»Einsamkeit«
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Neunundneunzig Jahre später
Macht macht bekanntlich einsam. Auch wenn sich einer Metastudie zufolge mächtige Menschen weniger einsam fühlen, weil ihnen ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten auf dem Weg zum Gipfel systematisch abtrainiert wurde.
Über die gefühllose Einsamkeit etwa einer Kulturstaatsministerin musste ich jüngst während einer fantastischen, herrlichen, berührenden und unwiederholbaren Tanzperformance des renommierten »Cloud Gate Dance Theatre« im Festspielhaus Hellerau nachdenken, in der es auch viel um Gruppendynamiken, um Vereinzelung und Vereinsamung ging.
Hatte dieselbe Kulturstaatsministerin doch wenige Tage vorher verkündet, sämtliche Bundesmittel für das Bündnis internationaler Produktionshäuser (dessen Teil Hellerau ist) zu streichen – obwohl im Koalitionsvertrag der Ampel noch gestanden hatte: Fortan bauen wir die Kulturstiftung des Bundes und die Bundeskulturfonds als Innovationstreiber aus und stärken Strukturen der Freien Szene und des Bündnisses der internationalen Produktionshäuser.
Dass diese »Stärkung der Kunst« von der Koalition also als Experiment am lebenden Objekt im Sinne des bekannten und oft missbrauchten Nietzsche-Ausspruchs aus der »Götzen-Dämmerung«, »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, geplant war – wer hätte das gedacht? Und: wie einsam macht sich eine politische Entscheiderin mit so einem wortwörtlich vernichtenden Ukas?
Von Zehn Milliarden
Die Rolle der Künste, sie scheint im Land der Dichter und Denker mehr und mehr zu einer verzichtbaren Nebenrolle zu werden, die ein politischern Drehbuchautor, wenn es hart auf hart kommt, zu einer »stummen Rolle« schrumpfen lässt oder, wenn es noch härter kommt, einfach aus dem Skript herausschreibt.
Andere Branchenstars wie etwa die Halbleiterindustrie oder die Rüstungsindustrie scheinen dagegen Gagen fordern zu können, die die Kulturkollegen nur noch hilflos mit den Schultern zucken lässt. Jajaja, ich weiß, man kann und sollte verschiedene Ressorts und Finanzpläne nicht populistisch gegeneinander aufrechnen.
Deswegen wird es unserem Oberbürgermeister auch nicht gelingen, einst erstrittene Fördergelder für die Renovierung des Fernsehturms für den Wiederaufbau einer eingestürzten Brücke zu verwenden, so sinnvoll das auch wäre. Es sind eben verschiedene Töpfe, aus denen der süße Brei fließt.
Anlässlich der jüngst geplatzten Milliardeninvestition des Chipherstellers Intel, der ankündigte, in der Nähe von Magdeburg ein Chipwerk für dreitausend Angestellte bauen zu wollen, sei aber einmal ein gedanklicher Ausflug gestattet.
Konkret hätte die Bundesregierung diese Ansiedlung von Intel mit zehn Milliarden Euro subventioniert. Das ist eine ganz schwer vorstellbare Zahl. Verständlicher wird es, wenn wir uns einmal Alternativprojekte ausdenken, die den deutschen Steuerzahler ebenfalls zehn Milliarden kosten würden.
9,9 Milliarden?
Während das Cloud Gate Theatre tanzte, träumte ich nämlich: nahe Magdeburg, sagen wir in der kleinen, feinen Stadt Schönebeck (Elbe), würde man statt der Chipfabrik ein Juwel von einem Kulturzentrum bauen, das bald weit über die Region hinaus ausstrahlte. Nach dem Bau dieses Hauses wären noch gut 9,9 Milliarden übrig. Und wissen Sie, was man mit diesem Geld machen könnte?
Man könnte neunundneunzig Jahre lang jeden Tag – von Montag bis Freitag, also an insgesamt mehr als fünfundzwanzigtausend Tagen – einen fünfminütigen Podcast-Beitrag machen, der einen in Deutschland arbeitenden Künstler vorstellt: eine Musiklehrerin aus Bad Nauheim, einen schüchternen Dichter aus Berlin, einen Breakdancer aus Gelsenkirchen, eine aufstrebende Dirigentin aus Aachen, eine gütige, bald pensionierte Autorin von Liebesromanen, die sommers auf Rügen und winters in Stuttgart lebt, eine Akkordeonstudentin aus Detmold oder einen Street-Art-Künstler aus Dessau. Und so weiter, jeden Tag.
Man würde etwas über ihre Arbeiten erfahren, über ihre Ziele und Wünsche – und jetzt der Clou! Jeder Künstler erhielte anschließend die runde Summe von vierhunderttausend Euro, mit denen er sich ein kleines Künstlerhäuschen in der Uckermark renovieren und einen Keramikbrennofen anschaffen, ein Yogastudio oder einen Fortbildungsraum bauen könnte, mit denen er etwas Luft schöpfen könnte im täglichen Freiberuflerdasein, eine Ausstellung konzipieren oder ein wertvolles Musikinstrument kaufen, auf dem er anschließend ein Leben lang musizierte.
Diese vierhunderttausend Euro wären fast halb so viel Geld, wie jedes Jahr die Nobelpreisträger erhalten – nur eben jeden Wochentag, neunundneunzig Jahre lang! Doch damit nicht genug. Der Beginn für neue künstlerische Impulse würde ein einmonatiges Residenz-Stipendium in Schönebeck sein, an eben jenem Kulturzentrum.
Dort kämen die Preisträger dann zum Austausch mit zwanzig anderen Stipendiaten zusammen. Könnten mit Besuchern aus nah und fern in Kontakt kommen, Workshops für anreisende Schulklassen anbieten und abends beim regionalen Weißwein zusammensitzen und an kühnen Visionen schrauben.
99 Jahre später ...
… würde man in Schönebeck Bilanz ziehen. Was hat dieses einmalige Sondervermögen Kultur, was haben diese zehn Milliarden, diese zehntausend Millionen Euro, was haben diese fünfundzwanzigtausend (!) Künstlerinnen und Künstler unserem Land der Dichter und Denker eingebracht?
Haben sie uns alle als Gesellschaft inspiriert, über unseren eigenen Horizont hinauszudenken, unser Leben reich und kulturvoll zu leben? Müßig zu erwähnen, dass man mit einem Sondervermögen in zehnfacher Höhe, wie es gerade die Deutsche Bundeswehr außer der Reihe erhalten hat, einhundert Jahre lang sämtliche freiberuflichen Künstlerinnen und Künstler in diesem Land unterstützen könnte, ohne Ausnahme, quasi lebenslang.
Aber da müssten sich deutsche Politiker eben einmal fragen: Stahlhelm oder Strickmütze? Kanonen oder Literaturkanon? Minen oder Mimen? Panzer oder Tänzer?
In Kürze werden wir wieder eine Bundesregierung wählen. Wieder wird es Koalitionsvereinbarungen und Absichtserklärungen geben. Ein neuer Verteidigungsminister wird daran erinnern, dass Donald Trump droht, die NATO hängenzulassen, wenn wir nicht mehr Geld für Waffen ausgeben. Aber auch ein neuer Kulturstaatsminister wird ernannt werden.
Bei der anstehenden Haushaltsdiskussion sollte er um die zehn Milliarden aus Magdeburg kämpfen! Schon mit einem Bruchteil dieses Steuergeldes könnten wir uns auf den Weg machen, den immensen Wert von Kultur für unser aller Zusammenleben irgendwann vielleicht einmal angemessen wertgeschätzt zu sehen.
Dr. MARTIN MORGENSTERN
seit 2007 Chefredakteur von »Musik in Dresden«, lehrte an den Universitäten
und Musikhochschulen von Dresden, Halle/Saale-Wittenberg, Bremen, Eichstätt,
Stuttgart und Leipzig und arbeitet freiberuflich als Kulturjournalist.