»Teilen und Haben«
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Feilen und Graben
Nach wunderbar warmen Spätsommertagen mit melancholisch tiefstehender Sonne, die durch die sächsischen Weinberge geblinzelt hat, ist es nun manchmal früh empfindlich kalt, und mit einiger Wahrscheinlichkeit rollt auch gerade die nächste Covid-Welle durch den sächsischen Freistaat – hoffentlich, ohne größeren Schaden anzurichten.
Der Virologe Christian Drosten hat jedenfalls in der ZEIT angekündigt, keine Maske mehr tragen zu wollen. Das Coronavirus ist aus seiner Sicht zum aushaltbaren Ärgernis geworden. Für mich soll das ein letztes Mal Anlass sein, auf eine Zeit zurückzublicken, die für die meisten Künstler ein großer, manchmal ein fürchterlicher Einschnitt in ihre Karriere war.
Der Countertenor David Erler initiierte 2020 eine Petition an die Regierung, in der er sich für staatliche Geldzahlungen an Freiberufler und Künstler einsetzte. Fast dreihunderttausend Unterschriften sammelte Erler ein und sorgte dafür, dass die Not freiberuflicher Musikerinnen und Musiker bis auf die Titelseiten großer Tageszeitungen kam. Dreieinhalb Jahre nach seinem Vorstoß meldete sich der Sänger kürzlich noch einmal bei seinen Ko-Petenten. Sein Fazit fiel nüchtern, aber auch etwas deprimiert aus.
⇨ Von ehemals 2,46 Millionen Soloselbständigen sind in Deutschland gerade noch 1,85 Millionen übriggeblieben.
Die geforderten Coronahilfen gingen oft am Bedarf der Szene vorbei, und eine große Zahl von Hilfsempfängern kämpft immer noch mit Rückzahlungsforderungen und allgemein mit den Nachwehen dieser gesellschaftlichen Krise.
Natürlich leiden nicht nur Sänger und Musiker, Pädagoginnen, Veranstaltungstechniker und Fotografinnen, freie Autorinnen und Journalisten, Tänzer und Choreographen bis heute unter diesem lebensverändernden Einschnitt. Ebenso traf und beeinflusst er bis heute die Planungen von großen und kleinen Musikveranstaltern, da sich das Besucherverhalten mit Corona substantiell verändert hat. Überlagert wurden diese Entwicklungen 2023 von gesellschaftlichen Krisen bis hin zu Kriegen.
⇨ Die Kunst, der immer eine so große, einende Wirkmacht zugeschrieben wurde, schien wirkungslos geworden zu sein, so empfanden es zuletzt viele Künstler.
Sie, die sich – wie der Autor – während der Lockdowns der letzten Jahre mit dem Abschleifen der Dielen, dem Umgraben des Gartens oder mit Brotbacken irgendwie auf Sinnsuche begeben hatten, sich mit dem Rückblick auf frühere Paradiese aufzumuntern suchten (in einem Audiobook, das ich damals hörte, zitiert Max Goldt einen viktorianischen Gartenratgeber: »So winzig Ihr Garten auch sein mag – einige Hektar sollten immer Wildblumen vorbehalten bleiben! «) und auf irgendwie bessere Zeiten hofften, sind nun mit der nächsten Sinnkrise konfrontiert.
Ein »Zurück« in Vor-Corona-Zeiten wünschte sich kaum jemand, sicher. Aber: wohin wird sich unser Kultur(er)leben nun entwickeln, da sich immer stärker abzeichnet, dass das Post-Corona-Publikum die jahrzehntelang gepflegten Traditionen – etwa Konzertabonnements mit großen Sinfoniekonzerten aus Ouvertüre, Mendelssohn-Solokonzert und Beethoven-Sinfonie nach der Pause – inzwischen einfach nicht mehr so hingehenswert findet?
⇨ Es gilt, meine ich, im Umgang mit Kunst eine neue Ernsthaftigkeit zu entwickeln.
Wir sollten uns besinnen, wozu wir abendliche Konzerte eigentlich brauchen, was sie – und nur sie! – uns geben können. Viele Musikerinnen und Musiker sind dabei, die neue Realität anzunehmen. Sie überlegen ihrerseits, wo Kunst gesellschaftlich ansetzen kann, welche neuen Wege der Teilhabe sie gehen kann und wo und wie sie Antworten auf drängende Fragen suchen muss. Sie feilen an neuen Ausdrucksformen und Konzertformaten, probieren neue Kollaborationen und Grenzüberschreitungen aus und graben sich durch Archive, um neben die allzuoft gehörten Großmeister unbekanntere Namen auf die Konzertbühne zu holen. Komponistinnen zum Beispiel wie Dora Pejačević (1885 – 1923), die einst in Dresden studierte und deren Werke ich im Sommer bei den Proms in London atemlos zum ersten Mal live hörte.
Hier also mein Aufruf an euch, liebe musikinteressierte Leserinnen und Leser:
⇨ ENTDECKET DIE KRAFT NEU, DIE IN DER MUSIK STECKT, WENN AUSÜBENDE WIE PUBLIKUM SIE ERNST NEHMEN.
Vergiss die kommerz- und selbstverliebten musikalischen Handlungsreisenden und studiere aufmerksam, welche Konzerte den Besuch lohnen. Weil die Künstler neue Lichter leuchten lassen, weil sie andere Zugänge wagen und uns ernst und aufrichtig teilhaben lassen an ihrer allabendlichen Sinnsuche. Denn das kann Kunst doch wenigstens, wenn sie auch keine Kriege verhindern hilft: sie kann Horizonte verschieben, Neugier wecken und Trost spenden. Deshalb mein Wunsch zum neuen Jahr: so begrenzt die freie Zeit auch scheinen mag – einige Stunden täglich sollten 2024 immer der Musik vorbehalten sein.
DR. MARTIN MORGENSTERN
seit 2007 Chefredakteur von »Musik in Dresden«, lehrte an den Universitäten
und Musikhochschulen von Dresden, Halle/Saale-Wittenberg, Bremen, Eichstätt,
Stuttgart und Leipzig und arbeitet freiberuflich als Kulturjournalist.