»Mut und Demut«

20 Jahre des Wandels

»Wir sind Papst!«, hatte im Frühjahr 2005 stolzgeschwellt das Boulevardblatt BILD getitelt. Und ein ähnlich freudiges Gemeinschaftsgefühl wogte einige Monate später durch das musikalische Dresden.

Der Kummer beim Glockengießen – sechs von sieben Glocken hatten die strenge Klangprüfung verfehlt und mussten erneut gegossen werden – war passé. Der Streit mit denen, die die Ruine als Mahnmal erhalten wollten, der monatelang die Leserbriefseiten beider Dresdner Zeitungen beherrscht hatte – verstummt.

Der lange Findungsweg um den Klang der neuen Orgel – Geschichte. Der steinerne Jesus am Altar – fiel der Mantel in den richtigen Falten? Die Nummerierung der Sitzplätze im Kirchenschiff – fehlerhaft? All diese Themen waren wie weggewischt, als die allerersten Orgeltöne durch den wiedererstandenen Bau klangen. Bei Vielen flossen damals Glückstränen, auch bei mir.

Der Dresdner Orgelbauer und Musikkritiker Hartmut Schütz, lange Zeit ein leidenschaftlicher Befürworter einer genauen Rekonstruktion des früheren Orgelwerks, wurde in seiner Konzertkritik ungewohnt pathetisch:

»So ist es seit über 1000 Jahren in den Kirchen Europas: Orgelmusik, von Generation um Generation geschrieben, versinnbildlicht die Kraft und Größe Gottes,
das Wehen des Heiligen Geistes im Windstrom der Pfeifen, das vielstimmige Gebet der Gemeinde wie aus einem Mund, die himmlischen Klänge.
Nichts rührt so direkt an das Innerste im Zuhörer wie diese, mit vergleichsweise geringfügiger Energie angeregten starken Töne, die erst im gemeinsamen Klingen das Ziel weisen:
Das Einssein aller unter der Leitung des Einzigen. Dieses ist der Sinn der Orgel in der Kirche...«

Aber Hartmut Schütz hörte auch genau hin, urteilte: »Der Nachklang des Raumes ist extrem kurz und im Frequenzspektrum seltsam verteilt, so dass fast nur die ganz hohen Töne etwas länger nachhallen.« Sein Eindruck: die Kern-Orgel sei ein Instrument, »das einen mehr überwältigt denn umarmt.«

Ich will an dieser Stelle nicht ebenso pathetisch werden, aber: mit der Zäsur der Wiedereinweihung dieses Bauwerks an dieser Stelle, mit dieser wechselvollen Geschichte, stellte sich in Dresden eigentlich auch die Frage nach dem Umgang mit dem musikalischen Erbe noch einmal ganz neu.

Der FAZ-Altkritiker Wolfgang Sandner besuchte damals eine Aufführung der Bachschen h-Moll-Messe durch Kreuzchor und Philharmonisches Kammerorchester und fühlte sich von den Musikern »daran erinnert, daß sich Klänge nicht wie Bauwerke rekonstruieren lassen, akustische Denkmalpflege sich weitaus schwieriger als architektonischer Denkmalschutz gestaltet.«

Auch zur Akustik schrieb Sandner Nachdenkliches: »Wie sehr freilich die annehmbare, aber in einem fünfundneunzig Meter hohen Kuppelbau naturgemäß nicht ideale Akustik homophone Strukturen im Vergleich zu polyphonen begünstigt, wurde dann im Konzert der Staatskapelle und des Chores der Sächsischen Staatsoper unter seinem künftigen Chefdirigenten Fabio Luisi bei Beethovens Missa solemnis bewußt.«

Ja, einen stimmigen, zeitgenössischen wie historisch informierten Klang herzustellen in diesem neuen Raum, die passenden Werke auszuwählen in dieser ungewöhnlichen Kubatur, in der bei spielsweise Gustav Mahlers »Achte« seine Dresdner Erstaufführung feierte – dieses schwierige Ringen beherrschte die ersten Jahre der Kirchenmusik in der neuen Frauenkirche.

Das Publikum war dem neuen »Konzertsaal«, der ja nicht eigentlich einer war, freundlich bis enthusiastisch zugeneigt, dafür sorgte der Genius loci. Dass etwa ein Klavierkonzert von Tschaikowski in der Frauenkirche einen anderen interpretatorischen Zugriff erforderte als in einem Schuhschachtel-Konzertsaal, verstand sich ja von selbst. Das hörte man sich eben gutwillig zurecht.

»Die Orgel ist misslungen«, raunen einige Dresdner Orgelsachverständige. Die sinfonische Akustik ähnelt einem Betonbrei, bestätigen sich die Konzert-Experten der Landeshauptstadt gegenseitig. Und gestern Abend flog beim Schlagzeug-Einsatz zur »Te Deum«-Uraufführung fast der Putz von der Wand. Die gerade erst geweihte Dresdner Frauenkirche ist demnach als Konzertstätte durchgefallen. Das meinen zumindest einige Musik-Kenner – oft nach dem allerersten Höreindruck. »Ach Dresden!« (Bernd Klempnow, Sächsische Zeitung v. 12.11.2005, S. 9)

Zunehmend kamen die Musiker mit den Herausforderungen dieses neuen alten Klangraums besser zurecht. »Endlich konnte man mit der Berliner Akademie für Alte Musik ein Ensemble hören, das, erfahren in historischer Aufführungspraxis, auf Originalinstrumenten so spielte, wie es der großhallige Raum verlangt«, seufzte kurz vor Weihnachten beglückt der Musikkritiker Uwe Schneider, der nach einem Konzert unter dem umsichtigen Dirigat des Dresdner Dirigenten Hans-Christoph Rademann, der, obzwar als Gast, mit dem Dresdner Kammerchor quasi von Anfang an die Kirchenmusik der Frauenkirche mitprägte und noch heute, zwanzig Jahre später, mitprägt.

Was den Umgang mit der schwierigen Akustik angeht, habe ich selbst in den vergangenen zwanzig Jahren viele solcher beglückenden Beispiele, aber natürlich auch einige ziemlich vergurkte Termine miterlebt. Zweieinhalb Jahre nach der Eröffnung – die Kirche hatte nach Aussage der Stiftung Frauenkirche damals bereits über eintausend (!) Verkaufskonzerte organisiert – schrieb ich ausführlich über meine neuesten Eindrücke von dieser »äußerst problematischen Konzertakustik« und ärgerte mich: »die Programmauswahl der Organisatoren – und leider auch die Interpretation der Musiker – bewies, dass die bestehenden akustischen Probleme der Kirche bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die eigentlich vonnöten wäre.«

Als schließlich ein Jahr später die damalige Oberbürgermeisterin die Dresdner zur Eröffnung der Musikfestspiele in »Dresdens schönstem Konzertsaal« begrüßte, ging ein Raunen durch die Frauenkirche. Die Anwesenden wussten ja: ein Konzertsaal ist die Frauenkirche eben nicht.

Wie der Dresdner Dirigent Hartmut Haenchen wenig später pointiert formulierte: »Die Wiener Philharmoniker mit Werken von Strawinski in der Frauenkirche – in einer für diese Musik vollständig ungeeigneten Akustik – sind für die Musikstadt Dresden besten falls ein Event, aber kein Musikerlebnis.«

Damit kommen wir zum zweiten Teil dieses Textes, der sich mit der musikalischen Programmierung der Frauenkirche beschäftigt. Die Konzertdramaturgie nämlich hat sich über die Jahre fundamental verändert.

VOM KLANG- ZUM RESONANZRAUM – DAS MUSIKPROGRAMM DER FRAUENKIRCHE

Von außen hat sich die Dresdner Frauenkirche seit ihrer Wiedereröffnung im Jahr 2005 kaum verändert. Allenfalls hat sich das hell-dunkle Scheckmuster der Kuppel mit den Jahren ein bisschen versöhnlicher gefärbt. Wer aber die Kirche für ein Konzert betritt, erfährt heute deutlich andere Höreindrücke als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Tatsächlich war das Musikprogramm der Frauenkirche von Anfang an viel mehr als bloßes Beiwerk zur liturgischen Nutzung.

Selbstbewusst präsentierte sich der Ort als Raum für anspruchsvolle Konzerte. Einige Jahre nach der weltweit beachteten Wiedereröffnung fanden regelmäßig international renommierte Künstler hierher. Die Dresdner erlebten nun Gastspiele von Ensembles, die vorher eher selten in Elbflorenz Station gemacht hatten: der Berliner Philharmoniker, der Mailänder Scala, des Windsbacher Knabenchors.

Aufregende Solisten wie Matthias Goerne, Andreas Scholl, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozená oder Valer Sabadus kamen hierher. Unter der Kuppel wogte einmal ein konzertanter »Parsifal«. Doch etwas Entscheidendes fehlte diesen frühen Programmen manchmal: die Frage nach dem Warum. Warum hier, warum jetzt, warum diese Werke?

Das änderte sich mit dem Jahr 2019. Die Stiftung betitelte ihr Jahresprogramm mit einem einzigen Wort: »Wandlung«. Damit war nicht nur ein programmatischer Akzent gesetzt, sondern eine leise strategische Neuausrichtung begonnen. Im Zentrum dieses Wandels stand der Geiger Daniel Hope, der neue Artistic Director der Frauenkirche. Er brachte nicht nur internationale Kontakte mit, sondern auch ein neues Verständnis von Programmgestaltung.

Musik als Kommentar. Musik als Gespräch. Musik als Haltung. Schon in seinem ersten Jahr ließ Hope das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter dem Motto der Versöhnung in der Kirche auftreten – ein symbolischer Brückenschlag. Fortan kamen literarische Lesungen und Gesprächskonzerte hinzu, ein neues Repertoire mit ungewöhnlichen Besetzungen führte über Genregrenzen hinweg. Formate wie die »Director’s Lounge« öffneten neue Räume für den Austausch.

Es war der Beginn einer Dramaturgie, die Musik nicht nur als Angebot für genusswillige Neumarkt-Touristen versteht, sondern in unser gesellschaftliches Hier und Jetzt einbettet. Diese Tendenz verstärkte sich im Musikjahr 2020 noch. Unter dem Titel »Musik als Botschafter des Friedens« wurde die stilistische Klammer weiter geöffnet. Vivaldi traf auf einen südafrikanischen Opernchor, französischer Impressionismus auf lateinamerikanische Rhythmen, Bach auf Schostakowitsch.

In interkulturellen Formaten wie »Israel in Egypt – from Slavery to Freedom« verschränkten sich musikalische und religiöse Narrative. Das Musikprogramm der Frauenkirche wurde diskursfähig – es reagierte auf Geschichte, Erinnerung, Gegenwart.

Dabei kam der programmatische Mut nicht auf Kosten der kirchenmusikalischen Substanz. Johannes- und Matthäuspassion, h-Moll-Messe, Weihnachtsoratorium (oft mit allen sechs Kantaten an einem Abend, damals ein Novum in Dresden, das jedoch sehr gut angenommen wird) – sie alle blieben Fixpunkte des Jahres. Nur die Kontexte verschoben sich.

Auch im aktuellen Musikjahr 2025, dem zwanzigsten nach der Wiederweihe, zeigt sich die Transformation deutlich. Unter dem programmatischen Motto »Klang und Begegnung« treffen dieser Tage Werke von Beethoven, Bartók, Richard Galliano, Gounod oder Zelenka auf politische, soziale und interreligiöse Themenräume.

Ein Konzert wie »HAYMAT« etwa verbindet klassische europäische und traditionelle türkische Musik. Der Wahlspruch, der bis 2005 auf den Baugerüsten zu lesen war – »Brücken bauen, Versöhnung leben«–, er wird von Daniel Hope und seinem Team auch bei der Planung der Konzerte wortwörtlich genommen und auch immer wieder befragt, was manchmal durchaus schmerzhaft sein kann.

Neben dieser künstlerischen Handschrift  ist auch strukturell eine Reifung erkennbar: Weniger Konzerte als noch vor Corona, dafür mehr Profil. Der Konzertkalender ist kompakter, klarer kuratiert, internationaler. Mit Niklas Jahn tritt zudem ein junger Organist auf den Plan, der die Kunst der anspielungsreichen Improvisation mindestens so gut beherrscht wie sein geachteter Vorgänger Samuel Kummer.

Was bleibt im Musikprogramm der Frauenkirche, ist die Lust am Klang. Was sich wandelt, ist dessen Rahmung: Die Programme befinden sich auf dem Weg von der Repräsentation zur Reflexion. Die Musik wird zum Andockpunkt für Fragen nach Identität, nach Herkunft, nach unserer Zukunft. So ist die Frauenkirche kein Klangraum mehr im klassischen Sinn.

Sie ist ein Resonanzraum geworden – für musikalische Handschriften, für gesellschaftliche Reibung, für spirituelle Neugier. Wer genau hinhört, merkt: Die Frauenkirche klingt nicht nur, sie tritt in den Dialog mit ihrem Publikum.

Dr. MARTIN MORGENSTERN
seit 2007 Chefredakteur von »Musik in Dresden«, lehrte an den Universitäten
und Musikhochschulen von Dresden, Halle/Saale-Wittenberg, Bremen, Eichstätt,
Stuttgart und Leipzig und arbeitet freiberuflich als Kulturjournalist.