»Einsamkeit«

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BRÜCKENSCHLAG ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT: Was können wir zur Versöhnung beitragen?

Während meines Praktikums in der Stiftung Frauenkirche erlebte ich die Schönheit der Frauenkirche, die Altarszene im Garten Gethsemane, die von der Morgensonne beleuchtet wurde, die faszinierende Akustik der Kuppel bei Konzerten und die friedliche Stille in der Unterkirche. Ich hörte mir den Audioguide an, blätterte in den Broschüren und Heften und nahm an einigen Führungen teil, die von den ehrenamtlichen Kirchenführern geleitet wurden.

Die verschiedenen Farbtöne des Altars und das versehrte alte Turmkreuz, das sich heute im Hauptraum befindet, machten mir klar, dass hinter dieser schönen Fassade so viele Fragen stehen, über die es sich nachzudenken lohnt. Bei verschiedenen Führungen habe ich unterschiedliche Perspektiven auf die Frauenkirche kennengelernt.

Ich wollte mehr über die persönlichen Verbindungen, Gefühle und Gedanken erfahren, die mit der Frauenkirche verbunden sind. So führte ich eine Reihe von Interviews mit 10 der ehrenamtlichen Kirchenführerinnen und Kirchenführer.

Einige von ihnen haben lange genug in Dresden gelebt, um die Ruinen zu sehen, einige ihrer Familien haben die Bombardierung miterlebt. Dank ihrer Großzügigkeit konnte ich mir ein Bild von den verschiedenen Facetten der Interaktion zwischen der Frauenkirche und den Menschen in Dresden in Bezug auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft machen.

In diesem Artikel möchte ich die Originalantworten der Kirchenführerinnen und Kirchenführer auf einige Fragen darüber, was sie als Teil der Frauenkirchengemeinde erleben, vorstellen.  Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Entdeckungsreise. Vielleicht möchten Sie Ihre eigene Verbindung zur Frauenkirche passieren lassen, während Sie die folgenden Fragen und Antworten lesen.

SEIT WANN WISSEN SIE VON DER FRAUENKIRCHE?

 

ehrenamtliche Kirchenführerin seit 2018

»Das geht ganz weit in meine Jugend zurück. Meine Oma war Dresdnerin. Von ihr habe ich eine Postkarte aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Querformat gehabt und da war die Silhouette der Stadt Dresden drauf, mit der Frauenkirche vor der Zerstörung. Diese Karte habe ich mir einrahmen lassen und sie hat die ganze DDR-Zeit in meinem Wohnzimmer gehangen.«

 

ehrenamtlicher Kirchenführer seit 2017

»Ich kenne die Ruine der Frauenkirche seit 1975 und mit Beginn des Studiums. In den siebziger und achtziger Jahren gab es zum Gedenken der Zerstörung von Dresden am 13. Februar in der Kreuzkirche abends eine Andacht.
Wir sind öfters nach dieser Andacht von der Kreuzkirche als junge Studenten und junge Personen zur Ruine der Frauenkirche rüber gelaufen und haben dort Kerzen aufgestellt, im Stillen gebetet und deren Zerstörung und der Opfer gedacht.«

 

Ulrich Mroß-Michealis, ehrenamtlicher Kirchenführer seit 2018

»Das hängt mit meiner Historie zusammen: Ich wurde im nördlichen Münsterland geboren. Anfang der 90er Jahre war ich beruflich erstmals in Kattowitz (Polen). Bei dieser großen Entfernung legten meine Kollegen und ich hier, bei Dresden, eine Station ein. So habe ich den Osten Deutschlands unmittelbar nach der politischen Wende kennengelernt.
Vieles hat mich sehr berührt: ich habe die Ruine der Frauenkirche in Dresden gesehen und auch die Art der Menschen in Sachsen erlebt: positiv denkend, freundlich und zuvorkommend. Daraufhin bin ich fast jedes Jahr für ein langes Wochenende nach Dresden gekommen. Ich habe mir die Stadt, die Gegend und das Land angeschaut.
So konnte ich auch miterleben wie die Frauenkirche zu Dresden wieder aufgebaut wurde. Stück für Stück, Abschnitt für Abschnitt. Auch zu den besonderen Anlässen bin ich nach Dresden gekommen: als das Turmkreuz übergeben wurde, die Haube auf die Kirche gesetzt wurde, zu Glockenweihe… Es stellte sich allmählich eine besondere Verbindung zur Frauenkirche und zu Dresden ein.«

Mehrere besondere Zeitpunkte tauchen in den Geschichten der drei Kirchenführer*innen auf: die Zerstörung, die Ruine als Mahnmal und der Wiederaufbau. Die Menschen knüpften ihre persönlichen Verbindungen und entschieden sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus unterschiedlichen Gründen, ehrenamtlicher Kirchenführer zu werden.

Einige von ihnen haben von Informationen über die Frauenkirche in der Zeitung gelesen:

 

Franca Funke, ehrenamtliche Kirchenführerin seit 2018

»Etwa 2017 stieß ich auf einen Zeitungsartikel, in dem ein Interview mit einem älteren Kirchen führer in der Frauenkirche abgedruckt war. Er sprach leidenschaftlich über seine Rolle als ehrenamtlicher Kirchenführer und erzählte von einem ergreifenden Moment, als eine Gruppe syrischer Besucher zu Tränen gerührt war, als sie den Altar sahen, der den lebendigen Jesus (vor seiner Verhaftung) darstellte – eine einzigartige Darstellung, die so in wenigen Kirchen zu finden ist. Inspiriert von diesem Artikel setzte ich mich mit Frau Dr. Häse in der Stiftung in Verbindung, um mich zu erkundigen, ob ich selbst Kirchenführerin werden könnte.«

Einige von ihnen begannen während des Wiederaufbaus:

 

Jürgen Kecke, ehrenamtlicher Kirchenführer seit 2002

»Während der Wiederaufbauzeit war die Geschichte immer die gleiche, aber der eigentliche Wiederaufbauprozess war für uns jede Woche etwas anderes. Das war sehr interessant, weil es sich ständig veränderte. Ich kam dazu, als die Kuppel gebaut wurde, und es war so spannend zu erleben, wie sie in die Höhe wuchs.«

Einige von ihnen engagierten sich im Wiederaufbauprozess und schlossen sich nach ihrer Pensionierung dem Kirchenführungsteam an:

 

Winfried Bauer, ehrenamtlicher Kirchenführer seit 2018

»Seit der Wiederaufbau geplant wurde, habe ich eine Verbindung dazu. Ich war aber erst gegen den Wiederaufbau, weil mir diese Ruine als Mahnmal wichtig war. Dann aber, als die Planung begann, hatte ich beruflich damit zu tun.
Ich bin Brandschutzingenieur und arbeitete an dem Bauwerk von 1993 bis 2005 und heute noch. Wenn es heute ein Problem mit der Feuersicherheit im Prinzip gibt, dann mach ich das auch.«

Am 8. Juni kamen die Chöre aus Coventry und Breslau zum Europakonzert in die Frauenkirche. Am Vormittag habe ich eine Führung für eine Gruppe aus Coventry geleitet. Es war das erste Mal, dass ich eine Führung leitete, aber die Gäste waren sehr engagiert und stellten aktiv Fragen. Ich erinnere mich an die Frage eines älteren Mannes: »Ist die Frauenkirche vielleicht ein bisschen zu schön, um die Menschen daran zu erinnern, warum wir Versöhnung brauchen?«

Wenn ich über diese Frage nachdenke, denke ich, dass die Frauenkirche selbst alle Bedeutungen tragen kann, die von den Betrachtern projiziert werden. Die Menschen können sich von ihrer Schönheit beeindrucken lassen und Selfies unter der Kuppel vor dem Altar machen, aber sie können auch die verschiedenen Farbtöne der Steine betrachten, sich die Dokumentation über den Wiederaufbau in der Unterkirche ansehen oder an einer Führung mit den erfahrenen ehrenamtlichen Kirchenführern teilnehmen.

Es kann aber auch sein, dass die verzierte Fassade der Frauenkirche die Aufmerksamkeit der Menschen zu sehr auf sich zieht, so dass sie weniger motiviert sind, die Narben dahinter kennen zu lernen. Die wiederaufgebaute Frauenkirche trägt sowohl die Narben aus der Vergangenheit in sich, als auch die Hoffnung auf die Zukunft.

Wie beides organisch miteinander verbunden werden kann, hängt davon ab, was jetzt zu tun ist, je nachdem, wie die Versöhnung interpretiert wird.

WIE VERSTEHEN SIE DEN BEGRIFF DER VERSÖHNUNG,
DEN DIE FRAUENKIRCHE SYMBOLISIERT?

 

Franca Funke, ehrenamtliche Kirchenführerin seit 2018

»Versöhnung hat viele Facetten. Die Frauenkirche bietet Menschen zu besonderen Anlässen besondere Dienste an. Für schwangere Frauen gibt es zum Beispiel ein- oder zweimal im Jahr eine Segnung. Wenn Frauen in der Kirche vor der Entbindung den Segen Gottes zugesprochen bekommen, werden sie sich vermutlich diese positive Erfahrung bewahren, selbst wenn sie nicht Mitglied dieser Kirche sind.
Es gibt auch Veranstaltungen für Eltern, die ein Kind verloren haben, so dass da für sie ein Ort der Trauer ist. Wenn sie von anderen Menschen begleitet werden, die ebenfalls ein Kind verloren haben, fühlen sie sich weniger allein. Das kann hilfreich sein im Umgang mit Schmerz. Es ist eine sehr gute Sache, speziellen Gruppen von Menschen besondere Dienste anzubieten, um ihnen zu helfen, ihren Weg und ihren Platz im Leben zu finden.«

 

Sabine Lämmel, ehrenamtliche Kirchenführerin seit 2022

»Das Thema Versöhnung und der 13. Februar sind verpflichtend Teil des Lehrplans für Gymnasien. Als Dresdnerin und Lehrerin versuche ich, das Thema aus einer objektiven Perspektive darzustellen. Auf dieser Grundlage habe ich dann mit den Schülern diskutiert. Das ist von großem Interesse. Es ist schade, dass wir nichtso viel Zeit in der Schule hatten, um das ausführlich zu besprechen.
Manche Schüler haben zum ersten Mal durch den Unterricht ihre Großeltern dazu befragt. Oft haben die Großeltern bis dahin in der Familie nichts darüber erzählt. Häufig war es so, dass die Großeltern ihren Enkeln daraufhin ihre Geschichte erzählten, wie sie den 13. Februar erlebt haben. Das hat praktisch initiiert oder ausgelöst, dass in den Familien darüber gesprochen wurde.
Die Schüler haben dadurch zum ersten Mal erfahren, welche schweren Zeiten ihre Großeltern während dieser Zeit und in der Nachkriegszeit durchgemacht haben. Das ist wichtig für die Familiengeschichte, und die Menschen bekommen auch eine Chance, sich mit ihren Erinnerungen zu versöhnen.«

 

Jürgen Kecke, ehrenamtlicher Kirchenführer seit 2002

»Die Dresdner lieben ihre Stadt, und ich denke, diese Liebe drückt sich auch in der Haltung zur Frauenkirche aus. Die Besucher kommen immer wieder nach Dresden, und es sind nicht nur Lutheraner, sondern auch Besucher von der katholischen Hofkirche und der Kathedrale. Daraus entstehen auch Fragen über die Unterschiede im Christentum, und das wird eine spannende Diskussion.
Diese Diskussionen sind für beide Seiten gut und wichtig, denn sie gehen nicht nur um den Bau als wiederaufgebaute Kirche, sondern auch um die Kirche als Anregung zur Frage des Christentums in seinen unterschiedlichen Formen und Haltungen. Das Christentum ist hier in den Gemeinden stärker verankert. Es gibt neuapostolische und andere Gemeinschaften, aber Protestanten und Katholiken sind immer noch die beiden Hauptgruppen.
Es ist gut, wenn sie miteinander ins Gespräch kommen. Orte wie die Frauenkirche sind gut und wichtig, weil man sich dort austauschen kann über Meinungen. Ob man die Meinung immer übernimmt und denkt, vielleicht muss ich doch mal anders darüber nachdenken, mag sein, mag nicht sein. Aber man nähert sich durch das Gespräch mit dem Gegenüber mehr an. Wenn das schon innerhalb einer Stadt wirkt, ist es gut.«

Eine häufige Antwort der Kirchenführerinnen und Kirchenführer auf die Frage, was ihnen an der ehrenamtlichen Tätigkeit in der Frauenkirche am meisten Spaß macht, ist die Kommunikation. Es macht ihnen Spaß, ihr Wissen über die Fassade mit interessierten Gästen zu teilen und auf verschiedene, manchmal unerwartete Fragen von ihnen zu antworten.

Sie helfen den Menschen, hinter die Fassade zu blicken, und regen hoffentlich mehr Menschen dazu an, darüber nachzudenken, was Versöhnung eigentlich bedeutet und was wir von den verschiedenen Positionen aus, an denen wir uns befinden, zur Versöhnung mit anderen und auch mit uns selbst beitragen können.

Die verschiedenen Farbtöne der alten und neuen Steine erinnern uns daran, dass Versöhnung immer eine Synthese aus Vergangenheit und Zukunft ist. Versöhnung bedeutet, dass die Entschlossenheit oder die Bereitschaft entsteht, sich dem früheren Unrecht, dem Bedauern, dem Verlust und dem Schmerz zu stellen und bereit zu sein, eine Entschuldigung auszusprechen oder anzunehmen, zu vergeben oder vergeben zu werden. Versöhnung ist nicht nur ein Begriff für internationale Beziehungen oder nationale Angelegenheiten, sondern erstreckt sich auch auf die persönliche Ebene. Wir alle erleben Konflikte und Verluste,

Streit, Trennungen, Scheidungen, Todesfälle, und wir müssen uns damit auseinandersetzen, um uns zu trösten. In den meisten Fällen ist Versöhnung eher ein Prozess als ein Wendepunkt – es ist nie einfach, die Art und Weise, wie wir über Dinge denken, zu ändern, nachdem wir den bedeutenden Einfluss erfahren haben, den sie auf uns ausgeübt haben, selbst wenn wir es wirklich wollen. Wir brauchen Zeit, um die Gedanken und Gefühle zu verarbeiten, sie auszudrücken, aus der anderen Perspektive zu lernen und über das Eigene nachzudenken. Das sind Anstrengungen.

IZZY ZHOU
Praktikantin der Stiftung Frauenkirche Dresden