»20 Jahre Frauenkirche Dresden«

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Das Senfkorn und die Frauenkirche

Für die 1.700 Glückpilze, die den 30. Oktober 2005 live »indoor« miterleben konnten, wird er natürlich bis an ihr Lebensende unvergessen bleiben: Der feierliche Gottesdienst zur Wiederindienstnahme (»Weihe«, wie wir hier in Sachsen etwas unprotestantisch, aber ganz selbstverständlich sagen) der wiederaufgebauten Frauenkirche.

Auf Youtube finden sich diverse Video von diesem Dresdner Jahrhundert-Ereignis, und als jemand, der damals weit weg von hier am Bodensee gelebt und gearbeitet hat und das alles nur via TV mit bekommen hat, läuft  es mir da schon immer noch den Rücken runter, wenn ich mir bisweilen ein solches Video vom 30. Oktober 2005 ansehe.

Alles, was vor 20 Jahren in Deutschland in Kirche und Welt »Rang und Namen« hatte, schlug damals in der Frauenkirche auf. Gab es so noch nie, und wird es so wohl auch nie mehr geben. Geleitet wurde der Gottesdienst vom damaligen sächsischen Landesbischof Jochen Bohl. Selbst gerade erst ein gutes Jahr im Amt, war dieser Dienst, den kaum ein Bischof überhaupt einmal erleben kann, auch für ihn sicherlich ein High light nicht nur seines Lebens als Geistlicher.

In diesem Frühjahr wurde Jochen Bohl 75 Jahre alt. Wir haben diesen Anlass mit einem festlichen Gottesdienst in der Frauenkirche begangen. Jochen Bohl predigte, und ich »ernannte« ihn in meiner kurzen Begrüßung ein bisschen augenzwinkernd zu »unserem Weihbischof«, wiewohl es dieses Amt nur in der katholischen Kirche gibt. Aber für uns in der Frauenkirche ist und bleibt er der Weihbischof Jochen Bohl!

Wie das gute evangelische Art ist, predigte Bischof Bohl an jenem 30. Oktober 2005 über das für jenen Sonntag vorgegebene Schriftwort: das Gleichnis Jesu vom Senfkorn aus dem 4. Kapitel im Markusevangelium. Er ist ein kurzes, einfaches Gleichnis, nur drei Verse lang. Aber mit einem großen Horizont.

Jesus hat viel in Gleichnissen gepredigt, weil sich diese bildhafte, anschauliche Rede form hervorragend eignet, uns durch das Material von vertrauten Alltagserfahrungen eine neue, unbekannte Erfahrung zuzuspielen: eine Erfahrung mit Gott.

Gerade an dem, was wir vermeintlich aus dem ff kennen, sollen wir neu und überraschend entdecken, was es mit diesem Gott auf sich hat. Wie häufig in seinen Gleichnissen verwendet Jesus auch hier ein Bild aus der agrarischen Kultur: Ein Senfkorn, winzig, grade mal ein Millimeter breit, hat das Potential, in nur einem halben Jahr sich zu einer Staude von über zwei Meter Höhe auszuwachsen, aus der der schwarze Senf, die Brassica Nigra gewonnen wird.

Sein Anbau war im antiken Palästina weit verbreitet. Vor allem rund um den See Genezareth, also im Kernland Jesu. Man hat aus dem schwarzen Senf Öl gewonnen und sogar Medikamente gemacht. Aus dem winzigen Samen wächst rasend schnell ein ansehnlicher Baum, in dem sogar Vögel nisten. Das ist zum Staunen.

Nun ist das Staunen nach Aristoteles nicht nur der Beginn der Philosophie, sondern es ist auch ein fruchtbarer Nährboden für die Dankbarkeit. Wo ich etwas entdecke, das mein Erklärungsvermögen übersteigt und darüber ins Staunen gerate, da verströmt sich Dank in mir. Das geht uns auf einem Gebirgsgipfel beim Rundblick so, und beim Aufwachsen unserer Kinder oder Enkel.

Das ist beim Staunen über menschlichen Erfindungsgeist nicht anders als in Lebenssituationen, wo es hätte böse werden können, wir aber bewahrt geblieben sind. Und es geht nicht nur vielen Dresdnern so, wenn sie auf die Kuppel der Frauenkirche schauen, die 60 Jahre lang nicht mehr da und womit dem weltberühmten Stadtbild, dem »Canaletto-Blick«, gleichsam das Herz herausgerissen war.

»Es bleibt ein Wunder«, höre ich immer mal wieder Menschen sagen, wenn sie über die wiedererrichtete Frauenkirche zu sprechen kommen.

Aber mit dem Bild vom Senfkorn will Jesus nicht nur zum Staunen über die Grammatik der Natur und zum Danken gegen Gott als ihren Schöpfer verlocken. Jesus nimmt dieses Bild vor allem als ein Hoffnungsgleichnis. Er will, angesichts der kümmerlichen Anfänge seines Wirkens, die Hoffnung stark machen auf das, was er predigt: Gottes kommendes Reich.

Obwohl davon jetzt erstmal noch so gut wie nichts vor Augen ist. Jesus will die Menschen Staunen machen, indem er ihnen nahebringt: Gott lässt aus allerkleinsten, kaum sicht- und messbaren Anfängen Großes erwachsen!

Eigentlich eine Binse, denn alles Große hat ja mal ganz klein angefangen. Wahrscheinlich hat das ganze Universum im Anfang dessen, was wir Zeit nennen, auf einer Nadelspitze Platz gehabt. Gott indes, den Großen, Unendlichen, können wir uns im ganz Kleinen, Unscheinbaren schwer vorstellen. Aber wie in Jesus als Person unterwirft sich Gott auch in dessen Gleichnissen den irdischen Umständen: ganz klein, unscheinbar nimmt sein Reich seinen Anfang.

Hier im Niemandsland rund um einen See, beginnt in der Westentasche, was einmal die Welt umstülpen wird. Seht doch, will Jesus hier sagen: Was jetzt so klein beginnt, mit ein paar Menschen ohne Rang und Klang, die mir nachfolgen, mit meiner Predigt, die von vielen nicht verstanden wird, in all dem steckt schon der Keim von etwas Großem.

Schaut genau hin: Was ich aussäe, wird noch die Welt verändern! - So ist Jesu Senfkorngleichnis ein Staun-, Dank- und Hoffnungsgleichnis. Es reißt einen großartigen Horizont der Hoffnung auf, der Hoffnung auf ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit für alle Welt.

Eben diese Hoffnung war damals, vor über 35 Jahren, als der »Ruf aus Dresden« zum Wiederaufbau der Frauenkirche laut wurde, eine hochfliegende Perspektive, die in der Luft lag. Nach dem epochalen Zeitenbruch 1989 schien es vielen, als breche mit dem Ende von Kalten Krieges und Teilung Europas ein noch nie dagewesenes Zeitalter von Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand an.

Längst wissen wir es schlechter, und wundern uns über den euphorischen Utopismus damals. Der sog. Westen, und wofür er steht – Liberalismus, Demokratie, Rechtsstaat, Gleichberechtigung – ist unter Beschuss wie noch nie. Nicht nur buchstäblich von außen, durch Putins Raketen und Drohnen. Auch von innen, wie noch nie seit 1945.

Aber das war damals unvorstellbar. Es war im Februar 1990, noch in der Euphorie von Wendeherbst und Mauerfall, wohl einfach das »Momentum« da, mit dem »Ruf aus Dresden« eine Vision mit Leben zu füllen, die ja nie ganz erstorben war, die in den Herzen nicht weniger Dresdner*innen auch die 40 Jahre DDR innerlich unbeschadet überdauert hatte.

Es war eine kurze »Zeit zwischen den Zeiten« damals: die Revolution, die unblutig ein bankrottes diktatorisches Regime abgeräumt hatte; in den Köpfen mancher gerade noch die Hoffnungen auf eine andere, bessere DDR; zugleich standen die ersten freien Wahlen in der DDR bevor, aber die Wiedervereinigung schien Anfang 1990 noch weit weg.

Wenn nicht jetzt, wann dann? - mögen sich die 22 Männer (es waren nur solche…) um den Dresdner Pfarrer Dr. Karl-Ludwig-Hoch gedacht haben, die damals zum 13. Februar 1990 ihren »Ruf aus Dresden« raus in die Welt schickten. Im Bild des Gleichnisses gesprochen: Die Zeit war dem Glauben günstig, dass das Senfkorn jenes Stück Papiers, auf das Hoch & Co. den »Ruf aus Dresden« geschrieben hatten, sich zum großen Baum der wieder aufgebauten größten protestantischen Barockkirche Europas auswachsen würde.

Aber alles hat seine zwei Seiten. Es wurden dann ja, sehr bald nach der schnellen Wiedervereinigung, noch andere, düsterere Zeitzeichen sichtbar. Menetekel, die die anfängliche Euphorie v.a. in Ostdeutschland schnell zum Erliegen brachten: Umstellung im Crash-Tempo auf ein völlig neues Wirtschaftssystem, Treuhand, Massenarbeitslosigkeit.

Der Balkan-Krieg mit den vielen von dort Geflüchteten. Das Aufkommen des Rechtsradikalismus mit der Gewalt gegen Ausländer. Nicht wenige empfanden das als Kontrapunkt zum Jahrhundertprojekt des Wiederaufbaus. Und v.a. in der Kirche empfanden viele ein elementares Unbehagen dem Projekt gegenüber. 2021 kurz nach meinem Beginn als neuer Pfarrer hier sprach mich auf dem Neumarkt ein alter Pfarrer an.

Wir kamen ins Gespräch, und dann sagte er, er habe die Frauenkirche noch nie betreten und werde das in diesem Leben auch nicht tun. Auch solches gibt es. Man kann darüber den Kopfschütteln. Aber es schwingt darin wohl etwas von dem nach, was seinerzeit viele eben auch empfanden: Steht uns das an, in diesen Zeiten, wo den Menschen in den neuen Bundesländern so viel »Blut, Schweiß und Tränen« abverlangt werden, als evangelische Kirche mit überschießender barocker Pracht verbunden zu werden?

Wird dadurch nicht verdunkelt, was doch zur Identität des Protestantischen gehört: Einfachheit, Bescheidenheit, Knappheit, Nähe zu den Schwachen? Geben Blattgold, Gloriole und zufrieden lächelnde Barockputten eine stimmige Kulisse dazu ab? Manche sprachen von »Verherrlichung des Dresdner Stadtbildes«, von »Luxustempel« gar. Das waren unangebrachte Zuspitzungen; aber sie spiegelten die Zerrissenheiten der Zeit damals.

Ernsthafter, und ernst zu nehmen war die damalige Frage: Wäre zum Ende dieses elenden 20. Jahrhunderts der Erhalt der Ruine nicht das eindringlichere, nachhaltigere Statement - gerade im Blick darauf, wofür die Evangelische Kirche in der DDR friedensethisch gestanden war und was dann zu der wunderbaren Rolle geführt hatte, die sie bei der friedlichen Revolution spielte?

Sind wir als Evangelische, mit Martin Luther gesprochen, nicht in erster Linie Kirche des Kreuzes, und nicht ecclesia triumphans, Kirche der Glorie, was die Frauenkirche verkörperte?

Es muss eine spannende, emotional aufwühlende Debatte gewesen sein, die in der sächsischen Landessynode im März 1991 über die basale Frage geführt wurde, ob man den Weg zum Wiederaufbau der Frauenkirche mitgehen und dem Projekt zustimmen wolle oder nicht. Mitentscheidend dafür, dass sich die Synode am Ende mit knapper Mehrheit für das Mitgehen entschied, war der damalige Bischof Johannes Hempel, der vielen noch heute unvergessen ist.

Seit 1972 im Amt und geprägt durch die Repressionserfahrungen in der DDR, war er selbst lange Zeit kein Befürworter des Wiederaufbaus gewesen. Aber dann gab er vor jener Synode ein Votum ab, das mich in seiner Aufrichtigkeit und nüchternen Klarheit sehr beeindruckt.

Ich zitiere daraus:

»Da weder für den Wiederaufbau noch für die Erhaltung das Geld von der Kirche aufgebracht werden muss; da das Geld für andere Zwecke weder gewinnbar noch verwendbar wäre; da die Baumaßnahmen sich arbeitsplatzmäßig für Dresden jahrzehntelang günstig auswirken werden; da die Frauenkirche – international anerkannt – als klassisches Bauwerk evangelischen und lutherischen Gemeindeverständnisses anzusehen ist und ausdrücklich als Gotteshaus wiederhergestellt werden soll; da Wunden-Heilen ebenso biblisch ist wie Wunden-Offenhalten; da nach
meiner subjektiven Auswertung knapp 2/3 dafür, reichlich 1/3 dagegen sind, vermag ich meine früher geäußerten Einwände nicht mehr aufrechtzuerhalten.«

Das brachte wohl den Meinungsswing bei manchen, die bis dahin auch kritisch gesonnen waren.

Vielleicht gerade weil Hempels Worte so gänzlich unpathetisch waren, ohne triumphalistischen Sound, ohne selbstverliebte Dresden Gefühligkeit, sondern lutherisch nüchtern und knapp. Und mit einem einfachen und einfach wahren biblischen Hinweis: Wunden schließen ist mindestens so wichtig wie Wunden offen halten.

(Man stelle sich vor, Hempel hätte damals statt dieser Tonalität ein Argument gebraucht wie jenes, das hier in Dresden manchmal noch zu hören ist: »Erst mit der wiederaufgebauten Frauenkirche ist der 2.  Weltkrieg zu Ende gegangen!« …)

So wurde aus dem am 13. Februar 1990 ausgesäten Senfkorn knapp 16 Jahre später der Baum der wiedererrichteten Frauenkirche. Es ist ja eigentlich gegen alle Erfahrung, dass etwas so total Zerstörtes wieder heil werden kann. Dass das möglich wurde durch eine gemeinsame Anstrengung derer, die einmal erbitterte Feinde waren – das muss sich noch aus anderen Quellen gespeist haben als dem Wunsch, Dresden den »Canaletto-Blick« zurückzugeben.

Und seither, also jetzt seit 20 Jahren, haben viele Menschen versucht, die stumme sandsteinerne Predigt dieses Hauses so mit Klängen und Worten zu füllen, dass die jährlich rund 2 Millionen, die
in dieses Haus eintreten, spüren: diese Kirche, bei aller barocken Pracht, sie ist zuerst und zuletzt ein Trost- und Hoffnungsort.

Nach sechs Jahrzehnten, in denen der Mensch zum Maß aller Dinge gemacht worden war, sagt sie uns: Nein, du musst dir nicht selbst Gott sein! Du bist heilsam durch einen Anderen, Größeren begrenzt, und das tut dir gut. Ein Teil in der großen Wachstumsgeschichte von Gottes Reich. Ein Senfkorn-Ort.

So ist Gottes Zukunft unter uns immer schon da. Leise, unspektakulär versteckt in kleinen Senfkörnern. Sie erinnern uns daran: es sind die kleinen Zeichen, aus denen unser Glaube die Kraftschöpft, das Leben in dieser schönen, schrecklichen Welt zu bestehen. Gott kann, wo wir nur noch Trümmer und Scherben sehen, auch daraus etwas Neues, Gutes machen.

Und ein Bauwerk, in das die Größe, aber auch die Schrecken eingeschrieben sind, zu denen Menschen fähig sind, erzählt uns eine Hoffnungsgeschichte: Aus Trümmern erwächst Wiederaufbau. Hass weicht der Versöhnung. Vergänglichkeit wird durch Schönheit ergänzt. So darf die barocke Schönheit der Frauenkirche doch auch ein Senfkorn-Gleichnis für Gottes neue Welt sein.

In meiner Jugend wurde in vielen Gemeinden gerne das Lied vom »Senfkorn Hoffnung« gesungen. Sein Text nimmt die Botschaft des Gleichnisses auf, und dieses Lied will uns anstecken, zur Dankbarkeit für die bisherigen 20 Jahre gelebter Hoffnung in dieser Kirche.

 

Kleines Senfkorn Hoffnung,
mir umsonst geschenkt,
werde ich dich pflanzen,
dass du weiter wächst,
dass du wirst zum Baume,
der uns Schatten wirft,
Früchte trägt für alle,
alle, die in Ängsten sind?

Pfarrer MARKUS ENGELHARDT
Frauenkirchenpfarrer