Freiheit – Sicherheit
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»Maria, | Mutter, | Wärme am Grund der Tage«
Diese Worte aus dem Gedicht, das Christian Lehnert anlässlich der Glockenweihe zu Pfingsten 2003 für die Gedächtnisglocke Maria schrieb, klingen nach.
Viele Male hab ich über die Jahre hinweg das Gedicht gehört oder gelesen, wenn wir während der seltenen Führungen in den Glockenstuben Maria »zu Wort kommen« ließen. Läuten hören möchte man die Glocken direkt vor Ort ja lieber nicht. Also lesen wir die wunderbaren Glockentexte.
Die Gedächtnisglocke ist etwas Besonderes. Anders als ihre sieben Geschwister wurde sie nicht 2002/2003 gegossen, sondern hunderte Jahre früher: 1518 für das Kloster Altzella.
Als das Kloster im Zuge der Reformation aufgelassen wurde, gelangte sie 1557 ins Geläut der Frauenkirche: erst in den Vorgängerbau und später in die Bährʻschen Frauenkirche. Über die Jahre hinweg erfuhr das Geläut immer wieder Veränderungen.
Auch 1925, als man befand, dass »Maria« klanglich nicht mehr zu den anderen Glocken passe und sie ein Jahr später an die Anstaltskirche Hubertusburg in Wermsdorf verkauft e. Dort entging sie Glockenmobilmachung und Kriegszerstörung und wurde 1960 an die Kirchgemeinde Dittmannsdorf verkauft.
Der Glockensachverständige der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Dr. Rainer Thümmel, machte »Maria« im Zuge des Wiederaufbaus der Frauenkirche ausfindig, so dass sie bereits 1998 in einem auf der Baustelle aufgestellten provisorischen Glockenträger zu Andachten und Gottesdiensten in der Unterkirche rief.
Seit 2003 erklingt sie im neuen Geläut des wieder aufgebauten Gotteshauses: in Erinnerung an die Glockenweihe alljährlich am Vorabend des Pfingstfestes und am 13. Februar, wenn 21:45 bis 22 Uhr die Glocken der Dresdner Innenstadt im Gedenken an den Bombenangriff 1945 läuten.
»TÖNE KEHREN HEIM | IN EINE KIRCHE,
DIE ES NICHT MEHR GIBT | ZU EINEM
GLOCKENSTUHL, DER VERBRANNTE|
ZU MENSCHEN, DIE SIE HÖRTEN, |
DIE IM VERGESSENEN VERSCHWANDEN |
UND LEBEN WERDEN.«
Immer wenn ich Christian Lehnerts Zeilen lese, denke ich an die jüdischen Menschen, die durch das Bombardement Dresdens der kurz bevorstehenden Deportation entgingen. Und an die Menschen, die zuvor deportiert und in den Vernichtungslagern der Nazis getötet wurden.
An die Menschen, die in Dresden lebten, an die Geflüchteten aus dem Osten und die in jener Nacht starben. Ihnen ist die Gedächtnisglocke gewidmet: »über jedem Abschied | jedem entfallenen Namen, jedem zerfallenem Brief.«
Die Glockeninschrift Marias lautet aus dem Lateinischen übersetzt:
»SEI GEGRÜSSET MARIA,
DU MIT GNADEN ERFÜLLTE.
DER HERR IST MIT DIR, DU MUTTER
DER BARMHERZIGKEIT 1518«.
Oft werden die Kirchenführerinnen und Gastgeber in der Frauenkirche gefragt, wo denn eine Figur der Abbildung der Namensgeberin hier zu finden sei. Die gibt es nicht. Aber es gibt die Gedächtnisglocke Maria, deren liturgische Funktion die mahnende Erinnerung ebenso aufnimmt wie die sich daraus ableitende Verpflichtung, friedensstiftend zu wirken.
Dr. Anja Häse
Leiterin Bildung | Besucherdienst