Freiheit – Sicherheit

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Freiheit zu – nicht von! Was »Reformatorische Freiheit« (nicht) ist

In den Schulen der DDR gehörte zum Lieder-Repertoire ein Kampflied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg: »Unter Spaniens Himmel«. Aufrüttelnde Marschmusik und am Ende der Strophen jeweils das Wort Freiheit. Eine ostdeutsche Kollegin erzählte mir einmal diese Szene: 1987, in der überfüllten Berliner Zionskirche. Friedenswerkstatt. Eine Art szenische Lesung wurde aufgeführt. Gespannte Stille auf das, was zwischen den Zeilen deutlich zu hören sein würde. Noch geschah nichts auf der Bühne vor dem Altar.

Dann erklang leise jenes Spanienkämpferlied – und stoppte jäh vor jenem letzten Wort: Freiheit. Jeder verstand sofort. Die Kirche bebte vor dem Applaus und dem aufbrausenden Getrampel auf den alten Holzdielen. Sie hatten verstanden. Sensibilität für Freiheit entwickeln Menschen dann, wenn sie sie nicht haben.

Heute scheint sich die Freiheitssehnsucht fast schon ins Gegenteil verkehrt zu haben. Wolfgang Huber hat vor Jahren pointiert festgestellt: »Freiheit, so lautet das neue Verschleierungs- und Totschlagwort. Krieg im Namen der Freiheit; Freiheit, sich selbst das Leben zu nehmen; Freiheit zur Rücksichtslosigkeit, Freiheit, Steuern durch Hinterziehung zu sparen, Freiheit, der Gier freien Lauf zu lassen.«

Aktuell wird man ergänzen müssen: Ganz hoch in Kurs steht die Freiheit, zu sagen (oder besser: hinausschreien), was man, so heißt es oft, »doch noch sagen dürfen« muss, gegen einen sog. »Meinungsmainstream«, der die freie Meinungsäußerung verbieten will. Dass diese Freiheit aber wohl doch nicht so selbstbewusst gebraucht wird, zeigt sich daran, dass das, was man »doch wohl noch sagen darf«, häufig anonym im Netz gepostet wird.

Jedenfalls: Was das große Wort Freiheit angeht, sollte man, wie einst Luther, dem Volk aufs Maul schauen. Luthers großes Wort von der Freiheit eines Christenmenschen ist heute vergraben unter der grassierenden Vorstellung, dass Freiheit die Freiheit von etwas ist. Für viele Menschen hier »im Osten« hat das Wort Freiheit längst einen bitteren, ja zynischen Beiklang.

Freiheit war das große Versprechen von 1989, die Antithese zur unfreien Gesellschaft und zur Bevormundung. Das Pathos der Freiheit ist hier in den Kerngebieten der lutherischen Reformation zu einer von vielen gefühlten Bindungslosigkeit mutiert. Das löst Ängste, Misstrauen und Aggressionen aus und beschädigt die Freiheit, zumal die christlich gemeinte, die so in ihr Gegenteil umschlägt.

Auch in punkto Freiheit zeigt sich, wie weit wir 25 Jahre nach der Wiedervereinigung von der so oft beschworenen »inneren Einheit« entfernt sind. Im »Osten« ist Freiheit zum Reizwort geworden, ja zum Triggerpunkt. Im »Westen« hat man sich an die Freiheit gewöhnt – was umso leichter fällt, wenn man nicht um sie hat kämpfen müssen. Man ist in der alten BRD bei der Freiheit mehr Konsument als Produzent. Gesamtdeutsch aber ist, dass wir enorm damit beschäftigt sind, über die Übel in der Welt und hierzulande zu klagen.

Über die Irrtümer des Pandemie-Managements. Die Maßnahmen gegen die Erderwärmung. Über die zu vielen Migranten. Die zu vielen Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Boni der Bosse in Zeiten der Inflation. Die gigantische Schuldenaufnahme und das Agieren der Bundesregierung. Und in all dem ganz allgemein über »Die da oben«, die Übles gegen das eigene Volk im Schilde führen.

Freude über unsere Freiheit kann bei so viel Übellaunigkeit kaum aufkommen. Zumal es zum deutschen Wesen gehört, das halbvolle Glas als halbleer anzusehen. Selbst unsere evangelische Kirche, die sich vor 20 Jahren selbstbewusst und auch mit guten Gründen sich zur »Kirche der Freiheit« erklärte, vermag von dieser ihr eingestifteten DNA keinen wirklich überzeugenden, ausstrahlenden Gebrauch zu machen. Lieber Kirche der Sicherheit, der Erwartbarkeit als Kirche der Freiheit sein: Darin ist die evangelische Kirche hierzulande dann doch ziemlich deutsch.

Die christliche Freiheit ist keine erkämpfte, selbstmächtige, autonome. Sie ist geschenkte Freiheit. Die Last der Sünde, der Lebensbrüche und Gottesentfernungen soll uns nicht klein machen und niederdrücken, weil Christus sie für uns trägt. Jesus Christus hat diese Freiheit für uns erworben. Freiheit ist deshalb kein Verdienst, sondern Gnade. In diesem Sinne sagt Paulus: »Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und fallt nicht wieder in die Knechtschaft zurück.« (Gal 5,1)

Nicht unter das Joch der Sünde fallen, heißt für Paulus, sich an Christus zu binden, in seiner Nachfolge zu leben. Es ist dieses voraussetzungsvolle Freiheitsverständnis, das Martin Luther 1521 in seiner berühmten Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« aufnahm: Ein Christ ist nicht nur ein freier Herr oder eine freie Frau über alle Dinge, sondern weil er das ist, zugleich und in derselben Verbindlichkeit auch ein Knecht oder eine Magd von jedermann.

Dies ist die Freiheit, sich nicht abhängig zu machen von den Anpassungs- und Sachzwängen dieser Welt, sondern in der Bindung allein an Jesus Christus »frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt« zu erfahren, wie es 1934 in der Barmer Theologischen Erklärung gesagt und 1989 in den Kirchen oft  erinnert wurde.

Zwischen diesem reformatorischen Freiheitsverständnis und heute liegt die lange europäische Freiheitsgeschichte, liegt Immanuel Kants Aufforderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen und sich von kirchlicher und politischer Bevormundung zu befreien, liegt die Französische Revolution und die Befreiungsgeschichte von faschistischen und kommunistischen Diktaturen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Kirchen vor 1989 nicht gerade als Vorreiter für Freiheit und Befreiung aufgetreten sind, dass sie den neuzeitlichen Gedanken der freiheitlichen Menschenwürde lange Zeit blockiert haben. Der Katholizismus mit seinem tiefsitzenden Affekt gegen die Moderne noch wirkmächtiger als der Protestantismus, aber der doch auch.

Das moderne Freiheits- und Würdeverständnis wurde von kirchlichen Autoritäten als »titanisch-sündhaft er« Autonomiewillen abgelehnt. Im 19.  Jahrhundert gehörte die scharfe theologische Kritik des Gedankens allgemeiner Menschenrechte und ebenso der Demokratie zu den Mehrheitspositionen in beiden Großkirchen. Hier haben beide Konfessionen im 20. Jahrhundert einen tiefgreifenden Lernprozess durchgemacht.

Überall da, wo Menschenrechte verletzt werden – in orientalischen Ländern sind es heute oft die Menschenrechte der wenigen Christen – erheben Kirchen ihre Stimme. Sie haben gelernt, dass die Gegenbegriffe zur Freiheit Angst und Abhängigkeit lauten. Ängste und vermeintliche Abhängigkeiten zu erkennen und zu überwinden, ist zum christlichen Selbstverständnis geworden. Christlich verstandene Freiheit braucht Mut. Und nicht zuletzt eine gehörige Portion Nonkonformismus, die Bereitschaft , nicht im Mainstream zu stehen. Daran ist sie zu erkennen.

Mut zur Freiheit - und Mut zur Verantwortung: So könnte eine Kurzformel reformatorischen Selbstverständnisses lauten. In ihr ist das Verständnis für Verantwortung, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist, besonders stark ausgeprägt. Das muss nicht verwundern angesichts der reformatorischen, im Ursprung pragmatisch-provisorischen Lösung, dass der jeweilige Landesherr auch die bischöflichen Aufsichtsfunktionen über seine »Landeskirche« wahrnahm.

Nichts hält länger als ein Provisorium, und so hatte dieses rein kirchenpolitischen Opportunitäten geschuldete, ganz und gar nicht biblische Modell des sog. Landesherrlichen Kirchenregiments bis 1919 Bestand. Seitdem ist die evangelische Kirche in Deutschland auf der Suche nach der richtigem Verhältnis von Staatsnähe und Staatsferne, hat sich von der Staatskirche hin zur Volkskirche entwickelt.

Auch dieses Modell kommt nun an sein Ende: Om Osten Deutschlands schon weitestgehend, im Westen mit Verzögerung. Kommt damit auch die Verantwortung für das Gemeinwohl als kirchlicher Auftrag, als wichtiges Merkmal der Volkskirche, an sein Ende? Über die Jahrzehnte hatte es sich eingebürgert, zwischen Kirche und Staat »unsere gemeinsamen Verantwortung« zu beschwören.

Ein Wording, das geeignet erschien, die wechselseitige Bezogenheit von Staat und Kirche in der Bundesrepublik zum Ausdruck zu bringen. Was aber, wenn dieses Selbstbild der wechselseitigen Bezogenheit von Staat und Kirche von der Realität einer multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft nicht mehr gedeckt wird?

Das wirft die Frage auf, ob die Kirche sich stärker als kritisches Gegenüber zum Staat, oder als Teil einer lebendigen Zivilgesellschaft versteht. Auf manchen Dörfern Ostdeutschlands, das höre ich von Kolleg*innen oft , können die wenigen Christen mehr bewirken, wenn sie sich als ein zivilgesellschaftlicher Akteur unter etlichen anderen verstehen. Das mag sich in Hannover, Stuttgart oder München (noch) anders anfühlen.

Aber das staatsförmige Kleid, das die Kirchen tragen, ist vielerorts längst zu weit geworden. Der Ton, den wir als Kirche anschlagen, ist vielleicht zu hoch für die Position, in die wir inzwischen de facto geraten sind. Denn die globalen Veränderungen des politischen und ökonomischen Machtgefüges, das die Kirchen in ihren Sozialpapieren sehr genau analysieren, sind an ihnen selbst nicht vorbeigegangen.

Frühere Konsense zwischen Kirche und Staat, aber eben auch zwischen den Kirchen, sind unterspült, gerade auch in bioethischen Fragen, und das mitnichten nur beim sog. Lebensschutz. Die ehemals selbstverständlich anerkannte Autorität der Kirchen in solchen Themen ist durch selbstverursachte sowie durch nicht steuerbare Prozesse aufgeweicht. Der hohe Ton des »sozialethischen Mandats« der Kirchen unterliegt zunehmend einer Tonprobe, die es früher so nicht gab. Man könnte sie die Glaubwürdigkeitsprobe nennen: Wie deckungsgleich sind kirchliche »Lehre« und kirchliche Praxis?

Matthias Drobinski, Redakteur der SZ, hält die se Glaubwürdigkeitsprobe für eine logische Folge abnehmender kirchlicher Bindungen. Immer mehr werden die Kirchen auch in Deutschland auf einen Markt gedrängt, auf dem sie sich kompetitiv mit anderen Werte-, Sinn- und Sozialanbietern behaupten müssen. Je länger, je mehr steht in Frage, ob die Staatsbezogenheit lutherischer Tradition noch das Leitbild einer Kirche sein kann, die sich auf diesem Markt behaupten, die sorgsam mit ihrem Glaubwürdigkeitskapital umgehen muss.

De jure ist das Staat-Kirche-Verhältnis, wie es in Deutschland seit über 100 Jahren geregelt ist, nicht auf einen pluralen Markt religiöser und sozialethischer Orientierungen ausgelegt. De facto aber entwickelt sich seit Längerem eine Vielfalt von Religion in der Zivilgesellschaft  – einschließlich der Realität einer A-Religiosität, die in manchen Regionen längst »volkskirchlich« ist. Dennoch bleibt es den Kirchen aufgegeben, Verantwortung für das Gemeinwesen wahrzunehmen.

Das historische Provisorium der staatsnahen Gemeinwohlverpflichtung verweist auf manches Unvollendete der Reformation und setzt die Suche nach neuen, politiknahen, aber staatsferneren Formen der Verantwortungsübernahme frei. Die Kirchen werden staatsferner werden, aber politiknah bleiben. Sie werden Mut zur Freiheit von liebgewordenen Traditionen aufbringen müssen und ihre Verantwortung in der Nähe zur Politik wahrnehmen.

Markus Engelhardt
Frauenkrichenpfarrer