Freiheit – Sicherheit
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Die Schlange umarmen und Gott in die Arme fallen
GEDANKEN ZU SICHERHEIT UND FREIHEIT IM LICHTE DER BIBLISCHEN JAHRESLOSUNG 2026
Die Haga-Kirche in Göteborg ist beliebt. Im gleichnamigen ebenso malerischen wie hippen Viertel gelegen, ist sie eine gute Adresse für Brautpaare und Tauffamilien. Die Studierendengemeinde versammelt sich hier. Chöre schätzen die Akustik, queere Christ:innen die Offenheit.
Momentan ist die Kirche von Bauzäunen eingekreist; durch Fenster in den Zäunen kann man in die tiefen Baugruben dahinter schauen. In Abständen finden Sprengungen statt, die alle Gebäude sowie die Gemüter der Anwohner er schüttern. Hier entsteht etwas Neues: Eine gigantische U-Bahntrasse in die Innenstadt. Für 2030 ist die Eröffnung eines Bahnhofs mit drei Ausgängen in unmittelbarer Umgebung der Kirche geplant.
Das Neue macht Sorge. Je mehr die Baustelle in die Breite und Tiefe wächst, umso mehr macht sich Unsicherheit breit, umso tiefgründiger werden die Zweifel. Heißt »neu« wirklich »besser«? Wie wird sich das Quartier samt Kirche verändern? Bleibt es unser Zuhause?
Wie entwickeln sich die Kosten für Wohnraum, wie die Sicherheitslage? Werden wir durch die vielen U-Bahn-Nutzer:innen überrannt? Oder wird uns durch deren Vorüberhasten nur noch schmerzlicher die schwindende Bedeutung von Kirche bewusst?
Und bis die ersten Fahrgäste aus den Tiefen krabbeln: Hat die ewige Baustelle alle Kirchenbesucher:innen und Gemeindeglieder verjagt? Zu laut – zu schmutzig – zu hässlich – zu viele Provisorien!? Jenes Bauprojekt in Göteborg, das ich 2023 auf einer Konferenz der Citykirchenpfarrer:innen kennengelernt habe, ist bezeichnend für das Unbehagen der Menschen gegenüber dem Neuen.
Auch ich gehöre nicht zu denen, die z. B. immer das allerneueste Handymodell haben müssen. Vor allem technische Neuerungen stressen mich. Das PC-Update schiebe ich möglichst lange hinaus – wer weiß, was sich damit wieder verschlimmbessert! Vorteile müssen sich mir erst in der Praxis beweisen.
Und nun kommt Gott mit der Jahreslosung um die Ecke bzw. aus der U-Bahn-Baugrube.
»SIEHE, ICH MACHE ALLES NEU!«
Offenbarung 21,5
Ja, Menschen haben diese Losung für 2026 ausgesucht, aber so oder so, es bleibt Gottes Wort und es soll eitel Zuversicht verbreiten.
»Ich mache alles neu!« – Nicht ein bisschen, sondern alles! Mit dieser Totalität am Ende der Bibel müssen wir erst mal klarkommen. Was mutet Gott uns da zu? Bei der Besichtigung der Baustelle in Göteborg wurden wir mit einem Kunstprojekt bekannt gemacht: mit der Regenbogenschlange.
Der aus China stammende Künstler Huang Yong Ping plant, durch den gesamten U-Bahnhof das riesige Skelett einer Schlange laufen zu lassen. Ihr Kopf wird an einem der U-Bahnausgänge ins Freie ragen und den Schlund bilden, da Menschen ein- und ausgehen. Schon jetzt sind nahe der Kirche einige metallene Wirbelkörper ausgestellt – als Vorgeschmack.
Bei vielen Leuten, die sich in der Haga-Kirche versammeln, löst dies einen bitteren Geschmack aus: die Schlange als Zeichen für Sünde, direkt vor unserer Kirchentür – was soll denn das?
Im asiatischen Raum hat die Schlange jedoch auch positive Symbolkraft. In der Heimat des Künstlers, der seinerzeit aus China nach Frankreich floh, steht sie für Weisheit, Resilienz und Erneuerung. Im Kontext der enormen Veränderungen im Kiez, die mit dem Bauprojekt einhergehen, kann diese Deutung jedoch nicht so ganz überzeugen.
Das merken wir Konferenzteilnehmenden im Gespräch mit denen, die das Leben in der Haga-Kirche und im Quartier gestalten. Mein Zürcher Kollege Christoph Sigrist prägte daraufhin den eingängigen Satz:
»IHR MÜSST DIE SCHLANGE UMARMEN!«
Ja, wahrscheinlich ist das der beste Weg, mit Neuerungen durch menschliche Hand umzugehen: Neues liebevoll und ohne Angst umarmen, ihm eine Chance geben, es integrieren, sich überraschen lassen von der Möglichkeit einer liebenswerten »Gegenreaktion«, von Entwicklungen, die ungeahnte Chancen eröffnen – für das Viertel, für die Menschen, die die Haga-Kirche neu entdecken oder für die sie schon lange Heimat ist.
Ein Detail des Schlangenkunstwerks muss ich unbedingt noch erwähnen: Der metallene Skelettkörper soll mit einer in Regenbogenfarben schillernden Perlmutt-Beschichtung überzogen werden. Bringt mich die Schlange an sich schon gedanklich zum Anfang der Bibel, so der Regenbogen erst recht. Der Regenbogen ist Zeichen des immerwährenden Bundes Gottes mit seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen.
Er ist auch Symbol für die Freiheit, die er uns Menschen schenkt. Nach der Sintflut gelobt sich Gott, die Schöpfung nicht mehr zu zerstören. Gott verpflichtet sich mit seinem Bund dem Leben. Er setzt sich selbst eine Ordnung, die für immer und ewig bleiben wird. Kann demnach das Neue, das uns mit der Jahreslosung von Gott zugesagt wird, wirklich etwas total Anderes sein?
Oder werden wir im Unvorstellbaren entdecken, dass Gott seine Schöpfung total verwandelt hat? Werden wir etwas Vertrautes im Neuen erleben, wodurch sich jede Verunsicherung und Angst verflüchtigt? Etwas Wiedererkennbares, fortan aber ohne Tod und Tränen?
Das frage ich mich, während ich mich intensiv mit der Schlangensymbolik befasse. Die Schlange streift ihre Haut ab; sie »erneuert« sich auf diese Weise. Das Kunstwerk treibt dieses Phänomen ins Extreme: Die Schlange häutet sich bis auf die Knochen. Das ist anstößig und provokant.
Doch nichts anderes hat Jesus am Kreuz für uns vollbracht: Er hat gelitten, hat Haut und Knochen und Leben für uns gegeben, damit wir unsere Haut retten können. Ein anstößiges Zeichen Gottes, mit dem er seinen Bund vom Anfang des Regenbogens bekräftigt und ihn weiter in den Himmel ausspannt bis in die Zukunft.
Doch dieses Zeichen zeigt, was sich durchhalten wird: die Treue und Zuneigung unseres Schöpfers zu uns in ausnahmslos allem, was war, was ist und was kommt. – Siehe, ich mache alles neu und bin in allem Neuen! Nur keine Angst!
»Gott spricht:
Siehe, ich mache alles neu!«
Jahreslosung 2026 aus dem Buch der Offenbarung
im 21. Kapitel, Vers 5.
Starten Sie mit uns und der biblischen Losung ins neue Jahr. Wir laden Sie herzlich ein zum Neujahrsgottesdienst um 10:15 Uhr in der Frauenkirche und live im ZDF! Bitte beachten Sie auch unsere Predigtreihe zur Jahreslosung 2026 in den Abendgottesdiensten vom 11.Januar bis zum 15. Februar 2026, sonntags, 18 Uhr: »Apokalypse mit Hoffnung?«
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Huang Yong Ping spricht über »Rainbow Snake – Kronotopia«, sein letztes Projekt, das in Göteborg, Schweden, in Auftrag gegeben wurde.
Huang Yong Ping verstarb 2019. Dies war eines seiner letzten Interviews.
Angelika Behnke
Frauenkirchenpfarrerin