»Einsamkeit«

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Lass mir meine Einsamkeit

Diese etwas provokative Überschrift greift eine Position von Andreas Öhler auf, die er in einem Beitrag aus Heft 25/24 von Christ & Welt eingenommen hat.

Der Literatursoziologe Öhler grenzt sich in diesem Beitrag von einer plakativen, einseitigen Verurteilung und Pathologisierung der Einsamkeit ab. Für Öhler wie auch viele andere Menschen gilt: Einsamkeit wie auch Alleinsein sind unverzichtbare Bestandteile und Zustände unseres Daseins, die wir durchaus gerne aufsuchen und denen wir positiv begegnen.

Während das Alleinsein eine (bewusst herbeigeführte) Kommunikationssituation beschreibt, drückt der Begriff Einsamkeit heute einen zumeist defizitären, belastenden Seelenzustand aus: Der von Einsamkeit erfassten Person fehlen soziale Kontakte, die erfüllende Bindung an andere Menschen. Von dieser »schlechten Einsamkeit«, einer Differenzierung von Nietzsche, die es natürlich auch gibt und die heute in aller Munde ist, will Öhler indessen weniger sprechen, sondern von einer »guten Einsamkeit«, die für das menschliche Dasein unverzichtbar ist.

Öhlers Position verweist auf eine grundlegende Prägung und Fähigkeit des Menschen, die heute immer mehr in Vergessenheit gerät. Um dies besser zu verstehen, müssen wir uns gut zweitausend Jahre zurückbewegen. Mit Beginn der klassischen antiken Philosophie konturieren sich zwei gegensätzliche Modelle der conditio humana heraus: Auf der einen Seite haben wir den »zoon politikon«, wie ihn Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) in seiner berühmten Schrift »Politik« beschreibt. Der Grundzug des Menschen ist nach Aristoteles, sich zu vergesellschaften, sich mit anderen zusammenzutun, eine soziale Gemeinschaft zu bilden.

Gleichzeitig zu dieser Auffassung wird aber in der Philosophie Epikurs (341 – 271 v. Chr.) das genaue Gegenteil propagiert: Hier wird das Glück des Menschen gerade im Rückzug aus der Gesellschaft in die eigene Innerlichkeit gesehen, und zwar wird in dieser Lehre ein Zustand innerer Seelenruhe angestrebt, der sich möglichst von allen äußeren Einflüssen befreit. »Lebe im Verborgenen«, lautet eine bekannte Maxime dieses philosophischen Denkens, das in der gleichzeitig entstehenden philosophischen Schule der Stoa, die von Zenon von Kition (333 – 262 v. Chr.) begründet wurde, viele Parallelen findet. Denn auch in der Stoa soll sich der Mensch auf die Dinge konzentrieren, die allein aus seinen inneren Fähigkeiten (des Verstandes) hervorgebracht werden und sich von allen äußeren Einflüssen – gerade auch den gesellschaftsbedingten – möglichst unabhängig machen.

Dieser philosophiegeschichtliche Rekurs zeigt, dass der Mensch durch ein polares Denken und Fühlen geprägt ist. Immanuel Kant hat in diesem Zusammenhang einmal von der »ungeselligen Geselligkeit« des Menschen gesprochen. Wir haben einerseits das Bedürfnis, uns in Gesellschaft zu begeben, andererseits gibt es aber auch immer wiederkehrende Phasen in unserem Dasein, in denen wir diese Geselligkeit gerade meiden und uns in die Einsamkeit zurückziehen. Denn gerade in der Einsamkeit – abseits der mitunter störenden und lauten Geselligkeit – können wir uns intensiv und ungestört mit den Fragen beschäftigen, die für uns von entscheidender Bedeutung sind:

»Wer bin ich? Wie möchte ich leben? Was ist mir wichtig?« Oder mit Lars Svendsen (Philosophie der Einsamkeit, 2016) gesprochen: »NUR DURCH DIE EINSAMKEIT KANN MAN DER WERDEN, DER MAN IST.«

Was also bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als wichtiger und positiver Bestandteil der conditio humana gesehen wurde, ist plötzlich zu einem riesigen Problem geworden. Wann genau diese Umwertung der Einsamkeit stattgefunden hat, kann man nicht genau sagen. Vermutlich handelt es sich hier um einen schleichenden Prozess, der Ende des 18. Jahrhunderts begonnen und sich im Laufe des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts verdichtet hat, bis er nach der Corona-Pandemie selbst epidemische
Ausmaße angenommen hat.

Bedeutsam scheint mir in diesem Zusammenhang die Diagnose des deutschen Philosophen Odo Marquard zu sein, der bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine »Einsamkeitsunfähigkeit« des Menschen herausgestellt hat: »Was uns modern plagt, quält und malträtiert, ist nicht nur – und schon gar nicht primär – die Einsamkeit, sondern vor allem der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: die Schwächung der Kraft zum Alleinsein, der Schwund des Vermögens, Vereinzelung zu ertragen, das Siechtum der Lebenskunst, Einsamkeit positiv zu erfahren.«

Diese Analyse trifft den Nagel auf den Kopf und scheint mir auch für unsere Gegenwart treffender denn je. Ein Großteil der Probleme, die unsere Gesellschaft mit der Einsamkeit hat, hängen mit dieser fortschreitenden Einsamkeitsunfähigkeit des Menschen zusammen. Sobald wir allein und auf uns selbst zurückgeworfen werden, sind wir verloren!

Man kann diese Aussage sehr gut an der Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern sowie auch Studentinnen und Studenten studieren, die durch die Corona-Pandemie hindurch unterrichtet wurden. Es gibt eine (sehr!) kleine Gruppe von Lernenden, die in dieser Phase eine äußerst positive Entwicklung genommen haben.

Es sind jene, die über entsprechende Einsamkeitstechniken verfügen und diese Phase für sich als eine positive Herausforderung begriffen haben, in der sie – im Diskurs mit sich und den Lerngegenständen – Entscheidendes über sich selbst, ihre Fähigkeiten und die Welt herausgefunden haben und daran gewachsen sind.

Ein Großteil der anderen ist dazu nicht in der Lage gewesen, weil man ihnen nicht beigebracht hat, mit dieser Einsamkeitssituation umzugehen oder, um ein Wort von Johann Georg Zimmermann (Über die Einsamkeit, 1785) zu zitieren, »die Kunst, mit sich selbst fertig zu werden«, nicht beherrschen.

Natürlich ist dieser defizitäre Zustand in erster Linie auch ein gesellschaftliches Problem. Wir leben in einem digitalen Universum der (vorgegaukelten!) permanenten Konnektivität. Social Media macht uns glauben, dass wir jederzeit mit jedem auf der Welt verbunden sind. Das ist natürlich kompletter Unsinn; weder sind wir mit irgendjemandem verbunden noch an ihn gebunden. Im Gegenteil, Social Media steht eher für Unverbindlichkeit, Beliebigkeit, für Täuschung, für Verletzung und für die Dekonstruktion von Kommunikation.

Resümierend wird man daher festhalten können: Digitales verdrängt Soziales und schneidet vielen auch den Weg ab, ein positives Verhältnis zum Alleinsein und zur Einsamkeit aufzubauen; stattdessen befördert es vor allem Spielarten der schlechten Einsamkeit. Noreena Hertz (Das Zeitalter der Einsamkeit, 2021) meint ergänzend hierzu: »Die sozialen Medien machen uns einsamer – nicht nur, weil wir uns durch deren Gebrauch weniger verbunden mit unseren Mitmenschen fühlen, sondern auch, weil sie die Gesellschaft insgesamt gemeiner und grausamer machen.«

Demgegenüber ist es mehr denn je wichtig, Einsamkeit und Alleinsein als positive, unverzichtbare Möglichkeiten unseres Daseins zu begreifen und zu stärken. Und daher: Lasst mir meine Einsamkeit! Lasst den Menschen ihre Einsamkeit und befähigt sie, mit dieser gewinnbringend und gut umzugehen!

DR. HABIL. REINHARD WILCZEK
hat Germanistik, Musikwissenschaft, Musikpädagogik, Kunstgeschichte und
Philosophie in Wuppertal, Düsseldorf, Bochum und Heidelberg studiert.
Seit 2023 schreibt der Autor seine zweite Doktorarbeit an der Universität
Heidelberg zu einem Thema über Beethoven.