Freiheit – Sicherheit

Freiheit statt Fassade: Warum die zweite Lebenshälfte unsere größte Chance ist

 

Was bleibt, wenn wir alles erreicht haben – und plötzlich merken, dass es uns nicht erfüllt? Dirk Wagner nimmt uns mit auf seine Reise: vom äußeren Erfolg zur inneren Freiheit, vom vermeintlichen Scheitern zum Aufbruch, aus der Angst ins Vertrauen.

 

ANKOMMEN UND LEERE SPÜREN

Vielleicht kennst du das. Du bist angekommen – dort, wo du immer hinwolltest. Ich jedenfalls war es. Vertriebsleiter in einem internationalen Konzern. Dienstwagen, gutes Gehalt, Verantwortung. Ich hatte Menschen unter mir, Budgets zu verwalten, Meetings zu leiten. Ich war da, wo mein jüngeres Ich immer hinwollte.

Und trotzdem wachte ich eines Morgens auf und spürte eine nie dagewesene Leere. Keine Verzweiflung. Keine Erschöpfung. Sondern einfach leer. Mein Antrieb war weg. Ich funktionierte weiter. Machte das, was man eben macht. Doch innerlich hatte sich etwas verschoben. Und je länger ich dieses Gefühl ignorierte, desto lauter wurde es: War das wirklich alles? Was dann kam, war kein Zusammenbruch. Es war ein Aufbruch.

ZWEIFEL, DIE LEISER ANFANGEN ALS EIN FLÜSTERN

Natürlich stellte ich mir Fragen: Bin ich größenwahnsinnig? Ich bin in Bautzen geboren und habe die ersten fast 17 Jahre meines Lebens dort verbracht. Ich bin in der Platte aufgewachsen. Hatte eine Jugend, in der mich der Leistungssport geprägt hat. Im Dezember 1989 bin ich mit meinen Eltern nach Hannover gezogen. Dort habe ich mir alles selbst erarbeitet – Studium, Job, Karriere. Das alles soll jetzt nichts mehr zählen? Bin ich undankbar? Was ist mit all den Menschen, die mich gefördert und begleitet haben?

Oder bin ich einfach nur durchgeknallt? Da sitzt du mit allem, was du dir je gewünscht hast – und fühlst dich trotzdem leer. Das macht dich wahnsinnig: Eigentlich müsste ich doch glücklich sein. Ich habe doch alles, was ich wollte. Rückblickend war das der Moment, in dem sich mein Innerstes zu Wort meldete. Zuerst leise. Dann hartnäckig. Am Ende unnachgiebig. Und dann konnte ich nicht mehr weghören.

Heute weiß ich: Die leisen Stimmen sind oft die entscheidenden. Wenn wir sie wegdrücken, werden sie nur lauter. Das Leben spricht zuerst flüsternd.

VORBILDER UND LÜCKEN

Vielleicht konnte ich diesen Ruf deshalb hören, weil ich ihn 1989 durch den Umzug mit meinen Eltern live miterleben konnte. Für uns als Familie ein kompletter Neuanfang. Gleiche Sprache; andere Welt. Ich habe erlebt, wie meine Eltern sich mit Anfang 40 noch einmal völlig neu erfinden mussten. Sie haben mir gezeigt: Es geht. Man kann losgehen, neu anfangen, vielleicht auch straucheln – und wieder aufstehen.

Ein Wunsch blieb dabei in mir: Meine Eltern lebten mir Stärke vor, fokussierten sich auf ihren Erfolg und die Ernährung unserer Familie. Ich hätte mir manchmal etwas mehr Miteinander gewünscht. Nicht unbedingt Ratschläge. Eher Zeit. Gemeinsames Überlegen und Abwägen: Was könnte für mich der richtige Weg sein? Dieses Miteinander hätte mir wahrscheinlich geholfen, bewusster und umfänglicher Entscheidungen zutreffen.

Es hätte mir mehr innere Sicherheit gegeben – durch das Reflektieren im Vorfeld, durch das gemeinsame Abwägen. Und vielleicht hätte genau diese innere Sicherheit mir auch mehr Sicherheit im Außen geschenkt. Gleichzeitig weiß ich: In der Generation meiner Eltern stand etwas anderes im Vordergrund. Es ging darum, die Familie zu ernähren. Wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Keine »brotlose Kunst« zu betreiben. Das haben sie mir vorgelebt – und das war kraft voll.

Denn genau dieses Vorbild brachte mich in meiner ersten Lebenshälfte dazu, vor allem zu funktionieren. Alles richtig zu machen. Den sicheren Weg zu gehen. Geschäftlich erfolgreich zu sein. Bis ich merkte: So kann es nicht weitergehen.

Und hier beginnt meine Veränderung: von der ersten zur zweiten Lebenshälfte. Heute frage ich mich: Worauf habe ich wirklich Lust? Was möchte ich erleben? Was bringt mich in mein volles Potenzial? Welchen Sinn möchte ich meinem Leben geben? Denn das eine schließt das andere nicht aus. Wer in seinem vollen Potenzial lebt und das tut, was ihn wirklich begeistert, hat auch die größte Chance, langfristig erfolgreich zu sein – menschlich und wirtschaftlich.

Rückblickend bin ich meinen Eltern dankbar, dass alles so war, wie es war. Denn genau dadurch konnte ich meinen eigenen Weg finden. Und dieser Weg hat mich dorthin geführt, wo ich heute bin: Menschen in der zweiten Lebenshälfte bei ihrer Transformation zu begleiten. Ihnen Resonanz geben. Damit sie in sich selbst die Stärke und Sicherheit finden, die sie brauchen, um frei zu handeln.

GEFÜHLE NEU BEGREIFEN

Auf meinem eigenen Weg habe ich Gefühle erlebt, die ich lieber verdrängt hätte: Angst, Wut, Orientierungslosigkeit. Früher habe ich diese Gefühle als Störfaktor gesehen. Heute weiß ich: Sie gehören dazu. Sie sind Wegweiser. Sie zeigen uns, dass etwas nicht mehr stimmt, dass wir innehalten und neu ausrichten müssen.

Eine meiner größten Erkenntnisse war daher: Gefühle sind unsere wichtigsten Wegbegleiter. Wenn wir sie neu deuten, öffnen sie Türen. Aus Angst kann Mut werden. Aus Wut Kraft. Aus Orientierungslosigkeit Neugier.

SCHWÄCHE UND VERLETZLICHKEIT

Und noch etwas habe ich gelernt: Auf dem Weg zu uns selbst wird es Momente geben, in denen wir schwach und verletzlich sind. Das ist unvermeidlich – und es ist gut so. Denn wenn wir uns hinter Hochglanzfassaden verstecken oder darauf warten, perfekt zu sein, verhindern wir echte Nähe. Perfektion schafft Distanz.

Verbindung entsteht genau dort, wo wir uns verletzlich zeigen. Wo wir uns trauen, auch unsere Höhen und Tiefen, unsere Stärken und Schwächen sichtbar zu machen. Dort begegnen wir Menschen, die das Gleiche erleben – und die stark genug sind, das ebenfalls zuzulassen.

Und oft ist es genau in diesen Momenten, dass uns eine Hand gereicht wird. Ein Impuls, ein Gedanke, ein Mensch, der uns den nächsten Schritt leichter macht. Verletzlichkeit ist kein Hindernis. Sie ist eine Brücke. Eine Einladung zur Verbindung.

SICHERHEIT GIBT ES NICHT – ABER VERTRAUEN

Lange habe ich Sicherheit im Außen gesucht. In Jobtiteln. In Statussymbolen. In dem, was andere von mir dachten. Und vielleicht auch in den Erwartungen meiner Eltern: Mach etwas Solides, funktioniere, hab Erfolg. Eine Zeit lang hat mir das Halt gegeben. Doch irgendwann habe ich gemerkt: Diese Art von Sicherheit ist brüchig. Sie kann von einem Tag auf den anderen wegbrechen. Das Paradoxe: Wirkliche Sicherheit habe ich erst dann gefunden, als ich aufgehört habe, nach ihr zu suchen.

Sie liegt nicht da draußen. Sie liegt in uns. Ich habe gelernt: Sicher werde ich nicht durch das Festhalten am Alten, sondern durch das Gehen ins Neue. In dem Moment, in dem ich Schritte ins Unbekannte wage. Jeder dieser Schritte fühlt sich am Anfang unsicher an – aber genau dadurch entsteht innere Sicherheit. Mit jedem Mal, wenn ich meiner inneren Stimme folge, wenn ich auf meine Gefühle höre und ins Handeln komme, wächst dieses Vertrauen.

Und je öfter ich den Weg ins Ungewisse gehe, desto sicherer werde ich in mir selbst. Das ist für mich heute wahre Sicherheit: Nicht die Fassade im Außen, sondern das Vertrauen, dass ich gehen kann – egal, was kommt.

FREIHEIT – UND DIE DRINGLICHKEIT, SIE WIRKLICH ZU LEBEN

Ich bin im Osten aufgewachsen. Die ersten fast 17 Jahre meines Lebens habe ich mit der Erfahrung verbracht, dass vieles nicht wählbar war. Freiheit war nicht selbstverständlich. Vor einiger Zeit saß ich im Urlaub auf Rügen, an der Ostsee. Genau dort, wo früher Sperrgebiet war. Heute frei zugänglich für alle.

Und mir fiel eine Geschichte ein: Damals haben sich Menschen mit selbstgebauten Windsurfbrettern in der Nacht unter Lebensgefahr ans Wasser geschlichen. Sie sind 40, 50 Kilometer hinaus aufs Meer gesurft – in die Freiheit. Für sie war Freiheit wichtiger als das eigene Leben.

Und ich saß dort, ganz nachdenklich – weil ich gleichzeitig bei mir selbst und bei vielen anderen gesehen habe, wie wir uns heute unsere eigenen Gefängnisse bauen. Nicht aus Stacheldraht oder Beton, sondern in unseren Köpfen. Wir schränken uns selbst ein. Wir handeln nicht frei. Wir tun nicht das, was wir eigentlich wirklich wollen.

Vielleicht ist es genau deshalb mein tiefstes Anliegen, Menschen zu helfen, diese Mauern einzureißen. Denn Freiheit ist nicht nur ein politischer Zustand. Freiheit beginnt in uns. Sie entsteht erst dann, wenn wir die Sicherheit in uns selbst finden.

VERSUCH UND IRRTUM STATT SCHEITERN

Oft sprechen wir davon, dass »Scheitern dazugehört«. Heute sehe ich das anders. Denn eigentlich gibt es kein Scheitern – solange wir weitergehen. Das, was wir oft als Scheitern bezeichnen, ist in Wahrheit Versuch und Irrtum. Es ist der Weg, herauszufinden, unter welchen Bedingungen wir unseren eigenen Weg gehen können. Jeder Umweg, jede Sackgasse, jede vermeintliche Niederlage bringt uns näher an die Klarheit: So funktioniert es nicht – also wie dann?

Scheitern passiert erst dann, wenn wir aufhören, für uns einzustehen. Wenn wir aufhören, loszugehen. Das war für mich ein wichtiger Bewusstseinsswitch: Solange ich weitergehe, gibt es kein Scheitern – nur Erfahrung.

VOM ICH ZUM WIR

Veränderung heißt nicht nur, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sie wird besonders kraftvoll, wenn wir sie gemeinsam erleben. In Gruppen. Dort, wo wir spüren: Anderen geht es ähnlich. Dort, wo wir aus den Fragen anderer lernen. Das gemeinsame Gehen, das Teilen von Erfahrungen, das Sich-in-anderen-Erkennen – all das macht Veränderung nachhaltiger. Es ist ein Prozess, der uns wachsen lässt, weil wir nicht nur unsere eigene, sondern auch die Reise der anderen sehen.

HEUTE – MEIN SPRUNG INS NEUE

Irgendwann habe ich entschieden: Ich setze nochmal alles auf eine Karte. Ich gehe nicht den sicheren Weg weiter – ich nehme den mutigen. Ob das aufgeht? Keine Garantie. Aber ich wusste: Es war Zeit, den mutigen Weg zu gehen. Früher war ich Vertriebsleiter. Heute habe ich nochmal alles auf eine Karte gesetzt – und mich mit meiner eigenen Firmengründung verwirklicht.

Nicht, weil es der sichere Weg ist. Sondern, weil es eben mein Weg ist. Warum? Weil ich weiß, wie es ist, wenn die Leere kommt – und wie groß die Kraft wird, wenn man sich neu erfindet. Weil ich erlebt habe, wie schnell wir uns Mauern im Kopf bauen – und wie befreiend es ist, sie einzureißen. Und weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass die zweite Lebenshälfte nicht ein Auslaufmodell ist, sondern die größte Chance für Sinn, Wirkung und innere Freiheit.

Die Veränderungen bedeuten nicht immer das Gründen eines eigenen Unternehmens. Es bedeutet nicht, den oder die Partner:in zu verlassen. Oftmals sind es kleine Änderungen im Alltag, das Gewinnen eines neuen Standpunktes oder Blickwinkels auf die eigene Geschichte, die uns neue Sichtweisen und neue Lebensqualitäten schenken.

GLAUBE – DAS FUNDAMENT

Vielleicht ist das die größte Entdeckung meiner zweiten Lebenshälfte: Glaube ist nicht nur eine religiöse Dimension. Er ist ein inneres Fundament. Der Glaube an das Leben. Der Glaube an unsere Fähigkeiten. Der Glaube daran, dass wir uns jederzeit neu erfinden können. Diesen Glauben bekommen wir nicht geschenkt. Wir müssen ihn uns erarbeiten – durchs Tun. In dem wir Neues wagen, uns ausprobieren, uns selbst immer wieder beweisen: Es geht. So wächst Vertrauen – in uns, in andere, in das Leben.

Und genau darum geht es mir: Menschen zu begleiten, diesen Glauben an sich selbst wiederzufinden. Denn wer das einmal erfahren hat, spürt eine Kraft, die größer ist als jede äußere Sicherheit. Heute weiß ich: Echte Sicherheit liegt nicht im Außen. Sie entsteht im Inneren – aus Vertrauen und Glauben. Und aus dieser inneren Sicherheit wächst etwas Kostbares: Freiheit.

Ich bin mein eigener Beweis. Ich erlebe es täglich und genau deshalb weiß ich, dass es sich lohnt, den eigenen Weg zu gehen. Gegen innere Leere, mit Angst, mit Mut, mit Versuch und Irrtum, mit Verletzlichkeit und mit neuen Aufbrüchen.

 

Wenn Sie spüren, dass auch in Ihnen eine leise Stimme spricht, dann hören Sie hin. Vielleicht ist es der Anfang von etwas Großem.

Dirk Wagner
leitet das Institut für moderne Experten und begleitet Menschen und Organisationen im demografischen Wandel.