von Menschlichkeit und Zusammenhalt sein muss.
Durch die überlebensgroßen Porträts und die eindringlichen Geschichten wird an der Frauenkirche ein Raum geschaffen, der den Geist der Erinnerung wachhält und uns ermahnt, uns stets für eine menschliche, friedliche Gesellschaft einzusetzen.
Luigi Toscano
Der Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano stellt Menschen in den Mittelpunkt und erzählt die Geschichten hinter dem Sichtbaren. Seine Kunst spricht eine Sprache, die jeder verstehen kann. Diese nutzt er auch, um sich klar zu positionieren und gesellschaftspolitische Zeichen zu setzen. Mehr und mehr erobert er dafür den öffentlichen Raum. Häuserfassaden, Plätze oder Parks: Statt hinter abgeschirmten Museumstüren werden seine Bilder an frei zugänglichen Orten präsentiert.
Im März 2021 wurde Luigi Toscano für seine Arbeit zum UNESCO Artist for Peace berufen – als weltweit erster Fotograf überhaupt. Wenige Monate später, im Oktober, überreichte der Bundespräsident und ehemalige Schirmherr des Projekts Frank-Walter Steinmeier den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.
ANDREAS DIETERICH
Referent für Friedens- und Versöhnungsarbeit
an der Stiftung Frauenkirche Dresden