Freiheit – Sicherheit

Staatsfeind Kunst

Ob Musik oder Malerei, Fotografie oder Lyrik: die Kunst erzählt uns etwas über unser Menschenleben, über unsere Kulturen, unsere Gesellschaften und ihre Bruchstellen, sie mahnt an und zeigt damit Haltung. Das macht sie streitbar und die, die sie schaffen, angreifbar.

Wo ein Opernstoff oder ein Orgelstück nur schön sein will, ironielos glatt und erwartbar in allen Facetten, werde ich innerlich als Zuhörer nervös. Warum die Eindimensionalität? Ist sie selbst das trotzige Unterlaufen der Erwartungshaltung, Kunst möge sich positionieren?

Jedenfalls. Ein befreundeter Autor hatte uns eingeladen, die Herbstferien am Rennsteig, im Haus seines verstorbenen Großvaters zu verbringen, das bis unters Dach mit Büchern, Platten und Kunstwerken vollgestopft war. Tagelang blätterte ich mich durch die LPs, hörte längst Vergessenes quer. Die verwirrend anspielungsreichen »Gesänge an die Sonne« etwa von dem Leipziger Komponisten Siegfried Thiele (1934–2024). Das Auftragswerk missfiel den Oberen, aber Kurt Masur setzte durch, dass es zur Eröffnung des Neuen Gewandhauses gespielt werden durfte. DDR-Bürger lasen und hörten ja zwischen Hölderlins Zeilen:

Wo bist du? trunken dämmert die Seele mir
von aller deiner Wonne; denn eben ist's,
daß ich gesehn, wie, müde seiner
Fahrt, der entzückende Götterjüngling

die jungen Locken badet' im Goldgewölk;
Und jetzt noch blickt mein Auge von selbst nach ihm;
doch fern ist er zu frommen Völkern,
die ihn noch ehren, hinweggegangen...

Die durchgebogenen, meist zweireihig gefüllten Bücherregale in allen Zimmern und noch in der letzten Dachkammer und die mit Stricken verschnürten Buchkisten im Spitzdach zeugten von den vielen, chronologisch sich wandelnden Lese-Interessen der beiden einstigen Bewohner; von ihrer Lust, sich auseinanderzusetzen. Vor der Wen de mit den Klassikern, mit Christa Wolf und Erik Neutsch, mit Volker Braun, Günter de Bruyn und Günter Kunert.

Nach der Wende – und der Entlassung des international renommierten Hochschullehrers – mit gesellschaftskritischen Texten. Gysi stand da neben Daniela Dahn und Willy Brandt neben Gore Vidal, Markus Wolf neben Michael Moore. »Der Turm«, eingeschlagen in eine neudeutsch-konsumdämliche Supermarkt-Werbebroschüre, fand sich auf einem Bord mit Klabund und Gustav Meyrink. Uwe Tellkamp hätte das vielleicht gefallen.

»DIE DDR WAR IMMER ZU MESSEN AN IHREM SINN ODER AN IHREM UNSINN«, sagte der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel einmal rückblickend. »Das heißt, die Kritik an ihr konnte letzten Endes nur eine intellektuelle sein. Wollte man sich kritisch mit dem Land auseinandersetzen, musste man es mit einem hohen geistigen Einsatz betreiben.«

Aus dieser Reibung, aus der Not, zwischen Anpassung und Widerstand zu balancieren und dem ständigen Streit mit Zensoren, Kulturhausleitern, engstirnigen Kulturpolitikern und unter den Augen der Stasi, sind viele widerständig-doppelbödige Gedichte, Romane, Musikstücke entstanden. Doch das war kein rein romantischer Zustand.

»Am 6. Oktober 1989 haben wir in Cottbus gespielt«, erinnert sich Wenzel an ein Programm mit seinem Kompagnon Steffen Mensching. »Am nächsten Tag wurden wir verhaftet.« Im Schnellprozess wurde festgelegt: die beiden Künstler dürften zweieinhalb Monate das Kreisterritorium nicht mehr betreten mit der Androhung von fünf Jahren Haft wegen Hausfriedensbruchs.

»Dann hat man uns mit Handschellen an die Grenze des Kreises gefahren, dann durften wir wieder in unser Auto steigen und sind nach Weimar zur nächsten Vorstellung gefahren.« In diesen wirren Zeiten sah Steffen Mensching die Künstler des Landes in
einer Art »pastoralen Verantwortung«, künstlerische »Seel-Sorger« sozusagen.

Obrigkeitshörige Kulturfunktionäre gibt es noch heute, weltweit. In Südkorea etwa erlaubt ein Gesetz »zur nationalen Sicherheit«, Künstler oder Intellektuelle zu verfolgen, wenn ihre Arbeit als staatsfeindlich interpretiert werden kann. Amnesty International prangerte 2023 ein Urteil aus Seoul an, nachdem der Lyriker Lee Yoon-seop wegen eines nordkoreafreundlichen Gedichtes zu einer vierzehnmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war.

Im September 2025 wurden die Russen, die sich mit Putins Angriffskrieg schulterzuckend abgefunden hatten, aufgerüttelt: die Sängerin Alla Pugatschowa wagte es aus ihrem Rigaer Exil, das Vorgehen Putins in der Ukraine offen zu kritisieren und erklärte, sie wolle lieber als »ausländische Agentin« gelten, als diesen Angriffskrieg zu rechtfertigen.

»KINDER, LERNT ENDLICH, DIE WAHRHEIT AUSZUSPRECHEN«, rief sie in die Kamera. »EIN REINES GEWISSEN IST MEHR WERT ALS ALLES ANDERE.«

Aber nicht nur im Osten, nein, weltweit ist die Kunst zum Akteur auf dem politischen Schlachtfeld geworden. In den USA hat sich der Streit zwischen Pop und Politik zur Groteske ausgewachsen. Donald Trump postete im Wahlkampf auf seiner Plattform: »I HATE TAYLOR SWIFT«. Swift, die sich offen gegen Trump positionierte, gegen Frauenfeindlichkeit, für Demokratie, wurde zum Symbol des kulturellen Widerstands. An der Wiederwahl Trumps konnte die Sängerin nichts ändern.

Der Kulturkampf eskalierte vor einigen Tagen in Washington, bei einem Konzert der Gitarristin Yasmin Williams im Kennedy Center, dem nationalen Kulturzentrum der USA. An dessen Spitze hat sich Donald Trump von eingesetzten Mittelsmännern kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident setzen lassen.

Die Künstlerin, die sich gegen Trumps inhaltliche Linie aussprach und seine faktische Zensur des Jahresprogramms anprangerte, wurde während ihres Auftritts gezielt von organisierten Trump-Anhängern ausgebuht. Reservierte Plätze für Parteigänger, orchestrierte Störaktionen – das erinnerte mich fatal an den 7. März 1933, als SA-Männer in der Semperoper den Dirigenten Fritz Busch niederbrüllten.

Die Macht entscheidet, was Kunst sein und wer sie ausüben darf. Die Mechanismen sind alt. Und vielleicht ist gerade deshalb die Kunst der empfindliche Seismograf jeder Gesellschaft. Sie misst, wo die Meinungsfreiheit endet. Sie provoziert dort, wo Worte verboten sind. Noch heute gilt, was Wenzel über die DDR und die Sowjetunion sagte: Gesellschaften, die Künstlern inhaltliche oder ästhetische Vorgaben machen, werden durch Kunst verwundbar.

ZUM WEITERLESEN UND -HÖREN:

Matthias Kamp
»Künstler leiden unter politischem Klima«.
Neue Zürcher Zeitung v. 31.12.2022, S. 7

Burga Kalinowski
War das die Wende, die wir wollten?
Gespräche mit Zeitgenossen.
Verlag Neues Leben Berlin (2015)

Marc Fisher
»Donald Trump doesn’t read much. Being president
probably wouldn’t change that«.
Washington Post v. 17. Juli 2016

Kelly Ng.
»South Korea: Man gets 14-month jail term for
praising North in poem«
(BBC News 27.11.2023)

Katerina Gordejewas Interview mit
Alla Pugatschowa auf YouTube

Dr. MARTIN MORGENSTERN
seit 2007 Chefredakteur von »Musik in Dresden«, lehrte an den Universitäten
und Musikhochschulen von Dresden, Halle/Saale-Wittenberg, Bremen, Eichstätt,
Stuttgart und Leipzig und arbeitet freiberuflich als Kulturjournalist.