Freiheit – Sicherheit

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Freiheit und Sicherheit Betrachtung aus einem Bergsteigersein

Beide Begriffe des Titels finden sehr vielschichtig Verwendung, deshalb kann ich mich hier nur auf mein Eigenerleben als Bergsteiger beschränken. Freiheit und Sicherheit bestimmen unser aller Leben. Wie kann das im Kontext zusammengehen?

FREIHEIT, ist die Möglichkeit, ohne Zwang, zwischen unterschiedlichen Optionen entscheiden und auswählen zu können. Daraus ergibt sich die Legitimation des eigenen Handels und ethischer Verantwortung.

SICHERHEIT, wird verbunden mit körperlicher Unversehrtheit und Gewährleistung wirtschaftlicher Stabilität zur zukünftigen Gestaltung.

»Auf den Bergen wohnt die Freiheit«, so der Beginn eines Volksliedes.

BERGSTEIGEN, mit all seinen Teilsportarten (Wandern, Klettern, Alpinismus, Höhenbergsteigen) ist von romantischer Prägung. Eine Hinwendung, die uns besonders in bewusst wahrgenommenen Situationen greifbar wird. Die bedrohlich gesellschaftliche Dichte, sowie das Alltägliche lassen nicht genügend Spielraum, nicht für die Psyche, nicht für die Physis. Man fühlt sich eingeengt, ja begrenzt, durch akustische Bedrängung, optisches Chaos und Gefühltäuschung. Berge und Felsen, der Naturraum überhaupt, geben Spielraum.

»Die Befriedigung des Bedürfnisses jedoch ein unverkennbares Lustgefühl. Lustgefühle sind demnach Zeichen von Kraft zuwachs, sei dieser physisch oder psychisch. Für Bergsteiger nimmt er sogar das Recht in Anspruch, sich den Hals brechen zu dürfen. Und wendet sich gegen jeden Versuch, das Bergsteigen gesetzlich zu beschränken, doch fordert er statt Einschränkung des Sports eine sorgfältige Ausbildung.« (Karl Prodinger zu Adolfo Hess, Verlag S. Lattes 1914)

DIE FREIHEIT DER ENTSCHEIDUNG

Die Alleinbegehung ist für mich eine Art Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen Lebens- und Konfliktsituationen, ein Stück meines Weges zu deren Bewältigung, zur Selbstfindung.

12.  November  1977: Von Hohnstein kommend, biege ich am Rathener Amselsee in den Raaber Grund ein. Noch ein paar Schritte und mein Ziel, die Talseite der Höllenhundspitze, wird sichtbar. Im fahlen Licht der flachstehenden Herbstsonne ragt sie über mir ins blasse Himmelsblau. Siebzig Meter senkrechter gelber Sandstein mit wunderbaren Wabenstrukturen.

Minuten später habe ich den Einstieg von Dietrich Hasses Talweg aus dem Jahre 1955 erreicht. Ein lang gehegter Wunsch verlangt angesichts der Ereignisse der letzten Tage in die Tat umgesetzt zu werden.

Was ist geschehen? Fast ein Jahr weiß ich’s, doch seit einer Woche ist es nun Wirklichkeit. Aus uns, Christine und mir, ist eine Familie geworden. Wir haben eine Tochter, Heike. Ich bin Familienvater! Morgen werde ich beide aus dem Entbindungsheim nach Hause holen.

Doch zuvor will ich allein durch diese Wand steigen. Schwach blinzelt mich die Herbstsonne an. Ein Seil? Ja, ein Seil nehme ich mit; vielleicht sind meine Nerven doch nicht so stark, wie ich meine, und dann wird das Seil Gutes tun. Über die vorgelagerte Rippe gelange ich zur senkrechten Wand.

Christine…Rechenschaft … ist das notwendig? Sechs gemeinsame Jahre verbinden uns. Gemeinsame Arbeit, gemeinsames Klettern und ihr Immer-dabei-sein. Ich muss ihr da nichts erklären. Äußerst konzentriert steige ich die ersten Meter.

Du musst locker werden, sage ich mir, sonst werden Muskeln hart und verkrampft. Greif nur so fest wie nötig! Bringe mehr Gewicht auf die Füße! Bekannte Dinge, Bewegungen, die längst zum Reflex geworden sind. Doch im Augenblick der Erregung muss der überreizte Verstand dem Körper das Einhalten solcher Normen befehlen.

In der Wandmitte, vor den großen Platten, ist die Unruhe längst höchster Freude gewichen. Ziehen, spreizen, drücken, durchstützen, die Bewegungen fließen ineinander. Unter mir pendelt das Seilende im Rhythmus meines Körpers. Die Meter überm zweiten Sicherungsring: Hier erlebte ich vor 14 Jahren bange Minuten.

Als ich nun unter dieser Stelle auf dem schwach ausgeprägten Band verweile, wird in meiner Erregung die Angst von damals wieder wach. Sie zwingt mich zu kurzem Überdenken des Vergangenen, der Gegen wart und aller meiner Wünsche an die Zukunft.

Unwillkürlich ziehe ich das Seil durch den Ring und bewältige die nächsten Meter mit dieser vermeintlichen Selbstsicherung. Ein Mangel meiner Nervenkraft ? Fehleinschätzung oder reales Erkennen? Es sei mir dahingestellt.

Noch lange liege ich entspannt am Gipfel, erst die abendliche Kälte drängt zum Abstieg. Der Heimweg ist für mich ein Flug auf den Schwingen des Glücks, und ich werde getragen vom Wind der Freude auf den nächsten Tag. Ein Beispiel am Erlebten, wie die Freiheit der Entscheidung mit dem Streben nach Sicherheit (wenn auch etwas fragil) zusammenfinden.

SICHERHEIT ALS BEDROHUNG DER FREIHEIT

Freiheit und Sicherheit können auch ganz anders zusammenwirken. Vor langer Zeit, durch den Mauerbau 1961, mussten wir im Osten Deutschlands durch maximale »Sicherheit« abgeschottet leben. Die »Blaue Blume«, Verkörperung von Sehnsucht, Leidenschaft , Fernweh und Unendlichkeit der Natur, blühte noch vor der Haustür. Greifbare Freiheit, auch in spiritueller Form, galt es nur in der Enge der Felsenheimat zu empfinden.

Der geflügelte Begriff  von der nicht vorhandenen Reisefreiheit war in aller Munde. Menschen, die sich betroffen fühlten entschieden sich für die Flucht in eine Freiheit, deren Sicherheit nicht gewiss war. Für die anderen blieb die »Weltflucht« ins eigene »Schneckenhaus«, in die individuelle Selbstfindung, womit auch die Ablehnung gesellschaftlicher Verhältnisse eingebunden war.

FREIHEIT, EINSICHT IN DIE NOTWENDIGKEIT

Die Hinwendung zum Naturraum (beim Bergsteiger ist es die Berg- und Felsenwelt), wobei sich Freiheit in unverfälschter Form ausleben lässt, ist dabei unverkennbar. Freiheit bedeutet, nicht dem willkürlichen Zwang anderer zu unterliegen, eine Voraussetzung die hiermit gegeben erscheint. Der Naturraum als Angebot für zu lebende Freiheit steht für jeden und zu jeder Zeit offen… »Des Bergsteigers letztes, bestes Erkennen bleibt es zu tun.« Oskar Erich Meyer, 1920

Nur keine Scheu, wir müssen uns dazu ganz einfach auf den Weg machen, denn der Weg ist das Ziel. »Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.« Benjamin Franklin

Bernd Arnold
gehört zu den bedeutendsten Kletterpionieren aus Sachsen und hat das
Klettern in der Sächsischen Schweiz geprägt und international bekannt gemacht.