»20 Jahre Frauenkirche Dresden«

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Ein ganz besonderes Hybrid

Die Frauenkirche ist eine City-Kirche. So sieht sie sich jedenfalls selbst, und so wird sie auch gesehen, jedenfalls von jenen unter ihren jährlich rund 2 Millionen Besucher*innen, die mit Kirche noch etwas anfangen können. Kirche in der Mitte der Großstadt: mindestens topografisch ist die Frauenkirche dies. »Stadtluft macht frei. Stadtluft macht Angst«: Die Spannung in dieser Redewendung skizziert ein verbreitetes Lebensgefühl.

Einer faszinierenden Vielfalt von Lebenswelten auf engem Raum stehen tiefe Spaltungen gegenüber: Arm und Reich, Fremd und Heimisch, Grüne und AfDʻler, Religiös und Atheistisch koexistieren nebeneinander. Große gesellschaftliche Initiativen und eindrucksvolle Gesten der Menschlichkeit stehen unvermittelt neben Ressentiment, Vereinsamung, Brutalität. Eindrucksvolles zivilgesellschaftliches Engagement und basisdemokratische Netzwerke stoßen sich mit der Auflösung sozialer, nachbarschaftlicher und solidarischer Strukturen hin zu immer mehr Anonymität.

Es gibt keine zweite Form des Gemeinwesens, die in sich so widerspruchsreich ist wie die Großstadt. »Die Stadt als Versprechen und Verrat«, hat es der amerikanische Theologe Harvey Cox formuliert, der viel über Religion und Stadt geforscht hat. Die Freiheit zur Individualität, ein Kennzeichen der Stadt, trägt zugleich das Risiko des Verlorengehens in sich.

Aus der Stadthistorie weiß man, dass Gott bei der Verteilung städtischen Bodens den Vorrang bekam vor Königen und Kaufleuten. Das sieht man noch heute daran, dass – wie in Dresden mit der Frauenkirche – eine große Kirche oft das Zentrum der Stadt markiert. So sind Städte immer auch ein fruchtbarer Boden für Religion gewesen. Allerdings wurde unter dem Stichwort Säkularisierung den Religionen in Europa in den letzten 150 Jahren ihre traditionelle öffentliche Wirkung zunehmend bestritten.

Mit besonders durchgreifendem Erfolg hier in den neuen Bundesländern. Nach meinem Eindruck ist das Bankrott gegangene SED-Regime mindestens an zwei Stellen doch nachhaltig erfolgreich gewesen: in der breiten Verankerung eines tiefen Ressentiments gegen den »Westen«, insbesondere gegen Amerika – vor allem aber durch die Entkirchlichung, die flächendeckende Ausmerzung religiöser Bindungen.

Über Jahrhunderte hat die Stadt den Kirchen eine zentrale Bedeutung zugeschrieben. Sie waren in der Regel die höchsten, architektonisch gewagtesten und teuersten Bauwerke und standen symbolisch für die Stadt. Das weltweit berühmteste Beispiel ist aktuell wohl Antoni Gaudís Sagrada Família in Barcelona, seit 140 Jahren im Bau, immer noch nicht vollendet.

Aber bald danach kommt schon die Frauenkirche. Der »archäologische Wiederaufbau« des berühmtesten protestantischen Kirchbaus der Barockzeit, mit dem Schließen der klaffenden, für viele Dresdner schmerzlichen Wunde zur Wiederherstellung des weltberühmten Stadtbilds (»Canaletto-Blick«), hat einen gewaltigen Effekt für Dresden erzeugt.

Touristenströme werden angezogen und die Dresdner*innen sehen mit Stolz auf die Frauenkirche. In einer Stadt mit weniger als 20 % Kirchenmitgliedern und einem seit 90 Jahren dominierenden antikirchlichen Mainstream! Hier ist nicht nur ein historisches Bauzeugnis mit hohem Symbolwert wiedererrichtet worden, sondern in einer atheistisch geprägten Stadtgesellschaft wurde ein Kirchengebäude zum Imageträger der Stadt.

Ob daraus, wie manche beim Wiederaufbau gehofft hatten, auch ein neues Interesse an Kirche und Christentum in dieser Stadt erwachsen ist, kann ich als »Zugereister« schwer einschätzen. Von meinen bisherigen Eindrücken sehe ich das eher skeptisch.

Die wiederaufgebaute Frauenkirche ist, anders als die alte, keine Gemeindekirche mehr. Das zeichnete sich schon sehr früh ab, und hatte nicht zuletzt auch rechtliche Gründe. Das Projekt Wiederaufbau war am Anfang keines der Kirche, sondern der Dresdner Bürgerschaft (Ruf aus Dresden« vom 13.2.1990). Auch deshalb sollte die »Frauenkirche 2.0« organisatorisch nicht in die Landeskirche eingegliedert werden, sondern sich in der Rechtsform einer nichtkirchlichen, sich selbst tragenden gemeinnützigen Stiftung aufstellen.

Es wurden damals aber auch eine Reihe inhaltlicher Gründe gegen eine Gemeinde an der wiederaufgebauten Frauenkirche geltend gemacht. Darunter auch: Als genuine City-Kirche soll die Frauenkirche frei von parochialem »Traditionsballast« bleiben und ihr Angebot ganz auf die fluiden Touristenströme und überhaupt die urbane Mobilität ausrichten.

Zwar vermisse ich persönlich als einer, der früher mit Lust Gemeindepfarrer war, das Gemeindliche bisweilen durchaus. Tag für Tag unbekannte Gesichter vor sich zu haben, mit wenigen nur eine Beziehung aufbauen, keine Begleitung von Menschen üben zu können: da fehlt aus Pfarrersicht auch etwas. Aber für eine – auch missionarisch ausgerichtete – kirchliche Arbeit im Zentrum einer viel besuchten Großstadt ist es auch eine Chance, dass wir an der Frauenkirche keine Ortsgemeinde mit ihren vielen »gewachsenen Traditionen« haben.

Zwar bildete sich an der Frauenkirche sehr bald eine Art informelle Personalgemeinde, also Menschen aus Dresden und Umgebung, die regelmäßig unsere Gottesdienste besuchen und hier ein Stück kirchliche Heimat finden. Aber: Die Frauenkirche ist keine Ortskirche, sie ist ein kirchlicher Ort. Das ist ein Unterschied. Ungeachtet der angedeuteten persönlichen Wehmut denke ich, es war richtig, dass man das seinerzeit so entschieden hat.

Die Frauenkirche hat als zentrale City-Kirche per se enorme, durchaus auch missionarische Potentiale. Am deutlichsten ist mir das an einer Stelle geworden. Es war eine nicht genug zu rühmende Entscheidung der damals Verantwortlichen, mit der Wiederindienstnahme am 30. Oktober 2005 Tag für Tag zwei Mal, mittags um 12 Uhr und zum Abend um 18 Uhr das halbstündige Format »Wort & Orgelklang« anzubieten – stets in direkter Verbindung mit der sich anschließenden kompakten »Zentralen Kirchenführung«.

Das gibt es in dieser dichten Taktung in keiner anderen evangelischen Kirche in Deutschland. Als ich 2021 an der Frauenkirche anfing, nahm ich das in der Wichtigkeit eher nachgeordnet gegenüber den Gottesdiensten am Sonntag. Aber bald ging es mir so, dass ich diese täglichen Orgelandachten mindestens so ernst nahm wie die Sonntagsgottesdienste und große Freude damit habe.

Der geistliche Impuls, der ein Teil dieses Formats ist, kann nicht länger als fünf Minuten sein. Kurz, prägnant, niedrigschwellig und trotzdem gehaltvoll zu sein, das ist eher schwieriger als die »zünftige« Sonntagspredigt, für die man bis zu 20 Minuten hat. Aber was für eine Chance ist das, und vor allem: was für ein Privileg!

Da hat man, am Mittag, manchmal 300 Menschen in der Kirche, die bereit sind, sich auf dieses Hybrid aus kleinem Orgelkonzert und geistlichem Format einzulassen. Die allermeisten von ihnen sind Touristen. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Motiven. Wahrscheinlich sind jene, die ein geistliches Bedürfnis haben, die Minderheit.

Manche haben wohl schon länger keine Kirche mehr von innen gesehen. Aber nun sind sie da – und sind bereit zuzuhören, oft spürbar konzentriert. Und immer mal wieder kommt hinterher per Mail eine dankbare Rückmeldung von einem unbekannten Absender, manchmal mit sehr persönlichen Inhalten. Das ist berührend. Und was für ein Geschenk für einen musikliebenden Liturgen, zwei Mal am Tag »frei Haus« großartige Orgelmusik von wunderbaren, sehr begabten Organist*innen genießen zu dürfen!

Natürlich: Am Ende weiß ich nie, ob ich mit meinen Worten die unbekannten Menschen vor mir ansprechen konnte, ob etwas hängen bleibt, mit ihnen geht, vielleicht sogar dazu geholfen hat, dass sie anders aus diesem Haus wieder rausgehen als sie reingekommen waren. Aber da hilft mir das Gottes-Wort aus dem Jesaja-Buch (Jes 55,10.11):

»GLEICHWIE DER REGEN UND SCHNEE VOM HIMMEL FÄLLT UND NICHT WIEDER DAHIN ZURÜCKKEHRT,
SONDERN DIE ERDE FEUCHTET UND SIE FRUCHTBAR MACHT UND WACHSEN LÄSST, DASS SIE GIBT SAMEN ZU SÄEN UND BROT ZU ESSEN,
SO SOLL DAS WORT, DAS AUS MEINEM MUNDE GEHT, AUCH SEIN:ES WIRD NICHT WIEDER LEER ZU MIR ZURÜCKKOMMEN,
SONDERN WIRD TUN,WAS MIR GEFÄLLT, UND IHM WIRD GELINGEN, WOZU ICH ES SENDE.«

Aber nicht nur die täglichen Orgelandachten sind ein Hybrid aus Musik und Wort – die Frauenkirche als solche ist auch eines! »Més que un club« lautet das berühmte Motto des FC Barcelona: Mehr als ein Verein! Més que una iglesia – müsste man als Devise für die Frauenkirche ausgeben, stünde sie in Barcelona.

Sie ist eben mehr als eine Kirche! Sie ist ein Hybrid aus liturgischem Raum, aber eben auch Konzerthaus, aus Akademie und (ein bisschen) Kirchentag, und in den letzten Jahren vermehrt auch als Ort ungewöhnlicher Ausstellungen, die eine zeitgeschichtliche Relevanz haben und unser Profil als Friedens- und Versöhnungsort schärfen.

In den vielen Forumsveranstaltungen, die wir in-zwischen überwiegend in der hierfür besonders geeigneten Unterkirche machen, knüpfen wir daran an, dass die Frauenkirche sich schon bei ihrer ersten Errichtung vor 300 Jahren als Bürgerkirche verstanden hat, als Ort des Zusammenkommens eines selbstbewussten Dresdner Bürgertums. Das sich in diesem Raum idealerweise mit sich selbst verständigt über die großen Themen der res publica. Das gelingt nicht immer, natürlich.

Aber wir dürfen nicht nachlassen, es immer wieder zu versuchen. Was bisweilen auch heißt, solche auf den Panels zusammenzubringen, die in derart unter-schiedlichen politisch-weltanschaulichen Räumen unterwegs sind, dass sie eigentlich nicht mehr miteinander kommunizieren. (Das Phänomen der »Blasen«.) Geringer darf der Selbstanspruch einer so exponierten City-Kirche nicht sein.

Der hybride Charakter dieses Hauses, das mehr als eine Kirche ist, zeichnete sich im Grunde schon von Anfang an ab. Der »Ruf aus Dresden« vom 13. Februar 1990 war – wenn auch maßgeblich von einem Pfarrer formuliert – keine kirchliche Initiative, sondern eine zivilgesellschaftliche, von Dresdner Bürgern. In der Kirche war diese Initiative zunächst umstritten. Entsprechend lag der Akzent der 22 »Rufer« auch nicht auf dem Wiederaufbau der Frauenkirche als Gotteshaus, als missionarischer Ort gelebten Glaubens.

Es ging weniger um die Christengemeinde, es ging um die Bürgergemeinde, um die Stadt. Und für deren Bürger ging es, wie schon gesagt, vor allem um die Wiederherstellung des historischen Stadtbildes. Es ist von daher fast folgerichtig, dass die Satzung unserer Stiftung Frauenkirche einen kirchlichen Auftrag dieses Ortes nur sehr zurückhaltend erwähnt, indem die Frauenkirche als »ein Ort vielfältiger gottesdienstlicher Nutzung« bezeichnet wird. Die Stiftungssatzung beschränkt sich auf diese knappe Formulierung, was die zur Frauenkirche als Kirche betrifft.

Einen breiteren Raum haben kulturelle und politische Zuschreibungen, und die Bedeutung des Gebäudes als Wahrzeichen und Symbol für »den Willen der Länder und Kirchen zum Aufbau eines gemeinschaftlichen Europas«. »Das Kirchliche« ist hier kein Selbstläufer, sondern muss sich immer wieder behaupten und neu begründen. Ecclesia semper reformanda: dieser zeitlos gültige für die Reformation so wichtige Lehrsatz nimmt uns an der Frauenkirche auf ganz eigene Weise in die Pflicht.

Dieser hybride Aggregatzustand des »Projekt Frauenkirche« ist faszinierend. Und er ist anspruchsvoll, auch anstrengend. Er stellt den hier Tätigen die Aufgabe, die diversen Bedeutungen und Bereiche, die die Frauenkirche repräsentiert und in ihrem Portfolio hat, in eine gute Balance zu bringen: damit das Geistliche, das Musikalische, das Politische und das Kulturelle nicht in eine Konkurrenz zueinander geraten, wo jeder »sein« Feld gegen die anderen meint verteidigen zu müssen, sondern wo sich die verschiedenen Dimensionen anregen und idealerweise so befruchten, dass sie miteinander in der je eigenen Tönung und Färbung die Frauenkirche als Versöhnungsort stark machen. Dies nämlich ist das alle unsere Aktivitäten überwölbende und zusammenhaltende Narrativ, das auch »die Welt« zuerst und am stärksten mit der Frauenkirche verbindet.

Dabei geht es immer auch um die spannende Frage: Wie verhält sich das Projekt Frauenkirche als Gotteshaus mit seinem Selbstverständnis als Ort klassisch-protestantischer Predigtkultur und feierlich zelebrierter Liturgien zum Projekt Frauenkirche als »Musentempel«, als Konzerthaus, das wir auch sein müssen, um mit den Blockbustern des Repertoires Gewinne zu erwirtschaften?

Wie verhält sich die Frauenkirche als Hort »bürgerlicher Hochkultur« dazu, dass es auch ein anderes, weniger bürgerlich-hochkulturelles Dresden gibt, nicht nur in der Neustadt, für das die Frauenkirche, soweit ich es sehe, nicht interessant ist? Wollen wir auch mit diesem »anderen Dresden« einmal in Kontakt kommen, und wenn ja, wie? Hat auch Experimentelles, Crossover, Fragmentarisches seinen Platz bei uns? Oder sind auch wir, obwohl wir keine Gemeindekirche sind, von dem Leitsatz bestimmt: Stammkundschaft geht vor Laufkundschaft?

Tradition bewahren – Neues wagen: das ist unsere Spannung. Wahrscheinlich wird sie nie auflösbar sein, und das ist, denke ich, auch gut so. Die Tradition war in den ersten 20 Jahren sicherlich das dominierende Narrativ für uns. Aber die Generation derer, die das Wiederaufbauprojekt mit hoher innerer Anteilnahme unterstützt haben und seither unsere Arbeit kontinuierlich begleiten (und mit ihren Spenden ermöglichen), tritt nach und nach ab.

Zukunft zu gewinnen heißt für uns, die beiden Pole immer wieder neu und anders auszubalancieren: auch indem wir Neues und Anderes ausprobieren, auch jenseits des Bürgerlichen und Hochkulturellen. Das geht natürlich nie ohne Spannungen, Reibungen ab. Aber die können ja auch Funken erzeugen, die uns weiterbringen. Und die Christentumsgeschichte zeigt: Alle Aufbrüche hin zu neuer Lebendigkeit und Glaubensfreude sind aus Reibungen und Spannungen erwachsen.

Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer