»Teilen und Haben«
MAGAZIN »Leben in der Frauenkirche« > HEFT 1/2024 > INHALT > Auf der Suche nach Frieden
Auf der Suche nach Frieden
Meine Geschichte in Deutschland begann am 12. März 2022. Wir flohen über die Grenze, und ich fühlte mich entwurzelt und verloren. Alle in meiner Nähe dachten, wir würden für ein paar Monate weggehen, und dann wäre der Krieg vorbei und wir könnten alle nach Hause zurückkehren. So dachte ich auch. Mit diesem Gedanken konnte ich weitermachen. Das Leben von 40 Millionen Menschen änderte sich an einem Tag komplett.
Auch mein Leben sah anders aus. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, und machte mir unglaublich viele Sorgen um meinen Mann, weil er als Soldat in der Ukraine geblieben war. Doch jeden Tag lernte ich neue Menschen kennen, die mir halfen, festen Boden unter den Füßen zu bekommen.
Diese Unterstützung gab mir das Verständnis, dass ich nicht nur haben, sondern auch teilen konnte. Da ich seit meiner Kindheit Deutsch gelernt hatte und bereits 8 Jahre in der Ukraine als Deutschlehrerin tätig war, konnte ich anderen Ukrainern behilflich sein.
Ich begann ehrenamtlich zu dolmetschen, Dokumente vorzubereiten und beim Arztbesuch zu helfen. Plötzlich wurde mir klar, ich bin nicht mehr verloren. Im Teilen fand ich die Kraft , weiterzuleben. Als ich in der Grundschule Graupa anfing zu unterrichten, hatte ich ein bestimmtes Ziel: die Kinder ein bisschen glücklicher zu machen.
Das Kind ist ein Wunder, voller Liebe, Lebensfreude, Interesse und Motivation. Als Lehrer sollte man diese Energie nur in eine bestimmte Richtung lenken. Je mehr man mit dem Kind teilt, desto mehr bekommt man zurück.
Die 18 Monate in Deutschland waren eine Herausforderung, die ich mir nie hätte vorstellen können. Trotz der schrecklichen Umstände, die mich nach Deutschland brachten, lernte ich hier wunderschöne Menschen kennen, die mich auf meinem neuen Weg begleiteten.
Sofort bekam ich so viel Unterstützung von völlig fremden Menschen, und das bewundere ich heute noch. Wie Hermann Gmeiner einmal gesagt hat: »Nur wenn wir teilen, haben wir den Frieden auf der Welt. Den Frieden lernen, das ist nichts weiter, als teilen lernen.«
Mit jedem gelösten Problem und einem dankbaren Lächeln von den Menschen, denen ich geholfen habe, wurde mir klar: So wurde ein kleiner Schritt in eine friedliche Ukraine gemacht. Leider sind viele ukrainische Frauen gezwungen, ein neues Zuhause für sich und ihre Kinder zu suchen und träumen nur davon, eines Tages in ihre Heimat zurückzukehren.
Ich bin mir sicher, dass wir diesen Weg durch Teilen und Haben etwas leichter machen können und trotz allem, was wir durchgemacht haben, einmal wieder glücklich sein werden. Für mich sind Haben und Teilen untrennbar. Nur im Teilen finde ich aber immer die Energie, die mich lebensfroh und glücklich macht.
Ich verlasse Deutschland, aber es wird immer in meinem Herzen bleiben: ein Teil meines Lebens, den ich nicht vergessen kann und nicht vergessen will. Wenn ich an diese anderthalb Jahre zurückdenke, bin ich den Menschen, die alles getan haben, um dieses Land zu einer zweiten Heimat für mich und meine Kinder zu machen, unglaublich dankbar. Ich freue mich darauf, sie in einer freien und friedlichen Ukraine wiederzusehen.
Die Türen vieler Ukrainer werden gastfreundlich offen sein für die Menschen, die uns beschützt, untergebracht und uns gezeigt haben, dass das Gute doch das Böse besiegt, weil das Teilen genau das ist, was uns wirklich zu Menschen macht.
NADIIA BAIBUZA
Die Autorin ist Ukrainerin; seit 9 Jahren unterrichtet sie als Lehrerin
für Deutsch als Fremdsprache Kinder und Jugendliche in Kyiv.