»Wir haben die Wahl«
MAGAZIN »Leben in der Frauenkirche« > HEFT 1/2024 > INHALT > Teilung durch Teilen überwunden
Die Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden…
Teilen und Haben. Das Thema dieses Magazins müsste eigentlich umgekehrt lauten: Haben und Teilen. Denn etwas teilen kann ich ja nur, wenn ich es zuvor habe. Aber das gilt dann doch nur halb. Denn wenn ich das, was ich habe, mit jemand anderem teile, hat dieser durch das Teilen etwas, was er davor nicht hatte.
Für ihn gilt dann: Teilen (im Sinne von geteilt kriegen) und Haben. Teilen und Haben ist also immer eine aktive und eine passive Seite zu eigen, man kann auch sagen: eine gebende und eine empfangende.
Jedenfalls: Teilen und Haben, Haben und Teilen stehen in engster Beziehung zueinander. Dem ersten Blick mag sich das nicht erschließen. Weshalb sollte ich, was ich habe, was ich mir durch meiner Hände Werk als Besitz erworben habe, mit anderen teilen, die sich das eben nicht erarbeitet haben? Nicht nur der sog. Neoliberalismus stellt diese Frage, sie leuchtet dem gesunden
Menschenverstand zunächst einmal ein. Aber eben nur auf den ersten Blick! Dass Haben, dass Besitz kein Abstraktum ist, das losgelöst von Bezügen und Abhängigkeiten als zeitloser Wert in sich selbst existiert, war schon in frühen Kulturen der Menschheit unbestritten.
Denn: So sehr das, was ich habe, durch Ehrlichkeit und Fleiß erworben und somit »verdient« worden ist (jedenfalls wenn es recht zugeht), so sehr gilt doch auch: Haben, Eigentum verpflichtet! Dass einer mit starken Schultern mehr tragen kann als bloß sich selbst, ist ein elementarer Sachverhalt, der sich in jeder Kultur gemeinwesengestaltend ausgewirkt hat.
In den sog. westlichen Demokratien etwa durch einen mehr oder weniger stark entwickelten Sozialstaat. Auch sehr konkret durch die progressive Struktur des Steuersystems. Je größer das Eigentum, desto mehr Verpflichtung – je mehr Haben, desto mehr Teilen (desto mehr Steuern).
Allerdings ergibt sich ein widersprüchlicher Befund. Auf der einen Seite gilt es als charakteristisch für den Menschen, dass jeder sich selbst der Nächste ist.
Das Hemd ist einem näher als der Rock! Das würde für den Vorrang des Haben- vor dem Teilen-Modus sprechen. Andererseits ist die Menschheitsgeschichte voll von Beispielen dafür, dass das Teilen für die Menschen äußerst nützlich gewesen ist. Bei Licht besehen ist Teilen die Fertigkeit, die der homo sapiens von Anbeginn an gut beherrscht hat.
Wenn man sich etwa anschaut, was ein Kleinkind besser kann als der gemeine Schimpanse, dann wird man nicht zum Ergebnis kommen, dass es etwa Werkzeuge braucht, sondern dass Kinder viel besser in der Lage sind, Miteinander zu organisieren und aufrechtzuerhalten.
Wenn man mal angefangen hat, um einen Preis zu spielen, versteht man schnell: Am Ende muss man als Sieger die gewonnenen Schokoriegel teilen, sonst spielt der andere nicht mehr mit, und das ist blöd.
Eigentlich haben wir Menschen große Talente zum Teilen. Etwa was das Teilen von Wissen angeht, oder überhaupt den großen Bereich der Arbeit. Zugleich sind beides auch gute Beispiele für vieles, was beim Teilen schiefläuft. Beim Teilen sehen wir heute ja, dass das »Haben«, nämlich der Begriff Eigentum dabei immer wichtiger wird.
Geistiges Eigentum, Urheberrechte sind spätestens im digitalen Zeitalter Felder, auf denen Anwälte sehr reich werden können. Immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse sind der Öffentlichkeit nicht mehr ohne weiteres zugänglich, sondern werden hochschwellig hinter Paywalls versteckt. Wo also Bakterien weiter ihre Informationen frei teilen, hat sich der Mensch viele Schranken auferlegt.
Was ist da schiefgelaufen, und wann und warum, dass es so kompliziert ist, die in unserem Wesen eigentlich angelegte Fähigkeit – und auch Lust! – zum Teilen so zu praktizieren, dass sich Win-win-Situationen einstellen, wie man das neudeutsch nennt?
Also dass aktives Teilen nicht als Verlust erlebt wird, sondern als Gewinn, als Benefit? Im Sinn der alten Volksweisheit:
»Geteilte Freude ist doppelte Freude
– Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Mit Blick auf das existentielle Mega-Thema Erderwärmung ist dies im Grunde die Schlüsselfrage. Und genau bei dieser entscheidenden Frage kommt das Haben ins Spiel, also das Eigentum.
Im Blick auf die Menschheitsgeschichte ist die Idee, dass wir überhaupt Sachen haben, im Grunde relativ jung. Vor rund vier Millionen Jahren haben unsere Vorfahren angefangen, Dinge mit sich herum zu tragen, einzelne Werkzeuge und dergleichen – wie wir heute unser Portemonnaie und das Handy. Das waren indes noch nomadische Zeiten, in denen der Mensch buchstäblich mit ganz leichten Handgepäck unterwegs war.
Die Entwicklung zur Sesshaftigkeit, mit der ein exponentieller Anstieg der Dinge, die der Mensch hat, einherging, hat sich erst vor 10.000 bis 20.000 Jahren vollzogen. Mit diesem Entwicklungsschritt kann man Geld erben, es ansammeln über Generationen etc.
Womit sich auf einmal – zunächst im Mikrosystem der Familie/Sippe – die neue Frage stellt: Wie sollen die von der Vorläufergeneration ererbten Dinge aufgeteilt werden? Dabei spielt von Anfang die offenbar ur-menschliche Eigenheit eine Rolle, dass wir das, was wir einmal besitzen, nur ungern wieder hergeben.
Damit ist die Spannung zwischen Teilen und Haben in der Welt. Eine Spannung, die immer weniger ausbalanciert sich entwickelt hat, zulasten des Teilens, zugunsten des Habens.
»Haben oder Sein« (Erich Fromm): Spätestens mit der sog. Moderne, mit der Zurückdrängung des dominierenden Einflusses religiöser Weltdeutungen und zugleich der Entdeckung der Autonomie des Individuums war der Boden bereitet für die Dominanz des Haben-Modus.
Trotz aller Versuche, diese Dominanz abzufedern und mit Blick auf den Sein-Modus zumindest einzuhegen, wie etwa durch den in unserer Verfassung zum Glück niedergelegten Gedanken, dass Eigentum eine Sozialpflicht hat (»Eigentum verpflichtet «), hat diese Entwicklung dem Menschen nicht wirklich gut getan – nicht nur als soziales Wesen mit seinesgleichen, sondern auch in seiner Beziehung zum nichtmenschlichen Leben, religiös gesprochen: zur Schöpfung.
Oder ist es am Ende des Tages doch so, wie es von den Begründern des klassischen Liberalismus bis zu den Vordenkern des modernen radikalen Libertarismus (Ayn Rand u.a.) dogmatisch behauptet wird?
Nämlich: es ist dem Menschen wesenhaft eingestiftet, gehört gleichsam zu seiner DNA, sich selbst der Nächste, also Egoist zu sein, was einen logischen Primat des Habens vor dem Sein und damit vor dem Teilen mit sich bringt. Solidarität ist in dieser Sichtweise allenfalls »Kultur«, nicht »Natur«.
Deshalb wird der Gedanke einer Gesellschaft, eines über die Familie hinaus gehenden sozialen Systems (»It takes a village«) aus dieser Denkrichtung bestritten. Auf den Punkt gebracht in der pointierten Behauptung der »Eisernen Lady« Margret Thatcher: »Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur die Familie!« Hier feiert das Haben seinen finalen Triumph über das Teilen.
Ein nicht nur aus religiöser, insbesondere monotheistischer Sicht einigermaßen deprimierender Befund. Sofern er denn zutrifft! Die Frage lässt sich für sozial einigermaßen sensible Menschen jedenfalls nicht erledigen: Lässt sich dieser Prozess wieder umkehren in Richtung von mehr Solidarität?
Hilfreich wäre sich klarzumachen, dass es das Teilen ist, das uns Menschen einmal »groß gemacht« und wesentlich dazu beigetragen hat, dass der Mensch sich dereinst die Gattungsbezeichnung homo sapiens erworben hat. Und dass jedes soziale System, das über die Kleinfamilie hinausgeht (aber eigentlich auch diese selbst), zum Sterben verurteilt ist, wenn es sich nicht um ein Ausbalancieren von Haben und Teilen »auf Augenhöhe« bemüht.
Die große Aufgabe ist es, Individualität und Solidarität als zwei Seiten derselben Medaille, nämlich eben jenes homo sapiens zu begreifen. Diese Aufgabe ist uns auf vielen Feldern gestellt - auch philosophisch und theologisch.
Ihre Dringlichkeit mit Blick auf das Arbeiten an dem, was man heute »gutes Leben« nennt, wird besonders deutlich im Umgang mit kleinen Kindern. Zum Beispiel: Wenn wir denen ein Spiel vermitteln, wo es um Teamwork geht, wo man ohne Zusammenarbeit nicht zum Ziel und damit zum »Gewinnen« kommt, wo sie also für ein gemeinsames Ziel kämpfen müssen, ist dies eine sehr andere Erfahrung für sie als wenn sie ein Spiel machen, wo jeder gegen den anderen kämpfen muss.
Jeder, der mal kleine Kinder hatte, wird es bestätigen: Wenn sie gemeinsam für ein Ziel kämpfen, haben die Kinder mehr Spaß und rennen seltener greinend zu Mama oder Papa, weil sie weniger angespannt sind.
Gleichzeitig, im Gegensatz zum »Wettkampf«, teilen Kinder mit dieser spielerischen Teilens-Erfahrung auch in ganz anderen Situationen danach selbstverständlicher ihre Sticker. Teilen und Haben gerät hier fast unmerklich, sozusagen wie von selbst in eine bekömmliche Balance.
Das heißt nicht, dass wir Wettbewerb verbannen sollen, weiß Gott nicht. Der Mensch ist eben auch ein Wesen des Vergleiches und des Unterschiedes, das sich nicht nur an den vermeintlich gesetzten Grenzen abarbeitet und diese auszutesten sucht, sondern eben auch an den Erfahrungen von Gewinn und Verlust, von besser oder schlechter, mehr oder weniger in Relation zu seinen Artgenossen.
Gewinnen können ist vergleichsweise leicht, weil es automatisch dem Selbstwertgefühl gut tut. Verlieren dagegen muss mühsam gelernt werden, weil es etwas mit der schmerzlichen Erfahrung zu tun hat, die Kinder ohnehin auf Schritt und Tritt machen: dass der Mensch ein Mängelwesen ist, unvollkommen, fehlerbehaft et.
Dass gerade dies in einem tiefen, positiven Sinn seine Menschlichkeit ausmacht (errare humanum est), dies zu verinnerlichen ist eine Lebens-Aufgabe, die mit dem frühen Kindsein beginnt und bis zum Lebensende nie abschließend bewältigt werden kann. Wie wichtig Verlieren-Lernen, sich selbst als unvollkommen anzunehmen ist, lässt seit drei Jahren bei Donald Trump besichtigen.
Teilen und Haben, Haben und Teilen: Das Modell des Sozialstaates mit all dem, was ihn ausmacht, beruht im Grunde ganz auf der Balance zwischen diesen beiden Dimensionen. Der moderne Sozialstaat, mit den Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität, ist ohne das sog. »jüdisch-christliche Menschenbild« nicht zu denken.
Dieses bildet das Fundament, auf dem jener erwachsen ist. Seine Grundidee ist die der Gemeingüter: Alle zahlen, also teilen – die mehr haben, teilen mehr, die weniger haben, teilen weniger, haben dafür aber mehr teil an den gemeinsam geteilten Gütern. So kommt durch das Zahlen bzw. Teilen aller auch für alle etwas heraus.
Solche Gemeingüter sind heute neben den elementaren Solidarvollzügen wie Steuern, Kranken- und Sozialversicherung vor allem die Investitionen in die Nachhaltigkeit: in Naturschutz, ein gesundes Zusammenleben, in Elektromobilität etc. – eben in alles, was die dazu beiträgt, Mutter Erde als gemeinsames Haben aller durch Teilhabe lebenswert zu erhalten.
Die Teilung kann nur durch Teilen überwundenwerden: diesen einfachen und einfach wahren Satz sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich der Wiedervereinigung 1990. Die immer noch mehr als unvollendete Einheit unseres Landes macht deutlich, wie sehr die Aufgabe, die dieser Satz formuliert, immer noch vor uns liegt.
Die in den Evangelien überlieferte Geschichte von der wundersamen Brotvermehrung (»Speisung der 5.000«) erzählt ja, anders als sein missverständlicher Titel es nahelegt, nichts Mirakulöses. Ihre Botschaft ist eigentlich so elementar wie zeitlos gültig: Wenn jeder gibt, was er hat, dann werden alle satt!
Das ist Teilen und Haben, wie es sein könnte. Gott geben uns Verstand und Herzensweite dazu.
PFARRER MARKUS ENGELHARDT
ist seit 2021 Pfarrer der Frauenkirche Dresden und
Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche Dresden.