Freiheit – Sicherheit
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Freihälse sein – der biblische Sound der Freiheit
»Kirche der Freiheit« nannte sich selbstbewusst das ambitionierte Reformprogramm, das sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vor 20 Jahren verschrieben hatte. Energischer Treiberjenes Prozesses war Bischof Wolfgang Huber, der mit viel Gestaltungswillen ausgestattete damalige EKD-Ratsvorsitzende.
Unabhängig davon, wie sinnvoll und erfolgreich dieser damals innerkirchlich umstrittene Reformprozess gewesen ist, das Label »Freiheit« als in besonderer Weise »typisch protestantisch« hat unserer Kirche gutgetan und eine positive Langzeitwirkung entbunden. Im Ensemble der christlichen Konfessionen neigen wir Evangelischen zur Zurückhaltung, manchmal fast Leisetreterei.
Selbstbewusstsein, ein gewisser Stolz auch: da sind die Katholiken klar besser. Da konnte es unserer Kirche nicht schaden, sich bewusst zu machen: Freiheit – und zwar beides, die Freiheit zu wie auch die Freiheit von – das ist ein USP des Protestantischen, ein Unique Selling Point, wie man im Marketingsprech sagt.
Das mit der genannten gewissen Verdruckstheit war hierzulande indes nicht immer so. Über Jahrhunderte wurden nicht nur zum Reformationstag in der evangelischen Kirche die Freiheitsfanfaren laut geblasen. Martin Luther Superstar als Praeceptor Germaniae, als Geburtsvater einer selbstbewussten deutschen Nation mit gemeinsamer Sprache und Kultur, und als unerschrockener Befreier von klerikalem Dogmenzwang und sonstiger römischer und weltlicher Repression.
Von all dem transportiert auch der heldisch dreinschauende Luther auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche etwas. Freiheit: da wird schnell ein hoher Ton angestimmt. Aber nicht erst das eher verhalten begangene, sehr ökumenisch akzentuierte Reformationsjubiläum 2017 hat gezeigt: Das Freiheitspathos ist uns vergangen. Und das ist gut so.
Wir haben in der Geschichte unserer Kirche, auch in der Geschichte Deutschlands zu oft erfahren, wie weit weg wir von jener Freiheit waren, oder sie auch oft missbraucht haben, in der ein Luther dichten und singen konnte: »Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr Kind und Weib, / lass fahren dahin, / sie haben’s kein Gewinn. / Das Reich muss uns doch bleiben.« (EG 362,4).
Bis dann die Mehrheit der deutschen Protestanten das Reich, das uns doch bleiben muss, von dem sogenannten »Tausendjährigen Reich« nicht mehr recht unterscheiden konnte oder wollte. Aber trotz alledem: »Kirche der Freiheit«, das ist auf jeden Fall biblisch!
»ZUR FREIHEIT HAT UNS CHRISTUS BEFREIT!«
Dieser Fanfarenstoß des Apostel Paulus aus dem Galaterbrief (Gal 5,1) erklang zunächst über der Landschaft Galatiens an der kleinasiatischen Küste, und hallt über zwei Jahrtausende nach bis zu uns heute. Wenn wir heute von Freiheit reden, meinen wir es sehr anders als zu Paulus’ und zu Luthers Zeiten. Auch anders als in anderen Teilen dieser Welt.
Politisch gibt es bei uns ein weites Spektrum, unsere Gesellschaft ist vergleichsweise durchlässig. Wenig ist bei uns von vornherein festgelegt, jede und jeder kann sich selbst »erfinden«. Ob ich mein Leben so leben möchte oder so, oder ganz anders, ist zunächst meine persönliche Angelegenheit. Bis hin zu meiner geschlechtlichen Identität.
Niemand darf mich zwingen: Familie nicht, Staat nicht, Kirche nicht, Konventionen nicht. Weil aber die Freiheit für uns so selbstverständlich geworden ist, ist ihr etwas abhandengekommen: Das Ausrufezeichen, das Paulus hinter seinen Gedanken gesetzt hat. Die enorme Kraft. Die Sehnsucht, die in diesem Wort steckt: Freiheit!
»Freiheit, die ich meine«, wurde in Deutschland früher patriotisch gesungen. Aber welche Freiheit meine ich? Denken wir wenige Jahre zurück an eine schwierige Zeit: Ist es die Freiheit, über meinen Körper selbst zu verfügen, also zu entscheiden, ob ich mich impfen lasse oder nicht? Das ist die Freiheit von – in diesem Fall einer Impfplicht.
Oder geht es um die Freiheit auch des anderen, also das Gemeinwohl an erste Stelle zu setzen und durch eine Impfung auch andere zu schützen? Das wäre die Freiheit zu – in diesem Fall zu Gemeinsinn vor Individualismus. Was für ein Potential an Erhitzung, ja Spaltung in der Deutung von Freiheit steckt, spüren wir bis heute.
Was ist Freiheit für uns? Vor nichts und niemandem Angst haben müssen? Alles sagen können, was ich denke? Oder: mich frei strampeln, indem ich die Ansprüche bediene, die andere an mich stellen? Das war Martin Luthers Projekt vor über 500 Jahren. Alles Mögliche hatte er unternommen als Erfurter Augustiner-Mönch, um vor der Welt, und vor allem vor Gott zu bestehen.
Waschen, Fasten, Beten, Pilgern, Studieren, auf nacktem Fußboden schlafen. Spirituelle Selbstoptimierung, buchstäblich bis zum Gehtnichtmehr. Denn das spürte Luther irgendwann: ich kann es nicht, so geht es nicht mehr! Verzweiflungsspirale. Bis ihm endlich – durch ein Wort von Paulus – wie Schuppen von den Augen fiel: Die ersehnte Freiheit kann ich mir nicht erarbeiten.
Sie wird mir geschenkt. Umsonst. Von Gott. Ich bin bei Gott unbedingt geliebt: nicht weil ich so toll und vorbildlich wäre, sondern trotz all meiner Halbheiten und Peinlichkeiten. Sola gratia – allein aus Gnade. Das Beste im Leben gibt es gratis. In der Rückschau schreibt Luther ein Jahr vor seinem Tod, es habe sich damals für ihn angefühlt, als hätten sich die Tore zum Paradies geöffnet.
Diese geschenkte Freiheit hat Martin Luther eine unglaubliche innere Kraft gegeben. Das bezeugt sein Auftreten vor Kaiser und Fürsten vor genau 500 Jahren in Worms. Ob er das mit dem »Hier stehe ich« nun wirklich gesagt hat oder ob es nur eine fromme Legende ist.
Entscheidend ist, dass dieses Wort der Haltung entsprach, in der er die schicksalhaften Tage in Worms durchhielt: klar und unbeirrt bleiben, eine letzte innere Freiheit bewahren, sich nicht beugen vor dem, was in Welt und Kirche mächtig ist.
Ein Christ beugt sich vor keinem anderen. Wohl aber für andere. Freiheit, die Gott mir schenkt, kommt erst dann zur Erfüllung, wenn sie auch meine Mitmenschen freier macht und aufrichtet. Es ist mit dieser Freiheit wie mit dem Glück: wenn ich sie teile, wird sie nicht kleiner, sondern größer. Unvergesslich haben das die Berliner am Abend des 9. November 1989 erlebt.
Deshalb hat Luther drei Jahre nach seiner umwälzenden Freiheitserkenntnis eine seiner wichtigsten Schriften so betitelt: »Von der Freiheit eines Christenmenschen«. Sie beginnt mit einem berühmten Doppelsatz, der genau das sagt, was das ist mit der geschenkten und geteilten Freiheit, und dem Sich-Beugen nicht vor, aber für andere: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.«
Klingt total paradox. Aber gerade darum ist es wahr. Genauer und zugleich schöner lässt sich Freiheit, christlich gesehen, nicht in Worte fassen.
»ZUR FREIHEIT HAT UNS CHRISTUS BEFREIT! SO STEHT NUN FEST UND FALLT NICHT WIEDER IN DIE KNECHTSCHAFT ZURÜCK.«
Mit »Knechtschaft« meinte Paulus, was heute gewissermaßen als Gegenpol zur Freiheit angesehen wird: Sicherheit, oder jedenfalls ein Denken, das der Sicherheit gegenüber der Freiheit den eindeutig höheren Stellenwert einräumt. Anders als bei den Menschen im angelsächsischen Raum, besonders in den USA, für die Freiheit einen überragenden Stellenwert hat, sagt man uns Deutschen ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken nach.
Sicher nicht zu Unrecht. Warum das so ist, dazu könnten Soziologen und Psychologen vieles sagen. Aber das ist ein anderes Thema. Mit deutschem Sicherheitsdenken war auch Martin Luther schon konfrontiert, im Kontext seiner spätmittelalterlichen Zeit.
»Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt« - lautete der (unter PR-Aspekten geniale) Slogan des Dominikaners Johannes Tetzel in seinen berühmt-berüchtigten »Ablasspredigten«, mit denen er zu Luthers Zeit durch die deutschen Lande zog.
Die verlockende Idee, man könne die Gnade Gottes käuflich erwerben. Mit Brief und Siegel. Sicher ist sicher. Aber hat eine Sicherheit, die auf dem Abschluss irdischer Zusatzpolicen beruht, etwas mit Gottvertrauen zu tun? Diese bohrende Frage, die Luther nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, stand am Anfang dessen, was später zur Reformation wurde.
Ein zum Protestantismus konvertierter früherer Katholik sagte einmal: »Um Luther wirklich zu verstehen, muss man eigentlich katholisch gewesen sein.« Sehr zugespitzt gesagt. Aber bedenkenswert.
»ZUR FREIHEIT HAT UNS CHRISTUS BEFREIT! SO STEHT NUN FEST UND FALLT NICHT WIEDER IN DIE KNECHTSCHAFT ZURÜCK.«
Ich finde diese Erinnerung des Apostels zeitlos aktuell. Denn: Neben jeden Tempel der Freiheit, so sagte Luther drastisch, baut der Teufel eine Kneipe der Unfreiheit. Wir Deutschen brauchen von Zeit zu Zeit diese Erinnerung, wohl mehr als andere. Wer von der ersehnten Freiheit gekostet hat, wird sie hüten wie einen Schatz. Der will nicht mehr zurück in die Unfreiheit. Denken wir.
Aber es hat ja seinen Grund, dass Paulus extra ermahnt: »Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!« So sehr Menschen sich nach Freiheit sehnen, so schwer ist sie zu leben. In unserem Gottseidank wieder vereinten Land mühen wir uns seit 35 Jahren damit ab. Inzwischen, und das ist erschreckend, wieder spürbar mehr als noch vor einigen Jahren. Von der oft beschworenen »inneren Einheit« sind wir Deutschen immer noch weit entfernt.
»Der Freiheitsschock«: unter diesem treffenden Titel hat der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha-Kowalczuk ein viel gelesenes Buch über diese »Querelles allemandes« geschrieben. Man kann es aber auch im ganz Persönlichen sehen. Wie befreiend es ist, dem Gefängnis einer Beziehung entronnen zu sein, die nicht gut für sie oder ihn war. Wo man sich »toxisch« ineinander verstrickt hat. Wo selbst ein Abend mit Freunden in einer Eifersuchtsszene endet.
Manch eine wagt das Ende mit Schrecken und fängt an, ein eigenes Leben zu gestalten. Vorsichtig, im Wissen, dass der Weg in die Freiheit lang und steinig ist. Manche schaffen es. Andere nicht. Ehe sie sich versehen, haben sie sich wieder in eine ungesunde Beziehung verstrickt, werden wieder abhängig. Liebe als Knechtschaft. So sehr also die Freiheit ersehnt wird, so schwer ist sie auch auszuhalten, zu gestalten.
»Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen.« Das spricht auch sehr in das heutige christliche und kirchliche, aber auch gesellschaftliche Leben hinein: Das Verhaftetsein im Gewohnten und Vertrauten, obgleich man hofft, vieles möge grundlegend anders werden.
Die Sehnsucht nach mehr Einfachheit, spielerischer Leichtigkeit und klimagerechten Leben, sie ist bei vielen Menschen da. Aber die Schwerkräfte eines Lebensstandards, den man nicht missen möchte, die Angst vor der Unsicherheit, die alles Neue mit sich bringt, sie sind stärker.
Anders als unsere Politiker, die diese Spannung auszutarieren versuchen, zeigt Paulus klare Kante. Entweder – oder. Solus Christus, wie Luther betonte – Christus allein genügt. Wer sein Vertrauen wirklich auf ihn setzt, erfährt die Freiheit, nach der er sich sehnt. Für mich war eine sprachliche Entdeckung erhellend. Unser deutsches Wort Freiheit hat seine Wurzel im mittelalterlichen Wort Freihals.
Freihälse, so die Sprachwissenschaft, waren solche, die im buchstäblichen Sinn freie Hälse hatten. Also Leute, deren Hals nicht in einem Sklavenring steckte. Auf deren Schultern keine fremde Last aufgeladen war. Niemand durfte einen Freihals vor den eigenen Karren spannen. Kein König, kein Bischof, kein Richter. Und eben so, als Freihälse, ohne fremdes Joch, hat Gott sich uns gedacht.
Mehr noch: Zu Freihälsen hat er uns längst gemacht. Zu Freihälsen wohlgemerkt. Nicht zu Schreihälsen. Freihälse können ihren Blick ungehindert heben. Sie können in den Himmel sehen – und einander offen ins Gesicht. Gottes Freihälse sind in der Lage, mehr zu sehen als den eigenen Bauchnabel.
SIE MACHEN DEN MUND AUF, WO DIE WÜRDE UND DIE FREIHEIT ANDERER BEDROHT SIND, WEIL SIE EINE ANDERE HAUTFARBE, RELIGION ODER SEXUELLE ORIENTIERUNG HABEN.
Sie packen mit an, wo Herzen und Hände gefragt sind. Wie in Dresden die wichtige Initiativgruppe »Herz statt Hetze – Für ein buntes, weltoffenes Dresden«. Deshalb wird von den deutschen Lutherstädten alle zwei Jahre der Preis »Das unerschrockene Wort« verliehen.
Er gilt Frauen und Männern, die die innere Freiheit haben, den Mund aufzumachen, widerständig zu sein und öffentlich zu ihrem Glauben zu stehen, wo der Mainstream lieber wegschaut. Und, auch wichtig: Freihälse Gottes müssen keine Angst haben sich zu verlieren. Denn sie sind ja längst gefunden.
Die Kirche Christi ist, oder sollte doch sein, eine Gemeinschaft von solchen Freihälsen. Sie ist der Raum, in dem Menschen über sich hinaus und aufeinander zu kommen. In dem sie sich einschwingen in den Klang der von Gott geschenkten Freiheit. Die wir nicht erkämpfen müssen, sondern nur empfangen brauchen.
Ich muss mir nicht selbst aus meinem Innern sagen, was ich mir gar nicht selbst sagen kann. Ich muss mir nicht nach den Gesetzen eines Positive thinking ständig einhämmern: »Ich bin okay, alles okay!« Stattdessen kriege ich durch das Evangelium von Jesus Christus zu hören: Nein, du bist nicht wirklich okay – sondern ein trauriger Sünder! Aber gerade so habe ich dich grenzenlos lieb!
Und nicht nur die Wahrheit, wie Jesus sagte (Joh 8,32), erst recht die Liebe wird uns frei machen. Darauf erwächst eine innere Gewissheit, die weiter und tiefer reicht als alle Sicherheiten, die wir verschaffen wollen.
Markus Engelhardt
Frauenkrichenpfarrer