»Einsamkeit«

Geht hin und zeigt euch!

Wenn Einsamkeit und Krankheit einander bedingen

Als Jesus in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. Lk 17,12-14

Diese Erzählung aus dem Lukasevangelium ist für mich eine Ostergeschichte, eine Auferstehungserzählung. Sie ist auch dahingehend sehr markant, dass sie zeigt: Krankheit kann bis heute eine wesentliche Ursache für Einsamkeit sein.

Die vom Aussatz, von Lepra betroffenen Menschen leben außerhalb der Gemeinschaft. Man fürchtete Ansteckung. Der Anblick der Kranken erregte Furcht und Ekel. Hinzu kam, das Krankheit damals vielfach als Strafe Gottes für Fehlverhalten gesehen wurde. Die Betroffenen selbst schämten sich ihrer Krankheit und kamen aufgrund der Deutung als Gottesstrafe ständig in Rechtfertigungsnöte.

Wer vom Aussatz befallen war, der wurde ausgesetzt, der hatte seinen Platz vor den Toren des Dorfes, gleichsam vor den Toren des Lebens. Ein Aussätziger war damals von den Gesunden abgeschrieben. Und wie ist das – auch heute noch – für den Kranken? Wie fühlt es sich an, vor die Tore eines »normalen« Lebens abgeschoben zu werden?

Die, die ich mag, entfernen sich von mir. Keine Umarmung, kein Kuss mehr. Nur ein schroffes »Geh weg!« oder ein stummes »Warum bist du so?« – Das tut weh. Es zerreißt mir die Seele. Und der Körper. Warum gehorcht er nicht mehr? Warum fühle ich mich so fremd in ihm? Warum gerade ich? Wo bist du, Gott?

Doch auch vor den Toren eines »normalen« Lebens sortiert sich das Über-Leben neu. Die Aussätzigen haben sich eingerichtet in ihrer Situation. Zu zehnt halten sie füreinander die Hoffnung wach, dass sie nicht schon lebendig begraben sind, dass mit den Wunden an Leib und Seele nicht schon alles zu Ende ist.

Als Jesus näherkommt, laufen die zehn auf ihn zu. Eigentlich müssten sie von weitem rufen: »Wir sind krank, halte dich von uns fern!« Doch irgendetwas bewegt sie zu schreien: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!

Und Jesus erbarmt sich. Geht und zeigt euch!, empfiehlt er den Aussätzigen. Sie kommen in Bewegung. Was haben sie schon zu verlieren?! Die Aussätzigen, die Ausgesetzten gehen auf Jesu Wort hin los. Ohne Zögern machen sie sich auf den Weg zu den Priestern, der laut Tradition den Geheilten vorbehalten ist. Sie beten mit den Füßen. Jeder Schritt – ein Schritt des Vertrauens, den Zeichen der Ausgrenzung zum Trotz. Die Hoffnung auf Heilung bewegt sie.

So weit die biblische Erzählung. Aus ihr lässt sich herauslesen, welch unseligen Kreislauf Einsamkeit und Krankheit bilden können. Ist unsere Wahrnehmung erst mal geschärft, wird uns bewusst, dass gar nicht so wenige Menschen darunter leiden. Um aus der Isolation herauszukommen und zu gesunden, brauche ich die Kraft, auf meine Mitmenschen zuzugehen, mich ihnen zu zeigen.

Weil aber die Symptome der Erkrankung einer Teilhabe an der Gemeinschaft genau entgegenstehen und mir Kraft und Mut fehlen oder weil ich Scham und Unsicherheit empfinde (weil ich z.B. körperlich beeinträchtigt bin und fürchten muss, dass unterwegs kein WC in erreichbarer Nähe ist), komme ich nicht raus aus diesem Kreislauf.

Eine junge Frau aus dem Team unserer Ehrenamtlichen nimmt den Kampf mit den Diagnosen und Symptomen unter enormer Kraftanstrengung täglich neu auf. Gesunde Menschen können sich das nicht vorstellen. Die ziehen sich morgens die Jacke an, greifen zu Schlüssel, Handy und Tasche, gehen zur Tramhaltestelle und fahren in einer vollbesetzten Bahn unter flackernden Monitoren, Stimmengewirr, unvorhersehbaren Verhaltensweisen der Mitmenschen, einer undefinierbaren Anzahl und Herkunft von Gerüchen, Geräuschen und sonstigen Eindrücken zur Arbeit.

Menschen mit physischen und psychischen Besonderheiten haben gefühlt schon einen 12-Stunden-Arbeitstag hinter sich, wenn sie sich im Treppenflur befinden. Umso wichtiger ist es, dass diese Menschen selbst zu Wort kommen. Catalina Estio möchte sich nach eigenen Worten – »nie wieder verstecken«. (Hier ihr Bericht.)

Nach diesen Worten schaue ich noch einmal auf die biblische Erzählung. Jesus spricht den Kranken ihr Heilsein zu: Geht, zeigt euch! Ihr sollt nicht länger ausgeschlossen sein. Die Grenzen haben andere um euch gezogen! Der Ort, an dem sie euch gedemütigt haben, ist nicht mehr euer Platz. Steht auf und geht ins Leben. Jesus, der Tabubrecher!

Er hat sein Umfeld brüskiert. Er hat diejenigen, die durch Krankheit und Anderssein nicht dazugehörten, in die Gemeinschaft zurückgeholt. Ja, die Ausgegrenzten sind es, die bis heute in einer Gesellschaft die Wunde offen halten, dass da noch viel zu tun ist, wenn es um soziale, religiöse und politische Verantwortung geht.

Auferstehung. Ostern. Es wird etwas heil – am Einzelnen, an der Gesellschaft. Auferstehen ist aber auch schon das: Dass, wenn eben nicht alles wieder gut wird, wenn die Angst um mich herum doch wieder größer wird, wenn meiner Hoffnung auf ein Heilwerden der Atem ausgeht, ich mich dennoch gehalten glauben kann. Wenn ich glauben kann, dass ich mehr bin als Grenzen und Gebrechen. Trotzdem wertvoll. Liebens-würdig.

Pfarrerin ANGELIKA BEHNKE
Frauenkirchenpfarrerin und Sprecherin
des Arbeitskreises Nagelkreuzgemeinschaft Dresden