Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2025

Die Teilung durch Teilen überwinden

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“. Die Älteren haben sie noch im Ohr, die wackere „sozialistische“ Parole damals in der DDR. Mal abgesehen davon, dass sie eher sinnfrei war, denn keine Ernte ohne Sonne, hat sie bei mir die Frage ausgelöst: Was würde uns fehlen, gäbe es das Erntedankfest nicht? Ich denke, die Antwort ist nicht schwer. Weil viele spüren: Wofür Erntedank steht, das greift noch tiefer als die Dinge, die an diesem Sonntag die Altäre in den Kirchen schmücken. Konkret: Erntedank erinnert uns elementar, dass wir alle sozusagen Bauern sind, die den Acker ihres Lebens bestellen. Mal mit schöner, mal mit kläglicher Ernte. Das Leben ist so wenig plan– und machbar wie das Wetter. Aber ob reichlich oder bescheiden, geerntet haben wir hoffentlich auch in diesem Jahr. Vielleicht etwas mühsamer als früher, aber vielleicht besser als befürchtet. Vieles ist gewesen, was zu danken lohnt. Menschen haben sich kennen gelernt, neue Beziehungen und Ehen sind entstanden. Kinder wurden geboren, Wunden sind verheilt, Menschen haben einander vergeben. Wir haben unser Auskommen gefunden. Gute Arbeit und Frieden jedenfalls bei uns. Wunderbare Urlaube und verlässliche Freunde. Bewahrte Gesundheit, Vertrauen, und hoffentlich auch Liebe, von der wir Lebenskraft schöpfen. Ein Erntedankaltar steht also nicht für sich selbst, als Eyecatcher, sondern er ist ein Gleichnis, ein Fingerzeig auf etwas anderes: Hinter dieser Welt, hinter unserem Leben stehen nicht nur Probleme und Bedrohungen, sondern zuerst und vor allem ein großes Schenken.

I.

Aber eben: Wie zwiespältig das ist mit dem Dank, dass es uns gut geht, und wie wenig Grund zum Dank zahllose Menschen in anderen Regionen der Welt haben, davon können wir jeden Tag in der Zeitung oder im Netz lesen. Und in der Bibel auch. Der vorhin gehörte Predigttext aus dem Jesaja–Buch erinnert uns daran. „Brich dem Hungrigen dein Brot“, am Erntedanktag heißt das: es genügt nicht, mit dankbarem Blick auf das schöne Arrangement hier vorne festzustellen. Gottseidank, es reicht uns wieder für ein Jahr! Dankbare Menschen haben eine befreiende Unbefangenheit sich selbst gegenüber. Sie denken nicht zuerst an die eigenen Bedürfnisse. „Brich dem Hungrigen dein Brot“: Wir danken dann richtig, wenn wir auch an die denken, die nicht danken können. Denen der Dank im Hals steckenbleibt, weil ihr Mund nicht mal das Nötigste bekommt. Wenn man die Bilder knochenabgemagerter Kinder im Sudan oder im Sahel sieht, dann kann man anfangen, mit Gott zu hadern. Aber beim Nachdenken finde ich dann, dass ich ihn hierfür nicht haftbar machen kann. Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass niemand hungern müsste auf dieser Erde. Bei verantwortlicher Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen und gerechter Verteilung der Lebensmittel wäre genug für alle da. Dass über eine Milliarde Menschen auf dieser Erde nicht genug für das tägliche Leben hat, ist unsere Verantwortung.

Die Not in dieser Welt ist so groß, dass nur eine radikale Bereitschaft zum Teilen wirklich helfen kann. Das ist der tiefere Sinn des eben gehörten Evangeliums von der Speisung der 4.000. Jedes Jahr sterben durch Hunger und mangelnde Versorgung von Kranken etwa 10 Millionen Menschen. In den sechs Kriegsjahren von 1939–1945 haben 52 Millionen Menschen den Tod gefunden. Wir stehen fassungslos vor dieser Zahl. Und fassungslos werden spätere Generationen einmal sein, wenn sie sehen, dass das Sterben auch ohne Krieg im 20. und 21. Jahrhundert weitergegangen ist. In sechs Jahren sterben an Hunger ebenso viele Menschen wie im 2. Weltkrieg.

II.

Szenenwechsel. Vorgestern in Saarbrücken, zentrales Fest zum Tag der Deutschen Einheit. Zum 35. Mal mittlerweile. Aber auch nach 35 Jahren vereintem Deutschland haben wir kein emotionales Verhältnis zu unserem Nationalfeiertag. Das hat mit unserer Geschichte zu tun. Und aktuell natürlich auch damit, dass so viele – viel zu viele – statt von dem vereinten lieber vom gespaltenen Deutschland reden und schreiben. Der populär gewordene Titel des Bestsellers eines Professors aus Leipzig ist vielsagend: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Was immer man dazu denken und diskutieren mag, aber solche Thesen sind kein Beitrag zur sog. inneren Einheit. Das notorische Narrativ von der „inneren Demarkationslinie“, der „Phantomgrenze“ zwischen den neuen und den alten Bundesländern hat Hochkonjunktur. Man kann sie ja inzwischen nach jeder Wahl besichtigen, anhand der beiden Farben, die Ost– bzw. Westdeutschland exakt entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze flächendeckend dominieren. Und der Prozentsatz an Zeitgenossen, die laut Umfragen „die Mauer zurück“ haben wollen, ist verstörend.

Der Berliner Soziologe Steffen Mau, ein Ostdeutscher, hat letztes Jahr zu diesem mühsamen Thema ein lesenswertes Buch publiziert. Es trägt den vielsagenden Titel: „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt.“ Darin konstatiert der Autor sehr nüchtern: „Man muss sich vergegenwärtigen, dass die deutsche Einheit eine Mésalliance zweier ungleicher Partner war.“ Das war wohl so. Mir klingen sie noch im Ohr, die von den Bonner Politikern gerne angestimmten Töne von den „lieben Landsleuten hinter Mauer und Stacheldraht“ und „unseren Schwestern und Brüdern drüben“. Da war doch manches hohle Pathos dabei. Steffen Mau stellt fest: „Die Vorstellung, jetzt wachse zusammen, was zusammengehöre, überdeckte jene Unterschiede, die unabhängig von der Existenz des sozialistischen Systems fortdauern sollten. Wie beim Tiefdruckverfahren tritt die Silhouette der DDR weiterhin überraschend deutlich hervor Aus asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung sind heute recht hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse geworden.“

III.

Und doch, trotz dieser sehr ernüchternden Bestandsaufnahme haben die Repräsentant*innen des öffentlichen Lebens aus ganz Deutschland die Einheit Deutschlands gefeiert vorgestern in Saarbrücken. Sie haben es jedenfalls ehrlich versucht. Obwohl sie alle ebenso wissen: Trotz so viel Saat, die aus dem Ackerfeld unseres Landes ausgesät wurde, trotz vieler blühender Städte und Landschaften, die inzwischen wirklich entstanden sind in den neuen Ländern – so üppig ist die Ernte der bisherigen Vereinigungsbemühungen nicht. Aber sie haben gefeiert. Gut so! Nicht obwohl, sondern weil die Probleme so groß sind. Denn gerade wenn man bis zu Hals in fast unlösbar erscheinenden Herausforderungen steckt, ist und tut es gut, sich neu bewusst zu machen, wie viel von dem, wovon ich lebe, nicht von mir gemacht und erarbeitet, sondern schon da, also mir geschenkt ist. Und es war und bleibt ja so, dass die friedliche Revolution, die völlig unblutig zustande gekommene Einheit Deutschlands im Tiefsten ein Geschenk gewesen ist. „Ohn‘ all unser Verdienst und Würdigkeit“, um Martin Luther zu zitieren. Es hätte so leicht auch ganz anders verlaufen können. In der Zufälligkeit, wie der 3.Oktober vor 35 Jahren zum Tag der Vereinigung bestimmt worden war, hat es doch einen tieferen Sinn, dass der Tag der Deutschen Einheit und der Erntedanktag immer so nah beieinander liegen.

Aber eben, weil das ein unverdientes, wunder–bares Geschenk war und bleibt, müssen wir damit – wie mit jedem wertvollen Geschenk – pfleglich und sorgsam umgehen. Der letzte Ministerpräsident der auslaufenden DDR Lothar de Maizière hat damals einen einfachen, und einfach wahren Satz geprägt: „Die Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden.“ Ein leises Wort, das sich kein Gehör verschaffen konnte im Lärm von Verteilungskämpfen und (westlichem) Besitzstandsdenken. Es ist aber heute nicht weniger aktuell und not–wendig als vor 35 Jahren. Und: dieser Satz ist ein gutes Wort an einem Erntedanktag. Nicht nur für uns als Deutsche, sondern für eine globale Welt, in der ein Drittel der Menschen mehr als drei Viertel der Güter dieser Erde verbraucht. Wir gehören zu diesem einen Drittel. So gesehen sind wir alle, bei allen Unterschieden auch unter uns, vom Schicksal gestreichelt, wie Franz Beckenbauer es einmal ausdrückte. Das kann beides bewirken: Dankbarkeit und Unruhe.

IV.

Und das heißt dann auch: Loslassen und geben können. Aus innerer Freiheit heraus, ohne die Angst, zu kurz zu kommen. Wir genießen seit 35 Jahren in unserem Land eine äußere Freiheit, um die uns die halbe Welt beneidet. Aber sie wäre das Papier des Einigungsvertrages nicht wert, wenn wir nicht mehr von dieser inneren Freiheit gewinnen. Die Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden: Der Erntedanktag fordert uns als Christen auf, unsere Herzen weit zu öffnen. Nicht nur zwischen Ossis und Wessis, sondern erst recht mit Blick auf Nord und Süd dieser Welt, diese noch viel brutalere Teilung. Unser Predigttext sagt nicht nur: „Brich dem Hungrigen dein Brot“. Er sagt noch Tieferes: „Lass den Hungrigen dein Herz finden.“ Man kann das aus dem Hebräischen auch so übersetzen: Gib dem Hungrigen dich selbst! Dankbare Menschen speisen den in Not Geratenen nicht nur mit Brot ab. Sie füllen nicht nur eine Überweisung aus, während sie gedanklich schon bei der nächsten größeren Anschaffung sind. „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten“, heißt es bei Jesaja. Eine bloße Utopie, die erst in Gottes neuer Welt erlebbar sein wird? Ja, in einem letzten Sinn schon. Die umfassende, allumspannende Gerechtigkeit, also das, was die Bibel Schalom nennt, ist uns für diese unerlösten Welt nicht verheißen. Aber zum Vorschein, zu einem irdischen Gleichnis jener himmlischen Gerechtigkeit und Heilung zu werden, das traut Gott unseren Bemühungen um irdische Gerechtigkeit allerdings zu.

Dazu zum Schluss eine persönliche Erinnerung, die sich mir eingeprägt hat. Als wir Kinder waren, haben unsere Eltern gern von den sog. Care–Paketen erzählt. In der Familie meines Vaters brachte eine Tages der Briefträger so ein Paket. Sie kannten den Absender nicht. Sie packten es aus und staunten: Schokolade, Kaffee und, für sie bis dahin ganz unbekannt, Erdnussbutter und Kaugummis. Das Care–Paket kam aus Amerika von sehr entfernten Verwandten, zu denen es nie Kontakt gegeben hatte. Sie hatten über Jahre auf ein Auto gespart. Als es so weit war, ging der Krieg zu Ende. Sie lasen von den zerstörten Städten und vom Hunger in Germany. Da setzten sie das ersparte Geld in Care–Pakete um für die unbekannte Verwandtschaft in Deutschland. Das Auto musste warten.

Damit sich Menschen so anrühren und auf den Weg bringen lassen wie jene unbekannten amerikanischen Verwandten: dazu, liebe Gemeinde, ist Jesus Christus in diese Welt gekommen. Er selbst hat gesagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben in seiner ganzen Fülle haben sollen“ (Joh 10,10). Gott selbst hat im Menschen Jesus hat sein ewiges, göttlichen Leben mit unserem irdischen Leben geteilt. Er gibt uns Anteil an den Gütern seiner ewigen Welt. Wenn wir uns von ihm ermuntern, auf seinen Weg ziehen lassen, dann wird die Vision unseres Predigttextes wahr: „Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.“

Amen.

 

 

 

Bänder(an)riss

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

alle Jahre wieder, wenn die Blätter bunter, der Herbstgeruch intensiver, der Morgennebel dichter und die Kühle am Tagesbeginn länger werden, dann feiern wir. Oder ich sage wohl besser, wir sollten feiern: ein gemeinsames Land nämlich. Mit einer demokratisch gewählten Regierung, die ich, wenn ich will, alle vier Jahre abwählen kann. Ein Gemeinwesen, in dem ich unveräußerliche Grundrechte habe, die ich vor dem obersten Gericht einklagen kann. Alle Jahre wieder würde ich das gerne feiern. Denn ich erlebe es immer noch als ein Privileg, in so einem Land leben zu dürfen, mit einer der besten, freiheitlichsten Verfassungen weltweit. Und in diesem Land nicht festgelegt zu sein auf eine Himmelsrichtung, aus der ich komme, oder auf eine Geschichte. Gemeinsam mit über 80 Millionen „Bundesbürger“ zu sein und nicht zuerst Wessi, der ich zufällig von Herkunft her bin: das erlebe ich als ein Geschenk, das nicht selbstverständlich ist. Je länger je mehr schätze ich es wert, dass die Einheit, die heute vor 35 Jahren in Kraft trat, eben nicht, wie immer noch (zu) viele meinen, ein kalter „Anschluss“ des hiesigen Teils Deutschlands an den anderen war. Ich denke, Markus Meckel, der letzte Außenminister der auslaufenden DDR, hatte Recht, als er sagte: „Wir Ostdeutsche waren Subjekte des Vereinigungsprozesses, nicht Objekte fremden Handelns.“

I.

Aber mir ist bewusst, dass ich mit der Meinung, dass der 3. Oktober gefeiert zu werden verdient, nicht mehr im Mainstream bin. Der bewegt sich längst in andere Richtung. Eher nach der Melodie von Heines berühmten Vers: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.“ Das ist noch milde ausgedrückt, wenn man daran denkt, was so viele Deutsche nicht nur in den Social Media über ihr Land denken und sagen. Die Frage jedenfalls, die auch alle Jahre wieder umgeht, wenn die Blätter bunter und die Schatten länger werden, die Frage nämlich: Wie eins sind wir denn wirklich? - man kommt nach 35 Jahren Einheit ehrlicherweise an der Antwort nicht vorbei: Wohl noch nie waren wir von der so lange als hehres Leitbild hochgehaltenen „inneren Einheit“ so weit entfernt wie heute. Erinnern Sie sich noch an den Abend der letzten Bundestagswahl? Die Deutschlandkarte, die da am 23. Februar auf dem Bildschirm zu sehen war, bestand nur aus zwei Farben: blau und schwarz. Die waren scharf gezogen, so dass flächendeckend die eine Farbe Deutschland Ost, und die andere Deutschland West überzieht. Die inzwischen oft so genannte „Phantomgrenze“: identisch mit der alten innerdeutschen Grenze. Die drei meistgelesenen Bücher der letzten Jahre zum Thema haben entsprechende Titel. „Der Osten: Eine Erfindung des Westens“ titelte der Germanist. „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ überschrieb der Soziologe sein Werk. Und der Historiker nannte sein Buch „Der Freiheitsschock“. Zeitungen, Sendungen, Internetforen sind voll von all dem, und man kann heute nur ernüchtert sagen: Ein Riss geht durch Deutschland. Zwischen Ost und West, aber viel tiefer noch durch unsere Demokratie. Wem mag da nach Feiern sein?

Aber was ist gerissen am Einheitsband? Ein Bänderriss ist nicht lustig. Er kann scheußlich wehtun. Bänder halten den Körper zusammen und elastisch, zugleich schützen sie die Muskulatur vor Überlastung. Wenn ein Band reißt, kann das eine nervig lange Zeit des Stillhaltens bedeuten. Ich erinnere das noch am eigenen Leib. Es ist Jahrzehnte her, aber noch heute zieht manchmal so ein leiser feiner Schmerz durchs Sprunggelenk. Er erinnert mich daran, dass zwar zusammengewachsen ist, was wieder zusammenwachsen sollte. Aber auch: Vorsicht mit der Belastung!

II.

Einen Bänderriss befürchtet der Apostel Paulus, als er der Gemeinde in Ephesus schreibt. Seine Botschaft im vorhin gehörten Abschnitt ist: „Lebt so, wie es eurer Berufung entspricht: in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einander in Liebe und bemüht euch, die Einigkeit im Geist zu wahren durch das Band des Friedens“. Paulus war in Sorge, dass unter den Christen in Ephesus, von inneren Konflikten belastet, dieses Friedensband reißen könnte, weil es an Sanftmut und Demut fehlte. Natürlich gibt es noch mehr Gründe, warum Friedensbänder reißen. In Familien, in Gemeinden, in einem Land. Friedensbänder bestehen nicht nur aus Demut und Sanftmut. Ihre stärksten Fasern sind Verlässlichkeit in den Lebensverhältnissen, und vor allem Gerechtigkeit. Wird das Gerechtigkeitsempfinden überdehnt, reißt das Band. Auch das Band der Einheit.

Nach 35 Jahren Bänder knüpfen zwischen Dresden und Düsseldorf, Frankfurt und Frankfurt, Freiberg und Freiburg, Görlitz und Göttingen, zwischen Deiner und meiner Vergangenheit sind die einmal ausgetauschten Freundschaftsbänder in die Jahre gekommen. Straff und elastisch war einmal. Da kann man sich schon, wie Paulus, Sorgen machen um den Beziehungs-Bänderriss. Junge Leute tragen gerne Freundschaftsbänder am Handgelenk, geflochten, farbenreich. Älter geworden, legt man sie irgendwann ab - leider oft auch im übertragenen, tieferen Sinn. Besonders seit der bleiernen Corona-Zeit, an der Freundschafts-, ja Familienbande zerrissen sind. Fehlte es an Einfühlung, Geduld oder Klugheit, wenn da die Bänder nicht mehr hielten? Waren es manchmal nur blödsinnige Missverständnisse, die in der überhitzten Atmosphäre aber nicht mehr auszuräumen waren? Oder waren es tiefe, uns vielleicht gar nicht bewusste Prägungen durch die gegensätzlichen Systeme und Kulturen, in denen wir in Ost oder in West groß geworden sind? Sind sie subkutan immer noch da, diese Gegensätze, und arbeiten sich über Generationen weiter?

Vor 35 Jahren in der Zeit nach der Vereinigung sprachen unsere Politiker gerne davon, wir müssten uns jetzt Zeit nehmen miteinander und uns „unsere Geschichten erzählen“. Manchmal klang das fast beschwörend. Ist ja eigentlich ein schönes Bild: Deutschland Ost und Deutschland West friedlich am Lagerfeuer vereint als große bunte Erzählgemeinschaft. Aber kam es dazu? Haben wir uns unsere Geschichten erzählt und einander somit auch unschöne Wahrheiten zugemutet? Am ehesten wohl noch in kirchlichen Kreisen, weil es dort durch die Gemeindepartnerschaften ein über Jahrzehnte bewährtes, verlässliches Band des Miteinanders und Aneinander-Teilnehmens gab. Auch ich - wir hatten keine Verwandtschaft „drüben“ - hatte mein erstes DDR-Liveerlebnis bei einem Besuch in unserer Partnerkirchengemeinde in Werder/Havel. Aber man muss wohl doch einräumen: Sie war gut gemeint, aber wir haben sie nicht gut hingekriegt, diese Idee von Deutschland als großem Ost-West-Erzählcafé.

Offenheit, Neugier aufeinander sind zarte Pflanzen, die man hegen und pflegen muss wie die Bäumchen der Einheit auf dem früheren Todesstreifen. Es sind zarte Fasern, die in den Freundschaftsbändern geknüpft wurden. Spröde und rissig werden sie durch Überheblichkeit und Besserwisserei, und wenn kein wirkliches Interesse am anderen da ist. Nicht zufällig entstand damals sehr bald das notorische Wort vom „Besserwessi“. Wie sich nicht wenige Westdeutsche, nicht nur die kapitalistischen Glücksritter, in den Jahren nach 1990 „im Osten“ aufgeführt haben, das hat hier Wunden geschlagen, die bei manchen bis heute nicht verheilt sind. Und es ist für mich zum Schämen, dass laut Umfragen mehr als ein Drittel der Westdeutschen selbst nach 35 Jahren noch nie ihren Fuß in die neuen Länder gesetzt haben.

Spröde und rissig, so erlebe ich es, werden die Bänder aus Offenheit und Neugier aber ebenso durch Misstrauen und eine übellaunige Neidkultur, in der das halbvolle Glas stets halbleer ist, und an den halbleeren Gläser sind „die da oben“ Schuld. „Die“ waren erst der König, später die Parteibonzen, und heute die gewählten Amtsträger*innen. Die eben, die dafür da sind, dass es mir gut geht und die Welt so sein soll, wie ich sie haben will.

Ob nun aus westlicher oder aus östlicher Richtung: Wenn das und der jeweils andere nicht mehr respektiert, sondern allenfalls geneidet, oft gar verachtet wird: dann ist mindestens ein ernsthafter Anriss am Band der Einheit zu diagnostizieren.

III.

Mit 35 ist die Einheit jetzt sozusagen im besten Alter. Aber nicht in einer altersgemäß guten Verfassung. Was wäre eine vielversprechende Therapie? Auch davon sind die Bücher voll, und wie bei den richtigen Ärzten gilt auch hier: Drei Autoren, vier Meinungen. Hier eine fünfte - meine: das Schlüsselwort aus unserem kurzen Abschnitt im Epheserbrief: Demut. Die Haltung der Demut ist für mich eine wichtige, um eine Art Mentalitätswechsel einzuleiten. Es ist nicht von ungefähr, dass seit alters her und in unterschiedlichsten Kulturen die Demut als Mutter, Fundament und Hüterin für das Gelingen einer Gemeinschaft angesehen wird.

Aber da kommt schnell die Gegenfrage um die Ecke - und sie kommt vor allem aus östlicher Richtung: Warum sollten Menschen mit verletztem Mut, mit enttäuschten Erwartungen, die schon viele Demütigungen erlitten haben, warum sollten gerade sie nun verstärkt die Haltung der Demut einüben? Wie sollen das jene hören, die sich übersehen, abgehängt fühlen bis zum heutigen Tag? Es gibt viele von ihnen. Man kann endlos diskutieren, ob solche Befindlichkeiten berechtigt sind - sie sind da, man muss sie ernst nehmen. Demut aber, wie Paulus sie meint, hat nichts Serviles, sie resultiert nicht aus Demütigung. Demut ist, wenn ich das Freundschaftsband dem Freund, der Freundin reiche im Vertrauen, dass er oder sie es sich anlegt. Freundschaftsbänder fesseln nicht. Sie sind Symbol einer geteilten Hoffnung. In der Demut drückt sich eine Haltung aus, die um die menschliche Würde und Begrenztheit weiß. Wer demütig ist, weiß, dass er nicht alles weiß und kann. Er wird eher bereit sein, anderen mit Respekt zu begegnen und anzuerkennen, dass sie auf ihren Gebieten mehr wissen und erfahren haben. Es ist der Kern des von den Politikern gerne angeführten jüdisch-christlichen Menschenbildes, dass der Mensch „diesseits von Eden“ unvollkommen ist. Dass er ständig Fehler macht, dass, wo Menschen miteinander leben und etwas machen, Fehler ein selbstverständlicher Teil des Miteinanders sind. Es war in diesem Sinn ein zutiefst wahrer, menschlicher Satz, den ein Spitzenpolitiker zu Beginn der Corona-Zeit sagte: „Wir werden einander noch viel vergeben müssen“ (Jens Spahn). Errare humanum est, irren ist menschlich. Wenn wir solches in unserem gesamtdeutschen Miteinander mehr beherzigen, kann sich vielleicht eine Haltung ausbreiten, die Paulus in einem anderen Brief so ausgedrückt hat: „Seid einmütig. Tut nicht aus Streit oder um Eitelkeit willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient“ (Phil 2,3+4). So könnten Demut statt Hochmut, Sanftmut statt Missmut dazu beitragen, die porös gewordenen Bänder unserer Einheit wieder stabiler zu machen.

IV.

Es sind eigentlich zwei Seiten der einen Medaille. Keine Servilität, aber Demut als Dien-Mut um der anderen willen, ohne in die Knie gezwungen zu werden. Und, soweit wir Christen sind: Demut als Glaubenshaltung, die sich einem Gott verdankt, der sich nicht zu schade war, Mensch und vor allem Diener zu werden. In dieser Spur wird mir Demut zur Weisheit, die mich ahnen lässt, dass - wie Paulus es ausdrücken würde - ich nur wenig habe, was ich nicht empfangen habe. Und diese Ahnung steckt bei allen Enttäuschungen und Verbitterungen doch auch in der Einheitshistorie dieses Landes. Es hat sich ja nicht ohne Grund eingebürgert, vom „Wunder“ der friedlichen, völlig unblutig gelungenen Revolution 1989 zu sprechen. Ja, das war und bleibt ein Wunder! Wann hat es derartiges in der blutgetränkten Weltgeschichte schon mal gegeben? Wunder, das Wort meint: Das haben wir nicht geplant, erreicht, selbst gemacht, sondern das ist letztlich über uns gekommen. Wirklich als Geschenk des Himmels. Das kann doch nur dankbar machen. Und das so sehr, dass solche Dankbarkeit sich nie einfach aufbraucht. Jedenfalls noch nicht in 35 Jahren.

Demut kann man nicht messen. Aber man kann sie beschreiben. Der Philosoph Max Scheler hat sie „die zarteste, die verborgenste, die schönste alle christlichen Tugenden“ genannt, die sich, so meinte er, zeigt als Selbstlosigkeit, wenn es darauf ankommt, als Großzügigkeit, ja Großmut. Das sind hehre Worte, natürlich Aber auf jeden Fall gibt Demut den Mut, zu mir selbst und meinen Befindlichkeiten in einen gewissen Abstand zu kommen. Das hilft, mich in meine Überzeugungen und Erzählungen nicht zu vergraben und sie absolut zu setzen, sondern immer im Hinterkopf zu behalten, dass auch der/die andere, dessen Sichtweise mir fremd oder gar suspekt ist, etwas Wahres sagen könnte. Wir brauchen in diesen Zeiten geschützte Räume für diese Selbstkorrektur. Wo man nicht gleich verurteilt, niedergebrüllt, medial vernichtet wird.

Auch beim Knüpfen von Freundschaftsbändern kann und darf man Fäden lösen und Neues einknüpfen. Auch wenn’s zurzeit schwer fällt, aber stellen wir uns das vereinte Deutschland mal als einen Gabentisch vor. Auf dem liegen unsere manchmal völlig diversen, getrennten Erfahrungen und Gefühle, wie die vielen bunten Bänder. Denn auch ein goldenes Band liegt für mich auf dem Gabentisch der Einheit. Es ist sozusagen das Herzband. Es erinnert mich daran, dass Gott hier gewebt hat. Was habe ich, was ich nicht empfangen habe von diesem goldenen Band der Einheit?! Für viele ist Gottes Wirken stumpf und stumm geworden. Ich will daran festhalten, dass Gott nicht aufhören wird, anzuknüpfen an unseren Möglichkeiten, an unserem Glück und an den schmerzhaften Rissen, wenn wir weiter unterwegs bleiben auf den oft ziemlich gewundenen, unebenen Wegen der Einheit.

Denn ich glaube, dass Gott auch aus dem Gerissenen, aus Uneinigkeit und Streit Bänder der Einheit wachsen lassen kann. Dazu braucht er Menschen, die sich mutig darauf einlassen - demutig, sanftmutig und mit sehr viel Geduld. Und wir - das sage ich so nur an diesem Tag - brauchen Gottes Gnade, mit der er bei unserem „schwierigen Vaterland“ bleiben möge


Amen.

Geistlicher Impuls im Rahmen des Sonntagskonzertes
am 21.9.2025 (14. Sonntag n. Tr.)

gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Der zweite Teil dieses Sonntagskonzerts besteht aus Kompositionen von Felix Mendelssohn – dem nach J. S. Bach vielleicht bedeutendsten Vertreter der protestantischen Geistlichen Musik. Jedenfalls ihrem wichtigsten Erneuerer. Mit gutem Grund nennt man Mendelssohn auch den romantischen Wiedergänger Bachs. Er hat den zu seiner Zeit im frühen 19. Jahrhundert fast vergessenen Altmeister wiederentdeckt und mit der legendären Berliner Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion 1829 die große Bach–Renaissance ausgelöst. Wer Mendelssohns geistliche Chorwerke interpretiert, muss sozusagen einen Fuß in der Barockmusik haben, und mit dem anderen dem romantischen Gestus gerecht werden, dass die Dinge intensiv durchlebt werden wollen. Jedenfalls kann man sagen: Wäre Felix Mendelsohn nicht gewesen, würden sich heute vielleicht nur noch Musikwissenschaftler an einen gewissen J. S. Bach erinnern. Unvorstellbar, ist aber wohl so.

Der Reigen der Mendelssohn–Chorstücke an diesem Nachmittag beginnt gleich mit dem bekannten kleinen Chor „Hebe deine Augen auf“, in dem Mendelssohn den 121. Psalm vertont, der so beginnt: „Ich habe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?“ Dieses in seiner elementaren Schlichtheit anrührende Stück kommt aus Mendelssohns großem Oratorium „Elias“: seinem neben dem Violinkonzert e–Moll und dem „Sommernachtsraum“ wohl populärsten Werk. Nicht nur der „Elias“, auch schon sein 10 Jahre früher komponiertes Oratorium „Paulus“ zeigt, wie tief Mendelssohn, aus einer berühmten jüdischen Berliner Familie stammend und als Jugendlicher getauft, im evangelischen Glauben verwurzelt war und wie genau er die Bibel kannte. Das Libretto hat Mendelssohn ausschließlich aus biblischen Worten gestaltet. Das Oratorium erzählt die Geschichte des großen alttestamentlichen Propheten Elia aus dem 1. Buch der Könige: die Geschichte einer geradezu gigantisch, fast übermenschlich – in manchen Zügen auch unmenschlich – wirkenden Gestalt in der Bibel. „Stark, eifrig, auch wohl bös‘ und zornig und finster“: so hat Mendelssohn „seinen“ Elia einmal charakterisiert. Wer den biblischen Elia–Stoff bisschen kennt, weiß, dass das eine dramatische, auch gewaltgesättigte Geschichte ist. Ein Mann, der die anderen vor Unheil, Zerstörung und Armut warnt, der die Wahrheit sagen will. Aber keiner möchte sie hören, keiner glaubt ihm. Ein Stoff, wie gemacht für die Opernbühne. Eine Oper ist Mendelssohns „Elias“ aber nicht, auch wenn er immer gerne eine komponieren wollte. Dazu kam es leider nie.

Der biblische Elia–Stoff hatte Mendelssohn schon lange fasziniert. Als er 1845 den Auftrag bekam, für ein Chorfestival in Birmingham in seiner zweiten Heimat England ein Oratorium zu schreiben, sah er die Chance gekommen, diese große Geschichte endlich in Töne zu bringen. Das Oratorium ist eine Zeitreise etwa 2.800 Jahre zurück. Ahab ist Israels König; er und sein Entourage schwelgen in Macht, Luxus und Selbstherrlichkeit. Sie verehren Baal, einen Wetter– und Fruchtbarkeitsgott, bauen ihm Tempel und Altäre. All dem widerspricht Elias, als unerbittlicher Anwalt des Monotheismus, mit schroffer Härte und zugleich großem persönlichen Mut.

Im zweiten Teil des „Elias“ stellt sich Elia direkt gegen den König und bringt das Volk gegen sich auf. Er muss in die Berge fliehen und gerät in Verzweiflung und Depression, weil er erleben muss, dass sein Bemühen, das Volk zur Umkehr zu bringen, gescheitert ist. Er ist am absoluten Tiefpunkt. In einer ergreifenden Arie lässt Mendelssohn Elia seine Verzweiflung vor Gott bringen: „Es ist genug, so nimm denn meine Seele. Ich bin nicht besser als meine Väter.“ Dann legt er sich unter einen Ginsterbusch, um zu sterben. In diesem Moment, so erzählt es die Bibel, kommt ein Engel und bringt ihm Brot und Wasser.

Genau an diese Stelle hat Mendelssohn das Stück aus drei Solo–Frauenstimmen „Hebe deine Augen auf“ gesetzt. Es ist unter dem Label „Engel–Terzett“ berühmt geworden. Es sind Klänge wie aus einer anderen Welt, die Mendelssohn in diesem Engel–Terzett vertont hat. Engelsmusik für einen, der völlig am Boden ist. Wie kann man jemanden trösten, der jede Perspektive verloren hat? Mendelssohn legt an dieser Stelle, wie eingangs gesagt, den drei engelsgleichen Stimmen die Worte aus Psalm 121 in den Mund: „Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt. Deine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet schläft nicht.“ Elia soll den Blick nach oben richten. Auf das, was höher und größer ist als er selbst. Nicht mehr seine Kraft zählt jetzt, sondern allein das Vertrauen auf Gott kann ihm jetzt noch Halt und neues Zutrauen geben.

Es sind nur wenige Takte Musik – und doch haben sie die Kraft, neue Hoffnung zu schenken. Wie eine Hand, die sich zart auf die Schulter legt. Diese Engelsmusik berührt mich. Weil sie einerseits zart und einfühlsam ist und mich zugleich innerlich weit macht. Die Worte des Psalms werden so zu Botschaften, die mich durchdringen. Die Musik wird gewissermaßen selbst zum Engel, weil sie mich tröstet und aufrichtet. Und ich bin dankbar, dass ich hörend und singend in diese Kraftquelle eintauchen kann. Es gibt eine Welt um mich herum, die mich trägt. Es gibt einen Gott, der mir nah ist. Solches Vertrauen gerade in dieser von Misstrauen tief durchzogenen Zeit wünsche ich uns.

Amen.

Gott lebt seinen Traum

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil“, haben wir zu Beginn mit Paul Gerhardt gesungen. Mit diesem Gott Jakobs, der für uns der Vater Jesu Christi ist, bekommen wir es jetzt zu tun. Diese Erzählung von Jakob und der Himmelsleiter ist eine der besonders hintergründigen Geschichten der Bibel. Sie ist uralt, aber keine Sage aus religiöser Vorzeit. Sie geht uns an, weil uns an ihr Wichtiges über Jakobs Gott, unseren Gott aufgeht. Und vielleicht entdecken wir, dass sie auch etwas über unsere Geschichte mit diesem Gott erzählt. Vier Dinge sind es, die mir hier wichtig geworden sind.

I.

Gott begegnet uns, wann und wo er will. Jakob hat diese Begegnung mit Gott nicht gesucht. Im Gegenteil: Er ist auf der Flucht! Auch vor Gott. Und das hat Grund. Er ist ein Mann mit Vergangenheit. Der will er entkommen. Er hat Leichen im Keller. Seinem älteren Zwillingsbruder Esau hatte er übel mitgespielt, sich für ein Linsengericht die Privilegien des Erstgeburtsrechts erschlichen. Nach der Devise „Was ich haben will, das krieg ich auch!“, holt er sich, was er braucht, um nach oben zu kommen. Nun ja, wie das bei Erbstreitigkeiten so läuft: beim Geld hört die Bruderliebe auf. Und da bekommt es Jakob dann doch mit der Angst zu tun. Wer weiß, was der Bruder mit ihm anstellt. Körperlich ist er ihm, dem Stubenhocker und Muttersöhnchen, ohnehin haushoch über. Da ist es besser, erstmal abzutauchen, um Gras über die Sache wachsen zu lassen. Die Zeit wird die alten Wunden schon irgendwie heilen! Das ist alles sehr menschlich. Aber nun muss Jakob die durch und durch menschliche Erfahrung machen, dass man seine Vergangenheit nicht so einfach abschütteln kann wie eine lästige Fliege im Gesicht! „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“: mit diesem denkwürdigen Satz beginnt Thomas Manns monumentaler Roman „Josef und seine Brüder“, in dem auch die Geschichte Jakobs erzählt wird. Jakob spürt bald, wie tief der Brunnen seiner Vergangenheit ist.

In dieser desaströsen Lage wird er ganz unerwartet mit Gott konfrontiert. Beim Einbruch der Dunkelheit, wenn die Wüste trostlos und bedrohlich wird, unter freiem Himmel, als der gehetzte Betrüger todmüde ist. Alles andere als ein angemessenes Ambiente für eine wegweisende Gottesbegegnung. Daran können wir sehen: Gott hat seine Orte und seine Zeiten, da er uns seine Nähe erfahren lässt. Jakob hat diese Begegnung nicht gesucht und gewollt. Sicherlich gibt es unter Ihnen auch manche, die da etwas erzählen könnten, wie sie in ihrem Leben ganz unerwartet überraschende Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Manchmal vielleicht in ähnlichen Situationen wie bei Jakob. In Zeiten, wo eine Last schwer gedrückt hatte. Und vielleicht haben Sie Gott dann ähnlich erfahren wie Jakob. Das ist für mich das Große an dieser Geschichte, dass Gott diesem Mann auf der Flucht nicht den Weg verbaut und ihn stellt: Was hast du deinem Bruder angetan – und deinem alten Vater? Denkst du, du kannst dich einfach so davonschleichen? „Adam, wo bist du?“, fragt er den, der sich vor ihm verstecken will. „Wo ist dein Bruder Abel?“, fragt er den Brudermörder. Hier nichts davon. Gott kann auch anders. Er begegnet uns, wann, wo und wie er will. Immer wieder besonders.

II.

Wir brauchen feste Zeiten und Orte für Gott. Die Alten hatten an jener Stelle, wo Jakob träumte, ein Beth–El errichtet, das ist das hebräische Wort für Gotteshaus. Dabei wussten sie natürlich, dass Gott souverän ist und nicht dingfest zu machen. Dass er nicht in einem Haus wohnt wie wir – er, den alle Himmel nicht fassen. Aber sie wussten eben auch, dass Gott sich in diesem Haus finden, erfahren lassen will. Dass hier Menschen in die Geschichte mit ihm hineingezogen werden sollen, die damals, mit Jakob, an diesem Ort begann: die große Geschichte von Verheißung und Segen.

Wir Protestanten sind im Ensemble der Konfessionen ja die Rationalen, religiös in der gemäßigten Zone zuhause. Wir wissen, dass Gott nicht an heilige Räume und besondere Zeiten gebunden ist. Wir wissen es leider zu gut. „Ich glaube an meinen Gott, aber dazu muss ich sonntags nicht in die Kirche rennen; ich spüre ihn mehr in der Sächsischen Schweiz“: ein Klassiker unter uns Evangelen. Das ist auch gar nicht ketzerisch, denn schon Martin Luther hat gesagt: „Wo Gottes Wort klingt, sei es im Wald oder im Wasser, da ist ein Bethel, ein Gotteshaus“. Stimmt! Nur habe ich Gottes Wort im Waldesrauschen eher selten erklingen hören: „In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch“… Und dass ich wieder aufatmen kann, weil mir Schuld vergeben wird, dass ich Verbindung zu anderen finde, die wie ich zu glauben versuchen in einer Welt, die einem manchmal den Glauben verschlagen kann: das habe ich im beim Wandern noch nicht wirklich erfahren. Dazu brauche ich jedenfalls den Gottesdienst, darum bleibt er unverzichtbar.

Klar, Gott begegnet uns nicht nur in den Kirchen. Aber im Gotteshaus will er uns begegnen, dort dürfen wir ihn ganz gewiss erwarten. Da, wo wir als Gemeinde beieinander sind, sein Wort hören, mit ihm im Gebet sprechen können und wo er sich uns in den Sakramenten schenkt. Natürlich: Er braucht keine festen Orte und festen Zeiten. Aber wir, gehetzt, getrieben wie wir sind, wir brauchen sie. Es ist ein Segen, dass wir diese festen Orte und festen Zeiten haben. Ohne sie hätten wir Gott längst verloren. „Als der Mensch den ersten Altar baute, wurde er Mensch. Wenn er den letzten abreißt, wird er wieder zum Tier“, hat ein Dichter einmal gesagt. Gott ist überall da, sonst wäre er nicht Gott. Aber er ist nicht überall für uns offenbar und erfahrbar. Im Gegenteil, Gott kann uns zusetzen und quälen, wenn er uns rätselhaft, unheimlich bleibt. In Katastrophen, Schicksalsschlägen verborgen, wenn wir nicht wissen: Ist er für uns oder gegen uns?

III.

Der Gott Jakobs ist der Gott, der den Abstand zu uns überbrückt. Jakob legt sich schlafen und träumt. Noch ein starkes Bild dafür, wie frei Gott ist: Wir können nicht über ihn verfügen, Zeit und Ort für sein Kommen nicht erzwingen. Meine Träume kann ich nicht machen. Sie kommen von selbst, steigen auf aus den Tiefen meines Unterbewussten, das ich nicht unter Kontrolle habe, in dem ich aber authentisch ich selbst bin. Jakobs Traum ist denk–würdig. Die Leiter, die ihm erscheint, ist nicht nach oben, sondern nach unten, zur Erde gerichtet. Vielleicht kann man es so sagen: der am Erdboden liegende Schläfer träumt sich nicht von der Erde weg, in den Himmel über den Wolken, wo die Freiheit wohl grenzenlos sein muss – sondern umgekehrt, der Himmel träumt sich zu ihm auf die Erde herab! Diese Leiter, sie verbindet den Ort, an dem Gott wohnt, mit dem Ort, wo er uns begegnet. Menschen erscheinen auf der Leiter nicht. Sie ist also nicht für den Menschen errichtet, sie ist den Engeln vorbehalten. Die Bewegung geht also von oben, vom Himmel aus! Von dort öffnet sich Gott, überwindet er die unendliche Distanz zu uns. Sie ist keine räumliche, wie etwa die zwischen Erde und Mars, sondern eine viel tiefere: die Distanz zwischen Gott und dir und mir. Jakobs Vision von der Himmelsleiter ist das Gegenbild zu der trüben Geschichte vom Turmbau in Babel. Dort wurden die Menschen maßlos und wollten den Himmel stürmen. Hier erreicht uns Gott durch sein Entgegenkommen. Ein entgegenkommender Gott!

Liebe Gemeinde,

eigentlich müsste man über diese Geschichte in der Adventszeit predigen. Denn dieser Traum von der Leiter, die von ganz oben nach tief unten führt, deutet schon eine Geschichte an, von der Jakob noch nichts wissen konnte, die wir aber kennen und von der wir leben. Jesus Christus hat Jakobs Traum aufgenommen und gesagt: „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und hinab fahren über den Menschensohn“ (Joh 1,51). Er ist Gottes Wirklichkeit gewordener Traum vom Menschen, von dir und von mir. Wer die Verbindung zu ihm nicht aufgibt, der sieht die Welt nicht hoffnungslos sich selbst überlassen, sondern weiß, dass Gott buchstäblich Fuß gefasst hat in ihr, und sie deshalb nicht mehr loslässt.

IV.

Und noch das letzte, was uns die Geschichte über den Gott Jakobs nahebringt: Es ist der Gott, der mit uns geht und uns ans Ziel bringt. Gott begegnet Jakob ja nicht bloß in einem wortlosen Traumbild, sondern er redet ihn an, persönlich. „Siehe, ich bin mit dir, und will dich behüten, wo du hinziehst, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe“. Jakob muss weiter. Im Beth–El, im Gotteshaus kann man sich nicht dauerhaft einrichten. Nach dem Sonntag kommt wieder der Alltag. Jakob hat noch einen langen Weg vor sich. Er kann noch nicht ahnen, was für ein Weg, oder besser gesagt: für ein Umweg das wird. Erst einmal die Flucht über die Grenze zu fernen Verwandten in Mesopotamien. 20 Jahre Knochenarbeit dort. Immer wieder um den vereinbarten Lohn gebracht. Dann bei Nacht und Nebel mit der Familie fort, Richtung Heimat. Immer dabei die Angst vor dem Wiedersehen mit dem betrogenen Bruder. Schließlich das vorübergehende Happy End: Die Versöhnung mit Esau gelingt. Aber dann, Jahre später das dunkle Verschwinden seines Lieblingssohnes Josef, die Lüge der Söhne, er sei umgekommen. Dann die Hungerkatastrophe im Land, der mühsame Treck ins reiche Ägypten, das Leben als alter Mann in der Fremde, die Wiederbegegnung mit dem totgeglaubten Sohn – und am Ende ein Grab in der alten Heimat. Was für ein Leben!

Und doch war da in Jakob eine letzte Gewissheit: er ging mit Gottes Segen. „Ich bin mit dir, und will dich behüten, wo du hinziehst“. Das ist das Beste, was uns gesagt werden kann. Wir haben einen Gott, der nicht an einer heiligen Stätte festsitzt, zu der wir erst hin pilgern müssen, sondern der mit uns unterwegs ist. Der feste Ort, an dem er uns begegnet, und der weite Weg, auf dem er uns begleitet, Bethel und Mesopotamien, die Frauenkirche und unsere Alltagswege: sie gehören zusammen. Vor allem aber: Unsere Wege stehen unter dem Versprechen, dass sie, wie gewunden sie auch verlaufen mögen, am Ende Nachhausewege sein werden. „Ich bin mit dir und will dich wieder herbringen in dies Land“, hat er zu Jakob gesagt. „Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32), hat Jesus uns versprochen.

Ja, liebe Schwestern und Brüder, Gottes Geschichte mit uns läuft auf das ewige Zuhause zu, in das alle unsere Wander– und Fluchtwege, die Durst– und die Glücksstrecken einmünden sollen, und in dem wir für immer mit Gott in seinem Schalom zusammen sein werden. „Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil“.

Amen.

Am Ende des Tages zählt nur eine Bindung       

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

diese Jesusgeschichte hat man in der Kirche lange nur mit der Kneifzange angefasst. Sie kann nämlich verstören. Weil sie prima vista völlig quer steht zu dem, was Generationen von Pastoren ihren Gemeinden eingeschärft haben: dass die Familie die Keimzelle allen Miteinanders ist, dass ihre Infragestellung den Anfang vom Ende eines gesunden, geordneten Gemeinwesens bedeutet. Weil gleich nach der Ehrfurcht vor Gott die Ehrfurcht vor Vater und Mutter der wichtigste Wert des christlichen Lebens sei. „Elterngebot ist Gottesgebot“, konnte Martin Luther forsch behaupten. Als unermüdlicher Ausleger der Bibel hat er diese Geschichte sicher gekannt. Sie hätte ihn eigentlich vor einer solchen Gleichsetzung bewahren müssen.

Was passiert hier? Es passiert zunächst einmal nicht weniger als eine tiefe Infragestellung der Familie und ihrer Verbindlichkeiten. Und das durch niemand geringeren als Jesus selbst. Da kann man den Atem anhalten. Mit einer beispiellosen Schroffheit lässt Jesus hier die eigene Mutter und die Geschwister buchstäblich „draußen vor der Tür“. Wie Jesus sich hier verhält, erinnert an ähnlich herbe Worte aus seinem Mund, an das Ausreißen der Augen, an Kamel und Nadelöhr, Friede und Schwert, Heulen und Zähneklappern. Hier blitzt etwas auf, dessen Tragweite die Hörer damals und wir heute erst nach und nach ermessen können. Lassen wir das Dunkle, Verstörende dieser Erzählung erst einmal beiseite. Schauen wir mal nur darauf, was Markus hier berichtet.

I.

Bis in den engsten Kreis der Familie hinein muss Jesus die für ihn sicher bittere Erfahrung machen, dass er als Fremder, Unverstandener seinen Weg geht. Nicht genug mit all dem, was seine religiösen Kritiker gegen ihn aufbieten. Die eigene Mutter, die Geschwister sagen Nein zu seinem Weg. „Meine Eltern verstehen mich null“: wer das sagt, kann sich total elend fühlen. Aber auch umgekehrt: „Wir kennen unser Kind nicht mehr“: Da schwingen Ängste und tiefe Enttäuschung mit, und Selbstvorwürfe, als Eltern versagt zu haben. Und natürlich versucht man alles, um das Kind irgendwie auf den „richtigen Weg“ zurückzuholen. So auch hier: Maria und ihre Kinder sind aus Nazareth gekommen, wollen den „verlorenen Sohn“ wieder nach Hause holen. Sie sind verzweifelt. Und sie denken, was Menschen manchmal denken, die mit einem Angehörigen ganz hilflos und überfordert sind. Sie halten ihn für unzurechnungsfähig, für nicht mehr normal.

Ich versuche, mich in Maria hineinzuversetzen. Was mag in ihr vorgehen, dass sie, die tiefgläubige Frau, solche Ängste um ihr Kind hat? Was bringt sie zu diesem erschreckenden Urteil, der Sohn habe den Verstand verloren? Jesus war ja einfach weggeblieben. Er war nicht mehr nach Nazareth, zu seiner Familie heimgekehrt, seit er sich hatte taufen lassen und danach 40 Tage allein in der Wüste zugebracht hatte. Aber sicher wird so manches zu Maria gedrungen sein. Dass er erstaunlichen Zulauf aus dem Volk habe, aber auch auf harten Widerstand stoße, vor allem bei den religiösen Autoritäten. Vielleicht hat der Rabbiner von Nazareth, dessen Wort bei Maria Gewicht hat, ihr mit besorgter Miene gesagt, dass ihr Sohn ein gefährlicher Sektierer ist, weil er den überlieferten Glauben angreife, die religiösen Ordnungen durcheinanderbringe. Sogar eines der höchsten Gebote, die Sabbatheiligung, habe er missachtet. In aller Öffentlichkeit! Überhaupt, er ziehe durch die Lande mit dem seltsamen Ruf, eine neue Zeit sei angebrochen, das Gottesreich stehe vor der Tür, und die Leute müssten ihr Leben ändern. Wie könne er sich so etwas rausnehmen? Verständlich, dass Maria zusammenzuckte, als ihr zu Ohren kam, dass die religiösen Führer Jesus sogar mit dem Teufel im Bund sahen. Ist das noch mein Kind?

II.

Eigentlich ist Maria da ganz eine von uns. Es ist ja so: wenn einer das Überkommene, vermeintlich Bewährte hinterfragt, dann ist das erstmal vom Teufel. Was Traditionen schützt, das ist sicher von Gott. Dass Gott selber ein Veränderer sein könnte - undenkbar. Und wenn die Verhältnisse noch so himmelschreiend waren, dann sind es oft auch die Christen gewesen, die von einer gottgewollten Ordnung gesprochen und sich verbissen gegen Veränderungen gewehrt haben. Auch die Geschichte des (deutschen) Protestantismus bietet da viel Anschauungsmaterial. Leider.

Jedenfalls, wenn wir annehmen, dass Maria all das noch im Herzen hat, was damals vor 30 Jahren die Hirten bei der Geburt, und dann der alte Simeon im Tempel über die göttliche Erwählung ihres Kindes gesagt haben: da kann ich schon verstehen, dass sie sich all das ganz anders vorgestellt hatte. Geprägt von den überschaubaren ländlichen Verhältnissen, hat sie sich die Sendung ihres Sohnes wohl in den Bahnen der hergebrachten Frömmigkeit erwartet. In ihren Tagträumen mag sie mit Mutterstolz den Sohn als renommierten Prediger gesehen haben, vielleicht sogar als Hohepriester im Jerusalemer Tempel. Ist ihm eigentlich klar, dass er wegen Erregen öffentlichen Aufruhrs vor Gericht gestellt werden kann? Das alles mag ihr jetzt durch Kopf und Herz gehen.

So macht sie sich auf den Weg, um das Kind auf Abwegen von denselben wegzuholen. Die Geschwister sollen mitkommen, helfen, den Bruder zur Rückkehr ins Nest der Familie zu überreden. Im heimischen Nazareth, wo er am Brunnen vor dem Tore seine Spiele gespielt hat wie alle anderen, dort wird er sich seine Flausen aus dem Kopf schlagen, wieder „auf normale Gedanken“ kommen. Und so stehen sie dann vor der Schwelle des Hauses, in dem Jesus den Jüngern und einer dichtgedrängten Menge die Botschaft vom nahen Gottesreich erklärt, in dem alles neu sein wird.

Liebe Gemeinde, ich denke, dieser Moment ist ähnlich dramatisch und bedeutsam im Leben Jesu wie die berühmte Szene, wo ihn der Versucher auf dem Berg in der Wüste die Weltherrschaft versprach, wenn er ihn nur anbete. Denn auch hier, in der kleinen Stube zu Kapernaum, muss sich Jesus entscheiden: bleibe ich meiner Sendung treu, oder kehre ich back to the roots, an den heimischen Herd zurück? Das macht diese Geschichte so vertrackt: Hier sind die Fronten hier nicht so klar wie damals in der Wüste. Hier stellt ihn kein Feind, sondern Menschen, die ihn lieben! Was Markus hier berichtet, lässt ahnen, dass Jesus auch dies als eine Art Versuchung erlebt. Sonst würde er sicher nicht so aggressiv antworten, im Haus bleiben und die Seinen ohne persönliches Wort abblitzen lassen. Ist er vielleicht gar nicht in der Lage zu einer persönlichen Konfrontation mit der Mutter - nicht, weil er sich innerlich so weit von ihr entfernt hätte, sondern umgekehrt, weil sie ihm zu nah ist? Und wäre es nicht wirklich besser, auf sie zu hören? Diesen unbelehrbaren Club der Schriftgelehrten sich selbst überlassen? Und die Leute, die jetzt noch zu ihm strömen - werden die auch noch kommen, wenn sie gemerkt haben, wie unbequem seine Predigt auch ist? Wäre es nicht wirklich klüger, wieder ins beschauliche Nazareth zu gehen und dort in Gebet und Kontemplation auf das Gottesreich zu warten?

Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?“ Ich denke, man muss diese messerscharfe Reaktion auf dem Hintergrund solcher Gedanken hören, die für Jesus eine echte Versuchung sind. Nicht darum geht es, dass er hier ein Statement gegen Familienwerte abgibt wie vor 60 Jahren die 68er mit ihren berühmten Kommunen. Ich höre seine Antwort mehr als inneren Kraftakt gegen die eigenen Stimmen, die ihm zuflüstern: Geh den anderen Weg, er ist einfacher, vernünftiger! Es ist gewissermaßen der „alte Adam“, gegen den Jesus hier ankämpft: Nein, die mich hier wegholen wollen von meinem Weg, von Gottes Willen über mich - die können nicht zu mir gehören! Und sei es die Mutter, die mich großgezogen hat, die Brüder, mit denen ich die Kindheit geteilt habe.

III.

Aber Jesus belässt es nicht bei diesem harten Nein. Er gibt der Frage selbst noch einen positiven Spin. „Wer sind meine Mutter und meine Brüder? Siehe, es sind alle, die hier bei mir sitzen!“ Die sind jetzt meine Familie - denn sie gehen jetzt mit mir, haben Ernst gemacht mit meiner Botschaft, sind von ihren Fischerbooten, ihren Familien weggegangen und mir nachgefolgt. Die gehören jetzt zu mir und ich zu ihnen! So einfach ist das letztlich mit Gottes Anspruch auf unser Leben. Und so schmerzhaft kann das dann werden. Ich sage es mal so: Zur Familie Jesu gehören, was ja aus der Taufe folgt, das verbindet uns miteinander. Tiefer als alles, was uns sonst trennt. Aber auch das selbst kann trennen! Auch Wunden reißen. Auf jeden Fall will uns diese Geschichte sagen: Glauben, in der Nachfolge Jesu leben, das ist kein Kinderspiel. Unser Gott ist kein Wellnessgott; auch nicht einfach ein alles verstehender Therapeut. Gott und was er uns mit seinem Wort sagt, das kann auch bedrängend sein. Die Bibel ist voll von Worten und Geschichten, die uns sagen, dass Jesus nachfolgen keine halbe Sache ist. Zwar schenkt Gott uns seine Gnade und Liebe umsonst - sonst wären sie nicht Gnade und Liebe. Aber eben nicht zu einem billigen Preis! Sicher hat jede unter uns das schon irgendwie erfahren müssen. Dass das Heil, das er der Welt gebracht hat, gleichbedeutend ist mit dem Anspruch auf Glück, das hat Jesus nie gesagt. Mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen: „Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen“.

Wie gesagt: ein grundsätzliches Nein gegen die Familie, gegen die Bindungen, in denen wir leben, sagt Jesus hier nicht. Aber solche Bindungen sind im letzten, und das heißt: vor Gott nicht ausschlaggebend. Sobald wir sie absolut, also mit Gott gleich setzen - nach der Melodie: Gott und Volk, Gott und Vaterland, Gott und Familie -, anstatt zuerst nach Gottes Willen zu fragen, der das Heil aller Menschen will, auch derer, die wir nicht mögen, sobald das passiert (und es passiert uns oft), sind diese Bindungen nicht mehr von Gott gewollt. „Wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert“: dieses harte Wording galt großen Teilen der evangelischen Kirche während der unseligen „Tausend Jahre“, und es gilt heute gewiss der Kirche in Russland, die Gott und das Vaterland de facto in eins setzt.

Das Evangelium, liebe Schwestern und Brüder, überwindet alle persönlichen und nationalen Bindungen - weil es alles, was menschlich ist, zu einer großen Familie zusammenführt. Das erscheint in der aktuellen Zeit sehr unzeitgemäß. Aber gerade deshalb ist es eine Botschaft, die für eine durch tausend Bindungen und Grenzen gefesselte Welt sehr an der Zeit ist.

Amen.

Gott geht dem Elend auf den Grund      

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Ein Ziel erreicht man nur, wenn man sich auf den Weg macht. Eine Binsenwahrheit. Sie gilt gerade auch dann, wenn das Ziel, wie hier, der Gottesdienst ist. Die sonntäglichen Schritte der beiden Apostel Petrus und Johannes führen zum Tempel, also zum Gottesdienst - und zugleich mitten in den Alltag. Wir müssen über die Straße, um in die Kirche zu kommen. Manchen ist das manchmal peinlich. Denn „die Straße“ hat es ja an sich, dass man auf ihr gesehen wird. „Ich renn nicht jeden Sonntag in die Kirche“ - dieses forsche Wording höre ich oft, wenn jemand sich rechtfertigt, dass er natürlich an Gott glaubt, aber am Sonntag gerne ausschläft oder früh ins Grüne geht. Wer sich beim Kirchgang auf der Straße sehen lässt, ist für viele so ein „Kirchenrenner“ - ein bisschen fanatisch, zumindest etwas bigott.

I.

Und auf dem Weg durch die Welt ins Gotteshaus kann einem auch so manches geschehen. Die Welt guckt ja nicht nur zu, wenn wir zur Kirche gehen, sondern die Welt lässt sich ihrerseits auch sehen. Petrus und Johannes begegnen auf ihrem Weg in den Gottesdienst der bedrückenden Realität des Alltags. Täglich wird ein von Geburt an gelähmter Mensch vor das Tor des Tempels getragen, um dort Almosen zu erbetteln. Dieser arme Mensch repräsentiert gleichsam die Straße. In ihm kommt uns das Elend der Welt vor die Augen, und zwar unangenehmer Weise genau vor der Kirchentür. Das hat sich ja bis heute nicht geändert: Wir „Gesunden“ sind behinderten Menschen gegenüber oft befangen. Vielleicht wissen wir nicht, wie mit ihnen reden, vielleicht denken wir, man könne sie nicht „normal“ ansprechen wie alle anderen. Behinderte Menschen spüren diese Verlegenheit ihrer Umwelt, und darum sind sie da auch so sensibel. Jedenfalls steht in dem Moment, als die beiden Apostel auf den Gelähmten treffen, nicht weniger als die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel. Werden sie anhalten - oder vorübergehen wie der Priester und der Levit am Überfallenen auf dem Weg von Jerusalem hinunter nach Jericho? Ein kurzes eindrückliches Gedicht mit dem Titel „Klage eines chronisch Kranken“ lautet:

Im Vorübergehen fragt mein Nachbar,
wie es gehe.
Er fragt nicht, weil er mitgehen will.
Er fragt, weil er weitergehen will.
Ich antworte, es geht.
Aber es geht nicht.
0So nicht.

Wer jetzt die Augen schließt, um am Elend der Welt vorbei unangefochten in die Kirche zum Gottesdienst zu kommen: der dient Gott nicht. Der erbaut nur sich selbst, und überlässt die heillose Welt draußen sich selbst. Als der Lahme „Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!“ Die beiden Apostel nehmen persönliche Verbindung mit dem Geschlagenen auf. Der Mann ist ihnen wichtig. So stehen sie sich vor der Kirchentür gegenüber, die die Zeugen der frohen Botschaft vom Auferstandenen, und die Traurigkeit der Welt: Auge in Auge.

Aber, auch eine Binsenwahrheit: mit dem aufmerksamen Blick allein ist es nicht getan. Der Gelähmte braucht Hilfe, um zu überleben. Darum bettelt er, Tag für Tag. „Petrus aber sprach: Gold und Silber habe ich nicht“. Da sind wir besser dran. Wenn wir auch nicht zur sog. Oberschicht zählen, Bürgergeldempfänger sind wir Kirchgänger ganz überwiegend nicht. Zum Helfen reicht es. Und wer da hat, soll auch geben und helfen. Aber darum geht es jetzt nicht. Denn mit Geld ist das Elend der Welt nicht zu beseitigen. Der Blick ins Gesicht dieser Welt wäre sehr kurzsichtig, wenn wir dem Elend allein mit mehr materieller Hilfe zu Leib rücken wollten, um dann nach solchen guten Werken den Weg der Kirche ungestört fortzusetzen. Der Blick ins Elend der Welt muss dem Elend auf den Grund schauen, um es von Grund auf anzugreifen. Aber wie?

II.

Auch wenn der Marxismus am Realitätstest desaströs gescheitert ist - das muss man ehrlicherweise sagen, dass er, anders als der Kapitalismus, das Elend der Welt von Grund auf beseitigen wollte. Es fragt sich nur, ob der marxistische Blick auf das Elend gründlich genug gewesen ist. Ist es wirklich der Grund allen Elends, dass es verschiedene Klassen gibt, ungerecht verteiltes Privateigentum, unverdiente Privilegien, Korruption etc.? Natürlich ist das alles ein Übel, und so lange es diese Erde gibt, dürfen die Bemühungen um Verringerung der immer breiteren Schere zwischen Arm und Reich nicht aufhören. Aber wird das Elend der Welt durch eine Änderung der Produktionsverhältnisse, wie der Sozialismus meinte, beseitigt? Das letzte Jahrhundert ist uns den Beweis schuldig geblieben. Wir müssen den Grund für das Elend der Welt also anderswo suchen. Dort nämlich, wo es wirklich überwunden wird. Und da kommen die beiden Apostel ins Spiel.

Die geben dem Lahmen nämlich eine ganz andere Art von Lebenshilfe, als der erwartet hatte. „Was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth, stehe auf und wandle!“ Das ist es, was wir Christen der Welt vor allem anderen schuldig sind: Ein Wort im Namen Jesu Christi. Das ist allerdings ganz schön gewagt. Auf Worte gibt man heutzutage nicht viel. Taten zählen. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Und schon gar nicht viel gibt man auf Worte eines weithin Unbekannten, wie es Jesus Christus inzwischen in unserem Teil der Welt ist. Aber das ist egal - es kommt alles auf Worte im Namen Jesu an. Sie sind Lebenshilfe. Denn in diesem Jesus Christus ist Gott dem Elend der Welt ein für alle Mal entgegengetreten. Gott ist es nämlich, der wirkt. Nicht wir, nicht die Apostel. Die sind nichts als Werkzeuge. Auch wir sind nichts als Gottes Werkzeuge. Ja, Gott arbeitet mit Werkzeugen, wie ein Handwerker. Wenn wir das richtig verstehen wollen, dürfen wir aber zwei verbreiteten Irrtümern nicht erliegen, zu denen diese Heilungsgeschichte verleiten kann.

Einmal: das normale Werkzeug Gottes zur Heilung von Kranken ist der Arzt. Nicht der Pfarrer oder sonst irgendein besonderer spirituell begabter Mensch. Blinddarmentzündungen werden nicht mit Gottes Wort, sondern mit ärztlicher Hilfe, also mit dem Skalpell geheilt. Der Arzt gehört in Gottes Werkzeugkasten, ob er davon etwas wissen will oder nicht. Das gehört zu der natürlichen Hilfe, die Menschen einander schulden. Es wäre ein Irrtum, wenn man - in manchen christlichen Milieus gibt es das - diese natürliche Hilfe durch fromme Worte ersetzen wollte. Gerade weil wir als Menschen, als Christen wissen, dass wir für unser (ewiges) Heil nicht das Geringste selber tun können, sind wir ganz frei dazu, für das zeitliche Wohl dieser Welt umso mehr zu tun. Jedenfalls das, was wir mit der uns gegebenen Kraft tun können.

Es wäre aber genauso ein Irrtum, wenn wir meinten: dem Elend der Welt auf den Grund gehen und dieses Elend von Grund auf beseitigen, das könnten nicht wir, sondern nur die Apostel oder sonst irgendwelche außergewöhnlich geistbegabten Christen. Wir könnten allenfalls diakonisch, mit Almosen, nur mit ärztlicher oder sonstiger Hilfe etwas tun. Sicher: weder wir noch die Apostel können das Weltelend von Grund auf beseitigen. Denn das hieße: Wunder wirken. Und das können wir nicht. Das konnten übrigens auch die Apostel (im Unterschied zu allerhand Wundermännern ihrer Zeit) nicht. Wir müssen ihre Auskunft ernst nehmen: sie haben weder durch eigene Kraft noch durch Frömmigkeit bewirkt, dass der Gelähmte umhergeht. Sie haben nichts anderes getan, als den Kranken mit dem Namen Jesu Christi zu konfrontieren. Und genau das können und sollen wir auch. Eben dazu, das Elend der Welt mit Jesus Christus zu konfrontieren, dazu sind wir beauftragt. Und zwar wir alle durch unsere Taufe.

III.

Aber eben, wenn es um das Heil geht, im umfassenden, ganzheitlichen Sinn, dann ist mit unserer Kraft, wie Martin Luther dichtete, nichts getan. Wir können mit unserer Kraft ja nicht einmal dem Elend auf den Grund schauen. Denn auf dem Grund allen Elends der Welt wartet nichts als der - Tod, als eherne Konsequenz unserer Sünde, wie Paulus es deutet. Und dem Tod können wir nicht ins Auge sehen. Das ertragen wir nicht. Nur einer, liebe Gemeinde, Jesus Christus, der hat dem Tod ins Auge gesehen. Und er hat dort, auf dem tiefsten Grund allen Elends, Gottes Hilfe erfahren. Aber diese Hilfe macht bei Jesus nicht halt. Sondern dazu hat Gott ihn ja auferweckt, dass Hilfe und Aufatmen kommen sollen in eine gequälte Welt.

Doch vorher müssen, wie Petrus dann in seiner Predigt betont, zuerst die Sünden der Welt beseitigt werden. Dieser Sündenvertilgung gelten alle Worte, die im Namen Jesu gesprochen werden. Worte im Namen Jesu sind immer offene und offensive Worte:sie greifen die Sünde an. Denn Jesus Christus hat, als er dem Tod ins Auge sah, die Folge aller Sünde erlitten. „Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21), drückt Paulus das hart, aber genau aus. Wer hinfort diesem Jesus Christus in die Augen sieht, dem werden die Sünden weggenommen. Das geschieht in jedem Gottesdienst, wenn wir ihm in die Augen sehen, es ihm ins Ohr rufen: Kyrie eleison - erbarme dich unseres Elends! Wir können ihm nicht auf den Grund schauen, aber Du kannst es, weil du selbst im totalen Elend warst.

Liebe Gemeinde,

wenn wir in der Kirche in die offenen Augen unseres Gottes geblickt haben, dann werden wir auf dem Heimweg auch mit offenen Augen durch die Welt gehen. Und dann findet jeder von uns Gelegenheiten, der Welt im Namen Jesu Christi mit Wort und Tat zu helfen. Auch der Weg vom Gottesdienst zurück führt ja über die Straße. Machen wir also unsere Augen auf. Es könnte ja sein, dass dann sogar einer von denen, die jetzt neben oder vor uns sitzen, zu den Gelähmten, Einsamen, Belasteten gehört. Und wenn wir dann mit Wort und Tat zu helfen versuchen, vergessen wir nicht, dass die Worte unseres Mundes und die Taten unserer Hände nicht mehr, aber auch nicht weniger sind als Werkzeuge Gottes. Gott gebe, dass sie brauchbar sind. Dann hat auch dieses Handwerk garantiert goldenen Boden.


Amen.

Die Verletzlichkeit Gottes

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

wahrscheinlich haben etliche von Ihnen vor 40 Jahren Umberto Ecos Weltbestseller „Der Name der Rose“ gelesen. In diesem grandiosen Roman über das Spätmittelalter geht am Ende ein reiches Benediktinerkloster komplett in Flammen unter. Den Brand gelegt hat einer ältesten Mönche, der blinde Jorge von Burgos, der Bibliothekar des Klosters. Dieser Mann von buchstäblich tödlichem Glaubensernst weiß als einziger der Mönche, dass die Bibliothek das letzte erhaltene Exemplar einer Schrift von Aristoteles über den Humor aufbewahrt. Er hat panische Angst, dass diese Schrift in die Hände von Mitbrüdern geraten könnte, die, findet er, gefährlich liberalen Gedanken anhängen. Sie debattieren etwa, ob Jesus wohl auch gelacht hat. Die Bibel schreibt darüber ja nichts. Damit solch zersetzendes Gedankengut sich nicht ausbreitet, brennt Jorge von Burgos schließlich das Kloster ab. Ein lachender Christus: für Jorge von Burgos, dessen Glaube auf Ehrfurcht und Gehorsam einem absolut strengen Gott gegenüber beruht, ist das eine unerträgliche Vorstellung.

I.

Viele Jahrhunderte früher ging es schon einmal sehr ähnlich zu. Aber nicht literarisch, sondern ganz real. „Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie.“ In diesem Fall also geht es ums Weinen. Dass Jesus weinte, war manchen Theologen der frühen Christenheit eine unerträgliche Vorstellung: geeignet, den Glauben an den Gottessohn zu unterhöhlen. Manche eifernde Vertreter der reinen Lehre scheuten deshalb vor einer verwegenen Manipulation nicht zurück: sie beschlossen, diesen Satz aus dem Neuen Testament zu streichen. Wobei, vor einer solchen Wahrheit Angst zu haben, das ist eigentlich gar nicht so abwegig. Tränen im Gesicht dessen, der König der Könige, Retter Israels, ja sogar Heiland der Welt sein sollte: das kann schon verstörend wirken. Zumal die Tränen, die Jesus über Jerusalem weint, ja keine Tränen des Zorns, sondern der Hilflosigkeit, vielleicht auch des Mitleids sind. Also ein Zeichen der Schwäche. Die stehen einem Retter der Welt schlecht an. Männer weinen nicht, und Herren schon zweimal nicht. Ich erinnere noch, wie vor vielen Jahren Otto Schily, der ja den Nimbus eines taffen Law-and-order-Mannes hatte, bei einer Bundestagsdebatte über die NS-Zeit während seiner Rede in Tränen ausbrach, weil ihn die Erinnerungen so durchschüttelten. Ein berührender Moment im Parlament. Aber es gab danach auch Stimmen, ob so jemand robust genug für politische Spitzenämter sein könne. Wen wundert da, wenn orthodoxe Christen Jesu den anstößigen Satz vom heulenden Heiland aus der Bibel tilgen wollten? Im Grunde war es die sehr menschliche Angst vor der Schwäche Gottes, die zu dieser Manipulation führte.

Das Merkwürdige an diesem Satz ist, dass er direkt neben Jubel und Lobgesang steht. Gerade ist Jesus nach Jerusalem eingezogen, unter massenhaftem euphorischen „Hosianna“. Seine Jünger brechen in Jubel aus: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Aber der so Gefeierte schaut auf die Stadt des Friedens, den Zion Gottes - und weint. Wer von Ihnen schon in Jerusalem war und diesen Weg vom Ölberg hinunter zum Garten Gethsemane gegangen ist, der kam an der Kapelle „Dominus flevit“ vorbei. Zu Deutsch: „Der Herr weinte“. Der Gegensatz, den ein und derselbe Anblick hervorruft, könnte nicht größer sein: alle jubeln - einer weint. Aber Jesu Tränen sind kein Protest gegen den Jubel der anderen. Als einige Pharisäer daran Anstoß nehmen, weil sie es gotteslästerlich finden, Gott durch einen Menschen zu loben, da verteidigt Jesus seine Jünger. Er tut das mit einem seltsamen Satz: „Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien“.

Das klingt irgendwie unheilvoll. Und bei Jerusalem, der hochgebauten Stadt, erst recht. Wenn es dazu kommt, dass Steine reden müssen, dann scheint die Kommunikation von Mensch zu Mensch gründlich gescheitert. Deshalb klingt das so bedrohlich: „Wenn diese…“, also wenn die Menschen schweigen, dann werden die Steine sprechen. Und indem sie sprechen, schreien sie sogar. Saxa loquuntur - Steine können sprechen. Oft sprechen sie eine brutale, schreckliche Sprache. Man kann das heute, 2025, nur mit Beklommenheit hören. Dieses Jesuswort, und sein dann folgender Ausruf unter Tränen „Ach, wenn du doch erkenntest, was zum Frieden dient“ überspringt mühelos den Graben von 2.000 Jahren. Es erscheint direkt in die Jetztzeit gesprochen. Die Worte zwischen den Konfliktparteien in Nahost sind längst verstummt. Stattdessen sprechen, nein schreien die Steine. Die Steine der Klagemauer, Überbleibsel des alten Tempels auf der einen, die Steine der Al Aksa-Moschee oberhalb auf der anderen Seite. Und erst recht die Steine der apokalyptischen Trümmerwüste in Gaza. Sie trennen, klagen an. Menetekel der Unfähigkeit zweier großer Religionen zu erkennen, was zum Frieden dient.

II.

Aber das konnte der Evangelist Lukas, der als einziger vom weinenden Jesus erzählt, noch nicht wissen. Er wusste aber etwas anderes, was beim Jesu Einzug in Jerusalem erst noch bevorstand. Lukas wusste von der Zerstörung des Tempels durch die Römer, zu der es 40 Jahre später im Jahr 70 kam. Das war nicht die erste Tempelzerstörung, es war die zweite. Beide Male war es die jeweilige Weltmacht: beim ersten Mal die Babylonier, beim zweiten Mal die Römer. 650 Jahre lagen dazwischen. Nach der ersten Zerstörung wurde der Tempel wiederaufgebaut, damit er wieder Wohnung Gottes sein konnte wie zuvor. Bei der zweiten Zerstörung aber blieb es. Der Tempel wurde nicht wiederaufgebaut, die Juden wurden nach dem verlorenen Krieg gegen die Römer in die Diaspora, in die ganze Welt verstreut. Für fast 2.000 Jahre.

Als Jesus Jerusalem vor sich sieht, da sieht er geschehen, was die römischen Truppen 40 Jahre später besorgen werden: Feinde werden die hochgebaute Stadt schleifen und keinen Stein auf dem anderen lassen. So werden die Steine schreien. Sie bezeugen damit, dass in der Stadt Gottes Verständigung gescheitert ist: eine Verständigung, die, wenn irgendwo, doch hier in der Gottesstadt hätte glücken müssen. Das haben ja die alten Verheißungen Jerusalem in Aussicht gestellt, dass in ihr der endgültige, ewige Schalom ausbrechen sollte. Schon der Name trägt das in sich: Jerusalem, wörtlich übersetzt: Den Frieden schauen. Der Tempel, die ganze Davidstadt war eine große steinerne Hoffnung darauf. Ihr Anblick gab den Juden Stärke, so dass man Freudenlieder sang, wenn man nach langer Wanderung von ferne ihre Mauern erblickte. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt…“ (Ps 121,1). Dieser Friede mit Gott unterscheidet sich von allen menschlichen Friedensschlüssen dadurch, dass man ihn nicht machen, herbeiverhandeln kann. Man muss auf ihn warten, bis er kommt. Und das heißt: bis der kommt, der diesen Frieden mit Gott in Person verkörperte: der Messias.  

Für uns, soweit wir Christen sind, hat sich die Messias-Verheißung mit dem Kommen Jesu in die Welt erfüllt. Doch die, zu denen er gesandt war, erkannten ihn nicht. Der Jubel, der eben noch durch die Stadt gebraust war, als er dort ankam, ist auf Sand gebaut. Jesus weiß das. So tritt uns in ihm der allmächtige Gott in der Ohnmacht eines Menschen gegenüber, der die Heilige Stadt in ihr Verderben rennen sieht, und ihr nicht anders beistehen kann als durch seine Tränen. Und deshalb wird er in Jerusalem scheitern. Ein wie ein Kind weinender Messias konnte der Klerus am Tempel nur als Gotteslästerung ansehen. Die Frommen konnten sich den Messias mächtig, als den starken Mann fürs Gottesvolk vorstellen. Der Friede mit Gott dagegen, der ihnen in Jesus entgegenkommt, kommt ohne Krieg und ohne Sieg, er kommt im Zeichen der Schwäche. Dieser Frieden kommt mit den Mitteln des Friedens. Als ein Angebot ohne Gewalt.

Und darum, liebe Gemeinde, macht ein weinender Jesus keine Angst. Vielmehr befreit er. Darum braucht man ihn nicht aus dem Evangelium streichen. Im Gegenteil, er gehört da mitten rein. An Jesus halten wir uns, wenn wir ihm zugestehen, dass er in all seiner Göttlichkeit doch so durch und durch menschlich ist, dass er um Jerusalem trauert und um des Friedens willen weint. Denn diese Tränen offenbaren uns das Geheimnis seiner Sendung und seiner Person. In ihnen zeigt sich Gottes Herz. Es ist ein teilnehmendes Herz: ein Herz voll Sympathie. Die Tränen in seinem Angesicht zeigen uns, dass Jesus mit unserer Welt mitleidet, dass er den Frieden dieser Welt will, ganz besonders den Frieden für Jerusalem. Alle jubeln, einer weint.

III.

Wer Jerusalem besucht, wird wohl von nichts mehr beeindruckt und zugleich befremdet sein als von der Klagemauer. Der Tempelberg selbst ist inzwischen ein heiliger Ort der Muslime. Unter ihm die Klagemauer, das Einzige, was vom zweimal zerstörten Tempel übriggeblieben ist. Die gläubigen Juden, die dort ihr Gebet verrichten, tun das mit einer Ausdauer, die auch fromme Christen erstaunt und die bei Menschen, denen Beten fremd ist, eher Unverständnis hervorruft. Trotzdem stehen die Jerusalemreisenden da und schauen den Menschen an der Mauer zu, der rhythmischen Bewegung ihrer Körper, dem leisen Murmeln ihrer Worte, dem Gleichmaß der Klage über die Jahrtausende. In keiner anderen Religion gibt es ein vergleichbares Beispiel für die Bedeutung, ja Hochschätzung der Klage wie bei den Juden in Jerusalem. Und wenn ein Selbstmordattentäter sich als orthodoxer Jude verkleidet und einen Omnibus in die Luft sprengt - das Gebet an der Klagemauer geht weiter, es überdauert auch solche Schrecken. Und wenn Israels Politik unter dem Zwang des Existenzkampfes selbst unmenschlich wird - das Klagegebet geht weiter. Und gewiss ist bei einen oder anderen auch das Gebet um eine andere Politik dabei: „Wenn doch auch du erkenntest, was dem Frieden dient!“

Als Deutsche, und erst recht als Christen in Deutschland haben wir keinen Kredit an Glaubwürdigkeit, Israel hohe moralische Ratschläge zu erteilen. Noch immer werden wir gefragt, wie verbindlich wir das Existenzrecht Israels anerkennen und wie ernst uns die Absage an den Antisemitismus ist, wo überall hierzulande Synagogen durch die Polizei geschützt werden müssen. Wieder und wieder sind wir durch die Geschehnisse in Nahost aufgewühlt. Aber statt forscher Rechthaberei wäre es gut, wenn wir uns einfach an den weinenden Jesus halten. Wer weint, hat nicht Recht, er hat Kummer. Wer den Kummer aushält, kann dann vielleicht auch die Verheißung hören, die den Weinenden gilt. Es ist die merkwürdigste, die verheißungsvollste, und die fröhlichste Seligpreisung der Bergpredigt. „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.“

Mein Jesus hat geweint um seine Stadt, ach, auch gewiss um mich hat er geweinet.“ Annette von Droste-Hülshoff hat so gedichtet. Ja, sein Weinen gilt auch uns: seiner Kirche, die immer wieder vor seinem Wort wegläuft und an sich selbst und ihrem Besitzstand genug hat, und jedem einzelnen uns. Jesus bleibt ein Sohn seines jüdischen Volkes und ist doch der Messias der Völker. Selber zu buchstabieren, was dem Frieden dient, ist wichtiger, als anderen vorzuschreiben, was sie für den Frieden zu tun haben. Bei uns fängt der Frieden an. Denn uns öffnet Gott im weinenden Jesus sein Herz. Wer weint, verrät, dass er verletzlich ist. Gott ist verletzlich, so wie es nur die Liebe sein kann. Wenn der allmächtige Gott schwach wird, dann, weil er eine Schwäche für uns hat.

 

Amen.

Die Verletzlichkeit Gottes

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

wahrscheinlich haben etliche von Ihnen vor 40 Jahren Umberto Ecos Weltbestseller „Der Name der Rose“ gelesen. In diesem grandiosen Roman über das Spätmittelalter geht am Ende ein reiches Benediktinerkloster komplett in Flammen unter. Den Brand gelegt hat einer ältesten Mönche, der blinde Jorge von Burgos, der Bibliothekar des Klosters. Dieser Mann von buchstäblich tödlichem Glaubensernst weiß als einziger der Mönche, dass die Bibliothek das letzte erhaltene Exemplar einer Schrift von Aristoteles über den Humor aufbewahrt. Er hat panische Angst, dass diese Schrift in die Hände von Mitbrüdern geraten könnte, die, findet er, gefährlich liberalen Gedanken anhängen. Sie debattieren etwa, ob Jesus wohl auch gelacht hat. Die Bibel schreibt darüber ja nichts. Damit solch zersetzendes Gedankengut sich nicht ausbreitet, brennt Jorge von Burgos schließlich das Kloster ab. Ein lachender Christus: für Jorge von Burgos, dessen Glaube auf Ehrfurcht und Gehorsam einem absolut strengen Gott gegenüber beruht, ist das eine unerträgliche Vorstellung.

I.

Viele Jahrhunderte früher ging es schon einmal sehr ähnlich zu. Aber nicht literarisch, sondern ganz real. „Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie.“ In diesem Fall also geht es ums Weinen. Dass Jesus weinte, war manchen Theologen der frühen Christenheit eine unerträgliche Vorstellung: geeignet, den Glauben an den Gottessohn zu unterhöhlen. Manche eifernde Vertreter der reinen Lehre scheuten deshalb vor einer verwegenen Manipulation nicht zurück: sie beschlossen, diesen Satz aus dem Neuen Testament zu streichen. Wobei, vor einer solchen Wahrheit Angst zu haben, das ist eigentlich gar nicht so abwegig. Tränen im Gesicht dessen, der König der Könige, Retter Israels, ja sogar Heiland der Welt sein sollte: das kann schon verstörend wirken. Zumal die Tränen, die Jesus über Jerusalem weint, ja keine Tränen des Zorns, sondern der Hilflosigkeit, vielleicht auch des Mitleids sind. Also ein Zeichen der Schwäche. Die stehen einem Retter der Welt schlecht an. Männer weinen nicht, und Herren schon zweimal nicht. Ich erinnere noch, wie vor vielen Jahren Otto Schily, der ja den Nimbus eines taffen Law-and-order-Mannes hatte, bei einer Bundestagsdebatte über die NS-Zeit während seiner Rede in Tränen ausbrach, weil ihn die Erinnerungen so durchschüttelten. Ein berührender Moment im Parlament. Aber es gab danach auch Stimmen, ob so jemand robust genug für politische Spitzenämter sein könne. Wen wundert da, wenn orthodoxe Christen Jesu den anstößigen Satz vom heulenden Heiland aus der Bibel tilgen wollten? Im Grunde war es die sehr menschliche Angst vor der Schwäche Gottes, die zu dieser Manipulation führte.

Das Merkwürdige an diesem Satz ist, dass er direkt neben Jubel und Lobgesang steht. Gerade ist Jesus nach Jerusalem eingezogen, unter massenhaftem euphorischen „Hosianna“. Seine Jünger brechen in Jubel aus: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Aber der so Gefeierte schaut auf die Stadt des Friedens, den Zion Gottes - und weint. Wer von Ihnen schon in Jerusalem war und diesen Weg vom Ölberg hinunter zum Garten Gethsemane gegangen ist, der kam an der Kapelle „Dominus flevit“ vorbei. Zu Deutsch: „Der Herr weinte“. Der Gegensatz, den ein und derselbe Anblick hervorruft, könnte nicht größer sein: alle jubeln - einer weint. Aber Jesu Tränen sind kein Protest gegen den Jubel der anderen. Als einige Pharisäer daran Anstoß nehmen, weil sie es gotteslästerlich finden, Gott durch einen Menschen zu loben, da verteidigt Jesus seine Jünger. Er tut das mit einem seltsamen Satz: „Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien“.

Das klingt irgendwie unheilvoll. Und bei Jerusalem, der hochgebauten Stadt, erst recht. Wenn es dazu kommt, dass Steine reden müssen, dann scheint die Kommunikation von Mensch zu Mensch gründlich gescheitert. Deshalb klingt das so bedrohlich: „Wenn diese…“, also wenn die Menschen schweigen, dann werden die Steine sprechen. Und indem sie sprechen, schreien sie sogar. Saxa loquuntur - Steine können sprechen. Oft sprechen sie eine brutale, schreckliche Sprache. Man kann das heute, 2025, nur mit Beklommenheit hören. Dieses Jesuswort, und sein dann folgender Ausruf unter Tränen „Ach, wenn du doch erkenntest, was zum Frieden dient“ überspringt mühelos den Graben von 2.000 Jahren. Es erscheint direkt in die Jetztzeit gesprochen. Die Worte zwischen den Konfliktparteien in Nahost sind längst verstummt. Stattdessen sprechen, nein schreien die Steine. Die Steine der Klagemauer, Überbleibsel des alten Tempels auf der einen, die Steine der Al Aksa-Moschee oberhalb auf der anderen Seite. Und erst recht die Steine der apokalyptischen Trümmerwüste in Gaza. Sie trennen, klagen an. Menetekel der Unfähigkeit zweier großer Religionen zu erkennen, was zum Frieden dient.

II.

Aber das konnte der Evangelist Lukas, der als einziger vom weinenden Jesus erzählt, noch nicht wissen. Er wusste aber etwas anderes, was beim Jesu Einzug in Jerusalem erst noch bevorstand. Lukas wusste von der Zerstörung des Tempels durch die Römer, zu der es 40 Jahre später im Jahr 70 kam. Das war nicht die erste Tempelzerstörung, es war die zweite. Beide Male war es die jeweilige Weltmacht: beim ersten Mal die Babylonier, beim zweiten Mal die Römer. 650 Jahre lagen dazwischen. Nach der ersten Zerstörung wurde der Tempel wiederaufgebaut, damit er wieder Wohnung Gottes sein konnte wie zuvor. Bei der zweiten Zerstörung aber blieb es. Der Tempel wurde nicht wiederaufgebaut, die Juden wurden nach dem verlorenen Krieg gegen die Römer in die Diaspora, in die ganze Welt verstreut. Für fast 2.000 Jahre.

Als Jesus Jerusalem vor sich sieht, da sieht er geschehen, was die römischen Truppen 40 Jahre später besorgen werden: Feinde werden die hochgebaute Stadt schleifen und keinen Stein auf dem anderen lassen. So werden die Steine schreien. Sie bezeugen damit, dass in der Stadt Gottes Verständigung gescheitert ist: eine Verständigung, die, wenn irgendwo, doch hier in der Gottesstadt hätte glücken müssen. Das haben ja die alten Verheißungen Jerusalem in Aussicht gestellt, dass in ihr der endgültige, ewige Schalom ausbrechen sollte. Schon der Name trägt das in sich: Jerusalem, wörtlich übersetzt: Den Frieden schauen. Der Tempel, die ganze Davidstadt war eine große steinerne Hoffnung darauf. Ihr Anblick gab den Juden Stärke, so dass man Freudenlieder sang, wenn man nach langer Wanderung von ferne ihre Mauern erblickte. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt…“ (Ps 121,1). Dieser Friede mit Gott unterscheidet sich von allen menschlichen Friedensschlüssen dadurch, dass man ihn nicht machen, herbeiverhandeln kann. Man muss auf ihn warten, bis er kommt. Und das heißt: bis der kommt, der diesen Frieden mit Gott in Person verkörperte: der Messias.  

Für uns, soweit wir Christen sind, hat sich die Messias-Verheißung mit dem Kommen Jesu in die Welt erfüllt. Doch die, zu denen er gesandt war, erkannten ihn nicht. Der Jubel, der eben noch durch die Stadt gebraust war, als er dort ankam, ist auf Sand gebaut. Jesus weiß das. So tritt uns in ihm der allmächtige Gott in der Ohnmacht eines Menschen gegenüber, der die Heilige Stadt in ihr Verderben rennen sieht, und ihr nicht anders beistehen kann als durch seine Tränen. Und deshalb wird er in Jerusalem scheitern. Ein wie ein Kind weinender Messias konnte der Klerus am Tempel nur als Gotteslästerung ansehen. Die Frommen konnten sich den Messias mächtig, als den starken Mann fürs Gottesvolk vorstellen. Der Friede mit Gott dagegen, der ihnen in Jesus entgegenkommt, kommt ohne Krieg und ohne Sieg, er kommt im Zeichen der Schwäche. Dieser Frieden kommt mit den Mitteln des Friedens. Als ein Angebot ohne Gewalt.

Und darum, liebe Gemeinde, macht ein weinender Jesus keine Angst. Vielmehr befreit er. Darum braucht man ihn nicht aus dem Evangelium streichen. Im Gegenteil, er gehört da mitten rein. An Jesus halten wir uns, wenn wir ihm zugestehen, dass er in all seiner Göttlichkeit doch so durch und durch menschlich ist, dass er um Jerusalem trauert und um des Friedens willen weint. Denn diese Tränen offenbaren uns das Geheimnis seiner Sendung und seiner Person. In ihnen zeigt sich Gottes Herz. Es ist ein teilnehmendes Herz: ein Herz voll Sympathie. Die Tränen in seinem Angesicht zeigen uns, dass Jesus mit unserer Welt mitleidet, dass er den Frieden dieser Welt will, ganz besonders den Frieden für Jerusalem. Alle jubeln, einer weint.

III.

Wer Jerusalem besucht, wird wohl von nichts mehr beeindruckt und zugleich befremdet sein als von der Klagemauer. Der Tempelberg selbst ist inzwischen ein heiliger Ort der Muslime. Unter ihm die Klagemauer, das Einzige, was vom zweimal zerstörten Tempel übriggeblieben ist. Die gläubigen Juden, die dort ihr Gebet verrichten, tun das mit einer Ausdauer, die auch fromme Christen erstaunt und die bei Menschen, denen Beten fremd ist, eher Unverständnis hervorruft. Trotzdem stehen die Jerusalemreisenden da und schauen den Menschen an der Mauer zu, der rhythmischen Bewegung ihrer Körper, dem leisen Murmeln ihrer Worte, dem Gleichmaß der Klage über die Jahrtausende. In keiner anderen Religion gibt es ein vergleichbares Beispiel für die Bedeutung, ja Hochschätzung der Klage wie bei den Juden in Jerusalem. Und wenn ein Selbstmordattentäter sich als orthodoxer Jude verkleidet und einen Omnibus in die Luft sprengt - das Gebet an der Klagemauer geht weiter, es überdauert auch solche Schrecken. Und wenn Israels Politik unter dem Zwang des Existenzkampfes selbst unmenschlich wird - das Klagegebet geht weiter. Und gewiss ist bei einen oder anderen auch das Gebet um eine andere Politik dabei: „Wenn doch auch du erkenntest, was dem Frieden dient!“

Als Deutsche, und erst recht als Christen in Deutschland haben wir keinen Kredit an Glaubwürdigkeit, Israel hohe moralische Ratschläge zu erteilen. Noch immer werden wir gefragt, wie verbindlich wir das Existenzrecht Israels anerkennen und wie ernst uns die Absage an den Antisemitismus ist, wo überall hierzulande Synagogen durch die Polizei geschützt werden müssen. Wieder und wieder sind wir durch die Geschehnisse in Nahost aufgewühlt. Aber statt forscher Rechthaberei wäre es gut, wenn wir uns einfach an den weinenden Jesus halten. Wer weint, hat nicht Recht, er hat Kummer. Wer den Kummer aushält, kann dann vielleicht auch die Verheißung hören, die den Weinenden gilt. Es ist die merkwürdigste, die verheißungsvollste, und die fröhlichste Seligpreisung der Bergpredigt. „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.“

Mein Jesus hat geweint um seine Stadt, ach, auch gewiss um mich hat er geweinet.“ Annette von Droste-Hülshoff hat so gedichtet. Ja, sein Weinen gilt auch uns: seiner Kirche, die immer wieder vor seinem Wort wegläuft und an sich selbst und ihrem Besitzstand genug hat, und jedem einzelnen uns. Jesus bleibt ein Sohn seines jüdischen Volkes und ist doch der Messias der Völker. Selber zu buchstabieren, was dem Frieden dient, ist wichtiger, als anderen vorzuschreiben, was sie für den Frieden zu tun haben. Bei uns fängt der Frieden an. Denn uns öffnet Gott im weinenden Jesus sein Herz. Wer weint, verrät, dass er verletzlich ist. Gott ist verletzlich, so wie es nur die Liebe sein kann. Wenn der allmächtige Gott schwach wird, dann, weil er eine Schwäche für uns hat.

 

Amen.

Muttermilch-Worte

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der 6. Sonntag n. Tr. hat seit jeher die Taufe zum Thema. Das christliche Grundsakrament in allen Kirchen. Die Symbolik, die sich bis heute damit verbindet, ist die von Tod und neuem Leben. Wie wir’s vorhin in der Epistellesung aus dem Römerbrief gehört haben: In der Taufe lässt man in einem tiefen, dem Blick unserer Augen nicht zugänglichen Sinn das bisherige Leben hinter sich, und etwas Neues beginnt. Dafür steht zeichenhaft das Wasser: es wäscht das Alte, Unsaubere weg und taucht in ein neues Leben ein. In der frühen Christenheit wurde der — damals noch erwachsene — Täufling dreimal komplett untergetaucht, dabei bekannte er seinen Glauben an den dreieinigen Gott als Vater, Sohn und Geist. Wieder im Trockenen, erhielt er ein weißes Gewand als äußeres Zeichen der inneren Neugeburt, eines neuen Daseins in der Kraft des ebenfalls aus dem Tod zum neuen Leben erweckten Christus. Wie sinnlich das im frühen Christentum inszeniert wurde, lässt sich in spätantiken und mittelalterlichen Kirchen bei den Baptisterien besichtigen — oft regelrechte kleine Schwimmbecken, in die man hinein und nach der Taufe wieder hinaus stieg.

Das sollten wir vor dem innerem Auge haben bei dem vorhin gehörten Evangelium „Matthäi am Letzten“, das erzählt, wie der Auferstandene unmittelbar vor seiner Himmelfahrt als sein irdisches Vermächtnis seine Leute sendet mit dem Auftrag, alle Welt zu taufen. Dieser sog. Missionsbefehl Jesu will sagen: Niemand, wirklich niemand ist davon ausgeschlossen, dass sein Leben von Grund auf neu werden kann, weil er aufgehoben ist in Gottes Liebe und in der Gemeinschaft derer, die mit ihm getauft sind. Und als solcher nicht mehr gefangen im alten Leben, mit seinem Zwielicht, den Halbheiten und Lebenslügen. Dieses neue Leben durch die Taufe: das ist das Thema des heutigen Predigttextes. Er kommt aus dem 1. Petrusbrief. Der ist an verschiedene Gemeinden in Kleinasien gerichtet. Die Adressaten hatten mit ihrem bisherigen Leben gebrochen, um sich der Gemeinde der Christen anzuschließen. Für viele bedeutete dieser Schritt einen drastischen Verlust des sozialen Ansehens. Sie wurden als „Christen“ denunziert, und das hieß: als solche, die sich den Verpflichtungen für das Allgemeinwohl entzogen, sich den Opfern für die Götter und den Kaiser verweigerten und sich in ominöse sektiererische Kreise zurückzogen. Ihnen will der Verfasser Mut machen und vor Augen malen, was es bedeutet, nicht mehr im alten Leben unterwegs zu sein, sondern zu Christus zu gehören. Hören wir auf den Text. (Verlesung des Predigttextes)

I.

Es ist 11 Jahre her, da gaben zwei evangelische Menschen in der Öffentlichkeit ein berührendes und auch mutiges Lebens- und Glaubenszeugnis. Die Wochenzeitung Zeit veröffentlichte im Sommer 2014 ein langes Interview mit dem damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider, und seiner Frau Anne, auch Theologin. Diese sprach bemerkenswert offen über ihre Befindlichkeit nach einer aus dem Nichts gekommenen schweren Krebsdiagnose. Nikolaus Schneider erzählte, wie er seine Frau begleiten möchte. Er trat dann auch bald von seinem Amt zurück, um ganz für sie da sein zu können. Über zwei lange Seiten hinweg, ungewöhnlich für die liberale, eher kirchenferne Zeit, wurden Anne und Nikolaus Schneider befragt. Dieses Interview fand ein sehr großes Echo. Viele waren berührt von dieser Suche nach persönlicher Lebenswahrheit und von einem Gespräch, das beides war, klar und streitbar, und zugleich liebevoll und barmherzig.

Anne Schneider sagte damals, die realistische Möglichkeit des Sterbens im Blick: „Meine Mutter hatte einen tollen Arzt, der ließ sie in der Schlussphase ihrer Krebskrankheit die Dosierung des Morphiums selbst übernehmen in dem Wissen, dass ab einer bestimmten Menge ihr Herz aufgibt.“ Anne Schneider ging noch weiter und wollte sich mindestens den Weg offenhalten, aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Sie sagte: „Ich hoffe, wenn ich an den Punkt kommen sollte, sterben zu wollen, dass mein Mann mich dann in die Schweiz begleitet. Dass er dann neben mir sitzt und meine Hand hält, wenn ich das Gift trinke“. Das war diametral gegen alle kirchlichen Stellungnahmen, und auch gegen die sog. passive, begleitende Sterbehilfe, wie es sie in den Hospizen und Palliativstationen praktiziert wird. Und was sagte Nikolaus Schneider, damals der oberste deutsche Protestant, zum Wunsch seiner Frau? „Das wäre zwar ganz gegen meine Überzeugung, und ich würde es sicher noch viel mit Anne diskutieren. Aber am Ende würde ich sie doch aus Liebe begleiten.“ Und er bekräftigte noch einmal: „Ich würde alles versuchen, Anne für einen anderen Weg zu gewinnen. Aber für Anne würde ich auch etwas gegen meine Überzeugung tun.“

„Ich würde sicher noch viel mit Anne diskutieren“. Die Liebe, den Partner nicht allein zu lassen, ihn zu begleiten, wann und wohin auch immer, und diese Liebe zugleich verbinden mit der Bereitschaft zu diskutieren, beherzt für die eigene Meinung zu werben, die anders ist als die des geliebten Partners. In den Grenzbereichen des Lebens nicht einfach etwas hinnehmen, nur weil es scheinbar schicksalhaft in eine Richtung drängt. Nicht aufgeben miteinander zu reden, ja streitig zu diskutieren: Das alles kann heißen, Momente des Glücks zu finden, der tiefen Nähe und der Erfüllung. Das Gespräch damals endet mit einem befreienden Lachen, denn Nikolaus Schneider bekennt fröhlich: „Ich bin lieber bei meiner Frau als in den Gremien unserer Kirche“. Das versteht jeder, der kirchliche Gremien kennt. Gottseidank ist Anne Schneider bis heute am Leben, der Krebs wurde nicht so bedrohlich wie anfangs zu befürchten. Die FAZ schrieb damals: „Man liest dieses Interview, schaut aus dem Fenster und staunt, als hätte man Sonne und Wolken noch nie gesehen.“

II.

Liebe Gemeinde, warum erzähle ich davon, zumal das schon etliche Jahre her ist? Weil in dieser Haltung der beiden Eheleute, getragen von tiefer Liebe und Respekt füreinander, für mich zum Leuchten kommt, wie dieses neue Leben aus der Taufe sein kann. So können offenbar solche miteinander leben, die eine Ahnung davon haben, was wir vorhin von Paulus im Römerbrief gehört haben: Durch die Taufe bin ich mit Jesus am Kreuz gestorben und habe Anteil an allem, was sich dann weiter mit Christus ereignet. Haben wir solche Sehnsucht nach Lebendigkeit, nach Glauben vom auferstandenen Christus her? Spüren wir etwas davon, dass die Fragen, die sich uns stellen, irgendwie geheimnisvoll eingewoben sind in seine Gegenwart? Die schweren Fragen nach Leben und Tod, nach Gerechtigkeit und Frieden verschwinden nicht — aber sie bekommen eine Richtung.

Ihr seid „lebendige Steine“, heißt es in unserem Text. Ein eigenartiges Bild. Steine sind tot, sind Materie. Sie können schwer sein oder leicht, kantig-spitz oder abgeschliffen, hell oder dunkel wie die Sandsteine dieser Kirche. Aber nicht lebendig. Die Bibel kennt das Bild von Christus als dem kostbaren Eckstein. Auf ihn kann man bauen, er ist ein tragendes Teil. Man kann sich an ihm aber auch stoßen und zu Fall kommen. Menschen verachten Christus, aber Gott hat ihn auserwählt. Steine sind Energieträger, sie können wunderbar Wärme speichern. „Ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Haus und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern, was Gott wohlgefällig ist durch Jesus Christus“: Weniger hochmögend ausgedrückt: Ihr nehmt am Leben Christi teil, seid in gleicher Weise unterwegs.

Darum sind Christ*innen über die gesamte Welt hinweg durch ihre Taufe verbunden. Bei allen großen Unterschieden in Kulturen, Traditionen, Sprachen, sozialen Bedingungen: die Taufe ist die gemeinsame DNA, das imprägnierte Erkennungszeichen, das jede in sich trägt. Eben darum ist es so schmerzlich, dass wir Glaubensgeschwistern, wenn sie blutig verfolgt werden, nicht in größerer Gemeinschaft beistehen können. Eines aber könnten wir immer: beharrlich für sie beten. Dass dies in den Jahren des Terrors durch den IS in unseren Kirchen nur selten der Fall war, aus einer merkwürdigen Sorge, ein solches Beten könnte als „islamfeindlich“ aufgefasst werden, beschämt mich heute noch. Es gibt also keinen Grund, die Gemeinschaft der Christen zu idealisieren, weil sie eben nicht automatisch bewirkt, dass jeder jeden verstehen kann, wie beim Pfingstwunder in Jerusalem.

III.

Vor 20 Jahren begleitete ich in meiner damaligen Gemeinde einen sterbenskranken Mann. Einige Wochen vor seinem Tod stellte er seiner Frau und mir eine Vollmacht aus, was geschehen sollte, wenn er selbst nicht mehr über lebenserhaltende Maßnahmen entscheiden könnte. Ihm war in den letzten Tagen seines irdischen Daseins wichtig, möglichst viel selbst zu entscheiden. Von Tag zu Tag handelte er die Morphium-Dosierung mit dem Arzt aus. Er wollte nicht, dass sein Bewusstsein vom Schmerz zerrieben wird; aber auch nicht, dass das Morphium seinem Empfinden und Verstehen den Dämmerschlaf gibt. So verbrachten wir manche Zeit in Stille und mit Lachen, mit ernsthaften Worten und seinem Lieblingspsalm, mit Pizza auf die Hand und sogar etwas Rotwein, und dann wieder dem Abwischen von Schweiß auf der Stirn. Er verlangte nicht nach aktiver Sterbehilfe, er wünschte sich Begleitung von Menschen, die seinen Glauben teilen und steuerte am Ende irgendwie selbst auf die andere Seite. In unserem Text werden die lebendigen Steine zur gemeinsamen Priesterschaft gesammelt. Der Freund zitierte, mit nur noch schwacher Stimme, den Vers aus Psalm 103: „…der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit“. Dieses Wort, einst im Jerusalemer Tempel beheimatet, schaffte in jenem Krankenzimmer unter uns eine kleine geistliche Gemeinschaft. Und so wie jener Tempel aus Steinen gebaut war, können wir alle uns verstehen als ein Haus glaubender Menschen, ein Haus, das schützt und birgt, in dem Loblieder erklingen und wir uns stärken für die Kämpfe in unserem Leben und in der Welt.

Der 1. Petrusbrief macht den getauften Christen am Ende des 1. Jahrhunderts Mut, festzuhalten an der Kostbarkeit des Lebens mit Christus. Haltet daran fest, auch wenn der Kaiser im Rom euch brutal verfolgt und nach dem Leben trachtet. Nehmt Gottes Worte zu euch, als wären sie Muttermilch. „Und seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist“. An fünf Stellen des Zeit-Interviews mit Anne und Nikolaus Schneider wurden Worte aus der Bibel zitiert. Fast beiläufig, ohne frömmelnden Kirchenjargon. Man ahnt beim Nachlesen, dass solche guten, starken Worte, die aus anderen Sphären kommen als die vielen Worte, die wir machen, dass mit solchen Worten eine Art Muttermilchdurst gestillt werden kann. Und dann gibt es noch andere Worte, einfach menschliche Worte, die aber von Gott her gesprochen sind. Zum Beispiel dieses einfache Wort von Anne Schneider: „Wir sagen uns, wie es um uns steht.“ Und dann sagt sie: „Über Theologie zu reden, ohne über uns selbst zu reden, das geht bei uns nicht.“

Das ist das Zeugnis einer Frau, deren Botschaft für uns ist: Wer es schafft auszudrücken, wie es um ihn steht, der hat die Tür aufgemacht und Gottes Wort kann einströmen! Wir sagen, wie es um uns steht. Gott sagt, es steht so um dich: Du bist kein toter Stein. Du bist lebendig mit vielen anderen im Bau derer, die aus Gnade und Frieden leben.

 

Amen.

(Be)Suchen — Mitleiden — Ernte

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

die wenigen Verse dieses Predigttextes sind wie eine verdichtete Summe dessen, was Jesus in den drei Jahren seines öffentlichen Auftretens getan hat. Wir sehen ihn rastlos unterwegs, „in alle Städte und Dörfer“ — als einer, von dem es kurz vor unserem Abschnitt heißt, dass er „nichts hat, wo er sein Haupt hinlegen könnte“ (Mt 8,20). Als Heimatlosen also, Getriebenen. Hin zu denen, die in einem noch tieferen Sinn heimatlos sind. Jesus hat keinen Amtssitz, zu dem die Leute hinkommen, keine Sprechzeiten, in denen sie mit ihren Problemen zu ihm kommen könnten. Nein, er sucht sie auf, wo sie ihren Alltag leben: ihrer Arbeit nachgehen, Geschäfte machen, ihre kleinen Glücksmomente und ihre Enttäuschungen erleben. Zweifellos ein enormes Pensum, das Jesus sich da zumutet. Ständige Reisen durch das Land, zu Fuß, ohne Komfort und Hotelbett. Immer wieder umringt von wildfremden Menschen, die ihm keine Ruhe gönnen. Die immer große Worte und noch größere Taten erwarten. Wie gesagt, über drei Jahren geht das so. Über Urlaub von diesem Dauerstress, oder Work-Life-Balance, wie wir neudeutsch sagen, schweigt sich die Bibel aus.

I.

Jesus war nicht verbeamtet, hat auch kein Theologiestudium absolviert. Bekam also kein festes Gehalt, geschweige denn eine in Aussicht stehende Pension. Und doch predigte er. Aus innerem Antrieb. Er zog durch Städte und Dörfer und erreichte sehr viele Menschen. War er ein Workaholic? Was treibt ihn zu dieser Existenzform, die mich an eine Kerze erinnert, die von beiden Seiten her brennt? Hat er das Gefühl, nicht viel Zeit zu haben? Er weiß ja, und hat es seinen engsten Gefährten dann auch anvertraut, was in Jerusalem kommen würde. Und dann sicherlich auch die Wucht der Erkenntnis, dass eine grundstürzende Zeitenwende bevorsteht: „Kehrt um, verändert euch und euer Leben, denn das Himmelreich ist ganz nahe!“ In dieser Ansage des nahenden Gottesreichs kulminiert alles, was Jesus gesagt und getan hat. Da ist keine Zeit zu vertun.

So beschreibt es hier auch Matthäus zu Beginn seiner summarischen Notiz. „Er lehrte in den Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich.“ Eigenartiger Ausdruck: Das Evangelium, also die gute Nachricht — von dem Reich? Mit einem Reich verbindet man, jedenfalls in Deutschland, nichts Gutes — wenn man nicht zufällig ein sog. Reichsbürger ist. Botschaften von Reichen sind meist bedrohlich. Ob es Putins großrussisches Weltreich ist, das er mit allen Mitteln errichten will. Oder die bizarren Pläne von Trump, die USA zu einem Riesenreich zu machen, mit wenig Demokratie, aber umso mehr Fläche. Aber im Gegensatz zu all den Erlässen, Verordnungen, Zwangsmaßnahmen, mit denen die Reiche dieser Welt kommen und irgendwann wieder gehen, ist die „Reichsbotschaft“, die Jesus unter die Leute bringt, eine einfach nur gute, frohe. Das Evangelium von nahe herbeigekommenen Reich sagt allen: Die Reiche, die Herren dieser Welt gehen, unser Herr aber, der wahre Herr der Welt kommt! Seine Regierung besteht nicht aus Erlässen, Verordnungen, Zwangsmaßnahmen, sondern sie ist zuerst und zuletzt eine große Liebeserklärung. Sie ist unermüdlich um dich und mich besorgt. Sie sagt dir und mir: Bei allem, was du tust und wo du fehlst, wie hoch du hinauskommst oder wie tief du gefallen bist — das spricht nicht das letzte, Wort über dich! Denn vor all deinem Tun hast du eine unvergleichbare und unverlierbare Würde — weil du unendlich geliebt bist. Du bist mein Kind, und bleibst es auch, komme was da will. Deshalb ist dein Leben, bist du immer noch mehr als was du daraus machst.

Das bringt Jesus in seinem unermüdlichen Unterwegssein unter die Leute. Wohlgemerkt: Er ist unterwegs und bringt es ihnen — nicht sie kommen und holen sich das Evangelium wie ein begehrtes Produkt. „Stammkundschaft geht vor Laufkundschaft“: was für den ehrbaren Kaufmann gilt, für die Kirche darf es nicht gelten, das können wir bei Jesus sehen. Darin liegt auch eine wichtige Frage an uns als Kirche heute. Sind wir noch so Gemeinde Jesu, dass wir eine hingehende, die Menschen suchende und besuchende Kirche sind? Oder erwarten wir nicht doch, dass die Menschen uns aufsuchen? Wir haben in unseren Kirchgemeinden fast überall Besuchsdienste, die von Ehrenamtlichen beeindruckend getragen werden. Was dort getan wird, mit den Besuchen bei Geburtstagsjubilaren, bei neuen Gemeindegliedern, ist in dieser stillen Regelmäßigkeit sicherlich eine der wichtigsten Aktivitäten in einer Gemeinde. Da wird nicht groß drüber geredet, dass die Kirche die Menschen aufsuchen muss, „wo sie sind“ — da wird das einfach selbstverständlich getan.

Der Punkt ist nur: Wir müssten es noch viel mehr tun. Von Otto Dibelius, einem legendären Berliner Bischof aus dem letzten Jahrhundert, stammt der schöne Satz: „Wie gut ein Pfarrer ist, zeigt sich an der Höhe seiner Schusterrechnung.“ Er wollte damit sagen: Wir sind in unserer pastoralen Arbeit so gut, wie wir uns nicht hinterm Sitzungstisch oder der Kaffeetafel im Gemeindehaus verschanzen, sondern auf den Straßen unterwegs in die Häuser sind. Ich denke, da ist immer noch was dran. Und ich denke mit etwas bedrücktem Gewissen an die Zeit zurück, als ich noch richtiger Gemeindepfarrer war — das ist man hier an dieser Kirche ja nicht. Da bin ich auch längst nicht in dem Maß dazu gekommen, Besuche zu machen, wie es nötig und gut gewesen wäre. Eigentlich müsste man als Pfarrer jeden Tag ein bis zwei Besuche machen. Aber das ist in den heutigen Zeiten nirgendwo mehr drin, weil bei den ganzen Umbrüchen und Transformationen in der Kirche heute die Organisationsfragen und damit die Sitzungen so wahnsinnig überhandgenommen haben und viel zu viele Kräfte binden.

II.

Unser summarischer Predigttext liefert den inneren Grund für das rastlose Suchen und Hingehen Jesu. „Als er das Volk sah, jammerte es ihn, denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ Das heißt zunächst: Das Erbarmen bei Jesus fängt mit dem an. Wir schauen oft weg, nehmen nicht wahr, was links und rechts von uns an manchmal elender Not ist. Das kann auch ein notwendiger Selbstschutz sein. Wir sind nun einmal so gestrickt, dass wir ein begrenztes Maß an Elend aufnehmen, aushalten können. Verdrängen ist keineswegs nur schlecht. Es kann auch lebensnotwendig sein. Bei Jesus aber ist es anders. Er war einerseits Mensch wie du und ich, und zugleich eben auch der unvergleichlich andere, der wahre Gott. Deshalb kann Matthäus es so ausdrücken: „Es jammerte ihn“. Was er sieht, nicht nur an vor Augen liegender Not wie Armut, Repression, soziale Spaltungen, sondern erst recht mit dem tieferen Blick, der hinter die Masken blickt, das geht ihm an die Nieren. Die Müdigkeit in den Augen. Abgestumpftheit der Sinne. Traurigkeit. Von Hoffnungsvisionen keine Spur. Eine Masse wie eine Herde Schafe — ohne Hirten, d.h. ohne einen, der ihnen Wege aufzeigt, ihnen bewusst macht, wie wertvoll sie sind. Diesen Menschen bringt er die Vision vom Reich Gottes. Gott hat mit jedem Menschen etwas vor. Deshalb rief er sie ins Leben. Und er will sie begleiten, ihnen voraus sein und mit ihnen sein. Was Jesus umtreibt, ist im wörtlichen Sinn Mit-Leid. Er lässt das Leid der Menschen so sehr in sein Herz, in sein Innerstes auf, dass dieses Leid gleichsam sein Leid wird und er es den Leuten geradezu abnimmt. Denn seine Predigt von nahen Himmelreich soll ja nicht, wie manche Neumalkluge behaupten, den Leuten Sand in die Augen streuen. Es ist kein Opium fürs Volk, sondern Jesus redet von dieser grundstürzenden Zeitenwende, weil er das Elend wirklich radikal — und das heißt im Wortsinn: an der Wurzel — angreifen will.

Heilung geschieht nie im luftleeren Raum. Da muss ein Raum da sein, in dem sich Heil ausbreiten kann. Es geht uns heute nicht anders. Die Diagnose war Brustkrebs. Die Frau ließ sich operieren. Nahm die Torturen der Chemo auf sich und ließ sich anschließend bestrahlen. Der Krebs war irgendwann weg. War er das? Gehorchten die Zellen jetzt dem inneren Bauplan des Lebens? Die Frage aber blieb: Was soll ich noch mit meinem Leben? Wozu das alles? Körperlich funktionierte sie wieder. Aber ihre Seele war nicht lebendig. Sie wusste nicht, was sie sollte in dieser Welt. Wirklich geheilt fühlte sie sich nicht. Wie sollten da ihre Zellen wissen, was sie machen sollten?

Zur Heilung hätte es mehr bedurft. Aber was? Wenn da einer gesagt hätte, du hast das alles durchgestanden, und das hat einen Sinn, du wirst eine Aufgabe finden, du wirst mit am Reich Gottes arbeiten, denn du hast die Kraft dazu geschenkt bekommen. Und dieses Reich ist nicht fern von dir. Du kannst Leben weitergeben. Du kannst Deiner kranken Nachbarin Frühstück machen. Du kannst für sie einkaufen gehen. Du kannst dem Kind ein Lied vorsingen. Du kannst die Vögel füttern. Du kannst dich engagieren dort, wo Unrecht geschieht. So viele Möglichkeiten tun sich auf. Du hast gar keine Zeit mehr zu denken, dein Leben sei sinnlos. Du bist geheilt. — So oder so ähnlich stelle ich mir vor, dass Jesus gesprochen haben könnte. „Als er das Volk sah, jammerte es ihn“ — darin besteht die Gottesherrschaft, die Jesus ankündigt: Gott geht unser Elend ans Herz, es geht ihm durch und durch.

III.

Was Jesus Tag für Tag, Ort für Ort zu sehen bekommen, was ihm so schwer aufs Herz geht, bringt er in das Bild: „Die Ernte ist groß“. Das Bild von der Ernte bedeutet in der Bibel so etwas wie ein letztes, alles entscheidendes Eingreifen Gottes. Er holt die Menschen ein und heim, sammelt die Früchte. Dem reift die Menschheit gleichsam entgegen. So sieht Gott seine Menschen: in all ihrer erschöpften Leere oder berstenden Vitalität. Seht, was für eine Ernte!, sagt Jesus seinen Leuten. Spannender Wechsel des Bildes: Wo er eben noch die Masse der verlorenen Schafe gesehen hat, sieht er jetzt ein großes Erntefeld. Wogende Halme mit schweren goldbraunen Ähren. Mag es noch so elend aussehen mit den Leuten, für Jesus ist es gerade deshalb aufs Beste bestellt. Für ihr sind sie alle ein reifes Herbstfeld, lauter hoffnungsvolle Fälle. Aber eben: Die Ernte ist reif, und wenn sie jetzt nicht eingefahren wird, kann sie verderben. Und wie jeder Landwirt, der im Herbst auf einem großen Stück Land die Ernte einbringen muss, dazu genügend Erntehelfer braucht, sucht auch Jesus Erntehelfer für den weiten Acker der Menschheit. „Die Ernte ist groß, aber es sind weniger Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“

Deshalb nennen wir uns ja nach ihm, heißen wir Christen, weil wir durch unsere Taufe gewürdigt sind, Mitarbeiter*innen zu sein in dieser besonderen Ernte. Wir alle sind von Gott gewürdigt, mitzuhelfen, dass ein Stück der großen Ernte in die Scheuer kommt. Jeder an seinem Ort, jede auf ihre Weise. Gottes Gnade ist bunt, wie es in der Bibel heißt — und so bunt und vielfältig ist auch, wie wir sie anderen nahebringen. Klar, wir werden immer wieder die Momente haben, wo wir sagen wollen: Ich kann nicht mehr, diese Aufgabe ist mir zu schwer, erscheint mir eh aussichtslos! Auch ich als Pfarrer bin von solchen Anflügen wahrlich nicht verschont. Und weil das so ist, ist es lebenswichtig — oder besser: glaubenswichtig —, dass wir so viele andere auch als Erntehelfer wissen. Und uns daran wieder aufrichten: Wenn ich mal nicht mehr kann, dann wir irgendwo ein anderer mit Freude und Elan ein Stück Acker bestellen. Der tut es dann auch für mich. Und ich, wenn ich wieder Schwung habe, tue es ein anderes Mal vielleicht für ihn. Auch das sieht Jesus mit seinen Augen der Liebe. Und darum hält er seine Leute, hält er uns alle an, im Gebet um Erntearbeiter nicht nachzulassen. „Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat“ heißt es in einem Gesangbuchlied (EG 457,11). Sonst wären wir nur kirchliche Aktivisten, die viel Betrieb machen, aber keine Früchte bringen. PR-Spezialisten Gottes, aber keine einladenden Zeugen Jesu. Kirchenfunktionäre, aber ohne geistliche Ausstrahlung.

Ach Gott, bewahre uns vor dieser immer wiederkehrenden Versuchung. Hier sind wir, nimm uns mit all unserer Unzulänglichkeit in deinen Gebrauch und sende und in deine Ernte.

 

Amen.

Predigt gehalten von Prof. Dr. Peter Zimmerling,
Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorge und Spiritualität an der Universität Leipzig

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Liebe Gemeinde,

1.

Die Fähigkeit zu barmherzigem Verhalten ist jedem Menschen von Natur aus mitgegeben. Davon ist zumindest Jesus überzeugt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Barmherzigkeit ist ein menschliches Existenzial! Weil der himmlische Vater barmherzig ist, hat auch der Mensch als Ebenbild Gottes die Fähigkeit, an seinen Mitmenschen barmherzig zu handeln.

Der Gott Israels, der ja der Vater Jesu Christi ist, ist ein barmherziger Gott. Davon legen viele biblische Aussagen und Geschichten Zeugnis ab. So heißt es in Psalm 103: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ (Ps 103,8). Auch im bekanntesten Gleichnis Jesu, dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn, steht die Barmherzigkeit Gottes im Zentrum.

Die Auffassung der Bibel, dass Barmherzigkeit ein menschliches Existenzial darstellt, wird durch die Forschungen des US-amerikanischen Soziologieprofessors Samuel Oliner bestätigt. Als 12jähriger Junge musste er erleben, wie seine jüdischen Eltern in Polen von den Nazis ermordet wurden. Er selber konnte jedoch fliehen. Durch die Zivilcourage einer katholischen polnischen Bäuerin blieb er von den Nazi-Häschern unentdeckt. Obwohl jedem Polen, der einen Juden versteckte, die Todesstrafe drohte, nahm die Bauersfrau Samuel in ihr Haus auf. Sie veränderte seinen Namen, erfand für ihn eine neue Lebensgeschichte und lehrte ihn den katholischen Katechismus. Dann suchte sie für ihn eine Arbeitsstelle als Stallknecht auf einem Bauernhof. Als typisch polnischer Junge Joseph Kollevsky überlebte Oliner den Krieg. Die Bäuerin wurde für ihn zum Denkmal menschlicher Barmherzigkeit. Für Christen veranschaulicht sie in wunderbarer Weise das barmherzige Verhalten, zu dem Jesus seine Jüngerinnen und Jünger im heutigen Predigttext auffordert: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Nach dem Krieg gründete Oliner in Kalifornien ein wissenschaftliches Institut zur Erforschung barmherzigen Verhaltens. Er hatte beobachtet, dass Studierende, die sich an Forschungsvorhaben zu den Naziverbrechen im Zusammenhang mit der Shoa beteiligten, zu Depressionen neigten. Das wachsende Bewusstsein vom ganzen Ausmaß der Menschenverachtung und Grausamkeit, mit der die Nazis den Völkermord an den Juden planten und betrieben, führte bei vielen Studierenden zu schweren psychischen Störungen.

Aufgrund seines eigenen Erlebens während der Nazizeit kam Oliner auf die Idee, die Forschungsperspektive umzukehren: Anstatt den Fokus auf die Täter zu richten, ließ er umgekehrt untersuchen, aus welchen Motiven Menschen Jüdinnen und Juden geholfen, ihnen Barmherzigkeit erwiesen haben. Die neue Perspektive ließ die Studierenden ihre psychische Stabilität zurückgewinnen.

Die Forschungsfrage lautete: Was bringt einen Menschen dazu, einem anderen in Not beizustehen, auch wenn das für ihn eher mit Risiken als mit Anerkennung verbunden ist? Oliners Forschungsergebnisse zeigen, dass Helferinnen und Helfer sich normalerweise nicht vorgenommen hatten, ihren bedrohten jüdischen Mitmenschen zu helfen. Sie engagierten sich häufig spontan, ohne nach den Kosten für ihr eigenes Leben zu fragen. Ihre Barmherzigkeit speiste sich aus tieferen Quellen ihres Menschseins. Oliner spricht von altruistischen, selbstlosen, Persönlichkeiten. Die meisten handelten aus einem Gefühl der Verantwortlichkeit und Fürsorge für alle Menschen. Empathie, häufig verbunden mit bestimmten Normen und Werten, waren für viele Helfer und Helferinnen ausschlaggebend. Bei nicht wenigen spielte das Vorbild der Eltern eine große Rolle. Die Forschungen Oliners machten deutlich, dass Barmherzigkeit und selbstloses Verhalten nicht nur bei außergewöhnlichen Menschen wie Gandhi, Mutter Teresa und Albert Schweizer zu finden sind. Auch ganz gewöhnliche Menschen können barmherzig sein!

Für mich sind Oliners Forschungen eine überwältigende Bestätigung für die Wahrheit des von Jesus Gesagten. Die Fähigkeit zu barmherzigem Verhalten gehört zur schöpfungsbedingten Grundausstattung jedes Menschen. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

2.

Allerdings kann die Fähigkeit zur Barmherzigkeit bei Menschen verdunkelt werden. Vielleicht fragen Sie sich, wie so etwas möglich ist. Mir hat sich in diesem Zusammenhang eine Szene aus dem Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg eingeprägt. Die Zuschauer werden darin Zeuge, wie der KZ-Kommandant in einem Kellerraum ins Grübeln kommt, ob die auf seinen Befehl hin vergasten Juden vielleicht doch Menschen wie er sein könnten und es daher ein großes Verbrechen ist, sie zu ermorden. Genau in diesem Moment kommt eine Kellerassel groß ins Bild, die im Keller an einer Wand entlang läuft. Nachdenklich zerdrückt der Kommandant sie mit seiner Hand. Während er das tut, kehrt in ihm die Gewissheit zurück, dass der Mord an den Juden seine Pflicht sei: Sie werden für ihn – so wie es die offizielle Rassenlehre des Nationalsozialismus besagt – in diesem Augenblick wieder zu Schädlingen am deutschen Volkskörper. Deshalb können sie mit gutem Gewissen ausgerottet werden. Angesichts der Naziideologie hat das für kurze Zeit erwachte Gewissen des KZ-Kommandanten keine Chance. Vielmehr wird es durch dessen Rassenlehre endgültig zum Verstummen gebracht. Der Gedanke, den Juden Barmherzigkeit zu erweisen, verschwindet endgültig.

Dass die Fähigkeit zu barmherzigem Verhalten unterentwickelt bleiben, ja sogar verkümmern kann, zeigt nicht nur die Nazizeit. Ein aktuelles Beispiel ist für mich das Verhalten des amerikanischen Präsidenten Trump. Im Gottesdienst anlässlich seiner Inauguration in Washington D. C. bat ihn die episkopale Bischöfin vor der Weltöffentlichkeit: Er möge doch in seinem politischen Handeln die Barmherzigkeit nicht vergessen. Eine Bitte, die nichts Unziemliches beinhaltet. Und doch hat sie eine wütende, ja ausfällige Reaktion des Präsidenten nach sich gezogen. Obwohl Trump sich von seinen Anhängern immer wieder als Verteidiger des christlichen Glaubens feiern lässt, ist ihm offensichtlich Barmherzigkeit, eines der Grundgebote Jesu Christi für das menschliche Verhalten, völlig fremd.

Ähnlich der russische Präsident Putin. Auch er lässt sich gerne mit Würdenträgern der orthodoxen Kirche während feierlicher Gottesdienste filmen. Gleichzeitig lässt ihn vollkommen kalt, dass sich russische Drohnenangriffe bewusst auf zivile Ziele in der Ukraine richten, bei denen wehrlose Frauen und Kinder getötet werden. Auch Putins Verhalten ist frei von jeder Spur von Barmherzigkeit.

3.

Umso wichtiger ist es, dass Jesus seine Jüngerinnen und Jünger ausdrücklich auffordert, barmherziges Verhalten einzuüben. Auch wenn die Fähigkeit zur Barmherzigkeit zur Grundausstattung eines Menschen gehört, muss sie offensichtlich geweckt, ausgebildet, ja eingeübt werden. Nötig ist gerade heute – angesichts zunehmender verbaler (und nonverbaler) Gewaltbereitschaft in und außerhalb von Internet und sozialen Medien – eine Schule der Barmherzigkeit. Worum es dabei geht, hat der russische Dichter und Christ Fjodor Dostojewski einprägsam so ausgedrückt: „Sollen wir das Böse mit Gewalt oder mit demütiger Liebe bekämpfen? Demütige Liebe ist die größte Kraft in der Welt. Wie das Neugeborene ohne Liebe nicht sein kann, so kann auch der Planet ohne diese Liebe nicht bestehen.“ Gott selbst hat es im Leben, Leiden und Sterben seines Sohnes Jesus Christus vorgemacht: Barmherzigkeit zeigt sich in selbstlosem Handeln, in uneigennütziger Liebe und in Gewaltverzicht.

Im Predigttext nennt Jesus ganz konkrete Lernschritte, die in der Schule der Barmherzigkeit einzuüben sind – und prägt sie seinen Zuhörerinnen und Zuhörern mit Hilfe von Gleichnissen ein. Der erste Lernschritt besteht darin, darauf zu verzichten, unsere Mitmenschen zu verurteilen. Gewöhnlich ist es doch so: Das, wofür wir unsere Mitmenschen verurteilen, tun wir auch selbst. Aber während wir uns selbst nach unseren Idealen beurteilen, beurteilen wir unsere Mitmenschen nach ihrem tatsächlichen Tun. Kein Wunder, dass wir den anderen gegenüber immer besser dastehen. Uns selbst ehrlicher wahrzunehmen, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Barmherzigkeit. Schon das Sprichwort weiß es: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Allerdings türmt sich auf dem Weg dahin ein mächtiges Hindernis auf: Die Wahrheit tut meistens weh. Das gilt erst recht für die Wahrheit uns selbst gegenüber. Aber die Schmerzen lohnen sich! Schon in den Sprüchen im Alten Testament heißt es: „Dem Aufrichtigen lässt es Gott gelingen.“ Und im Neuen Testament ist zu lesen: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“

 

Der nächste Lernschritt auf dem Weg zu barmherzigen Verhalten, den Jesus nennt, besteht in der Einübung von Großzügigkeit. Was darunter zu verstehen ist, hat der Apostel Paulus im Römerbrief wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Wenn deinen Feind hungert, gibt ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Derjenige, der seinem Feind wohltut, nicht Böses mit Bösem vergilt, sammelt glühende Kohlen auf dessen Haupt. Ein drastisch-anschauliches Bild: So unerträglich, wie es für einen Menschen ist, glühende Kohlen auf dem Haupt zu tragen, so unerträglich kann es für einen Menschen werden, seine feindliche Gesinnung aufrechtzuerhalten, wenn ihm Gutes getan wird. Er fühlt sich genötigt, seine Haltung dem Gegner gegenüber aufzugeben! Güte besitzt die Kraft, den Gegner zu beschämen und auf diese Weise seine Feindschaft zu überwinden. Allerdings bietet selbst gütiges, ja sogar liebevolles Verhalten keine Garantie dafür, dass der Feind zum Freund wird. Das gilt für den zwischenmenschlichen genauso wie für den gesellschaftlich-politischen Bereich.

 

Und schließlich ein dritter und letzter Lernschritt in der Schule der Barmherzigkeit. Jesus bringt ihn in einem Gleichnis zum Ausdruck: Wir sollen lernen, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge und erst danach den Splitter aus dem Auge unseres Mitmenschen herauszuziehen. Christen glauben, dass alle Menschen Gott gegenüber tief in der Schuld stehen. Gerade wenn es um die Liebe zu unseren Nächsten geht, versagen wir häufig. Es besteht daher keinerlei Grund, sich über dem anderen, der an mir schuldig geworden ist, zu erheben. Wir alle sind so oder so angewiesen auf Gottes unerschöpfliche Barmherzigkeit. Weil alle vor Gott gleichermaßen schuldig sind, haben wir keinerlei Grund von uns selbst höher als von unseren Mitmenschen zu denken.

4.

Zum Abschluss ein letzter Gedanke: Dass barmherziges Verhalten auch Auswirkungen über den privaten Bereich hinaus haben kann, zeigt die Rückkehr Deutschlands in die Gemeinschaft der Völker nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Weg dahin waren das Eingeständnis der Schuld auf deutscher Seite und die Gewährung von Vergebung durch die von Deutschland überfallenen Nachbarvölker entscheidende Meilensteine. Auf diese Weise kam es zur deutsch-französischen Aussöhnung und später zum Gewaltverzicht und Frieden zwischen Polen und Deutschland. Aus jahrhundertelangen Erbfeinden wurden durch Schuldeingeständnis und Gewährung von Vergebung Verbündete, ja sogar Freunde.


Amen.

Gottes Vergangenheitsbewältigung

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der 1. Timotheusbrief ist einer der drei sog. Pastoralbriefe. Man nennt diese drei kurzen Schriften des Neuen Testaments so, weil es dort um die innere Ordnung der christlichen Gemeinde geht, um die verschiedenen Ämter in ihr und warum es in der Gemeinde Jesu solche überhaupt gibt. Die Pastoralbriefe erinnern an etwas, das wir in unseren Gemeinden oft zu schnell vergessen: Gemeindeleitung hat als vornehmste Aufgabe — vor allen Finanz-, Bau- und Personaldingen — darauf zu achten, dass Kirche Kirche bleibt und sich nicht so stark auf Organisationsfragen fokussiert, dass sie von weltlichen Institutionen nicht mehr unterscheidbar ist. Pfarrer*innen und Kirchenvorstände tragen Verantwortung dafür, dass sich der Weg einer Gemeinde weder in hektischem Aktivismus noch in erwartungsloser Trägheit verliert — was zwei Seiten derselben Medaille sind. Sie sollen dafür Sorge tragen, dass in allen Aktivitäten das Evangelium in seiner Weite verkündigt und gelebt, und nicht nur als Steinbruch zur Bestätigung der eigenen Meinungen benutzt wird.

I.

Paulus kommt in diesem Brief gleich zur Sache. In der Gemeinde des Timotheus steht es, wie in vielen frühchristlichen Gemeinden, nicht zum Besten. Da gibt es welche, die es zwar mit der Bibel halten, sie aber sehr spitzfindig auslegen. Sie lesen ihre Lieblingsgedanken in die biblischen Texte hinein. Sie hören nicht zuerst, was Gott ihnen darin zu sagen hat, sondern bringen sofort sich selbst und ihre Lieblingsgedanken ins Spiel. Das wirkt wie ein ansteckender Virus, bringt Unruhe in die Gemeinde. Deshalb fordert Paulus die Empfänger seines Briefes wiederholt auf, bei der „gesunden Lehre“ zu bleiben. Interessant dabei ist: Er dekretiert nicht nach Art einer Glaubenskongregation „Die Kirche aber lehrt!“, sondern er bringt sich selbst ins Spiel, seine persönliche Geschichte. Darin liegt etwas Wichtiges. Für das Evangelium eintreten kann nur, wer auch unbefangen und couragiert ist, Ich zu sagen, also mit seinen eigenen Glaubenserfahrungen nicht verdruckst hinterm Berg zu halten. Anders als in den Freikirchen gibt es in der ziemlich verbürgerlichten Volkskirche bei uns Pfarrer*innen die Versuchung, dass wir uns, wenn es darum geht, was unseren Glauben trägt, was in der Kirche gilt, persönlich eher bedeckt halten und hinter theologischen Richtigkeiten als Menschen verblassen. Paulus widersteht dieser Versuchung. Dabei war der Mann ja alles andere als pflegeleicht. Einem Streit ist er selten aus dem Weg gegangen. Aber er muss doch ein in der Tiefe seelisch intakter Mensch gewesen sein. Sonst könnte er nicht so unbefangen Ich sagen wie hier und an vielen anderen Stellen. „Ich, der ich früher ein Lästerer und Verfolger und Frevler war.“ Das klingt zunächst fast kokett. Paulus war ja kein Menschenhändler oder Missbrauchstäter oder Steuersünder gewesen. Er war ein frommer Rabbiner, hochgebildet. Mit brennendem Herzen, alles für Gott einzusetzen. Aber als er dann vor den Toren von Damaskus buchstäblich ins Licht Jesu gerät, erkennt er, destruktiv Religion auch sein kann, wenn sie eifernd wird.

Ich, der ich früher ein Lästerer und Verfolger war.“ Da schwingt die große Frage mit: Wie bewältigt man schwierige Vergangenheit? Seit nunmehr 80 Jahren begleitet dieses Thema unsere deutsche Geschichte. Im Blick auf die NS—Verbrechen, seit 1989 im Blick auf 40 Jahre Diktatur in der DDR. Und je weniger die werden, die das noch selbst erlebt haben, desto mehr werden jene, die davon eigentlich nichts mehr hören und drüber reden wollen. Vergangenheitsbewältigung steht aber auch in Familien, in der Schule, in Betrieben, auch in Kirchengemeinden oft auf der Tagesordnung. Wie schaffe ich es, den Schüler, der mich ständig nervt, die Tochter, die die Pubertät zur wandelnden Ich—AG gemacht hat, den Kirchenvorstand, der mir das Leben schwer macht (und ich ihm), nicht dauernd darauf zu behaften, was sie mir mal angetan haben?

Liebe Gemeinde, die großen biblischen Gestalten sind durchweg keine Celebrities, sondern Leute mit komplizierten, oft gebrochenen Biografien. Das Beeindruckende ist: Sie werden nicht zu Helden stilisiert, ihr persönliches Versagen wird nicht weggefrömmelt, sondern nüchtern auf die Folgen hin bedacht. Jakob, der seinen Zwillingsbruder Esau auf miese Art ums Erbe bringt, und dieses Schurkenstück ein Leben lang nicht los wird. Mose, als junger Mann ein Freiheitskämpfer, der auch Gewalt und Mord einsetzt. Das wirkt sich bis zuletzt aus: Er muss sterben, bevor er das gelobte Land betreten kann. David, der großer König, dessen Korruptions— und Sexaffäre aus einem Shakespeare—Drama kommen könnte; später muss er das qualvolle Sterben seines Sohnes erleiden. Petrus, der, als es drauf ankommt, kläglich an sich selbst, seiner Feigheit scheitert. Und eben auch der, der zunächst mit gewaltsam die Ausbreitung des Christusglaubens zu verhindern sucht. Dieser Paulus spricht wiederholt seine persönliche Geschichte an — auch, weil er im Blick auf sein Damaskuserlebnis immer wieder verdächtigt wird, ein Wendehals zu sein.

II.

„Ich habe es unwissend getan“, sagt Paulus hier zu dieser Vergangenheit. Das klingt erstmal nach der Standardantwort derer, die sich aus jeder Mitverantwortung rauswinden wollen. „Ich habe nichts gewusst“: vor 80 Jahren in Deutschland millionenfach zu vernehmen. Aber ich höre es doch anders. Indem Paulus sein Leben in einen Dank an Jesus und am Ende unseres Abschnitts in diesen überschwänglichen Lobpreis Gottes einbettet, macht er deutlich: dass ich das überhaupt kann, auch über das Dunkle in meiner Biographie sprechen — das ist nicht meine moralische Leistung, das verdanke ich allein Christus, der mich in meinem Verstricktsein gesucht und gefunden hat. Das ist eine wichtige Voraussetzung für Vergangenheitsbewältigung: Wenn Gott uns mit unseren Leichen im Keller konfrontiert, dann nicht, um uns klein zu machen. Gottes Vergangenheitsbewältigung hat immer ein Ziel: der Mensch soll von seiner Schuld nicht erdrückt, er soll wieder aufgerichtet werden. Nur durch diese Barmherzigkeit werden wir fähig, uns unseren Verfehlungen zu stellen, geistlich gesprochen: Buße zu tun. Denken Sie an Jesu Umgang mit schuldig gewordenen Menschen: der Ehebrecherin, dem Zöllner Zachäus u.v.a. Immer ist zuerst das Vergeben, das Wiederaufrichten dran — erst danach wird auch die Umkehr zu einem veränderten Leben ein Thema. Und wenn es richtig kompliziert ist, wie damals bei Saulus, der zum Paulus werden soll, dann kann es auch schon mal sein, dass uns Gott für einige Tage schachmatt setzt und aus dem Verkehr zieht.

Paulus bekennt sich zu seiner Vergangenheit. Er benennt konkret, was er angerichtet hat. Er kehrt nichts unter den Teppich, zieht auch nicht die Salami aus dem Rucksack und gibt immer nur das nur zu, was eh nicht mehr zu bestreiten ist. Er kann das aber nur, weil ihn der Glaube, das Vertrauen auf Gottes Art der Vergangenheitsbewältigung stark gemacht haben. „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“, schreibt er nach Korinth (1. Kor 15,10). Und nun hebt Paulus in unserem Text seine persönliche Erfahrung ins Objektive: „Das ist gewiss, dass Christus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen.“ Alles Wirken Jesu hat den einen Sinn: Menschen aus ihrem Unglück ins Glück, aus ihrer Verstrickung in geklärte Verhältnisse zu führen. So wie Paulus vor Damaskus von Gott aus dem fundamentalistischen Wahrheitswahn gezogen und mit einer neuen, großen Aufgabe betraut wurde, so ist jedem von uns die Möglichkeit gegeben, fragwürdige Wege zu verlassen, weil wir alle von Gott gerechtfertigte Sünder sind. Das müssen wir immer mitdenken, wenn wir in der Kirche das beladene, oft missbrauchte Wort Sünde in den Mund nehmen.

III.

Aber gebrauchen dürfen, ja sollen wir es durchaus noch. Es gibt in unserer Gesellschaft — und auch in der Kirche — eine Entwicklung, die nicht gut tut. Nämlich, das Wort „Sünde“ tunlichst zu vermeiden, als ob der Mensch ein porentief reines Wesen sei. Eine Form solcher Sündenverdrängung besteht darin, nur noch kollektiv oder anonym von Sünde zu reden. In dem Sinn, dass menschliches Fehlverhalten stets auf „äußere Umstände“ zurückgeführt und so plausibilisiert wird. Beispiele gibt es genug: das Treiben von Neonazis wird schöngeredet, in dem wir flott auf ihre tristen Lebensgeschichten verweisen, die sozialen Verwerfungen, Erwerbslosigkeit, Aufwachsen in der „Platte“. Oder wir strecken angesichts der Schrecken, die Russland seit drei Jahren in der Ukraine anrichtet, mit Welterklärergestus den Zeigefinger auf „die Amerikaner“ und was die über Jahrzehnte durch ihre aggressive Politik angerichtet hätten. Oder wir entschuldigen die immer größere Zahl an Nichtwählern, die sich an der einstmals schwer erkämpften Demokratie versündigen, mit der „Politikverdrossenheit“. So bleibt Schuld am Ende abstrakt und ungreifbar.

Aber solche Anonymisierung und Kollektivierung von Sünde ist eigentlich eine Entmündigung des Menschen, die dem biblischen Bild vom Menschen und seiner Würde widerspricht. Jeder mündige Mensch ist in einem letzten Sinn selbst für das verantwortlich, was er tut oder lässt. Das gilt auch für den KZ—Wächter und den Mauerschützen, für den alkoholisierten Autofahrer und den Nachbarn, der als sog. „besorgter Bürger“ Nachts vor dem Flüchtlingsheim Radau macht. Jeder Mensch hat immer Möglichkeiten, Ja oder Nein zu sagen, richtig oder falsch zu handeln.

In unser Rechtssystem sind die großen biblischen Gedanken von der unantastbaren Würde des einzelnen Menschen eingeflossen. So wird bei Gericht der Täter auf seine eigene Verantwortung angesprochen. Eine Kollektivierung von Straftaten, wie es sie in der NS—Zeit mit der „Sippenhaft“ gab, ist ausgeschlossen. Das Strafrecht soll nicht der Zerstörung einer Person dienen, sondern ihrer Aufrichtung, ihrer Resozialisierung. Deshalb gehört es zum eisernen Bestand unseres Strafrechts, dass kein Beschuldigter sich selber belasten muss. Auch das ist noch ein Ausfluss des biblischen Menschenbildes, gemäß dem ich als Person immer noch mehr bin als die Summe meiner Taten und Untaten. Das gehört auch zum Verdunsten des Christlichen in unserer Gesellschaft, dass immer weniger Menschen sich das noch vorstellen können — weshalb kaum jemand noch offen und ungeschönt zu seiner Schuld stehen will. Das hat sicher auch mit dem mächtigen Gerichtshof der öffentlichen Meinung zu tun, wie der mit prominenten Menschen umgeht, denen etwas vorgeworfen wird. Die Verrohung in den (a)sozialen Medien, unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit, hat dazu geführt, dass es oft nur noch ums Niedermachen, ja um Existenzvernichtung geht.

Umso ermutigender ist es, wenn es Menschen gibt, die unbefangen zu ihrem persönlichen Versagen stehen. Auch wenn das jetzt schon 15 Jahre her ist, aber da denken viele immer noch an Margot Käßmann. Es ist und bleibt bemerkenswert, dass diese ja durchaus umstrittene Frau in dem Moment das höchste Ansehen gewann und so viel Respekt, ja Zuneigung aus vielen Richtungen erfuhr, wo sie für ein Fehlverhalten uneingeschränkt, ohne jedes „Erklären“—Wollen einstand, sich ohne Wenn und Aber zu ihrer Schuld bekannte und von allen kirchlichen Ämtern zurücktrat. Das kann wohl, wer etwas von dem Liedvers weiß, den sie zum Ende jener berühmten Pressekonferenz zitierte: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“.

Liebe Gemeinde, alle weitgespannten Heilsbemühungen Gottes, von denen die Bibel von A bis Z erzählt, zielen darauf ab, dass wir nicht mit den Brüchen und Peinlichkeiten unseres Lebens identifiziert und darauf festgeschrieben werden. Wir haben es bereits in der Evangeliumslesung gehört: 99 prächtige Schafe werden zurückgelassen, um mich, um dich zu finden. Das ist das Geschenk einer neuen, von Gott ermöglichten Identität. Wer möchte daraufhin nicht mit Paulus jubeln: „Gott, dem Ewigen, dem Unvergänglichen, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit!“

 

Amen.

Wir sind Petrus!

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam“ — „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“. So steht der Satz Jesu aus unserem Predigttext eingemeißelt in der gewaltigen Kuppel des Petersdoms zu Rom. In Marmor gemeißelter Anspruch einer Autorität aus göttlichem Recht. Die katholische Kirche sieht in dieser Ansage Jesu an Petrus die biblische Gründungsurkunde für das Papstamt. Auch ein in der Wolle gefärbter Protestant, unter der Kuppel von St. Peter stehend, kann da ein gewisse Überwältigung durch diesen Eindruck empfinden. Als ich das erste Mal dort stand, durchfuhr mich schon ein bisschen ein heiliger Schauer. Da kommt unsere Frauenkirchenkuppel mit ihren anmutigen Barockbildern dann doch nicht mehr mit.

I.

Wir brauchen uns nicht lange mit der Frage aufhalten, wer oder was hier eigentlich mit dem „Felsen“ gemeint ist: Ist es das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes, das Petrus hier ablegt? So ist die Stelle über Jahrhunderte oft ausgelegt worden: Der rechte christliche Glaube ist dann das Fundament, auf dem die Kirche erbaut wird. Oder ist es Christus selbst? Viele haben als Konfirmationsspruch das Pauluswort erhalten „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor 3,11). Oder ist es am Ende doch die Person Petrus, wie es die heutigen Bibelwissenschaftler, evangelische wie katholische, weithin verstehen? — Wir können diese Fragen und den Streit um ihre Beantwortung außen vor lassen. Biblisch und theologisch ist das höchst interessant. Aber für eine evangelische Predigt über diesen Text ist es unerheblich. Denn eines ist sicher: Von der Verheißung an Petrus führt kein direkter Weg zum römischen Papstamt. Das Matthäusevangelium denkt weder überhaupt an ein Petrusamt noch macht es irgendwelche Andeutungen darüber, dass es eine ununterbrochene Nachfolge in einem solchen Amt geben solle. Überdies sagt Matthäus über den Oberjünger Petrus nichts, was nicht auch für alle anderen Jünger gilt. Dieses letzte Argument verwendet Luther in seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kirche von Anfang an. 1520 schreibt er:

„Von den Worten des Matthäus her hat man die Schlüssel allein St. Petrus zugeeignet, aber derselbe Matthäus hat dieses Verständnis im 18. Kapitel widerlegt, wo Christus zu allen insgesamt sagt: ‚Was ihr werdet binden auf Erden, soll gebunden sein im Himmel, und was ihr werdet auflösen auf Erden, soll gelöst sein im Himmel.’ Hier ist es klar, dass Christus sich selbst auslegt und in diesem Kapitel das vorhergehende erklärt, nämlich dass St. Petrus an Stelle der ganzen Gemeinde, und nicht um seiner Person willen, die Schlüssel gegeben sind“.

Soweit Luther. Die konfessionellen Kämpfe sind Vergangenheit. Gottseidank. So kann ich dieses Luther—Zitat auch ökumenisch hören, indem ich den alten Lehrsatz der katholischen Kirche positiv auf evangelisch buchstabiere: Ubi Petrus, ibi ecclesia — Wo Petrus ist, da ist die Kirche. Das kann sich auch jeder Protestant zu eigen machen: wenn wir „Petrus“ nicht als Einzelperson, nicht als Inhaber einer Jurisdiktionsgewalt, sondern als Inbild des immer wieder enttäuschend kleingläubigen, immer wieder hinfallenden Glaubenden sehen, der gerade so von Gott in Dienst genommen und mit unerhörtem Vertrauen ausgestattet wird. Evangelisch gesprochen: Petrus als Inbild des von Gott gerechtfertigten, geliebten Sünders. Also Petrus als du und ich, als Inbild von uns allen. „Wir sind Papst!“ — lautete genau vor 20 Jahren eine legendäre Schlagzeile der Bildzeitung aus gegebenem Anlass. Wir sind Petrus — lese ich diesen Text auf evangelisch. Dann gilt Jesu Versprechen, dass selbst die Pforten der Hölle seine Kirche nicht überwältigen werden, allen Kirchen, die Christus als ihren Herrn bekennen. Anders gesagt: Petrus wird hier — und anderswo in den Evangelien — als besonders herausgestellt, weil er besonders für etwas Allgemeines steht.

Freilich, auch nach über 500 Jahren bleibt das Papstamt ein ganz schwieriges Hindernis auf dem Weg zur Einheit, oder sagen wir bescheidener: zur Kirchengemeinschaft zwischen Rom und Wittenberg. Vor genau 30 Jahren hat Johannes Paul II., das war damals sensationell, das selbst ausgesprochen. In der Ökumene—Enzyklika „Ute unum sint“ stellte zum ersten Mal ein Papst fest, dass sein Amt für nichtkatholische Christen eine Provokation auf dem Weg zur Einheit darstellt. Und er rief alle Kirchen auf, in einen ökumenischen Dialog über das Petrusamt einzusteigen. — Zugleich kann ich mich auch als evangelischer Christ nur freuen, was für ein Profil, was für eine weltweite Ausstrahlung Päpste wie vor 65 Jahren der unvergessene Johannes XXIII. oder Johannes Paul II. oder zuletzt Franziskus dem christlichen Glauben gegeben haben. Wenn Johannes Paul II. alt und hinfällig, aber in der Sache glasklar, dem kriegslustigen George Bush sein Nein zum Einmarsch in den Irak entgegenschleuderte; wenn Franziskus in Nahost zum Frieden oder auf Lampedusa zur Gerechtigkeit für die Schwächsten mahnte, wenn er am Gründonnerstag statt in seine Basilika ins Gefängnis ging und statt Priestern und Kardinälen Gefangenen, Andersgläubigen und sogar Frauen die Füße wusch: dann haben viele Menschen nicht einfach den Papst der katholischen Kirche, sondern das Gesicht des Christentums überhaupt gesehen. Auch aus evangelischer Sicht kann das Papstamt in der konkreten Person zu höchstem Respekt nötigen. Und persönlich kann ich mir durchaus eine Kirchengemeinschaft unter einem Primat des Bischofs von Rom vorstellen — wenn diese Vorrangstellung eine geistliche, und keine jurisdiktionelle wäre. Also ein sog. Ehrenprimat. Wie beim Erzbischof von Canterbury für die weltweite anglikanische Gemeinschaft.

Freilich: Die Autorität des Papstamtes ist nicht einem Franziskus oder Benedikt XVI. oder neuerdings Leo persönlich vorbehalten. Sie wird nach römischem Verständnis objektiv und unverlierbar jedem verliehen, der auf den Stuhl Petri gewählt wird. Nun gab es aber unter den bisher 265 Päpsten bekanntlich nicht nur Lichtgestalten. Auch als Papst bleibt ein Papst Mensch, er ist vor Irrtum und Selbstüberschätzung nicht gefeit. Als protestantischer Christ sehe die enormen positiven Möglichkeiten dieses ungeheuerlichen Amtes. Noch mehr aber fürchte seine Gefährdungen.

II.

Ob aber katholische oder evangelische, ob anglikanische oder orthodoxe Kirche — die Verheißung Christi gilt ihnen allen: „Die Pforten der Hölle sollen die Kirche nicht überwältigen.“ Keine Kirche kann diese buchstäblich felsenfeste Gewissheit auf menschliche Qualitäten gründen. Es ist allein diese Zusage Gottes, die es möglich macht, so von der Kirche zu reden und damit alle Ängste um die Zukunft der Kirche in Schach zu halten. Aber was ist damit gemeint, dass die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen werden? Wir brauchen dazu nur auf die Verfolgungszeiten der Kirche zu blicken. Die gab es ja über die Jahrhunderte immer wieder, und viele von ihnen waren die Hölle. Über 100 Jahre ist es her, dass die stalinistische Gewaltherrschaft begann und zahllose Christen als Märtyrer sterben ließ. In der Sowjetunion ging das über 70 Jahre. Diese lange Zeit ist es, die mich daran, und weniger an die NS—Diktatur denken lässt. Man mag sich nicht ausmalen, was Christen im Herrschaftsbereich der Nazis passiert wäre, hätte die NS—Diktatur auch über Jahrzehnte Bestand gehabt. Unter der stalinistischen Gewaltherrschaft jedenfalls wurde die Kirche aus der Öffentlichkeit eliminiert, die Gläubigen mussten Nachteile hinnehmen oder noch Schlimmeres. Kirchen wurden zu Schwimmbädern oder Kinos mutiert oder gleich ganz geschleift. Aber nach der Wende zeigte sich in Russland ganz Erstaunliches: Die Kirche lebte, die Hölle, durch die sie gegangen war, hatte sie nicht überwältigt. Das Blut der Märtyrer war auch dort der Samen der Kirche. Dass die russische Kirche sich als Nationalkirche sieht und nicht erst seit Putins Überfall auf die Ukraine politisch eine ganz gruselige Rolle spielt, ist ein sehr anderes Thema, das das zuvor Gesagte nicht hinfällig macht.

Es fällt mir schwer, über solche Dinge zu reden. Denn ich gehöre zu einer Generation, die aus eigener Anschauung nichts erlebt hat, was für die Kirche auch nur von ferne so etwas wie die Hölle bedeutet hätte. Jedenfalls in der alten BRD, wo ich groß geworden und kirchlich sozialisiert bin, waren wir im Grunde Schönwetterchristen, die eisiger Kälte und sengender Hitze nie ausgesetzt waren. Gott sei Dank! Manchmal täte es uns wohl gut, uns vor Augen zu halten, was wirklich bedrängend ist. Denn im Blick auf andere Regionen dieser Welt jammern wir auf hohem Niveau.

III.

Jesus hat Petrus ja nicht versprochen, dass es für die Kirche eine Art Besitzstandswahrung gibt. Das immer alles Himmelhoch jauchzend ist, nur noch Halleluja. Er hat ihm nur noch ein zweites „verheißen“: nämlich dass er ihn „gürten“, also unentrinnbar an seinen, Jesu, Willen binden und dorthin führen werde, wohin er, Petrus, nicht will. Also nicht dahin, wo man Lorbeeren ernten kann. Sondern dahin, wo es weh tut. Bei Petrus war damit der Weg nach Rom und der Märtyrertod gemeint. Was kann es für uns heißen? Die Einschnitte, die in dieser Zeit in unseren Kirchen vielen Gemeinden zugemutet werden, tun vielen weh. Veränderungen bringen unweigerlich mit sich, dass auch Gewohntes, Liebgewordenes aufgegeben werden muss. Gerade unter den Engagierten löst das oft Misstrauen aus. Dann klammern wir uns gerne ans Vertraute. Das ist das uralte Bild der Rückschau auf die vermeintlichen Fleischtöpfe Ägyptens. Ich erinnere noch, wie mühsam es vor 55 Jahren für Willy Brandt und seine Regierung war, die Deutschen von der Unumkehrbarkeit des Verlusts der früheren Ostgebiete zu überzeugen. Für manche war das damals unglaublich schmerzhaft und kaum vorstellbar. Und doch ist es gelungen, die große Mehrheit der Deutschen auf diesen Weg mitzunehmen, den später niemand mehr ernsthaft angezweifelt hat.

Darum ist die Verheißung unseres Textes so wichtig: Die Pforten der Hölle werden die Kirche niemals überwältigen. Jesus Christus nimmt uns die Angst um die Zukunft der Kirche. Das schafft Gelassenheit, und wir werden frei, ohne Wehleidigkeit und Bitterkeit die fälligen Reformen anzugehen. Ecclesia semper reformanda - Kirche erneuert sich fortwährend, wie der Kirchenvater Augustinus gesagt hat. Im Geist des Vertrauens Vertrautes verlassen und Neues auszuprobieren: auch das ist eine Wirkung von Gottes pfingstlichem Geist. Deshalb lasse ich zum Ende Martin Luther zu Wort kommen — mit einem Wort, dem auch der treueste Katholik vorbehaltlos zustimmen sollte: „Wir sind es doch nicht, die die Kirche erhalten könnten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein, sondern der war‘s, ist’s noch und wird es sein, der da spricht: ‚Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende’“.

Deshalb können wir uns jetzt pfingstlich beschwingt zusingen:

Erkorn aus allen Völkern, doch als ein Volk gezählt, ein Herr ist’s und ein Glaube, ein Geist, der sie beseelt, und einen heilgen Namen ehrt sie, ein heilges Mahl, und eine Hoffnung teil sie kraft seiner Gnadenwahl. (EG 264,2)

 

Amen.

Mann kann nicht nicht kommunizieren.

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke
am Pfingstsonntag in der St. Michael's Cathedral Coventry

Dies ist die deutsche Übersetzung; die Predigt wurde auf Englisch gehalten (siehe nachfolgenden Reiter).

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Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt! Amen.

Es ist mir eine große Ehre, heute hier bei Ihnen in der Kathedrale sein zu können und an diesem hohen Feiertag zu predigen. Vielen Dank für die Einladung, lieber John!


Liebe Schwestern und Brüder,

man kann nicht nicht kommunizieren. Jeder Mensch, der sich irgendwann einmal mit den Grundlagen menschlicher Kommunikation beschäftigt, macht sich diese basale Aussage bewusst. Immer kommuniziert mensch, redet, auch wenn er und sie schweigt, sendet Signale durch Mimik und Gestik. Selbst jemand, der zur Salzsäule erstarrt, spricht Bände.

Man kann nicht nicht kommunizieren.

Und schon nehmen Missverständnisse ihren Lauf. Eine Geste, die in Süditalien Anerkennung ausdrückt, sollte in Norditalien tunlichst vermieden werden, da sie dort als beleidigend aufgefasst wird. In Deutschland als Kamel bezeichnet zu werden, ist wenig schmeichelhaft. Im Orient hingegen verdient ein menschliches Kamel hohen Respekt, weil das gleichnamige vierbeinige Geschöpf als ausdauernd, genügsam und anpassungsfähig gilt.

Doch ich liebe diese Vielfalt. Auch wenn ich mich mit ihnen mühe: Ich liebe Sprachen und deren Klang und höre sehr gern zu, wenn in Ferienregionen oder auf internationalen Flughäfen die Luft nur so schwirrt von unterschiedlichsten Sprachen, Stimmen, Dialekten und Sprechmelodien. Ich freue mich, dass die Welt größer ist als die meines Alltags. Dass da etwas spürbar wird von der einen großen und bunten Welt. Und wenn ich die Menschen beobachte, die in fremden Sprachen miteinander kommunizieren, ahne ich, dass die Inhalte ähnlich sind. Da tauscht man sich über dienstliche Angelegenheiten aus. Da werden leise Worte von Abschiedstränen begleitet. Da diskutieren Leute sehr emotional miteinander. Andere schauen gemeinsam in den Reiseführer und beraten ihre nächste Etappe.

Aber ich kenne auch das andere Phänomen: Durch verschiedene Umstände wurde ich im tiefsten Ägypten von meiner Reisegruppe getrennt. Ich sollte mit einem Taxi vom Reiseunternehmen zu unserer nächsten Unterkunft gebracht werden und dort die Gruppe wiedertreffen. Ich war mir nicht so ganz sicher, ob ich dort jemals ankommen werde, denn der Taxifahrer sprach nur ein paar Brocken englisch und konnte mir nicht eindeutig vermitteln, ob er wirklich vom entsprechenden Reiseunternehmen beauftragt worden war... Es ging alles gut – ich stehe heute hier in der Kathedrale, aber weiche Knie hatte ich damals doch, weil meine Arabischkenntnisse sich auf „Bitte, danke, guten Tag und auf Wiedersehen“ beschränkten. Sprache hatte in diesem Fall keine verbindende Funktion. Im Gegenteil: Die fremde Sprache löste Misstrauen und Beklommenheit aus.

In der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel sind die Folgen unterschiedlicher Sprachen noch weitreichender – ausgehend davon, welche Nebenwirkungen eine einheitliche Sprache haben kann. Aber hören Sie selbst.

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache.
Als sie nun von Osten aufbrachen,
fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.
Und sie sprachen untereinander:
Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! –
und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel
und sprachen:
Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen,
dessen Spitze bis an den Himmel reiche,
dass wir uns einen Namen machen;
denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.
Da fuhr der HERR hernieder,
dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.
Und der HERR sprach:
Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen
und dies ist der Anfang ihres Tuns;
nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem,
was sie sich vorgenommen haben zu tun.
Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren,
dass keiner des andern Sprache verstehe!
So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde,
dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.
Daher heißt ihr Name Babel,
weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache
und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.

Wir meinen diese Erzählung so gut zu kennen. Wenn von gigantischen Projekten die Rede ist, wo es um „höher, weiter, schneller, größer“ des Menschen geht, wird warnend auf den Turmbau zu Babel verwiesen. Vorsicht, Gott lässt sich nicht herausfordern! Nehmt euch in Acht vor Selbstüberschätzung! Doch bei genauerem Hineinlesen entdecke ich, dass dies nicht die „Hauptschlagader“ dieser Erzählung ist. Etwas anderes treibt die Menschen zusammen – hinein in die zu errichtenden Mauern einer Stadt mit einem sehr hohen Turm. Noch im vorangehenden Kapitel werden die Vielsprachigkeit und Diversität der Völker gepriesen. Doch jetzt führt es hier zu der ganz menschlichen Angst, an Bedeutung zu verlieren, an Sicherheit und gemeinsamer Stärke. Unkenntlich zu werden in einer bunten Gemeinschaft.

Angst ist immer eine schlechte Beraterin, denn sie führt in die Enge. Menschen schotten sich ab und drängen auf das Sprechen mit einer Stimme und in einer Sprache. Natürlich in der eigenen. Sie wollen erkennbar bleiben und alles dafür tun, sich einen Namen zu machen. Doch wenn sich alle einen Namen machen, wie es in der Babel-Geschichte heißt: vor wem machen sie sich diesen dann? Besser gesagt: gegen wen?

Das Ansinnen richtet sich gegen Gott. Denn ihm wird nicht getraut. „Er hat uns aus dem Schutz des Gartens geworfen, bloß weil uns die Bäume der Erkenntnis und des Lebens so gelockt haben. Er hat uns der Vielfalt ausgesetzt. Aber das gibt doch nur Streit und Brudermord.“ Wir nehmen das lieber selber in die Hand: „Ich bin der Herr, mein Gott. Ich dulde keinen anderen Gott neben - und schon gar nicht über mir!“ Von mir soll man reden. Die Spitze des Turmes wird bis in den Himmel reichen. - Statthalter Gottes? In seinem Namen die Erde bebauen und kultivieren? Nein, selbst Gott! - Diese Anmaßung wird zur Dämonie. Der Anfang vom Ende.

Angst vor einem Ausgesetztsein. Geschenkte Freiheit, die Angst macht – ein uraltes Thema, dessen Bearbeitung auch heute immer noch in die gleiche Richtung führt: zu Populismus und Hass allem Fremden gegenüber, zu Ausgrenzung und eingeschworenen Parolen, zu einem Denken in Schwarz-weiß. „Wohlan, lasst uns bauen: an engen Mauern, die uns in Sicherheit wiegen und an Grenzen, die unser Herz einzäunen, um es vor barmherzigen Anwandlungen zu schützen. Mit unseren Türmen kommen wir auch ohne Gott in den Himmel.“

Gott muss sich ganz tief herabbeugen, um zu sehen, was da eigentlich los ist. Jedenfalls haben die Turm-Erbauer noch auffällig viel Luft nach oben. Und Gott sieht zweierlei. Zum einen: den Traum aller Diktatoren. Eine Sprache – eine Stadt- bzw. Landfläche – eine Idee – ein Tun. Was für eine Katastrophe! Wenn die Welt nur eine Sprache hätte, welche Armut an Schönheit, Geist und Freude! Jede Sprache ist eine Welt, aber eine jede Einzelsprache ist ein Gefängnis. Gott schuf die Vielfalt und er freut sich über das vielstimmige Lob. Gott will, dass der Glaube denkt und singt, verschiedene Lieder, verschiedene Gedanken. Zum anderen sieht Gott, wie die Menschen jedes Maß und alle Demut verlieren. – Um nicht falsch verstanden zu werden: Menschen sollen bauen, forschen, kultivieren und fortschrittlich sein. Aber es wird schief, wenn Gott die Menschen bewundern soll und nicht umgekehrt. Zu Dienst und Demut der Kinder Gottes gehört das Lob des Allmächtigen: Ihm allein ist nichts unmöglich! Der Mensch bleibe ein Mensch – und handle auch so. Er ist ein Wesen der Grenze und der Begrenzung. Sein Tun richte er an Gottes Willen aus. In dieses Tun greift Gott nun ein:

Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren,
dass keiner des andern Sprache verstehe!

Nun haben die Menschen ihre je eigene Sprache gefunden – und sind aneinander gewiesen, wenn sie sich begegnen, einander verstehen und die ihnen anvertraute Erde gestalten wollen.

Haben Sie es gemerkt, liebe Gemeinde? Gott straft nicht: der Turm wird nicht zerstört, die Stadt nicht abgebaut, die Menschen leben weiter. Gott straft nicht – er schützt! Er schützt uns vor Einseitigkeit und Abschottung im Denken und Tun. Er bewahrt uns vor uns selbst! Er schickt uns hinaus ins Offene, stellt unsere „Füße auf weiten Raum“ (Ps 31,9). Er überträgt uns Verantwortung für seine Erde. Wir können und müssen uns nicht selbst durch unsere Werke einen Namen machen, der ja doch immer wieder mit Blut und Gewalt bezahlt werden würde.

Die Vielfalt der Sprachen, der Reichtum der Menschheit, die Weite des Denkens bleiben uns erhalten. Das ändert sich auch mit dem ersten Pfingstfest in Jerusalem nicht, von dem wir vorhin aus der Apostelgeschichte hörten. Es gibt keine neue Einheitssprache, sondern jeder redet weiter in seiner Sprache. Der göttliche Geist verbindet die Menschen über alle Sprachgrenzen hinweg. Denn Gottes Geist schenkt ein Verstehen, er ist ein Geist der Liebe. Nicht länger ist die Angst die Beraterin, sondern die Liebe.

Wir sagen manchmal über die Dresdener Frauenkirche, sie sei eine Osterkirche, weil sie zu neuem Leben erweckt wurde. Sie ist aber auch und vielleicht sogar zuerst eine Kirche des Pfingstfestes. Ich stelle mir nur mal kurz vor, was alles fehlen würde, wenn Gott diesen Bau einseitigen und ängstlichen Erbauern überlassen hätte.

Die Frauenkirche in Dresden lebt von der Vielfalt und durch die Vielfalt der Sprachen und Völker. Das neue Kuppelkreuz vom britischen Volk, es wäre nicht da. Das Nagelkreuz, das damit verbundene Versöhnungswerk mit einstigen Feinden – nicht vorhanden. Ein Ort der Begegnung und Verständigung zwischen Ost und West, Nord und Süd – er wäre nicht da. Wir würden so manche gespendete Säule oder Tür und auch die Straßburger Orgel im Bauwerk vermissen! Die ganze Architektur hätte sich möglicherweise nicht an italienischen Vorbildern orientiert. Ganz zu schweigen von der internationalen Vielfalt und Schönheit der Musik. Nicht nur, aber besonders in dieser Kirche feiern wir den Reichtum der Sprachen und der Vielfalt und den Geist der Liebe, der uns alle verbindet und die Angst verbannt. Ich spüre die Gemeinsamkeit mit dieser Kirche. Die St. Michael’s Kathedrale – wie die Frauenkirche ebenfalls eine Kirche des Pfingstfestes.

Gottes Geist baut keine Türme, die in den Himmel ragen.
Er baut Gemeinschaft unter uns.
Er schenkt ein Verstehen der Herzen.
Er wirkt Versöhnung und Frieden.
Der Heilige Geist macht Mut zum Aufbruch in ein neues Leben.

Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Pfingstfest!


AMEN      

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen.

You cannot not communicate

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke
am Pfingstsonntag in der St. Michael's Cathedral Coventry
Dies ist die englische Original-Fassung,

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Grace to you and peace from him who is and who was and who is to come. Amen.

It’s a great honour for me to be here with you today in the Cathedral and to preach on this high feast day. Thank you very much, dear John, for your invitation!


Dear sisters and brothers,

you cannot not communicate.

Everybody who has ever studied the basics of human communication realises this basic statement. People are always communicating, talking even when they are silent, sending signals through facial expressions and gestures. Even someone who freezes into a pillar of salt speaks volumes.

You cannot not communicate. And misunderstandings run their course …

A gesture that expresses recognition in southern Italy should be avoided at all costs in northern Italy, as it is perceived as insulting there. Being called a camel in Germany is not very flattering, but in the Orient a human camel deserves great respect because the four-legged creature of the same name is considered to be persistent, frugal and adaptable.

But I love this diversity. Even if I struggle with them: I love languages and the way they sound and I love listening to the air buzzing with different languages, voices, dialects and speech melodies in holiday regions or at international airports. I’m happy that the world is bigger than my everyday life. That there is a tangible sense of the one big and colourful world. And when I observe people communicating with each other in foreign languages, I realise that the content is similar. They talk about business matters. Quiet words are accompanied by tears of farewell. People have very emotional discussions with each other. Others look at the travel guide together and discuss their next stage.

But I also know the other phenomenon: due to various circumstances, I was separated from my travel group in the depths of Egypt. I was supposed to be taken to our next accommodation by taxi by the travel company and meet up with the group again there. I wasn't quite sure whether I would ever get there, because the taxi driver only spoke a few words of English and couldn't clearly tell me whether he had really been hired by the travel company... It all went well - I'm standing here in the cathedral today, but I still had weak knees back then because my knowledge of Arabic was limited to "please, thank you, good day and goodbye". In this case, language had no unifying function.

On the contrary: the foreign language triggered mistrust and trepidation. In the biblical story of the Tower of Babel, the consequences of different languages are even more far-reaching – based on the side effects that a standardised language can have. But listen for yourself:

Now the whole earth had one language and the same words.
And as they migrated from the east,
they came upon a plain in the land of Shinar and settled there.
And they said to one another,
‘Come, let us make bricks, and burn them thoroughly.’
And they had brick for stone, and bitumen for mortar.
Then they said,
‘Come, let us build ourselves a city, and a tower with its top in the heavens,
and let us make a name for ourselves;
otherwise we shall be scattered abroad upon the face of the whole earth.’
The Lord came down to see the city and the tower, which mortals had built.
And the Lord said,
‘Look, they are one people, and they have all one language;
and this is only the beginning of what they will do;
nothing that they propose to do will now be impossible for them.
Come, let us go down, and confuse their language there,
so that they will not understand one another’s speech.’
So the Lord scattered them abroad from there over the face of all the earth,
and they left off building the city.
Therefore it was called Babel,
because there the Lord confused the language of all the earth;
and from there the Lord scattered them abroad over the face of all the earth.

We think we know this story so well. Whenever there is talk of gigantic projects that are all about "higher, further, faster, bigger" for mankind, there is still a warning reference to the Tower of Babel. Beware, God will not be challenged! Beware of overconfidence!

But on closer inspection, I discover that this is not the "main artery" of this story. Something else drives the people together – into the walls of a city to be built with a very high tower. In the previous chapter, the diversity of the peoples is still praised. But now it leads to the very human fear of losing significance, security and common strength. To become unrecognisable in a colourful community.

Fear is always a bad counsellor, because it leads to narrowness. People close themselves off and insist on speaking with one voice and in one language. – In their own, of course. They want to remain recognisable and do everything they can to make a name for themselves. But if everyone makes a name for themselves, as the Babel story says, then who are they making a name for themselves in front of? Or rather: against whom?

The request is directed against God. Because he is not trusted. "He has thrown us out of the protection of the garden simply because the trees of knowledge and life have so enticed us. He has exposed us to diversity. But that only leads to quarrels and fratricide."

We prefer to take matters into our own hands: "I am the Lord my God. I will not tolerate any other god beside me - and certainly not above me!" They shall speak of me. The top of the tower will reach up to heaven. – God’s vicar? In his name cultivate the earth? No, God himself! - This arrogance becomes demonic. The beginning of the end. Fear of abandonment. The gift of freedom that causes fear: an age-old theme whose treatment still leads in the same direction today: to populism and hatred of all things foreign, to marginalisation and sworn slogans, to thinking in black and white. "Well, let us build: narrow walls that lull us into a sense of security and borders that fence in our hearts to protect them from merciful attacks. With our towers we can reach heaven even without God."

God has to bend down very low to see what's actually going on. In any case, the tower builders still have a lot of room for improvement. And God sees two things. On the one hand: the dream of all dictators. One language – one city or land area – one idea – one action. What a catastrophe! If the world had only one language, what a poverty of beauty, spirit and joy: every language is a world, but every single language is also a prison. God created diversity and he rejoices in polyphonic praise. God wants faith to think and sing, different songs, different thoughts.

On the other hand, God sees how people lose all measure and humility. - So as not to be misunderstood: People should build, research, cultivate and be progressive. But things go wrong when God is supposed to admire people and not the other way round. The service and humility of God's children includes praising the Almighty: Nothing is impossible for Him alone!

Let man remain a man - and act like one. He is a being of limits and boundaries. He aligns his actions with God's will. God now intervenes in this action:

Come, let us go down, and confuse their language there,
so that they will not understand one another’s speech.

Now people have each found their own language – and are directed to each other when they want to meet, understand each other and shape the earth entrusted to them. Have you noticed, dear congregation? God does not punish: the tower is not destroyed, the city is not dismantled, the people continue to live. God does not punish - he protects! He protects us from one-sidedness and compartmentalisation in our thoughts and actions. He protects us from ourselves! He sends us out into the open, sets our feet in a broad place (Psalm 91:8). He gives us responsibility for his earth. We cannot and do not have to make a name for ourselves through our works, which would always be paid for  with blood and violence.

The diversity of languages, the richness of humanity, the breadth of thought remain with us. This doesn’t change with the first Pentecost in Jerusalem, which we heard about earlier in the Acts of the Apostles. There is no new unified language, but everyone continues to speak in their own language. The Holy Spirit unites people across all language barriers. For God's spirit gives understanding, it is a spirit of love. Fear is no longer the counsellor, but love.

The Church of Our Lady in Dresden was destroyed in February 1945. The rubble lay in the centre of the city for more than five decades. Sixty years later, the rebuilt church was consecrated. Since then, we sometimes say that it is an "Easter church" because it has been resurrected to new life. But it is also – and perhaps even first and foremost – a "church of Pentecost". Just imagine what would be missing if God had left this building to one-sided and fearful builders. The Frauenkirche in Dresden thrives on diversity and through the diversity of languages and peoples. The new Tower Cross by the British people would not be there. The Cross of Nails, the associated work of reconciliation with former enemies – wouldn’t stand on the altar table of the Frauenkirche today. A place of encounter and understanding between East and West, North and South - it wouldn’t be there. We’d miss many a donated pillar or door and even the Strasbourg organ in the building! The whole architecture might not have been modelled on Italian examples. Not to mention the international variety and beauty of the music. Not only, but especially in this church, we celebrate the richness of languages and diversity and the spirit of love that unites us all and banishes fear.

I feel the commonality with this church. St Michael‘s Cathedral - like the Frauenkirche, also a church of Pentecost.
God‘s spirit doesn’t build towers that reach into heaven.
He builds community among us.
He gives an understanding of hearts.
He works reconciliation and peace.
The Holy Spirit encourages us to embark on a new life.

A happy and blessed Pentecost to you all!

AMEN

And the peace of God, which surpasses all understanding, keep our hearts and minds in Christ Jesus our Lord. Amen.

Gottesfülle

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der Epheserbrief ist ein Hochkaräter unter den Briefen des Neuen Testaments. Er besteht aus zwei gleich großen Teilen. Die ersten drei Kapitel kommen aus dem Hörsaal: sie sind hohe Dogmatik von der Ekklesiologie, das ist die Lehre von der Kirche. Kapitel vier bis sechs dagegen gehören eher ins Gemeindehaus. Da geht es um das Leben derer, die die Kirche mit Leben füllen, oder mit Paulus ausgedrückt: die miteinander Glieder am Leib Christi sind. Unser Predigttext schließt den ersten, dogmatischen Teil ab. Es wird Ihnen vorhin beim Hören aufgefallen sein: Er ist ein einziges Gebet. Anders als wir heute beten — eben typisch Epheserbrief, in hohem, feierlichen Ton. Aber spannend ist das schon: ein hochtheologischer Traktat mündet — nicht in Schlussthesen wie bei einer Vorlesung, sondern in ein Gebet! In der frühen Kirche hat sich der Grundsatz herausgebildet: lex orandi — lex credendi. Zu Deutsch: Das Gebet geht dem Inhalt des Glaubens, der Theologie immer voraus. Sage mir, wie du betest, und ich sage dir, was und wie du glaubst. Ein kluger Satz.

I.

Dass wir „erfüllt werden mit der ganzen Gottesfülle“, wie Paulus sich hier ausdrückt — wir, mit unseren oft prallvollen Köpfen, denen manchmal ziemlich leere Herzen entsprechen: was für ein Anspruch! Paulus beugt seine Knie im stillen Kämmerlein, das konkret eine Gefängniszelle ist, aus der er seiner Gemeinde die Worte ausrichtet, die er an Gott richtet. Kniefällig und himmelstürmend. So nimmt Paulus auch uns mit hinein in sein Beten, um uns zu sagen: Macht euch bewusst, was ihr von Gott erwarten könnt! Nicht weniger nämlich als einen ganz unfassbaren Reichtum, der all unsere Begriffe und Bilder sprengt. Der Schöpfer, da ist Paulus überzeugt, schöpft aus dem Vollen. In seiner Fülle können wir Erfüllung finden. Die Frage ist nur: Wie kommen wir an dieses unerschöpfliche Energielager heran?

„Ich beuge meine Knie vor dem Vater…“: so beginnt das große Gebet hier. Ich nehme das einmal ganz unmittelbar und sage: der Weg in die Fülle des Lebens beginnt ganz unten, auf den Knien. Keine Kopfarbeit ist angesagt, kein Gefühlsüberschwang, keine sozialen oder sonstigen Aktivitäten. Der Weg in die Herrlichkeit des Himmels fängt an auf der harten Erde. Bei uns ist das anders. Wir drücken lieber die Daumen und statt einem einfachen „Ich bete für dich“ trauen wir uns oft nur ein leises „Ich denke an dich“. Mehr bürgerlich als christlich. Paulus hingegen redet nicht drum rum. Er weiß, was seine Gemeinde von Gott braucht. Aber warum diese geistliche Gymnastik? Warum beginnt der Weg zur himmlischen Fülle mit irdischen Kniebeugen? Rein auf der Verhaltensebene geht es um das Gesetz der Verkleinerung. Geistlich formuliert: es geht um das, was das alte Wort Demut meint, das heute wieder so in Mode gekommen ist. Darin kann ein befreiendes Schuldeingeständnis stecken wie beim legendären Kniefall von Willy Brandt vor 55 Jahren am Mahnmal des Warschauer Gettos. Da hat diese Geste der ganzen Welt eine Botschaft vermittelt, die mit Worten nicht sagbar gewesen wäre. Normalerweise aber geht es beim „In die Knie Gehen“ um die Anerkennung von Machtverhältnissen, Hierarchien. Wer vor jemand niederkniet, drückt damit aus: Vor dir bin ich klein und ohnmächtig. Auf entsetzliche Weise haben das die Mörder des „Islamischen Staat“ demonstriert, die ihre Opfer immer erst in die Knie zwangen.

Aber auch jenseits solch furchtbarer Extreme: ein Kniefall erscheint uns als Zumutung für unser Selbstbild eines freien, mündigen Menschen. Abgesehen vom Heiratsantrag. Nur bei einem ist das anders: bei dem unsere Souveränität an ihre Grenze kommt. Durch das Gebet, das Jesus uns geschenkt hat, können wir ihn, dessen Name über alle Namen ist, ganz irdisch-menschlich mit „Vater“, ja sogar mit „Papa“ anreden, denn das bedeutet das hebräische Wort Abba, das Jesus beim Vaterunser verwendet. Wir haben die sog. „vaterlose Gesellschaft“ erlebt, die antiautoritäre Erziehung, die „neuen Männer“ etc. Bei allem Wandel des Vaterbildes: der eine Vater, vor dem wir in die Knie gehen können, bleibt davon unberührt. Früher gab es in Studierstuben evangelischer Pastoren oft eine Kniebank. Heute, wenn überhaupt, nur noch in vereinzelten Priesterzimmern.

II.

Das Gebet des Apostels bordet schier über vor der Fülle des dreieinigen Gottes. Von Gott dem Vater erwartet er das, worum er betet. Christus der Sohn soll in jedem Einzelnen wohnen. Und Gott der Geist soll den sog. „inwendigen Menschen“ stark machen. Dieser innere Mensch wird durch den dreieinigen Gott gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt. Klingt kompliziert, ist aber eigentlich einfach. Vielleicht kennen Sie den Kinderbuchklassiker „Hallo Mister Gott, hier spricht Anna“. Die kleine Anna erklärt ihrem Freund: „Leute lieben von außen rein und sie können von außen küssen, aber Mister Gott liebt dich innendrin und kann dich von innen küssen, darum isses anders.“ Paulus bittet Gott hier darum, dass er uns von innen küsst. So füllt er unsere Leere, indem durch seinen Kuss unser Inneres vom Kopf bis Fuß auf Liebe und Hoffnung eingestellt wird.

Und Paulus setzt dann vorsorglich unter sein himmelstürmendes Gebet ein „Amen“. Von Luther so übersetzt: „Das ist gewisslich wahr“. Gut, dass das so ist. Denn wir halten ja schnell dagegen mit unserem Aber-Glauben: aber ich fühle nichts von dieser Fülle, von der Erfüllung dieser Bitten! Voll bin ich schon, aber nicht gottvoll, sondern sorgenvoll. Leer ist mein Herz, müde mein Glaube, allenfalls routiniert meine Liebe, ohne inneres Feuer. Du bittest um Fülle, Paulus, aber ich spüre nur Leere. Selbst ein kurzes geprägtes Gebet geht mir kaum über die Lippen. Wie gut, dass Paulus um unsere Glaubensdürre weiß und unter seine Bitte um Gottes Fülle bereits das Amen gesetzt hat. So setzt er gegen unseren Aber-Glauben seinen Amen-Glauben. Und damit Basta. Sonst würden wir endlos gegenhalten: aber bei uns in der Gemeinde ist so viel Müdigkeit! Der Apostel sitzt im Knast, die Kirche steckt in der Krise, der Glaube verdunstet in der Gesellschaft. Befreien uns aus dieser Lage ein paar Bitten? Müssten wir nicht viel Handfesteres unternehmen als die Hände ruhigzustellen, indem wir sie falten? Müssten wir nicht die Kirche besser zu Markte tragen — also unternehmerischer denken als bisher?

Ja, liebe Gemeinde, das müssen wir. Das sage ich ohne Hintersinn. Wir tun es heute ja auch, noch nicht so gut wie wir es könnten, aber immerhin. Worte wie „Kundenorientierung“, „Zielgruppen“ und „Angebotspalette“ fassen wir nicht mehr mit der Kneifzange an, sie haben Eingang gefunden in die kirchlichen Planungen. Das ist auch gut so. Von Martin Buber stammt der vielzitierte Satz: „Erfolg ist keiner der Namen Gottes.“ Schon wahr — aber dieser wahre Satz über Gott kann, wenn man ihn eins zu eins auf Kirche und Gemeindeaufbau anwendet, auch missbraucht werden. Nämlich dazu, einfach nichts zu tun, weil angeblich Gott allein ein lebendiges christliches Leben bewirkt. Gott hat uns aber nie gesagt, dass das Vertrauen auf seinen Geist bedeutet, träge zu sein. Wir können dem Wirken seines Geistes durchaus entgegenarbeiten. Dass Erfolg kein Name eines guten Gemeindeaufbaus sein soll, leuchtet mir nicht ein. Es gibt „erfolgreiche“ Gemeinden, die wachsen und nicht abnehmen. Wenn man sich näher anschaut, woher das kommt, kann man sehen, dass man dort unbefangen und ohne fromme Berührungsängste auch Methoden anwendet, die prima vista weniger aus der Bibel als aus dem Marketing kommen.

III.

Dabei geht es gar nicht darum, die Kirche hipper, zeitgeistiger zu machen. Sondern darum, dass wir mehr Effektivität und, ja, auch Professionalität brauchen in der äußeren Gestalt, wie wir Kirche und Gemeinde sind. Damit wir wieder mehr zur Kirche werden, zum Salz der Erde und Licht der Welt. Unser kurzatmiger Aber-Glaube soll wieder zum Amen-Glauben werden, der die neugierig macht, die schon lange nicht mehr dabei sind. Dazu aber müssen wir als Kirche so unterwegs sein, dass die, die bei uns mitmachen, ihre begrenzte Lebenszeit nicht vorrangig auf Sitzungen zubringen, die zu oft nach dem Motto verlaufen: Es ist zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von mir! Und deren Tagesordnungen zu oft keinen Zusammenhang mit der Andacht zu Sitzungsbeginn erkennen lassen. So ziehen wir uns gegenseitig runter.

Ich bin überzeugt, dass für uns schon viel gewonnen wäre — sowohl für uns als Gemeinden wie für den eigenen Glauben —, wenn wir es annehmen können und nicht als Frömmelei abtun, wovon Paulus so durchdrungen ist: Die Kirche, die Gemeinde wird aufgerichtet, wenn sie entdeckt, was Gott an Kraft, an Glauben und Liebe verschwenderisch für sie bereithält. Unser realer Glaube schöpft ja seine Möglichkeiten nie aus. Wir können von uns aus nur mit Martin Luther sagen: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.“ Paulus aber hat vor Augen, was Luther dann weiter dichtet: „Es streit‘ für uns der rechte Mann, den Gott selbst hat erkoren“ (EG 362,2). Deshalb braucht Paulus so große Worte, weil er weiß: Er, Christus, schenkt eine Wirklichkeit, die viel reicher, tiefer ist als wir es in unserem aufs Verstehen fixierten Glauben nachvollziehen können. Gott kann „über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen“, sagt Paulus hier. Das meint: Ich verstehe zwar längst nicht alles, was Gott tut. Ich nehme vieles nicht einmal wahr. Aber ich weiß, dass ich einen Gott habe, der in seinem Lieben und Schenken nie genug hat, und nur darauf wartet, mir etwas Gutes zu tun. Und dieses Wissen fällt mir leichter, wenn ich regelmäßig zu beten versuche und damit Christus bei mir einlasse. Dazu muss ich nicht reich im Glauben sein. Jesus hat ja die „geistlich Armen“ seliggesprochen.

Also: Mit gebeugten Knien der harten Erde verhaftet, im verletzlichen Herzen mit Gottes Kraft angefüllt, geraten wir gleichsam in Sphären, die die irdischen Grenzen übersteigen. Wir können und sollen schon viel tun, es ist ja nie genug, was wir tun könnten. Aber Gott tut immer noch mehr und anderes. Indem wir in dieser Ahnung, dass Gottes Fülle unendlich weiter ist als was wir davon fassen können, uns selber loslassen, überlassen wir uns seiner Unendlichkeit und Fülle. Und dann geht unser Herz aus, und sucht nicht nur, sondern findet Freud‘. Und dann treten wir ein in den Bereich, den Paulus am Ende seines Gebets mit den Worten durchmisst: „Ihm sei Ehre in der Gemeinde und in Jesus Christus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit“.

 

Amen.

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Predigt gehalten von Landesbischof i. R. Jochen Bohl

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Liebe Gemeinde,

unverhofft kommt oft, sagt der Volksmund, und in diesem geflügelten Wort klingt eine kleine Warnung an: Du Mensch, bilde dir nicht ein, dass du den Lauf deines Lebens planen könntest. Es kommt ja doch, auch das ist so ein Spruch, erstens anders, und zweitens, als man denkt.

Natürlich, Planung ist notwendig, wir müssen unseren Verstand gebrauchen, wenn wir im Leben bestehen wollen; denn nur weniges fliegt uns zu, das allermeiste will gut überlegt und vorbereitet werden.

Und doch: Unverhofft kommt oft, fühle dich nicht zu sicher … Gewissheit über das Kommende kann es in diesem Leben nicht geben, das voller Überraschungen steckt. Jedenfalls hat für mich Unerwartetes eine zentrale Rolle gespielt; Ereignisse, Begegnungen, die allem eine bestimmte Richtung gaben. Ich erinnere mich ganz genau an den Tag, und das Bild steht vor meinem inneren Auge, als ich die junge Frau zum ersten Mal gesehen habe, mit der ich dann das Leben teilte. Unvorhergesehen, überraschend kam mein Glück, unverhofft.

Ein durchgeplantes Leben, in dem alles Bedeutsame absehbar ist, gibt es nicht – und es wäre ja auch schrecklich, wenn es anders wäre. Das Leben besteht nicht nur aus dem Geordneten, in Abwägung Gestaltetem; es geschieht vielmehr zu einem guten Teil in Reaktionen auf Unerwartetes, nie und nimmer Vorhergesehenes. Und oft genug liegt gerade darin ein Glück, das man kaum zu hoffen gewagt hätte, die gute Wendung, die zum Segen wurde. Nicht nur im Kleinen, Privaten. Vor fast 36 Jahren kam das Ende einer bleiernen Zeit, der diktatorischen Bedrückung und die überraschende, nicht für möglich gehaltene Wende zur Freiheit und Demokratie.

Aber - Unverhofftes bringt nicht nur Gutes und Glück mit sich, sondern auch schwer Erträgliches, Unheil gar. Ein Besuch beim Arzt wegen einer Unpässlichkeit, aber eine böse Diagnose. Ein Moment der Unachtsamkeit hinter dem Steuer des Autos, und dann ist da der andere Wagen, dem man nicht ausweichen kann. Plötzlich, unerwartet spricht der vertraute Mensch, mit dem so viel Gemeinsames verbindet, das Undenkbare aus: Es ist vorbei, die Liebe zu Ende. Oder die große Politik - nach 1990 machte sich Europa auf den Weg, ein Kontinent des Friedens zu werden und mit welchen Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft. Dann verdichteten sich die Signale, dass Russland einen anderen Weg einschlägt, die Krim, im Februar vor drei Jahren der Angriff auf die Ukraine.

Tagtäglich sehen wir Unsicherheiten, Brüche; Krisen der Demokratie, Migrationsbewegungen verursachen Instabilität, Amerika wendet sich ab von Europa. Die Staaten rüsten auf, setzen auf militärische Stärke. Es scheint, als sei die Welt getrieben von dunklen Mächten … wer hätte vor 10 Jahren gedacht, dass wir heute da stehen würden, wo wir jetzt sind?

Wie es mit uns wird, was das Leben bringt, im Kleinen des privaten Lebens, im Großen der Politik – das bleibt ungewiss, trotz aller Überlegung, trotz allem verständigen Bemühens. Unverfügbar bleibt vieles, oder gar das meiste. Und oft genug ist es das Entscheidende.

Liebe Gemeinde,

heute, am Sonntag des Gebets – Rogate – hören wir Jesus sagen, dass wir seinen himmlischen Vater durch ihn bitten dürfen, dass wir beten sollen. Dass der Herr mit und um uns ist in den Ängsten, in die das Leben und seine Wirren uns stürzen können. So redet er die Jünger an, um sie vorzubereiten auf seinen Tod und seine Auferstehung.

Das ist ein sperriges Geschehen, und für manch einen nur schwer zu verstehen oder gar zu schwer. Vor allem, dass einer nicht im Tod geblieben sei, sondern drei Tage später gesehen wurde von vielen, auferweckt zu neuem Leben – das kam unverhofft, anders als gedacht, ein Geschehen gegen alle Wahrscheinlichkeit, dem Verstand nicht zugänglich; wie sollte so etwas möglich sein? Täuschung, Illusion, das antike, längst überholte Weltbild der Evangelisten, die es aufgeschrieben haben? Und wenn es schon so gewesen sein sollte, was besagt es für mich, für mein Leben, in dieser Zeit, die so eine ganz andere geworden ist?

Wie es zu erklären ist, ob es eine Erklärung geben kann – darüber sagen die Berichte der Evangelien nichts. Sie sind an dieser gewissermaßen naturwissenschaftlichen Frage auch gar nicht interessiert; sie sind voll des Staunens über das Geschehen, erfüllt mit Jubel – dass die Sache Jesu nicht zu Ende war, sondern neu begonnen hatte. Die Evangelien atmen die Freude, dass es anders gekommen war, als alle gedacht und erwartet hatten. Trauer und Ängste wurden überwältigt, das war unerklärlich, und bleibt es auch. Ostern, die Auferstehung Jesu, geschah unverhofft. War nicht zu erwarten – und öffnet doch den Menschen die Zukunft Gottes.

„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Das sagt Jesus den Seinen, er redet uns an, die wir auf ihn vertrauen; und er spricht als einer, der um die Nöte des Menschenlebens weiß. Es ist zu aller Zeit gefährdet, und das ist eine Erkenntnis, die niemandem erspart bleibt – man kann sie eine Zeitlang verdrängen oder auch verleugnen, aber irgendwann ist es so weit, dass die Realitäten uns einholen, und wir uns ängstigen. Weil eine Gefahr zu groß wird und unsere Kräfte nicht ausreichen, sie zu bestehen, weil Irrtümer der Vergangenheit uns einholen, weil Böses über uns hereinbricht und unser Leben bedroht, weil Sicherheiten sich als trügerisch erweisen. Jeder und jede kennt das Dunkel, in dem es auf die bange Frage, wie es weitergehen wird, keine Antwort gibt.

Dann ist es gut, zu glauben, getröstet zu werden und erleben zu dürfen, dass der Atem ruhig wird und der Blick sich hebt, dass ein Licht aufscheint, die ungewisse Zukunft ihren Schrecken verliert. „Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben.“ Ein Segenswort.

Liebe Gemeinde,

wie gut, dass auf dem Gebet Gottes Segen liegt. Wer auf Christus vertraut, der wird ihn anreden in der Not und nicht nur in der Not. Und wird erleben, dass der Auferstandene hilft. Unsere Gebete werden gehört, sie sind nicht vergebens. Aus ihnen kommt uns die Kraft, die wir brauchen, um in Ängsten bestehen zu können. Das ist eine Erfahrung, die ich persönlich machen durfte über die lange Zeit hinweg, die ich nun bete. Die Hilfe kommt nicht so, wie anderes kommt. Es gibt keine automatisierten Antworten, das Gebet hat nichts zu tun mit einem Anrufbeantworter, der sich zuverlässig meldet, aber immer dieselbe Antwort gibt; das Gebet ist aber auch nicht wie ein Anruf, der niemanden erreicht, den niemand hört. Gott ist nicht Mensch, er antwortet nicht wie Menschen auf eine Anrede reagieren; und manchmal scheint es uns darum, als würde er nicht antworten. Aber so ist es nicht – das Gebet ist ein ganz eigenes Geschehen, unvergleichlich, denn es öffnet einen geistlichen Zugang zu einer anderen Wirklichkeit, es fügt dem Menschlichen das Göttliche hinzu, es baut eine Verbindung auf, die keiner anderen gleicht. In der Unverhofftes geschieht.

Manchmal ist die Hilfe, die aus dem Gebet kommt, sofort und unmittelbar da, manchmal nach sehr langer Zeit erst. Manchmal wird uns geschenkt, was wir kaum zu hoffen wagten, dann wiederum kommt es ganz anders als wir hätten ahnen können und doch so, dass wir uns beschenkt wissen – und reicher, als je gedacht. Manchmal werden unsere Pläne durchkreuzt und nur schwer können wir annehmen, was uns widerfährt. Aber in all dem hören wir Christus sprechen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben.“

Und wir ergänzen: Und so, wie er gibt, wird es gut sein.

Also ist das Gute, das ich erlebe, mir keine Selbstverständlichkeit. Dass ich nicht allein bin, sondern dass Menschen um mich sind und mit mir waren, die es gut mit mir meinten und mir geholfen haben. Liebe. Dass meine elementaren Bedürfnisse gestillt wurden, Kleidung, Wohnung, Essen und Trinken. Die besonderen, erstaunlichen, bewegenden Momente; oder Begegnungen, die nicht zu erwarten waren. Die unverhofften Wendungen zum Guten – danke, nichts von all dem ist selbstverständlich.

Jeden Tag tue ich etwas, an manchen Tagen mehr, an anderen weniger. Das meiste, ohne groß darüber nachzudenken; vieles nach bestem Wissen und Gewissen; manches mit einem unguten Gefühl. Einiges wird richtig, anderes falsch gewesen sein; und manchmal holen meine Fehler mich ein. Es kommt auch vor, dass ich mich vor mir selbst schäme wegen meiner Taten, auch der unterlassenen. Wer betet, bittet um Vergebung, und für diese Bitte gibt es jeden Tag einen Grund.

Jedes Gebet drückt die Hoffnung aus, dass Gott es gut mit mir machen möchte. Und so macht es, dass ich mich nicht ängstige vor dem, was kommen wird; was auch immer es sein mag. Obwohl es Tage gibt, auf die wir am Vorabend nicht zuversichtlich sehen, sondern in Sorge, mit Bangigkeit – wie soll das werden mit mir oder mit dem geliebten Menschen – so ängstigen wir uns doch nicht, sondern vertrauen uns hoffnungsfroh dem himmlischen Vater an.

Erhofft kommt oft! Viel öfter, als man denkt. "Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet“ (Psalm 66, 20 Wochenspruch). Getrost erwarten wir, was kommen mag.

Amen.

Ein Mensch ist ein Erdbeben wert

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Die Sache Jesu geht weiter“ hieß ein theologisches Buch, das vor 60 Jahren viel gelesen wurde. Genau davon handelt die Apostelgeschichte. Lukas will darin festhalten, wie es nach der Himmelfahrt Jesu mit dem Evangelium weitergegangen ist. Jesus hatte seinen Leuten ja als Vermächtnis hinterlassen, nicht für sich zu bleiben, im Inner circle der Hochverbundenen, sondern das Evangelium hinaus in die Welt zu bringen. Er hatte nicht bloß ein Gemeindeaufbauprojekt proklamiert, wie wir das in der Kirche von Zeit zu Zeit tun, sondern eine Gemeinde ins Leben gerufen, die ausstrahlend sein sollte bis an die Enden der Welt. So wie es der neue Papst vergangene Woche in einfachen, klaren Worten nach seiner Wahl auf dem Balkon des Petersdoms gesagt hat. — Die Apostelgeschichte erzählt, wie es denen erging, die sich auf einen Herrn beriefen, den sie nicht auf Hochglanzbroschüren herzeigen konnten. Und es ist gut für uns, dass wir aus diesem biblischen Buch erfahren: Das lief von Anfang an alles andere als glatt! Da gab es viele Ups und Downs. Bittere Niederlagen, aber auch große Erfahrungen mit der Kraft des Auferstandenen. Beides.

I.

Eben dies beides steckt auch in dieser mysteriösen Geschichte, die der vorhin gehörte Predigttext erzählt. Sie will uns sagen: In beidem kommt Gottes Sache voran! In den Erfolgen und in den Niederlagen. Bevor es zu der wundersamen Befreiung von Paulus und seinem Mitarbeiter Silas kommt, wird ja zunächst etwas ganz anderes berichtet. Man kann es leicht überhören. Aber es ist kein Zufall, dass Lukas es auch erzählt. „Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.“ So eng beieinander, wie das 17 Jahre vorher in Jerusalem mit dem „Hosianna!“ und dem „Tötet ihn!“ war, so rasch folgt auch für Paulus auf den Triumph der Absturz. Vor wenigen Wochen erst ist er erstmalig von Kleinasien nach Nordgriechenland übergesetzt, in die wichtige Handelsstadt Philippi: das Evangelium kommt nach Europa! Es ist keine kleinasiatische Winkelsache mehr, sondern öffnet sich zur großen Welt hin. Aber dann wird die römische Verwaltung nervös: bloß keine Unruhe durch diese Sekte der Christusgläubigen! Paulus und Silas werden von den Sicherheitsorganen robust gegriffen. So kann es also auch gehen.

Lukas berichtet von diesen Dingen, weil die Gemeinde Jesu wissen soll: Der gekreuzigte Herr kann seinen Leuten eben auch dies zumuten, dass sie verfolgt und fertiggemacht werden. Die Geschichte der Kirche erzählt bis auf den heutigen Tag von Menschen, die um des Evangeliums willen gelitten haben. Hier in der früheren DDR ist das bei denen, die noch Christen sind, mehr präsent als in Westdeutschland mit seinem verbürgerlichten Sicherheitschristentum. Und in anderen Regionen dieser Welt ist es noch heute so, dass Christen — wie am Ende auch Paulus in Rom — für ihren Glauben ihr Leben lassen. Keiner von ihnen sucht einen solchen Weg. Aber sie bezeugen uns: Das Leben, das uns das Evangelium gebracht hat, ist uns mehr wert als alles sonst. Das geben wir nicht mehr her. Um keinen Preis. Und vor allem: das kann uns auch keiner mehr nehmen! Selbst wenn man uns ums Leben bringt. Es stimmt, was Er uns gesagt hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28). Wer etwa in den letzten Briefen von Christen liest, die von den Nazis hingerichtet wurden, spürt das auf eine bewegende Weise. Im Februar hatten wir einen eindrucksvollen Abend in unserer Unterkirche mit der Lesung zweier Schauspieler aus dem Briefwechsel zwischen dem inhaftierten und vom NS-Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Helmut James von Moltke und seiner Frau Freya. Da war das mit Händen zu greifen: diesen beiden war das Evangelium so viel wert, dass sie dafür alles loslassen konnten — auch einander. Und durch solche Beispiele sind wiederum andere, die vorher mit dem Glauben nichts im Sinn hatten, ins Nachdenken gekommen. Sie spürten: wenn Menschen so ihr Schicksal tragen können, dann muss doch etwas dran sein an dem, was diese Menschen trägt. Sanguis martyrum semen ecclesiae — Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche, lautet ein altes kirchliches Motto. Das klingt wuchtig und pathetisch — aber es ist eben wahr.

Noch ein eindrucksvolles Beispiel dazu. Es war vor 86 Jahren im Konzentrationslager Buchenwald. Ein Mann stand dort auf dem Appellplatz — allein unter den Tausenden, die dort zusammengepfercht waren, völlig am Ende. Er war entschlossen, in der Nacht in den elektrischen Draht zu laufen und Schluss zu machen mit diesem Hundeleben. Da hörte er plötzlich an diesem grauenvollen Ort eine laute Stimme über den Platz rufen. Sie kam aus dem vergitterten Fenster einer Bunkerzelle: „Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“. Es war die Stimme des rheinischen Pastors Paul Schneider, den die Nazis dort in einer Dunkelzelle eingesperrt hatten, bis er unter den Misshandlungen seiner Peiniger starb. Der das später erzählt hat, hat dazu gesagt: „Er hat mich mit diesem Ruf gerettet, denn von da an wusste ich, dass doch einer bei mir ist.“

 

Aber auch an einen noch Berühmteren kann man sich hier erinnern. Bei aller Unvergleichbarkeit, aber an einigen Stellen gibt es frappierende Ähnlichkeiten zwischen dem Schicksal des Apostels Paulus und dem von Dietrich Bonhoeffer. Beide sind in Haft. Paulus um das Jahr 50 in Philippi, Bonhoeffer ab April 1943 in Berlin. Beiden wird Staatszersetzung zur Last gelegt. Beide müssen mit dem Äußersten, mit der Todesstrafe rechnen. Beide schreiben aus der Haft Briefe, die Menschen bis heute bewegen. Und: beide lamentieren nicht über ihre Lage. Paulus schreibt, als ihn besorgte Nachfragen erreichen, wie es ihm in der Haft gehe, lakonisch: „Ich freue mich, denn das Evangelium kommt so oder so voran“ (Phil 1,18). Bonhoeffer macht sich in seiner Zelle keine großen Gedanken um sein Schicksal, sondern darüber, welche Gestalt Glaube und Kirche in der Zukunft haben werden. Und schließlich, den wahrscheinlichen Tod schon vor Augen, dichtet er seiner Braut und den Eltern: „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Beide, Paulus wie Bonhoeffer, haben eine souveräne Distanz sich selbst gegenüber gewonnen. Beneidens- und bewundernswert, diese Unbekümmertheit um sich selbst.

II.

Aber unsere Geschichte sagt uns auch das andere: Auch durch die Befreiung seiner Leute sorgt Gott für das Vorankommen des Evangeliums. Die Lage für Paulus und Silas erscheint ja aussichtslos. Lukas deutet es an: Im Gefängnis, unter Mördern und Vergewaltigern, durch Fixierung der Füße bewegungsunfähig, werden sie rund um die Uhr bewacht. Zellentür verriegelt, auf dem Gang patrouillierende Wachen. Wie im Hochsicherheitstrakt. Und dann kommt die Nacht vor der Gerichtsverhandlung. Von der steht schon vorher fest, wie sie ausgehen wird. Natürlich würden sie Paulus und Silas nicht einfach hinrichten, weil sie Christen sind. Die römischen Ankläger wären schlechte Juristen, wenn sie nicht irgendeinen Paragraphen zur Hand hätten, den sie die den beiden zu Last legen können: Mitgliedschaft in einer staatsfeindlichen Vereinigung, Erregung öffentlichen Aufruhrs, Steuerhinterziehung — wie die Anklagen in Diktaturen halt so lauten.

Und was tun Paulus und Silas in dieser Nacht? „Sie beteten und lobten Gott mit Gesängen.“ Und das vor dem entscheidenden Verhör. Kein Wort von Verzweiflungs- oder Wutanfällen, die in ihrer Lage nur menschlich wären. Wem Gott seine Schuld vergeben und seine Vergangenheit geordnet hat — und Paulus hat ja so seine Vergangenheit —, der kann ruhig bleiben. Wer weiß, dass ein anderer seine Sache hinausführen wird, der findet selbst im dunkelsten Verlies Frieden. Und nicht nur das, sondern das strahlt auf andere aus: „…und die Gefangenen hörten sie“, fügt Lukas an. Er will damit sagen: Auch die behinderten Boten Jesu Christi können etwas bewirken, wenn Gott es will. Auch das erinnert wieder an Bonhoeffer. Mitgefangene haben später berichtet, wie dessen unaufdringliche, aber entschiedene Frömmigkeit im Gefängnis und dann beim Transport ins KZ Flossenbürg sie motiviert hat, selber die Bibel aufzuschlagen. Ein russischer Mithäftling, Kommunist und Atheist, wünschte sich von Bonhoeffer am Tag vor dessen Hinrichtung sogar eine Andacht.

Für Paulus und Silas kommt es nun aber anders als für Bonhoeffer: Das Wunder geschieht! Durch ihr mitternächtliches Beten und Singen lösen die beiden ein Erdbeben aus — das aber keinerlei Schaden anrichtet, sondern die Fesseln aller Gefangenen sprengt und die Türen zur Freiheit aufspringen lässt. Das ist einigermaßen seltsam. Aber noch ungewöhnlicher, ja fast bizarr ist die Folgenlosigkeit dieses mitternächtlichen Wunders: Keiner der Gefangenen flieht! Sie bleiben neben ihren gesprengten Fesseln und vor den sperrangelweit offenen Türen einfach sitzen. Und dem entsetzten Gefängnisdirektor, der angesichts der Schande eines Massenausbruchs schon Hand an sich legen will, ruft Paulus beruhigend zu: Keine Angst, wir bleiben ja alle hier! Paulus und Silas als Vorbilder an Demut und Unterwürfigkeit, sozusagen als frühe Vorboten einer jahrhundertelangen speziell protestantischen Staatsnähe und Obrigkeitshörigkeit? Mitnichten. Eher im Gegenteil: Paulus‘ Verhalten am Ende der Geschichte erscheint ausgesprochen selbstbewusst: Der Gefängnisdirektor als Vertreter der Obrigkeit muss ihn persönlich im Kerker aufsuchen und hinausgeleiten…

III.

Und dieser Stolz des Paulus, der Glauben nicht mit Unterwürfigkeit verwechselt, strahlt aus. Das ist die eigentliche Pointe unserer Geschichte. Denn auf das kleine Wunder des Erdbebens folgt erst das eigentliche, das große Wunder: das Erdbeben im Herzen jenes heidnischen Gefängnisdirektors, der bis dahin wahrscheinlich dem Diana- oder Marskult gehuldigt hat. All das bisher spektakulär Geschehene erweist sich von diesem Ende her nur als Vorspiel zu der Bekehrung dieses Römers und seiner Familie. Man kann auch sagen: Wie mühsam Gott seinem Wort den Weg irgendwohin auch bahnen muss — so viel ist ein Mensch bei Christus wert.

Lukas erzählt hier sicherlich nicht vollständig, sondern nur mit knappen Strichen, auf das Wesentlichste konzentriert. Der Offizier fragt: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ In dieser einfachen Frage steckt schon ein entscheidendes Stück Antwort drin. Nicht: Was muss ich von Eurer Lehre alles intus haben, um Christ zu werden?, fragt er. Auch nicht: Was für Vorschriften muss ich einhalten, um Eure Religion auszuüben? Sondern eben: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Der Mann zeigt damit, dass er intuitiv begriffen hat: Christ zu werden, das ist nicht einfach eine andere Gesinnung oder Weltanschauung, auch nicht das Eintrichtern von Lehren. Nein, es ist eine Lebenswende, das Sich-Einlassen auf eine ganz neue Existenz. Der Wechsel von einem angestrengten, um sich selbst kreisenden, sich zum Maß aller Dinge machenden Leben zu einem angewiesenen, empfangenden Leben. Ein Leben, das darum weiß, dass alles, was ich tue, bruchstückhaft ist und bleibt, dass ich auch bei besten Absichten schuldig werden kann und immer wieder werde. Und dass mir nichts bleibt, als mich selber loszulassen — wie Paulus und Silas um Mitternacht am absoluten Tiefpunkt — und mich dem anzuvertrauen, der mir versprochen hat, dass er auch meine Schuld sich aufgeladen hat und so die Bruchstücke meines Daseins zu einem Ganzen und Guten fügen wird. Eben das ist jenes „gerettet werden“, worauf die Frage des Gefängnisdirektors zielt. Und das steckt drin ist der ebenfalls denkbar elementaren Antwort, die er von Paulus erhält: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst Du und dein Haus selig“.

Gott schenke uns allen, dass wir in unserem oft so mühsamen, verworrenen Leben doch immer wieder etwas von dieser Einfachheit und Klarheit des Glaubens erfahren können.

 

Amen.

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder

In Erinnerung an Frauenkirchenorganist Samuel Kummer (*28.2.1968 – †23.4.2024)

Ansprache von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt im Rahmen der
Mittagsandacht »Wort & Orgelklang« am ersten Todestag Samuel Kummers

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Liebe Gemeinde,

SDG. Wenn Sie Ihre Hälse recken, ganz weit nach oben, sehen Sie das über unserer Orgel stehen. Die Musikkundigen wissen, was das bedeutet. SDG, das sind die Initialbuchstaben der drei lateinischen Worte Soli Deo Gloria - allein Gott die Ehre! J. S. Bach, den man den „Fünften Evangelisten“ nennt, hat diese drei Buchstaben oft unter seine Werke gesetzt. Der tiefgläubige lutherische Christ wollte damit ein persönliches Mission Statement setzen.

Jeder evangelische Kirchenmusiker, der sich selbst ernst nimmt, hat im Thomaskantor als dem Giganten (nicht nur) der protestantischen Musica sacra seinen Fixpunkt gefunden. Was aber noch lange nicht heißt, dass jeder mit demselben Glaubensernst, derselben Demut wie Bach sein Schaffen unter dieses Vorzeichen SDG stellt, allein Gott zur Ehre. Samuel Kummer, der langjährige Organist an diesem Haus, gehörte zu diesen demütigen Musikern. Wie das bei großen Künstlern oft vorkommt, konnte er als Person sehr diverse Wahrnehmungen auslösen. Aber was seinen tiefen Glaubensernst betrifft, sicherlich eine Mitgift seiner Prägung durch den schwäbischen Pietismus, aus dem er kam, und dass darin letztlich sein Antrieb lag: dazu gibt es bei denen, die ihn kannten, keine zwei Meinungen. In Situationen, wo es für ihn eng wurde, konnte er sagen: „Ich geb das ganz in Gottes Hand.“ Solch Statements kann manchmal auch ein gewisses „Gschmäckle“ anhaften, wie man in Samuel Kummers Heimat sagt. Sie können frömmelnd klingen. Bei ihm wirkte es auf eine berührende Art unprätentiös und authentisch.

I.

Soli Deo Gloria, allein Gott zur Ehre: Einer der großen Texte in der Bibel, der dieses SDG anstimmt, ist der eben gebetete 150. Psalm. Mit ihm schließen die Psalmen, dieses wunderbare Lieder- und Gebetbuch der Bibel. Freilich hat dieser Psalm einen Haken mit Blick auf den Anlass der heutigen Orgelandacht. In der Bibel, und in diesem Psalm, kommen Instrumente zwar in Hülle und Fülle vor. Aber bei der Orgel, der Königin der Instrumente: Fehlanzeige! Kein einziges Mal wird sie erwähnt. Der Grund ist banal: Es gab die Orgel zu biblischen Zeiten längst noch nicht. Das heißt aber nicht, dass uns dieser 150. Psalm zur Erinnerung an den großen Organisten Samuel Kummer nichts zu sagen hätte. Hören wir noch einmal auf seine Worte.

»Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobet ihn in der Feste seiner Macht!
Lobet ihn für seine Taten, lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit!
Lobet ihn mit Hörnerschall, lobet ihn mit Harfe und Leier!
Lobet ihn mit Trommel und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeife!
Lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit schallenden Zimbeln!
Alles, was atmen kann, lobe den Herrn! Halleluja!«

In nur sechs Versen werden wir gleich elf Mal aufgefordert, Gott zu loben. Mit Horn und Harfe, mit Trommel und Pfeife, Zimbel und Reigen: Ein bisschen wirkt es so, als würde ein riesen Orchester in Mahler-Besetzung aufgeboten. Wobei, eigentlich wirkt das weniger wie eine Symphonie, sondern fast schon wie das gute alte Panikorchester von Udo Lindenberg. „Alles, was atmen kann, lobe den Herrn!“ Alles! Horn und Harfe, Zimbel und Leier, Trommel und Reigen. Gitarre und Keyboard, Akkordeon und Dudelsack, Rockband und Sinfonieorchester. Kantate und Musical, Bachtrompete und Jugendkellergeklampfe, vollmundiger Choralgesang und stilles Seufzen: Was uns ein Panikorchester sein mag, in Gottes Ohr ist es vielleicht längst ein Wohlklang. „Alles, was atmen kann, lobe den Herrn!“

Deshalb ist Kirche ohne Musik eine unmögliche Möglichkeit. Wenn es um die Tiefen und Höhen unseres Lebens geht, wenn ich mein Glück und meine Angst vor Gott bringen will, dann reicht Sprache nicht aus. Sursum corda, die Herzen in die Höhe: mein Herz und meine Stimme erheben und einstimmen in die großen alten Töne und Worte, die so viele vor uns angestimmt haben. Dabei leitet uns die Orgel an. Sie führt uns in die Melodie hinein. Sie wird zur Therapeutin des Atems, mit dem wir Gott loben. Wenn sich unsere Stimmen mit ihr vereinen, spüren wir in seltenen, glücklichen Momenten, was der große Theologe der Romantik Daniel F. Schleiermacher „Geschmack fürs Unendliche“ genannt hat: für den Himmel, wo uns versprochen ist, dass wir gemeinsam mit allen, die schon dort sind, einmal „ohne Ende“ sein Lob singen, wie wir es im Sanctus vor dem Abendmahl zeichenhaft schon jetzt tun.

Wegen ihrer ungeheuren symphonischen Vielfalt nennt man die Orgel die Königin der Instrumente. Vom Prinzipal zu den Flöten, vom Violon zu Posaune und Trompete, vom Bordun bis zu den Zimbeln: Die Symphonie all der Instrumente, die sich durch seine Register in dem einen Instrument vereinen, ist ein Gleichnis für das überschwängliche Tun des einen Gottes, der sich uns offenbart als Vater, Sohn und Heiliger Geist, als Schöpfer, Versöhner und Erlöser. So wird uns die Orgel eine königliche Stellvertreterin für die Vielfalt von Gottes Schöpfung. Einer Schöpfung, in der wir das gegenseitige Anderssein nicht als Bedrohung erfahren, sondern als Bereicherung.

II.

Dass die Orgel also entscheidend dazu hilft, dass wir unser Begrenztsein durch Zeit und Raum transzendieren können: darin lag im Kern die Leidenschaft, die Samuel Kummer für die Orgel hatte, ja man kann sagen, die ihn an dieses Instrument hat verfallen lassen. Das gilt ganz besonders für unsere Frauenkirchenorgel aus der Werkstatt des Straßburger Orgelbaumeisters Daniel Kern. Erbittert wurde in den frühen Nuller-Jahren um deren Einbau in die wiederaufgebaute Frauenkirche gestritten. Was für Traditionalisten schwer erträglich war, für Samuel Kummer war es ein Geschenk des Himmels: dass an diesem Instrument nicht nur im barocken Silbermann-Sound Bach gespielt werden kann, sondern eben auch die großen französischen Spätromantiker und auch neuere Werke, in deren Kosmos Samuel Kummer zuhause war. In Anlehnung an ein berühmtes Jesuswort aus dem Johannesevangelium hat er in einer für ihn bedrängenden Situation fast bekenntnishaft erklärt: „Ich und die Orgel sind eins“. Das klingt pathetisch und kann überheblich wirken. Aber bei ihm kam das nicht so rüber - weil es einfach so war. Er hat unsere Kern-Orgel, die nach Auskunft der Fachleute ein sperriges, nicht leicht zu bezwingendes Instrument ist, zum Leben erweckt und ihr über 17 Jahre immer wieder neue Lebensäußerungen entlockt.

Er konnte das, weil ihm eine unvergleichliche Gabe geschenkt war in der Königsdisziplin im Orgelfach: dem Improvisationsspiel. Gabe ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Denn er konnte aus dem Moment heraus, wirklich ex tempore unserer Orgel Musik entlocken, die so klang, als habe er sie vorher in aller Ruhe komponiert und aufnotiert. Als ich ihm einmal meine tiefe Bewunderung für diese Fähigkeit ausdrückte, meinte er fast wegwerfend: „Ach, dafür kann ich nichts, das fliegt mir einfach so zu!“ Das ließ mich an das Wort von Picasso denken: „Ich suche nicht, ich finde!“ Damit ist in einfachen Worten auf den Punkt gebracht, was einen wirklich begabten, schöpferischen Menschen von uns Normalsterblichen unterscheidet. Samuel Kummer musste nicht suchen, weil er immer wieder fand. Oder sollte ich besser sagen: Gefunden wurde?

Jedenfalls habe ich, vor allem bei den täglichen Orgelandachten, Sternstunden mit ihm erlebt. Wie oft hat er auf meinen „geistlichen Impuls“, den er vorher gar nicht kannte, mit einer Improvisation reagiert - und das so, dass mir oft war, als hätte er erst mit seinen Klängen meinen Gedanken die Tiefe gegeben, die sie als Worte noch nicht hatten. An eine solche Sternstunde will ich kurz erinnern. In einer Mittagsandacht machte ich einen geistlichen Impuls zu dem Jesuswort „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht das Himmelreich bekommen“ (Mt 18,3). Was war Samuel Kummers musikalische Antwort? Er fing ganz schlicht an, mit dem Weihnachtslied „Ihr Kinderlein, kommet“. Dann war auf einer Oberstimme plötzlich der Refrain aus Herbert Grönemeyers Song „Kinder an die Macht“ zu vernehmen, er verschränkte beide Lieder zu einer Art Doppelfuge. Und die improvisierte er dann durch drei Stilepochen: zuerst im barocken Stil Bachs, dann in der Art Mendelssohns und schließlich nach Max Reger, den er sehr liebte und viel gespielt hat. - Unvergesslich. Und nur ein Beispiel für viele.

III.

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“. Vielleicht ist mir jene spontane musikalische Resonanz auf dieses Bibelwort auch darum so sehr in Erinnerung geblieben, weil Samuel Kummer ein Mensch war, bei dem viel Kind im Manne geblieben war. Ich denke, er wusste auch darum, dass in ihm etwas unzerstörbar Kindliches steckte. Darin lag sein Charisma ebenso wie seine Gefährdung. Deshalb konnte er seiner Musik diese Unmittelbarkeit und Unverbrauchtheit des Ausdrucks geben, konnte mit ihr faszinieren und anrühren wie ganz wenige. Und deshalb konnte er, wenn das Kind in ihm seine Schatten warf, manchmal das Maß verlieren. Wenn eine Kritik kam, fühlte er sich schnell angegriffen und in die Enge getrieben. Und konnte dann hoch emotional und unberechenbar werden. In solchen Momenten war er dann nicht mehr erreichbar. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“: Ja, Samuel Kummer war überbegabt und verletzlich, genial und schutzlos. Beides. Darin liegen Reichtum und Tragik seines Lebens. „Alles geben die Götter, die unendlichen, / Ihren Lieblingen ganz. / Alle Freuden, die unendlichen, / Alle Leiden, die unendlichen, ganz.“

Kinder können sich unvergleichlich freuen und staunen. Samuel Kummer war ein großer Stauner. Sei es, wenn er in der freien Natur, die er über alles liebte, unterwegs war, beim Pilzesammeln etwa, einer großen Leidenschaft von ihm. Oder sei es, wenn wir miteinander irgendeine skurrile Begebenheit beleuchteten, von denen es an diesem Haus viele gibt. Da machte er dann seine typischen großen Augen, und konnte sich ausschütteln vor Lachen, was hier so alles möglich ist. Vor allem aber: Er hat nie das Staunen verlernt über die vielen kleinen Schönheiten, mit denen Gott uns täglich beschenkt und die wir oft so selbstverständlich nehmen, obwohl sie es nicht sind.

Wie wird er jetzt erst staunen, da er sich von allen Seiten umgeben erfährt von dem ewigen Licht und Klang dessen, an den wir in diesem Leben nur mühsam und zweifel-haft glauben können. Bei aller Tragik und Schmerz dieses zu früh geendeten Lebens, die wir heute sehr empfinden: Es ist ein ganz und gar erfülltes Leben gewesen. Heute vor einem Jahr, nach unseren zeitlichen Maßstäben, ist Samuel Kummer ans Ziel gekommen. In eine total neue, andere Wirklichkeit, die keine Zeit mehr kennt, weil sie Ewigkeit ist. Es geht ihm gut „dort“, dessen bin ich gewiss. Keine Leiden mehr, und umso mehr Freuden, unendliche. Er wird dort ohne Ende das Soli Deo Gloria anstimmen.

Amen.

Gott: Beim Tod ein Nimmersatt

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Nachts, im Mondschein, lag auf einem Blatt ein kleines Ei.“ - Welche Geschichte fängt mit diesem geradezu österlichen Satz an? Ich bin sicher, viele von Ihnen wissen‘s! Und bestimmt gibt es auch welche, die das auswendig weitersprechen können, weil sie es den Kindern oder Enkeln so oft vorgelesen haben. Oder weil es ihnen selbst aus Kindertagen so vertraut ist: „Nachts, im Mondschein, lag auf einem Blatt ein kleines Ei. Und als an einem schönen Sonntagmorgen die Sonne aufging, hell und warm, da schlüpfte aus dem Ei - knack - eine kleine hungrige Raupe.“ Nämlich: „Die kleine Raupe Nimmersatt“! Das ist der Titel eines der weltweit meistverbreiteten Kinderbücher. Ich war acht, als es herauskam, eigentlich schon etwas zu alt dafür, und doch war ich fasziniert davon. Ein Kinderbuch der Lebensfreude, vom Großwerden und Sattwerden. Ein Buch vom Essen und von der Verwandlung der hungrigsten Raupe ever, die sich fett und hässlich gefressen hat, in einen wunderschönen Schmetterling. Und darin ein österlicher Kommentar zum Predigttext dieses Ostermontags aus dem Buch des großen Propheten Jesaja. Hören wir, oder besser: genießen wir noch einmal, wie Jesaja sich das Leben vorstellt, wenn einmal alles gut sein wird.

I.

Wenn das keine Osterfanfare ist: Erfüllte Hoffnungen, umfassender Frieden unter den Völkern, Jubel! Kein Leid und keine Tränen mehr. Ein helles Gegenbild zur düsteren Jetztzeit. Und dazu dann, was Leib und Seele zusammenhält und schon immer und in allen Kulturen zu den wichtigsten Bildern für das gelingende Leben zählt: ein reichhaltiges Mahl. Um nicht zu sagen ein Gelage! Wein. Gesang. Nur das Weib fehlt, also die sinnlichen Freuden der erotischen Liebe. Das war dem Propheten wohl doch zu irdisch. Aber man kann wirklich aus dem Vollen schöpfen. Wie die kleine Raupe Nimmersatt. Nicht montags ein Apfel und mittwochs drei Pflaumen. Sondern Leben wie am Samstag. Da, so heißt es in dem Buch, „fraß sie sich durch ein Stück Schokoladenkuchen, eine Eiswaffel, eine saure Gurke, eine Scheibe Käse, ein Stück Wurst, einen Lolli, ein Stück Früchtebrot, ein Würstchen, ein Törtchen und ein Stück Melone. An diesem Tag hatte sie Bauchschmerzen.“ Hätten wir auch, bei solchem Gefresse. Ein fettes Mahl. Bis man richtig voll ist. Lebenssatt.

Bei Jesaja kommt nun aber noch etwas hinzu. Etwas? Das wäre falsch gesagt, denn es ist das, was dem lukullischen Festmahl erst den entscheidenden Mehrwert verschafft: Gott sitzt mit am Tisch! Der große Gastgeber unseres Lebens. Diesen Festschmaus am Ende aller Tage lässt auch er sich nicht entgehen. Gott selbst - bei diesem sinnlichen Predigttext darf man das mal so sagen -, Gott selbst ist anscheinend besonders unersättlich. „Er wird den Tod verschlingen“, heißt es hier, und dieses Wording nimmt später der Apostel Paulus fast wörtlich auf (1. Kor 15,54). Das Unbekömmliche, all das Lebensfeindliche, das dazu führt, das der Mensch, statt des Menschen Bruder zu sein, des Menschen Wolf wird: All das wird einmal nicht mehr da sein.

Aber das geht eben nicht ohne körperliche Schmerzen und seelische Qualen ab - und das auch nicht bei Gott! Da er in dem Menschen Jesus sich ganz unter die Herrschaft des Irdischen begeben hat, und damit eben der Vergänglichkeit, der wir alle unterworfen sind: darum kann Gott den Tod nicht so vernichten, dass er dabei selbst schadlos bleibt. Er muss den Preis alles Irdischen zahlen: So hat er fürchterlich gelitten. Vor drei Tagen ist es uns wieder vor Augen geführt worden. Und da merken wir wieder, dass wir noch nicht in der ganz neuen, üppigen Welt des Jesaja leben, sondern in der unseren. Es geht eben nicht, so einfach vom Karfreitag nach Ostern zu springen, von der tiefen Traurigkeit ins ausgelassene Feiern. Es hilft nichts: Es braucht einen Weg, um mit diesem tiefen Riss leben zu können, dass einerseits Leid und Tod nicht mehr sein sollen, es aber zugleich, trotz allem Osterjubel, so viel zu betrauern gibt, Not, Böses und Gewalt um uns herum.

II.

Und da kommt das vorhin gehörte Evangelium dieses Ostermontags ins Spiel, diese berührende Geschichte vom Weg der beiden Jesusjünger nach Emmaus. Dort wird nämlich diese Spannung buchstäblich durchschritten. „Wir aber hatten gehofft“, erinnern sie sich trieftraurig an die großen Hoffnungen, die sie an Jesus geknüpft hatten - und wie das Kreuz all das durch-kreuzt hatte. Karfreitags-, Grabesstimmung. In dieser Bubble sind sie so tief eingekapselt, dass sie zwar irgendwie den Frieden, das Tröstliche spüren, was von dem Unbekannten ausgeht, der sich unterwegs zu ihnen gesellt hat, ihn aber nicht erkennen. Erst am Abend, in der noch Unerkannte, den sie als Gast zu sich eingeladen haben, plötzlich den Gastgeber gibt, bei Tisch das Brot nimmt, das Dankgebet spricht und ihnen reicht, da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen, wer er ist. Es ist freilich nicht einfach ein Wiedererkennen. Es ist ein Neu-Erkennen: Der Auferstandene ist kein wiederbelebter Scheintoter, der nach ein bisschen Erholung fröhlich aus dem Grab spaziert. Auch keine wieder zum Leben erweckte Leiche mit blassen Gesichtszügen. Leibliche Auferstehung heißt, wie der Apostel Paulus sagt, verwandelte Leiblichkeit, rundherum neue Existenz von Leib und Seele, Körper und Geist. Eine radikal neue Wirklichkeit, die wir uns mit unserem Verstand nicht selbst erschließen können, auf die wir erst von außen aufmerksam gemacht werden müssen.

Dies aber eben nicht durch eine theologische Vorlesung, oder einen charismatischen Menschen, sondern, so erzählt diese Geschichte, durch ein Essen. Durch Brot, das für uns gebrochen wird. Das Abendmahl ist also zentral, durch das Jesu Jünger Ostern erst begreifen konnten. Das Abendmahl ist aber auch zentral dafür, dass wir Ostern irgendwie begreifen. Noch elementarer gesagt: Das gemeinsame Essen ist zentral für unseren Glauben. So wie es nicht nur diese Ostergeschichte aus dem Neuen, sondern auch unser Jesaja-Text aus dem Alten Testament uns nahebringen.

Liebe Gemeinde,

hier wie dort geht es darum, dass Menschen plötzlich verstehen, weil Gott sie verstehen lässt nach längerer Zeit des Missverstehens. Hier wie dort geht es darum, dass es denen, die zum Essen beieinander sind, plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt und sie begreifen, worum es eigentlich geht im Leben. Natürlich gibt es Unterschiede. Wir können aus dem alttestamentlichen Propheten keinen Lukas vor Lukas machen, keinen Christen vor Christus. Jesajas Freudenmahl findet auf dem Berg Zion mitten in Jerusalem statt - dort, wo die Freunde Jesu auch ihr letztes Mahl mit ihm begangen haben, am Abend vor seinem Tod. Aber anders als da kommen zu Jesajas Freudenmahl alle Völker. Die Türen bei Jesaja stehen sperrangelweit offen nach allen Richtungen - während die Jünger Jesu sie am Gründonnerstagabend verriegeln, aus Angst.

Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Nicht nur, dass Essen Erkennen und Verstehen bringt. Gemeinsam ist vor allem, dass beim Essen die Menschen etwas über das Leben insgesamt begreifen. Genauer gesagt: über Leben und Tod. Bei Jesaja wie Lukas begreifen die Tischgäste nämlich, dass Gott der ultimative Herr allen Lebens ist. Und nicht der Tod, wie es so oft scheint, gerade in der aktuellen Zeit, mit all der nicht enden wollenden Gewalt in Ukraine, in Gaza und Afrika und sonst wo. Man könnte das Bild unseres Textes sarkastisch bitter so drehen, dass der Tod der eigentliche Herr dieser Welt sei und in den abscheulichen Gewalttaten seine bizarre Festmähler feierte.

III.

Aber heute Morgen, liebe Gemeinde, hören wir nicht von solchen bizarren Festmahlzeiten des Todes. Gegen diesen vermeintlichen Weltherrscher setzt Gott seine Geschichten von den Festmahlzeiten des Lebens, bei denen bei fetter Speise so wie bei Brot und Wein klar wird, dass nicht der Tod das letzte Wort behält. Hass, Terror, Armut, Klimabedrohungen: sie sind überwunden. Keine Tränen mehr, keine Trauer und Einsamkeit. Nein, wir sitzen alle wie bei einem großen Abendmahl zusammen am Tisch. Alle. Dies kleine Wörtchen ist das entscheidende in unserem Abschnitt: Alle Völker werden auf dem Berg Zion zusammenkommen und das Leben feiern. Auch die Feinde, von denen Israel bislang immer geglaubt hatte, dass Gott sie Seite an Seite mit seinem Volk bekämpft. All diese Feindschaften sind aufgehoben. Niemand schaut auf irgendwen herab. Alle sind Tischnachbarn und freuen sich über das heile, erfüllende Leben. Frieden und Freude. Und meinetwegen auch Eierkuchen! Zum Satt- werden halt.

Bei Jesaja begreifen die Scharen auf dem Zion in Jerusalem plötzlich, dass „Gott den Tod verschlingen wird auf ewig“. Da wird mit bestem Wein und fetten Speisen gefeiert, dass Gott den Tod verschlungen, verputzt, gänzlich aufgegessen hat. Bilder, natürlich. Aber tröstliche, hoffnungsstarke Bilder. Wenn wir mit am Tisch sitzen, bringen wir ja all das mit, was unser irdisches Dasein ausmacht. Also auch den Tod, der ein Teil davon ist. Und nun sagt uns der Prophet: Um Tischmanieren geht’s hier nicht! Nicht „überwinden“ wird Gott den Tod - er wird ihn verschlingen. Ganz und gar. So wie ein Heißhungriger, der tagelang nichts Richtiges mehr zu essen gekriegt hat, seine Mahlzeit verschlingt. Nichts bleibt übrig. Es wird dann sein, als hätte es ihn, den Tod nie gegeben.

Bei Lukas dann werden diese starken, tröstlichen Bilder zur Realität. Denn es sitzt in Emmaus einer am Tisch, der hat den Tod überwunden. Der wurde nicht endgültig ausgelöscht, sondern er ist der Triumph des Lebens über den Tod in Person. Eine Realität scheinbar jenseits aller unserer Realität - in Wahrheit aber die neue Wirklichkeit des Lebens, die hinter unseren Realitäten des Todes liegt. Wir sehen sie oft nur nicht, weil unsere Augen gehalten sind wie bei den bei den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, und unser Verstand im Nebel.

IV.

Wo können wir diese neue Realität sehen lernen inmitten der vielen Bilder vom Tod um uns herum? Liebe Gemeinde, die Botschaft dieses Ostermontags, die herrliche Nachricht beider Teile der Bibel ist: Das alles erfahren wir, lernen wir ganz schlicht beim Essen. Dann nämlich, wenn uns Gott einlädt zu essen an seinem Tisch. Da erinnern wir an einen, der gestorben war und den die Übermacht des Todes ins Grab gebracht hatte. Aber wir erinnern beim Abendmahl an Jesus von Nazareth nicht wie an einen beliebigen toten Verwandten oder Freund, den wir nicht vergessen wollen. Der Auferstandene ist beim Abendmahl mitten unter uns da, in, mit und unter Brot und Wein. Auch im Blick auf diese Gegenwart sind unsere Augen oft gehalten wie die der Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Pappige Oblate klebt am Gaumen und der Wein schmeckt nicht besonders. Aber unter diesen schlichten Zeichen spüren wir tief im Herzen: Ja, er lebt und hat den Tod besiegt. Und er wird auch uns ins neue, wirkliche Leben führen, dann, wenn wir nicht mehr essen, den Löffel abgeben und scheinbar unser letztes Stündlein geschlagen hat.

Ob wir nun zu zweit sind oder viele, ob es ein Weg zum Zion hin oder vom Zion weg ist, ob es mitten in unserem Leben oder am Lebensende ist: Gott lädt uns alle an seinen Tisch. Und da werden uns die Augen geöffnet und wir erkennen. Bei Jesaja findet sich das tröstliche Bild, dass wir wieder sehen werden, weil Gott selbst uns die Tränen trocknet. Wenn uns einer die Tränen sanft trocknet, dann verschwindet der trübe Schleier über unseren Augen. Dann schauen wir durch die unüberwindlich erscheinende Dominanz des Todes hindurch: auf einen, der gestorben war und neu lebt. Und der uns verspricht, dass auch wir nicht im Tod bleiben, sondern mit ihm und durch ihn leben werden, auch im Tod: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“ (Joh 14,19). Diese Hoffnung verwandelt. So wie aus der kleinen Raupe Nimmersatt ein wunderschöner Schmetterling wird, und nicht mehr der knurrende Lebenshunger den Ton bestimmt, sondern die beschwingt vor sich hin pfeifende Vorfreude auf das erfüllte österliche Leben. „Muss ich von hier nach dort - / er hat den Weg erlitten. / Der Fluss reißt mich nicht fort, / seit Jesus ihn durchschritten“ (EG 117,3).

Amen.

Und wir sahen seine Herrlichkeit

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

ist bei Matthäus, Markus und Lukas von Hohn und Spott, von Schreien und Todesqual die Rede, so hier bei Johannes keine Spur davon, dass der, den das alles betrifft, erschüttert und verwirrt wäre. Auch kein Weinen und Panik bei seinen Leuten. Mich erinnert dieser Passionsbericht bei Johannes an romanische Darstellungen des Gekreuzigten: Da hängt nicht, wie am berühmten Isenheimer Altar von Grünewald, ein geschundener Leib, mit seiner Last die Arme nach unten ziehend und in den Nägelwunden reißend - sondern wir sehen einen Christus, der im Sterben geradezu aktiv sein großes Werk vollbringt. Aufrecht stehend oder gar schwebend, so dass das Kreuz eher wie ein geometrisches Zeichen aussieht, das das Stehen des Herrn und seine segnend ausgebreiteten Arme abbildet. Johannes sieht, was sich da abspielt an der Schädelstätte, nicht mit den Augen des objektiven Chronisten, sondern mit den Augen des Glaubenden. Mit den Augen dessen, der weiß, dass sich auf Golgatha mitten in dem ganzen Schrecken - Heil ereignet.

Das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14) schreibt Johannes ganz zu Beginn seines Evangeliums. Das soll, meint er, auch für das dunkle Geschehen auf Golgatha gelten. Karfreitag, das ist: Ein Unschuldiger muss grausam sterben, damit wir, die Schuldigen, vor Gott unschuldig dastehen. Das ist von Anfang an der innerste Kern des Christlichen. Aber was das eigentlich bedeutet, daran macht man ein Leben lang herum. Johannes entwirft eine Art Bühnenbild: Die Mitte der Szenerie ist der Gekreuzigte, flankiert von zwei Verbrechern. Pilatus hat seinen Auftritt und die Hohepriester, dann Maria, Jesu Mutter und Johannes, der Lieblingsjünger. Ich möchte heute mit Ihnen die Personen dieses Dramas daraufhin anschauen, wie an ihnen etwas von dieser verborgenen Herrlichkeit dessen aufscheint, der da elend zu Tode gebracht wird.

I.

Gemäß römischer Vorschrift bei einer Hinrichtung am Kreuz schreibt Pontius Pilatus den Grund der Verurteilung auf eine Tafel und hängt sie am Kreuz auf: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. So lautet die Inschrift auf dem sog. Titulus. Sie soll dokumentieren: Der Grund der Verurteilung ist politisch, nicht religiös. Dagegen legen die Hohepriester Protest ein: Der ist doch gar nicht unser König! Sie haben Recht. Das ist er wirklich nicht. Vorher hatten sie sich Pilatus noch angebiedert wie aktuell viele vermeintlich Mächtige bei Trump: „Wir haben keinen anderen König als den Kaiser“. Aber Pilatus, der abgebrühte Machtmensch, demonstriert mit der Inschrift über dem Kreuz ein weiteres Mal, wer das Sagen hat im Lande Palästinas.

Aber nun kann man mit dem zweiten, dem transzendierenden Blick, den Johannes auf das Geschehen wirft, entdecken, dass Pilatus gar nicht der Herr des Verfahrens, sondern selber Person einer höheren Regie ist. Natürlich liegt es ihm fern, nun seinerseits diesen aus seiner Sicht eigentlich uninteressanten Menschen, den er - Populist, der er ist - der geifernden Menge vorgeworfen hat, als Messias auszurufen. Und doch tut er es - indem er auf die von den Hohenpriestern geforderten Anführungszeichen auf dem Titulus verzichtet. Nicht, dass Jesus das nur von sich behauptet habe, lässt er dort anbringen. Sondern ganz lakonisch: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Pilatus meint das sarkastisch: Toller König, der da hängt! Aber wer das ganze Vorspiel nicht mitgekriegt hat, muss es für bare Münze nehmen: Hier wird tatsächlich ein König hingerichtet! Zumal Pilatus das gleich in drei Sprachen schreiben lässt: Griechisch, Lateinisch und Hebräisch. Die ganze Welt soll also sehen und lesen, wer hier ohnmächtig und elend stirbt. Dasselbe nun mit dem tieferen Blick des Johannes gesagt: Der hier hängt, ist der Christus, der wahre König.

Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“: Pilatus reagiert auf den Forderung der Menge, die Inschrift mit Anführungszeichen zu versehen, mit der Arroganz des Mächtigen, der sich nicht begründungspflichtig sieht - und eben darin ist er ein Werkzeug Gottes. In den anderen Evangelien als der ängstlich seine Hände in Unschuld waschende Richter eher eine Randfigur, wird Pilatus hier bei Johannes zu einem schillernden, zentralen Akteur. Ohne daran zu denken proklamiert er die Königswürde Jesu. „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“. Das gilt jetzt, ein für alle Mal. Dieser ist der König der Juden, der Sohn Gottes, Hoffnung Israels und der Welt. So überlistet der opportunistische Statthalter gewissermaßen sich selbst, so wird ein heidnischer Potentat wider Willen zum Akteur Gottes. - „Und wir sahen seine Herrlichkeit“.

II.

Szenenwechsel. Maria, die Mutter des Verurteilten, kommt in den Blick. Und Johannes, von dem es heißt, er sei Jesus am nächsten gestanden. Jesus regelt die letzten Dinge auf Erden. Eine Sozialfürsorge, die sich seiner Mutter annimmt, gibt es nicht. Die Familie ist die Versicherung für die Alten. Und Jesus bestellt sein Haus. Aber wie! Wenn es ans Sterben geht, werden letzte Worte der Liebe gesprochen, denn nur die Liebe kann dem Tod standhalten. Warum aber bleibt so ein Wort der Liebe aus, wenn der Sterbende am Kreuz sich ein letztes Mal seiner Mutter zuwendet? „Frau, siehe, der da, das ist dein Sohn! Und du da, siehe, das ist deine Mutter“. Warum sagt Jesus nicht: „Mutter, Danke für alles?“ Ja, warum sagt er nicht wenigstens „Mutter“? Warum diese Fremdheit, die aus dem letzten Wort spricht, wonach sie nicht mehr seine Mutter, sondern einfach nur noch eine „Frau“ ist, und jetzt einen anderen als ihren Sohn ansehen soll?

Nun, wenn man auf den Weg Jesu schaut, dann sagt er hier nichts Neues. Der in seiner letzten Stunde sagte: „Frau, siehe, dein Sohn“, der hatte ja auch zu einem um seinen Vater trauernden Menschen gesagt: „Lass die Toten ihre Toten begraben, und folge du mir nach!“ (Lk 9,60). Und der hatte schon einmal seiner nach ihm suchenden Mutter ausrichten lassen: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Der, der Gottes Willen tut, der ist meine Mutter und mein Bruder!“ (Mk 3,33f). Diese lieblos erscheinende Härte ist freilich auch Liebe. Aber eben Gottes, nicht menschliche Liebe. Eine Liebe, die jede natürliche, familiäre Bindung sprengt und sich weitet zur Liebe Gottes zu einer lieblosen Welt. Da werden „Mutterbindungen“, „Familiensinn“, „Nationalgefühl“ etc. unerheblich. Die Fernsten werden zu Nächsten, und die natürlichen Nächsten zählen nicht mehr als die anderen. Die Härte und Distanz Jesu entzieht Maria den leiblichen Sohn, damit sie in ihm den Größeren erkennt: den Gottessohn, der in die Welt kam zur Erlösung für viele. Weil Jesus Maria liebt – und zwar nicht mehr und nicht weniger als alle Menschen -, deshalb bestreitet er ihr ein besonderes „Mutterrecht“ auf ihn. - „Und wir sahen seine Herrlichkeit“.

Jesus von Nazareth war tief verwurzelt in den Traditionen seines jüdischen Volkes. Er hat sein Volk geliebt, das geht aus vielen seiner Worte hervor. Aber er hat diese Herkunft nie zum Maß aller Dinge gemacht. Eine Parole „Israel zuerst!“ wäre Jesus nie über die Lippen gegangen. Wir hatten nach den Erfahrungen des großen Krieges das Gift des Nationalismus für entsorgt gehalten. Wir haben uns getäuscht: er hat ja spätestens seit den dramatischen Umwälzungen in den USA Hochkonjunktur. Auch in Europa. Das muss uns beunruhigen. Europa ist ein Friedensprojekt und das Kreuz gehört zu seiner DNA. Ich sage das nicht, um einem christlichen Staat das Wort zu reden. Aber der große Rechtsgelehrte Böckenförde hat es in seinem berühmten Satz auf den Punkt gebracht: unser weltanschaulich neutraler Staat lebt von vorpolitischen Grundlagen, die er selbst nicht garantieren kann. Zu denen gehört die unveräußerliche Würde des Menschen, die nicht abhängt von Nation, Hautfarbe, Religion und Geschlecht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieser Eingangssatz unserer Verfassung ist ein weltliches Kondensat des Christlichen. Jesus Christus ist an diesem Tag nicht gegen Juden, Muslime oder Migranten, nicht gegen Linke oder Rechte oder Queere am Kreuz gestorben, sondern für uns alle.

III.

Und dann geht es zum Tiefpunkt dieses schwarzen Freitags - der aber aus der Sicht des Johannes der leuchtende Höhepunkt des Ganzen wird. „Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied“. Es ist nun vollendet und zum Abschluss gebracht, was mir von allem Anfang an aufgetragen war. Jesus hat nun ausgeführt, was er in seinem großen Abschiedsgebet ausgesprochen hatte: „Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue“ (Joh 17,4). - Aber wir, wir haben nicht diesen vom Glauben durchdrungenen Blick des Johannes. Wir müssen schon noch zweifelnd nachfragen: Was ist hier vollbracht, und warum? Er, der Ströme lebendigen Wassers versprochen hatte, ruft sterbend „Mich dürstet!“ Er, der von sich sagte: „Ich und der Vater sind eins“, hängt von Gott verlassen am Galgen. Was ist da vollbracht? Der Unschuldige stirbt den Verbrechertod, und die Schuldigen stehen unbehelligt dabei, feixen und leben weiter. Ist das alles nicht sinnlos? Ist das Kreuz nicht der offen zutage liegende Misserfolg, so dass statt von „Vollbrachtsein“, von Vollendung eher von Ende und Zusammenbruch die Rede sein müsste?

Ja, liebe Gemeinde, menschlich gesehen ist das Kreuz Misserfolg und Zusammenbruch. Aber gerade dadurch, dass ein Unschuldiger der Fokus aller Sinnlosigkeiten wird, dass sich in ihm, dem einen Gerechten, alle Ungerechtigkeit, alles Elend der Welt konzentriert, wird das Kreuz, wie Paulus es dann deuten wird, höchste Weisheit. Dadurch, dass Gott sich dem Scheitern des Kreuzes aussetzt, ist das Kreuz Vollendung. Weil seither klar ist: Nichts Menschliches kann Gott fremd sein. Durch all das, was uns Angst macht, was wir einander antun, ist er selber auch durch.

„Es ist vollbracht“. Ich denke, jeder von uns kann ganz leise den Ton dieses Wortes mitnehmen: wie immer es einmal mit meinem Sterben sein wird, Gott hat diese ganze Schwere des Sterbens auch durch, er wird auch mir nah sein, wenn es einmal zu Ende geht. Er wird mich ansprechen, wenn andere mich nicht mehr erreichen können. Wie wir es vorhin gesungen haben: „Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür. / Wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein“ (EG 85,9). Als vor sechs Jahren meine Mutter gestorben war, haben wir diese Paul-Gerhardt-Strophe miteinander an ihrem Totenbett gesungen. Das war tröstlich.

Was also ist vollbracht? Alles - denn Gott hat den von uns selbst zugeschütteten Weg zu ihm und zueinander wieder freigeschaufelt. Eigentlich ist die Strophe, die wir an Weihnachten singen, erst jetzt am Platz:

Heut schließt er wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr herfür.
Gott sei Lob, Ehr, und Preis!

(Nikolaus Herman, EG 27,6)


Amen.

„Unter euch aber sei es nicht so, sondern: Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Markus 10,43—45

Predigt gehalten von Prof. Dr. Christoph Sigrist

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Liebe Gemeinde!

Die Taufe ist für viele unter uns ein zentraler Augenblick. Immer wieder mache ich die Erfahrung, wie unterschiedlich Eltern und Geschwister, Patinnen und Paten, Grosseltern ihre Erwartungen daran knüpfen. Geschieht etwas, oder ist alles symbolisch? Meine reformierte Seele im Geist Ulrich Zwinglis bindet die Taufe in Zürich nicht an die Mitgliedschaft der Kirche. Das Geld ist entscheidend dafür, Mitglied zu sein — was denn Anderes in der Schweiz. Zwingli hat die Kindertaufe an die Beschneidung der jüdischen Knaben gebunden, Martin Luther an den Tod und die Auferstehung Christi. Beide gerieten sich in die Haare und stritten darüber, wer Recht hat bei der Deutung des Abendmahls.

Unser Predigtvers ist für viele unter uns ein zentraler Text. Immer wieder mache ich die Erfahrung, wie unterschiedlich er gedeutet und gebraucht wird. Zählen Sie sich zu den evangelikalen und konservativen Christinnen oder Christen, dann ist für Sie zentral die Botschaft: Jesus kam, um sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele: Der stellvertretende Tod ist entscheidend. Sehen Sie sich als liberal und sozial engagierte Christen oder Christinnen, dann hören Sie aus dem Text: Kirche, Gemeinde, — also wir! — soll Gegenwelt sein in einer Welt, in der Machthaber Völker unterdrücken: Macht zuerst, Deal zuerst, das andere ist Nebensache: Der Protest gegen Gewalt, die unterdrückt, ausbeutet, tötet, ist zentral.

Welche Überzeugung hat Recht? Stellvertretender Tod oder Protest gegen Gewalt? Die Taufen heute Morgen sind der Resonanzraum, wo beide Überzeugungen in Schwingung kommen. Hören wir genau hin und lassen uns überraschen, wie das klingt.

Zur ersten Überzeugung: Warum ist der Tod Jesu ein Protest gegenüber Macht oder Gewalt, die Menschen unterdrückt oder Leben tötet? Wer unter uns möchte mit Blick in unsere Welt behaupten, dass unser biblischer Vers keine soziale und politische Bedeutung hat? Die Bibel ist politisch. Darin wird vom Tod Jesu erzählt als gesellschaftliche Korrektur: „Unter euch soll es nicht so sein!“ Ja, wie denn? Herrscher unterdrücken Völker! Grosse setzen ihre Macht gegenüber Kleinen ein! Nicht nur das Oval Office in Washington zeigt uns täglich, was auch in unseren Machtzentren von Bundestag in Berlin und Nationalrat in Bern geschieht: Macht kann andere Menschen zugunsten des eigenen Vorteils schädigen. Sie ist die unheimliche Begabung, anderen Kosten zu überlassen, die man selbst zu zahlen hat. Mächtige leben auf Kosten anderer.

Kosten? Hier beginnt unser Text mit dem „Lösegeld“ besonders stark zu schwingen: Es geht um Geld für die Freiheit vieler, in Reibung mit politischer Macht und in Resonanz mit der Gemeinschaft Jesu. Drei Obertöne der Macht erklingen durch die Reibung von Macht:

Politische Macht kann andere zwingen, das eigene Leben zu riskieren. Jede Armee, auch die Schweizer Armee, gründet im Prinzip: Einer befiehlt, andere haben ihr Leben zugunsten dieses Befehls zu opfern. Der Blick in die Ukraine, in Gaza, in Sudan, der Blick zu den 60 Kriegsschauplätzen, die im Moment auf unserer Welt brennen, zeichnen Fratzen solch tötender, politischer Macht.

Ökonomische Macht können andere benutzen, die Kosten, die man selbst zu bezahlen hat, zu tragen. Mächtig ist, wer Kosten auf andere wälzen kann. Erste sind, wer schneller als der andere ist. In der Schweiz tobt dieser Machtkampf in der Gesundheit immer stärker, neuerdings auch bei der Sicherheit und Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe. Ökonomische Macht nährt Egoismus und Gier, tötet Solidarität und Verzicht.

Persönliche Macht ist unheimlich. Viele unter uns wissen, wie schamlos Beziehungen in Familien und Freundschaften ausgenutzt werden, trotz Tauffest und Familientradition. Berufswünsche werden geopfert, berechtigte Interessen zurückgestellt. Unheimlich ist diese Macht deshalb, — unzählige Geschichten erzählen mir das in meiner diakonischen Arbeit —, weil Frauen oft das in ihrer Beziehung tun, was ohne Beziehung schlicht Ausbeutung wäre. Wie lange mussten wir in der Schweiz politisch ringen, damit in Ehe und eingetragener Partnerschaft in der Sexualität ein Nein der Frau ein Nein bedeutet und juristisch wirksam ist! Voller Scham blicke ich aufgrund solcher partei- und machtpolitischen Kämpfe auf unseren Rechtsstaat oder unsere humanitäre Tradition in der Schweiz.

Wir alle leben auf Kosten anderer. Das gehört zur DNA des Lebens, das ist halt so! Halt, dagegen protestiert Jesus: So soll es eben nicht unter euch so sein! Er lebt ein anderes Leben vor, ein Leben, das nicht auf Kosten anderer lebt. Im Gegenteil, leben heisst nicht einfach: Fressen und gefressen werden. Leben heisst, die Kosten für andere mittragen, anderes Leben ermöglichen, anderes Leben fördern, sich anderem Leben zuwenden, anderes Leben anerkennen. Dazu braucht es, verzichten zu können auf Grösse, den ersten Platz, dazu braucht es, einfach zu dienen. Heisst dienen demnach: Zuwendung schenken, Anerkennung?

Ich nehme diese Frage mit und komme zur zweiten Überzeugung, die zu schwingen beginnt. Warum schreit die ganze Welt danach, dass einer stellvertretend ihr Elend und ihre Not, die zum Himmel schreit, auf sich nimmt — als Lösegeld für viele? Wer jetzt abhängen will und zu sich selbst sagt, ich bin nicht gläubig, das geht mich nichts an, der täuscht sich mächtig. Stellvertretung geschieht nicht nur zu biblischen Zeiten. Stellvertretung ist nicht nur der Auftrag, den Jesus als Menschensohn von Gott entgegennimmt und ausführt. Stellvertretung ist menschlich, allzu menschlich.

Nota bene: Jesus erteilt keine Aufträge, lässt auch keine Aufträge für sich ausführen, er führt selbst den göttlichen Auftrag aus. Heisst dienen genauer: Einen Auftrag entgegennehmen: Sich Menschen zuwenden? Und dann: Stellvertretend für sie ihre Not auf sich nehmen? Ist es das, was Jesus den Jüngern ins Gewissen redet?

Ich kehre zurück: Stellvertretung ist menschlich, allzu menschlich. Ich kann nicht hindern, Ihnen persönlich jetzt von meinem Vater zu erzählen. Er war Diakon. Er nahm den Auftrag von Gott entgegen, sich Menschen in Not zuzuwenden. Er übernahm für viele in der Funktion der Kirche oder auch als Vormund die Verantwortung, Not zu lindern, Leben zu fördern. Er war herzkrank. Er hinkte, da er ein kürzeres Bein hatte. Die Kirchenleitung empfing ihn mit den Worten: Herr Sigrist, willkommen bei uns als Diakon, wir hätten schon einen schöneren Mann verdient.“ Dies erzählte meine Mutter später.

Ich übernahm immer mehr stellvertretend für ihn als junger Erwachsener diakonische Arbeiten. Das Herz wurde schwächer. Er musste mit 54 Jahren pensioniert werden. Er kam in eine Herzklinik. Wenige Wochen, bevor er starb, bat er mich zu sich ins Zimmer: „Ich bin schwach geworden, es wird bald zu Ende sein.“ Dann begann er zu weinen. Es schüttelte ihn durch: „Ich habe Angst vor dem Sterben. Ich habe den Glauben an Gott verloren.“ Hilflos suchte ich den Halt bei der Bettkante. „Was soll ich tun, Vater?“ „Ich bitte Dich, glaube Du jetzt stellvertretend für mich! Und nimm auch den Hass weg von mir, den ich auf meine Pfarrkollegen und Kirchenältesten habe. Ich habe sehr gelitten unter ihrer Macht!“ „Das will ich tun.“ Er nahm meine Hand. Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. „Danke.“

Da begann ich zu verstehen: Menschen können den Glauben an sich und an Gott verlieren durch Gewalt, Krankheit und Sterben. Menschen können für andere stellvertretend glauben. Sie wirken wir Katalysatoren. Reaktionen werden ausgelöst. Vieles löst sich. Ein Lächeln stellt sich ein. Ein lachendes Antlitz blickt entgegen.

Ich bin überzeugt, Jesus war so ein Katalysator für die Familie der Menschen um ihn. Er zog Gewalt und Aggression auf sich, nicht nur des politischen Machtapparats, sondern auch der Frommen und Gerechten. Er glaubte für die, die den Glauben an Gott und an sich verloren haben. Sein Tod offenbart nicht das Heil, jedoch das Unheil, das Hass und Unglaube freilegt. Christlicher Glaube lebt davon, dass das Unmenschliche, das am Kreuz offengelegt wurde, nicht das letzte Wort über den Tod Jesu war. Ostern protestiert dagegen, dass wir Menschen auf Kosten anderen Lebens leben wollen. Ostern protestiert dagegen, dass wir immer bereit sind, andere Menschen für uns leiden und sterben zu lassen. Ostern ist die Kraft, mit der wir stellvertretend für andere glauben. Wenn Osterglocken erklingen, lachen Menschen.

Beide Überzeugungen, der Protest gegen die Gewalt und der stellvertretende Tod Jesu geraten in Schwingung, so habe ich zu Beginn gesagt. Dazwischen glühen heisse Drähte des Dienens. Dienen? Was bedeutet Dienen? Zuwenden, lösen, Lösegeld zahlen, für andere glauben.

Solches Dienen können Sie einerseits hier in Dresden erleben in der Tram: Miteinander in der Strassenbahn reden, auch ausserhalb der eigenen Blase sich Menschen zuwenden, dies möchte der Verein metro_polis.[1]

Anderseits: Wo könnte man das Dienen deutlicher erleben als beim kleinen Kind? Ein Vater mag viel Energie aufwenden im Kampf um den ersten Platz. Eine Mutter mag viel Anstrengung aufwenden, um gross herauszukommen. Und nun wird er Vater eines kleinen Kindes. Und das Kind braucht sie, die Mutter. Es gehört nicht zu den Grossen dieser Welt. Es hilft nicht für die Karriere. Es ist kein Mittel, um öffentlich Anerkennung zu gewinnen. Das Kind braucht jedoch die Zuwendung seiner Eltern. Der Vater merkt etwas von der Umwertung seines Lebens, hoffentlich merkt er es. Die Mutter spürt etwas von der Geburt ihres eigenen Lebens, hoffentlich spürt sie es. Er schenkt Zuwendung, viel Zuwendung. Sie übernimmt für ihr Kind, sie übernimmt viel. Das lachende Gesicht ist ihr schönster Lohn.

Für die Eltern ist ihr Kind eine sehr wichtige Person. Ich blicke zum Taufstein. Ich sehe die Tauffamilien: Ich glaube, wir sind eine sehr wichtige Person für Gott. Wir alle. Was wollen wir mehr? Manchmal denke ich: Unser lachendes Gesicht wäre Gottes schönster Lohn.

Amen.

 

[1] Vgl. Artikel: Austausch in der Strassenbahn, in: Publik—Forum Nr. 2/2025, 60.

 

Nehmen ist seliger als Geben         

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

ein Evangelium für Satte ist er nicht, dieser Predigtabschnitt. Nicht für die körperlich Satten, und schon gar nicht für die, die geistlich satt sind. Die gibt es ja manchmal auch. Sie machen den Eindruck, als seien sie ganz intim mit ihrem Gott, auf Du und Du, als wüssten sie schon alles über ihn. Brot des Lebens aber, um das es hier geht, ist Brot für Hungrige. Für Lebenshungrige. Wer lebenssatt ist - dazu muss man ja gar nicht 80 oder 90, man kann schon als Jungspund ganz schön saturiert sein -, für den sind diese Sätze Jesu nicht gesagt. Es sei denn, die Satten und Saturierten ließen sich durch dieses ungewöhnliche Lebensmittel, das vom Himmel kommt, ganz neu Appetit machen, so dass sie aufs neue Geschmack bekämen. „Geschmack fürs Unendliche“, wie das der große Theologe des 19. Jahrhunderts Schleiermacher nannte. Das muss dann aber schon eine ganz besondere, wunderbare Speise sein. Eine, die nicht nur den Hungrigen Sattwerden, sondern auch den Satten einen neuen Hunger verspricht. Wenn das wahr ist, dann macht uns das Evangelium vom Brot des Lebens mit einer elementaren Lebens-Wahrheit bekannt, die uns unbedingt angeht.

I.

Das kann man schon daran sehen, dass es Jesus hier um etwas ganz Elementares geht: den Zusammenhang von Brot, Essen und Leben. Zum Leben braucht es Lebensmittel. Zu ihnen gehört das tägliche Brot. Für die Bibel ist es, zusammen mit dem Wein, das Lebens-Mittel schlechthin. Wir brauchen es unbedingt, um leben zu können. Auch wenn dieselbe Bibel uns daran erinnert, dass unser tägliches Brot nicht alles ist, denn: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ (Dtn 8,3), so ist doch ohne das tägliche Brot alles andere nichts. Deshalb klingt Brechts berühmter Satz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ zwar sarkastisch, aber er ist in einem elementaren Sinn wahr.

Beim Brot weiß jeder, wovon die Rede ist. Man kauft es beim Bäcker, und viele backen es sich auch selbst, alternativ sozusagen. Aber das Brot selbst ist alternativlos. Es ist nicht ein Lebensmittel unter anderen, wie Hummer oder Rehrücken, die zwar besonders lecker sind, uns aber schnell zum Hals heraushingen, würden wir sie täglich essen. Brot dagegen essen wir täglich, und täglich gern. Wie wir auch täglich gern Wasser trinken, und deshalb ist es kein Zufall, dass Jesus sich kurz nach unsrem Textabschnitt auch als das „lebendige Wasser“ bezeichnet. Keiner, auch nicht die übelste Figur, bekommt es verweigert. Daher das sprichwörtliche „Wasser und Brot“ im Gefängnis. Auf diese beiden elementaren Lebensmittel gibt es ein Menschenrecht, egal was einer auf dem Kerbholz hat. Anders gesagt: Wenn vom Brot die Rede ist, merken wir, wie sehr wir am Ende eben doch bedürftige, angewiesene Wesen sind. Hungrig kommen wir zur Welt. Und bis zu unserer letzten Stunde bleiben wir auf unser tägliches Brot angewiesen. Jesus wusste, warum er uns lehrte, um unser tägliches Brot zu bitten.

Doch nun ist das Brot, wie auch der Wein, schon für die Bibel nicht nur ein Nahrungsmittel, das unser Körper aufnimmt, die die nötige Lebensenergie zu erhalten. Um Brot und Wein versammeln sich Menschen auch, um Mahlzeit zu halten. Brot und Wein stiften Gemeinschaft. Sie haben eine eminent soziale Bedeutung. Denn was ist der Mensch ohne Gemeinschaft? Leben heißt immer zusammenleben. Und menschlich sein heißt: beieinander und füreinander sein. So ist die Bitte um unser tägliches Brot auch eine Bitte um das, was wir brauchen, damit unser Leben menschlich bleibt. Martin Luther hat in seiner Auslegung dieser Vaterunserbitte ganz anschaulich erklärt, was so gesehen alles zum täglichen Brot gehört: „Alles, was zur Lebensnahrung und -notdurft gehört wie Essen und Trinken, Kleider und Schuh, Haus und Hof, Acker und Vieh, Geld und Gut, frumm Gemahl, Friede, Gesundheit, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.“ Auf einen Nenner gebracht: die ganze Fülle dessen, was unser Dasein ausmacht, was ihm Sinn, oder wie wir heute sagen: Lebensqualität gibt. Unser Leben ist voll von elementaren Bedürfnissen. Wie sehr wir auf sie angewiesen sind, merken wir erst dann so richtig, wenn wir sie auf einmal nicht mehr so selbstverständlich befriedigen können. Wenn das Wasser oder der Strom ausfällt, wenn es mal Smogalarm gibt und man nicht ins Freie soll. Und die sehr Alten unter uns, die noch Erinnerungen an die Zeit vor 80 Jahren haben, mit Hunger, Hamstern, Lebensmittelkarten, die wissen es sowieso.

II.

„Brod ist der Erde Frucht, / doch ist’s vom Lichte gesegnet“, heißt es in einem der denkwürdigsten Gedichte deutscher Sprache, Hölderlins großer Elegie „Brod und Wein“. Vom Licht gesegnet - ja, ohne Sonne keine Ernte. Aber als der Erde Frucht teilt es eben auch das Schicksal alles Irdischen: es vergeht. Auch die getreuen Nachbarn und die guten Freunde werden irgendwann nicht mehr da sein. Wie alles, was zum täglichen Brot gehört. Dieses Brot kommt und geht, und darum sättigt es nur auf Zeit. Der Hunger kehrt zurück. Dann braucht es neues Brot. Deshalb ist, wenn Jesus Christus von sich sagt „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist“, ein anderes Brot gemeint. Auch dieses Brot soll Hunger stillen - aber einen Hunger anderer Art der sich nicht nur auf Zeit stillen lässt: den Hunger nach dem Leben selbst. Jeder hat ihn irgendwann kennengelernt, diesen Hunger. Es gibt die Gefahr, von ihm sogar verzehrt zu werden. Wer nach Leben hungert, nach der Fülle der Möglichkeiten, die es bietet, der lebt intensiv und spannend - aber auch gefährlich. Bis dahin, dass man, um Probleme und Kummer wegzuschieben, sich nicht nur aufs Brot, sondern auf alle möglichen Nahrungsmittel stürzt und isst und isst, auch wenn man längst satt ist. Was dabei herauskommt, nennt man „Kummerspeck“. Und doch muss man sich für diesen Lebenshunger nicht schämen. Hätten wir ihn nicht, würden wir bei lebendigem Leib langsam sterben.

Das Brot, nach dem wir uns als Lebenshungrige sehnen, muss aber eines sein, das noch ganz anders satt macht als das berühmte Manna, das einst die Kinder Israel auf ihrer Odyssee durch die Wüste vor dem Verhungern bewahrte. Das Manna war sehr vergänglich. Man konnte nur für einen Tag davon satt werden. Wenn man es länger aufbewahrte, war schnell der Wurm drin. Das Brot aber, das Jesus meint, ist nicht „der Erde Frucht“. Denn es ist ja, wie Jesus hier sagt, „vom Himmel gekommen“. Und Himmel, das ist in der Sprache der Bibel nicht der sichtbare Himmel über uns. Sondern es ist nur anderer Ausdruck für Gott selbst. Was also in der Person Jesu vom Himmel gekommen ist, ist nicht weniger als „Gott von Gott“, das ewige Leben in seiner Person. Und das ist die Wahrheit, die uns unbedingt angeht: Es gibt nicht nur einen Gott im Himmel über uns, sondern es gibt auch den ewigen, den himmlischen Gott mitten unter uns. Wir nehmen den Mund nicht zu voll, wenn wir sagen: In Jesus Christus, da begegnet uns der Himmel auf Erden. Gottes Himmel, diese uns absolut überlegene Instanz, lässt sich zu uns herab und bietet sich uns als Brot des Lebens an. Der ewige Gott lässt sich genießen und verzehren wie das tägliche Brot. AWie das, was wir zum Leben unbedingt brauchen.

III.

Dazu aber gehört, ich sagte es schon, mehr als das, was wir leiblich zu uns nehmen. Das Kleinkind lebt nicht von der Muttermilch allein, sondern erst recht davon, dass Mutter und Vater es in die Arme nehmen und an sich drücken. In Freundschaften leben wir nicht nur von Freundesdiensten, sondern davon, dass uns die Freundin, der Freund immer in die Augen sehen können. Liebende leben nicht nur von ihren tausend Liebesbekundungen, sondern noch mehr davon, dass sie einander unbedingt vertrauen. Und alte Menschen leben nicht nur davon, dass man für sie tut, was sie selbst nicht mehr tun können, sondern erst recht davon, dass man für sie Zeit und Worte findet, die sie spüren lassen: Ich bin bei dir, bin für dich da. Solche Zeit, solche Worte sind Lebens-Brot.

Brot für das ewige Leben: Das kann aber nur der ewige Gott sein. Deshalb sagt Jesus hier den empörten Leuten, die seine Worte anmaßend finden: „Wer mein Fleisch isst, der hat das ewige Leben und ich werde ihn am jüngsten Tag auferwecken“. Das heißt, dass Gott in Jesus Christus wie ein Lebensmittel in uns eingeht, dass er uns unüberbietbar nah kommt. Näher, als wir uns selbst je nahe sein können. Und so bin ich mir selbst nicht mehr der Nächste. Nun ist Gott so bei mir, in mir, dass nichts und niemand mich mehr von ihm trennen kann.

Eben das, liebe Gemeinde, ist ewiges Leben. Leben, sagte ich, heißt immer Zusammenleben. Da aber irdisches Leben vergänglich ist, ist unser Zusammenleben immer wieder gefährdet. Wir erfahren es in unserem zerrissenen Gemeinwesen seit langem. Und gerade auch unter denen, die einander die Allernächsten sind, sind die Gefährdungen manchmal am größten. Das weiß wohl jeder von uns. - Aber dagegen setzt Gott seinen Willen, mit uns zusammenzuleben. Deshalb wurde er, der ewige Herr, ein Knecht, ein Mensch unter Menschen. Deshalb ist er als das lebendige Brot vom Himmel, genauer gesagt: mit seinem Himmel zu uns herabgekommen. Und nun wartet er darauf, dass wir von seinem Himmel Gebrauch machen, dass wir uns das Brot des Leben schmecken lassen. Es gibt einen Vorgeschmack auf das, was einmal auf uns wartet.

Es geht also darum, Jesus Christus als elementarstes Lebensmittel zu uns zu nehmen. Ja es geht wirklich nur darum, zu nehmen. Niemand muss da etwas tun, niemand wird gefordert. In der Begegnung mit ihm, und ganz besonders in ihrer intensivsten Form, an seinem Tisch, wird unserer manchmal gnadenlosen Leistungsgesellschaft das Stoppschild gezeigt. Wenigstens dort. Denn da sind wir einfach nur Feiernde. Wir ständig geforderten, oft überforderten Leute werden nicht auf eine zu erbringende Leistung angesprochen, sondern nur auf unser Dasein, auf unser neues Dasein als Glaubende. Am Tisch Jesu schweigt jedes Gesetz, hier gilt nur das Evangelium, das uns sagt: Was immer du alles sollst und musst, zunächst einmal bist du - nämlich mein geliebtes Kind. Und das bist du nicht nur, du bleibst es auch. Das geht von mir, von Gott her, nie mehr weg.

Deshalb ist das Evangelium, das Brot, das vom Himmel kommt, eine Gabe, die uns einfach zu solchen macht, die sich darüber freuen, dass sie da sein und mit Jesus Christus zusammen sein können. Und deshalb gilt beim Brot des Lebens, spiegelverkehrt zum irdischen Brot, für uns die Devise: Nehmen ist seliger denn geben!

Amen.

Daheim macht der Prophet keinen Stich       

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

eine bittere Kost ist es, die uns der vorhin gehörte Predigttext verabreicht. Das drastische Wording, das der Sprecher dort benutzt, lässt uns ahnen: Er ist in einem Ausnahmezustand. Nackte Aggression, Wut, Verbitterung. Und darunter eine grenzenlose Enttäuschung. Jeremia, eine der ganz großen Propheten der Bibel, fühlt sich benutzt, beschmutzt, betrogen.

I.

Es ist dies der letzte von fünf Abschnitten im Buch Jeremia, die - um es vorsichtig auszudrücken - das innere Ringen des Propheten mit seinem Gott beschreiben. Man nennt sie die Konfessionen Jeremias. Sie sind erschütternde Zwiegespräche mit Gott, und bei allem Aufgewühltsein doch auch tiefschürfende Reflexionen. Über das prophetische Amt an sich, über Erfolg und Misserfolg darin, vor allem aber Reflexionen über den, um es dabei eigentlich geht: Gott. Denn, und das ist das Ungeheuerliche, Gott selbst ist es, von dem Jeremia sich benutzt, beschmutzt und betrogen fühlt. Was uns da begegnet, ist ein veritabler Shitstorm im vordigitaler Zeit. Wer sich in diese Konfessionen vertieft, spürt: Gott, für sein Volk oft genug eine Quelle kühnen Selbstbewusstseins, wird für Jeremia zu einer Zumutung: der er sich am liebsten entziehen will - und sie doch nicht loswird. Keine Rede von einem Gott, der Licht ist, und dass wir in seinem Licht erst das Licht sehen, wie es ein Psalmwort sagt. Im Gegenteil: Gott wird in den Konfessionen Jeremias als eine undurchdringliches immer dunkler werdende Finsternis erfahren, die tief und tiefer in den Propheten hineinfrisst. Daher kommt das umgangssprachliche Wording „Jeremiade“ für eine nicht enden wollende, trostlose Suada.

Wen wundert’s da, dass Jeremia irgendwann nicht mehr kann. Heute würden wir sagen: schwerstes Burnout. Er ist völlig erschöpft von all dem Gegenwind. Von der Kritik an ihm, der deprimierenden Erfahrung, nur gegen den Wind zu reden und nichts ändert sich. Und er arbeitet sich ab an Gott. Hättest du mich nicht in Ruhe lassen können damals? In dieser fünften und letzten Konfession schaut Jeremia noch einmal zurück auf jenen Moment, wo alles anfing: auf die Gotteswende, die für ihn zur Lebenswende wurde. Gott schlug damals so bezwingend in sein Leben ein, dass er sich dem stellen musste, ob er wollte oder nicht. Und damit, als noch ganz junger Mann, zum Propheten wurde, um 630 v. Chr. Was er da erlebt hatte, zittert in ihm noch viele Jahre später nach: als eine Verführung, ja man muss sogar sagen: als eine Vergewaltigung. So ungeheuerlich hat er das erlebt, dass er Gott mit einem Mann vergleicht, der ein Mädchen verführt und dann vergewaltigt: „Du hast mich verführt, Gott, und ich habe mich verführen lassen; du hast mich gepackt und überwältigt.“ Die Worte, die hier im hebräischen Urtext stehen, sind von Luther zu harmlos übersetzt. Sie tauchen sonst im Kontext eben von Vergewaltigungen und von Kriegshandlungen auf. Ein schwer erträgliches Bild. Nach all dem, was inzwischen über schrecklichen Missbrauch auch in unserer Kirche bekannt ist, will man das nicht mehr hinnehmen, wenn ausgerechnet die Beziehung zu Gott, der uns doch Beschützer und Bewahrer sein soll, in solche Bilder gefasst wird.

II.

Aber der Gotteswende entgehe ich damit nicht. Gegen die Sprache kann ich mich wehren - gegen die Sache nicht. Da wird einer Prophet, ob er will oder nicht. Jeremia empfindet sich in eine Lage hineingedrängt, die er nie und nimmer gewollt hat - und spürt doch bis ins Tiefste die Unmöglichkeit, sich von Gott und dessen Berufung wieder loszusagen. Gott war stärker! Das heute verrufene Wort „alternativlos“, damals bei Jeremia war das so. Es war also von Anfang an eine völlig asymmetrische Beziehungskiste zwischen dem Propheten und seinem Gott. Kein vernünftiger Paartherapeut würde so einer Beziehung eine Zukunft geben. Und so zeigt uns unser Predigtabschnitt, was aus so ungleichen Verhältnissen wird. Jeremia gibt Gott die Schuld an seinem gefühlt verkorksten Leben, an seiner sozialen Isolation und seiner Gefährdung. Das sind keine leeren Vorhaltungen. Dahinter stehen deprimierende Erfahrungen. Sein Dienst zwingt ihn, den Leuten unangenehme Wahrheiten zu sagen. Etwa die, dass Gott nicht mehr zu seinem Volk hält, weil es sich faktisch längst anderen Göttern zugewandt hat. Oder dass die Leute in ihrem hemmungslosen Eigennutz eine soziale Schieflage verschuldet haben, die Gott nicht mehr hinnehmen wird. Dass das Volk sich verhält, als hätte es längst seine Identität als Gottesvolk preisgegeben. Bissig und in einprägsamen Zeichenhandlungen bringt Jeremia rüber, worum es geht. Mit einem hölzernen Joch um den Hals geht er durch die Straßen der Stadt. Einen Topf zerbricht er in Scherben und sagt: so wird dieses Volk zerbrechen, wenn es sich weiter von Gott abwendet.

Wen wundert’s, dass sich Jeremia mit solchen Botschaften keine Freunde macht. Es ist damals nicht anders als heute etwa in Russland, wenn jemand wagt, die Dauerbeschallung mit Erfolgsmeldungen aus der Ukraine zu bezweifeln: Das will man nicht hören. Jeremias Freunde wenden sich von ihm ab. Seine eigene Familie plant einen Anschlag auf ihn. Die Tempelpolizei lässt ihn einsperren. Der König verbrennt eigenhändig die Schriftrolle, auf der seine Botschaft verzeichnet ist. Am Ende wird er nach Ägypten verschleppt, wo sich seine Spur im Dunkeln verliert. Ein tragisches Leben! Verständlich, wenn einer mit diesem Schicksal den Moment, der ihn zu Propheten gemacht hat, als Gewalt erlebt.

Jedenfalls: 600 Jahre vor dem, der all unsere Schmerzen auf sich nahm, ist der Prophet Jeremia der Schmerzensmann, der große Leidende der Bibel. Sein Leiden an den Menschen, und ihrem verkorksten Verhältnis zu ihrem Gott wird so zum Spiegelbild. Die Einsamkeit, die Feindseligkeit, die ihm entgegenschlägt, spiegelt wider, wie einsam Gott wiederum gemacht wird, indem sein Volk sich so fundamental von ihm abgewandt hat. Was Jeremia den Leuten in Gottes Auftrag sagt, ist eigentlich nichts anderes als was eine tief verletzte Frau zu ihrem Geliebten sagen kann: Du verhältst dich, als gehörten wir nicht zusammen. Du stehst nicht zu mir, betrügst mich und alles, was uns verbunden hat. Du hast unser Liebesband zerrissen, also fühle ich mich jetzt auch nicht mehr an dich gebunden. Ein Mensch, der solches gesagt bekommt, reagiert gewöhnlich mit Gegenwehr. Schlägt zurück, teilt aus, versucht, den Spieß umzudrehen. Genau dieses menschliche Phänomen erfährt Jeremia: Ihn trifft die ganze Wut des Volks und ihn ihm wird Gott getroffen. Es stimmt, was später Jesus feststellen wird: „Ein Prophet gilt nichts im eigenen Land“ (Mk 6,4).

III.

Aber wer ist schon ein Prophet? Gibt es das heute, außerhalb unserer Alltagssprache, überhaupt noch: Propheten? Mit Blick auf die Social Media, wo die apokalyptische Szenarien boomen, die nach Überzeugung vieler Poster unvermeidbar vor der Tür stehen, könnte man meinen, es wimmelt heute nur so von Propheten. Freilich, hat einer von ihnen eine Gotteswende erlebt? Gewöhnlich denkt man ja so: Ein Prophet ist einer, der die Zukunft voraussagen kann. Deshalb die Wendung: Ich bin doch kein Prophet! Aber war es die Aufgabe von Propheten, die Zukunft vorauszusagen? Israels Propheten jedenfalls haben die Zukunft nicht vorausgesagt - sie haben sie angesagt. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Sie wollten nicht über die Zukunft spekulieren, sondern die Gegenwart deuten, diagnostizieren, die Blicke darauf schärfen. Sie waren nicht Wahrsager, sondern Ärzte. Nicht Scharlatane, sondern Zeitkritiker.

Aber gibt es, oder braucht es heute noch Propheten? Die einen werden sagen: nein, wir brauchen Pragmatiker, die mit kühlem Kopf und Sachkompetenz Probleme erkennen und lösen, so wie es jetzt von der künftigen Bundesregierung erwartet wird; keine, die düster raunen und die gesellschaftliche Atmosphäre noch weiter aufheizen. Andere werden sagen: Doch, gerade jetzt haben wir eine Zeit, wo es die kritische prophetische Zeitansage dringend braucht! Wir brauchen das helle, aufdeckende Licht, das uns zeigt, wo wir „Friede, Friede“ rufen - und ist doch kein Friede. Die Gewalt - die verbale in den digitalen Medien und die physische auf den Straßen und in vielen Häusern - zeigt das doch. Oder der maßlose Umgang mit der Schöpfung, das unbeirrte Setzen auf fossile Energien wegen des Wohlstands - was wir damit den Generationen nach uns mitgeben, wir wissen es zwar, aber besser nicht dran denken. Auch da würde es passen, das Jeremia-Wort: „Sie sagen Friede, Friede - und ist doch kein Friede“ (Jer 8,11) Auch heute nehmen Menschen in Kauf, dass Freunde sich abwenden, dass die eigene Familie sagt: „Die spinnt“. Ich denke an die Leute, die von ihren vielen Verächtern „Klimakleber“ genannt werden. Ihren Methoden sehen sie wohl auch als so eine Art prophetische Zeichenhandlung an, um uns endlich aufzurütteln. Auch wenn sie damit, finde ich, ihrem großen Anliegen einen Bärendienst erwiesen haben, weil das viel Unfrieden gesät hat - ihr Thema bleibt ja wichtig und ist ernst zu nehmen.

Nur: Wer wird sich, wenn er schlimme Verhältnisse anprangert, dabei noch auf Gott berufen? Die jungen Menschen, die uns mit drastischen Aktionen für die Folgen unseres Lebensstils sensibilisieren wollen, tun es bestimmt nicht - sonst würden sie sich selbst nicht mit apokalyptischer Düsternis als die „Letzte Generation“ auf Erden bezeichnen. Denn wer sich auf Gott beruft, wird niemals ausschließen, dass Gott auch da noch zum Guten wenden wird, wo nach unserem Ermessen alles versperrt ist. Deshalb will ich auch bei der Klimakrise eine Grundzuversicht nicht aufgeben.

IV.

Und Jeremia? Bei aller Dunkelheit um sich und in sich, die er empfindet, aber er bleibt beim Aufschrei und bei der Klage nicht stehen. Noch in der tiefsten Verzweiflung hält er daran fest, dass sein Gott siegen wird. Diesen Sieg kann er sich nur als desaströse Niederlage seiner Feinde vorstellen. „Sie müssen ganz zuschanden werden. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden.“ Das ist mehr als nur klammheimliche Freude. Das ist die pure allzumenschliche Hoffnung auf Rache und Vergeltung. Kann man rein menschlich irgendwie nachempfinden. Aber mit einem Mann Gottes verbinden wir dann doch anderes. Freilich, wir sind Menschen und nicht Gott. Deshalb wird es immer mal wieder Momente geben, da uns Rachegefühle überwältigen. Ich denke an den vor Wochen skrupellos totgerasten Dresdner Polizisten. Oder an Aschaffenburg. Und wenn in solchen Momenten Rachegefühle in uns hochkommen, dann ist es besser, sie auszusprechen. Und zwar in echt, gegenüber anderen, statt sie rauszubrüllen in der Anonymität des Netzes.

Aber als Christen können wir am Ende des Tages nur sagen: Unser ganz menschliches Verlangen nach Vergeltung, wenn Menschen anderen Menschen Schlimmes antun, hat Jesus mit ans Kreuz getragen. Unsere Rachsucht ist mit ihm gekreuzigt. Statt ihm, wie Jeremia, ewige Schande zu wünschen, sagt Jesus zu dem Verbrecher, der neben ihm am Kreuz hängt: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Ein unglaublicher Satz! Gott triumphiert, nicht das Böse. Der andere große Schmerzensmann und Leidende der Bibel hat sich ganz ausgeliefert an die Beziehungslosigkeit, die Gottlosigkeit dieser Welt. Und in ihm, so erkennten seine Freunde dann, lieferte sich Gott selbst dem der absoluten Beziehungslosigkeit aus, die der Tod darstellt.

Seither ist das unsere Hoffnung: Dass gerade die Wehrlosigkeit, die der Liebe eigen ist, stärker sein wird als alle Gewalt. Diese Liebe hat auf Golgatha für uns den Tod besiegt. Ein für alle Mal. Und seither können wir mit Jeremia sagen, zaghaft, trotzig oder überzeugt: Gott steht an meiner Seite wie ein starker, kraftvoller Mann oder eine mutige, ausdauernde Frau. Deshalb werden die Zweifel, die mich quälen, deshalb werden mein Leiden und meine Angst am Ende nicht überdauern. Deshalb kann uns, wie Paulus schrieb, nichts trennen von Gottes Liebe, die in Christus Jesus, unserem Herrn, da ist.


Amen.

 

(K)Einer wie wir

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

 

nicht gerade hier im (ehemals) protestantischen Sachsen, aber umso heftiger in anderen Landen: gerade noch Fastnacht/Karneval gefeiert, „Helau“ und „Alaaf“ gerufen, und schon ist wieder alles vorbei. Kein anderer Sonntag im Kirchenjahr markiert einen solchen Kontrast zu dem, was eben erst war, wie der heutige Invokavit-Sonntag, der erste in der Fastenzeit. Von der ausgelassen inszenierten Lebensfreude und der Lust an der Groteske hin zur ernsten Besinnung auf das, wozu der Mensch eben auch fähig ist, was er an dunklen Seiten in sich trägt. Das ist ja der Sinn der Passionszeit. Aber mindestens eines hat die Kirche mit der Fastnacht gemeinsam. Sie ist in einem bestimmten Sinn auch eine Art Kostüm- und „Sprachverleihanstalt“ (F. Steffensky). In den Gottesdiensten mit ihren geprägten, aber für viele fremd gewordenen Texten, mit den schönen Liedern, sehr alten und ganz neuen, leiht die Kirche gleichsam Masken, Sprachen, Töne, Gesten aus an die, die keine eigenen haben, aber irgendwie spüren, dass sie sie manchmal brauchen.

I.

Es geht also um das Fremde, das aber ein heilsames Gewand sein kann gegen trost-lose Realitäten. In unserer Zeit der digitalen Blasen, in die sich viele einspinnen, ist Einsamkeit, das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, ein riesen Thema geworden. In Großbritannien gibt es bereits das Amt eines „Beauftragten Ihrer Majestät für Einsamkeit“. Dagegen sagt uns der vorhin gehörte Predigttext aus dem Hebräerbrief: „Wir haben keinen Hohepriester, der nicht mitleiden könnte mit unseren Schwachheiten, sondern der in jeder Hinsicht versucht worden ist wie wir“. Was für eine wohltuende Aussage! Es gilt ja schon für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen: wir brauchen jemand, der uns versteht. Einen, der ein Gespür dafür hat, wie schwierig und rätselhaft es sein kann mit dem Menschsein und mit mir selbst. Manchmal ist es ja nicht mal der eigene Partner, der das kann. Dietrich Bonhoeffer hat in einem berühmten Gedicht sich selbst gefragt: „Wer bin ich?“ Er stellt fest, dass er das ist, was andere von ihm sagen, und wie er auch gerne gesehen werden will: „frei und freundlich und klar“ — und dass er doch genau weiß, dass das nicht alles von ihm ist. Sondern dass er genauso auch das ist, was er so gekonnt verbergen kann, von dem er aber genau weiß, dass es ebenso ein Teil von ihm ist: „unruhig, sehnsüchtig, krank wie ein Vogel im Käfig“. Damit hat Bonhoeffer eine Grundrealität von uns Menschen beschrieben: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, / ich bin ein Mensch in seinem Widerspruch.“ (C.F. Meyer). Wie gut täte das da: ein Mensch wenigstens, der sich buchstäblich sympathisch in mich einfühlen kann.

Hier in diesen kurzen Versen wird uns ein sympathisierender Christus vor Augen gestellt. Verstehen kann ich in der Tiefe nur, was ich wirklich kenne. Er ist einer, der uns kennt. „…der in jeder Hinsicht versucht worden ist wie wir“, heißt es hier. Ein Gott, der nach Vorstellung frühchristlicher Irrlehrer sich nur zum Schein „entäußert“ und Mensch geworden ist, der sich nicht wirklich in die Widersprüche und das Zwielicht unseres Lebens hineinbegeben hätte: so ein Gott würde uns nichts helfen. Er wäre nur ein Götze. Zwei Kapitel vorher heißt es: „Christus musste in allem seinen Geschwistern gleich werden“ (Hebr 2,17). Für mich gehört das zum Schönsten, was die Bibel über Jesus sagt: in allem uns gleich geworden! Das bringt ihn mir so nahe, das hilft mir, mit ihm in Kontakt zu kommen. Seine Versuchungen, von denen wir vorhin im Evangelium gehört haben, waren keine Spiegelfechtereien. Es stand eben nicht von vornherein fest, wie er aus dieser brisanten Lage in der Wüste rauskommen würde. Welcher ethisch sensible Mensch hätte Einwände, wenn aus Steinen Brot, Brot für die Welt gemacht würde?! Keine Frage, diese so vernünftigen Vorschläge des Verführers haben Jesus hart zugesetzt. Sonst wäre er uns nicht in allem gleich.

II.

Aber darin unterscheidet er sich auch von uns, dass er, wie unser Text sagt, eben „ohne Sünde“ war. Dass er diese moralischen Sirenenklänge durchgestanden hat, ohne ihnen zu erliegen. Jesu „Sündlosigkeit“ ist also keine Eigenschaft, die er quasi von Natur aus, als Gottessohn mitgebracht hätte, etwa wegen der „Jungfrauengeburt“ oder so. Nein, sie besteht in immer neu zu bewältigenden Entscheidungssituationen, im immer neu zu erringenden Ja zu seiner „Sendung“. „Er hat an dem, was er litt, Gehorsam gelernt“, heißt es im folgenden Kapitel (Hebr 5,8). Die Passion führt in den Garten Gethsemane, wo sich das alles in äußerster Dramatik zuspitzt. Hinter mir in unserem großen Altar ist diese Szene in Sandstein gemeißelt. „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod“, sagt er dort zu seinen Freunden. M.a.W.: Ich bin fertig, ich kann nicht mehr! Und dann betet er: „Abba, mein Vater, nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst“ (Mt 26,39). Nirgendwo finde ich Jesus mir so nah wie in diesem Ringen, ob es denn wirklich dieser grausame Weg sein muss. Zugleich merke ich, wie anders er darin ist als ich: in seinem Einwilligen in das, was Gott über ihn entscheidet. Das ist das, was das heute wieder modisch gewordene Wort Demut meint. Wir müssen bei Jesus also immer beides zusammen sehen: dass er kein Übermensch, kein Halbgott war, sondern genauso gefährdet wie wir — und doch zugleich „ohne Sünde“, also ganz und gar anders als wir. Vere deus vere homo, wie es das alte Bekenntnis der Christenheit sehr treffend formuliert hat: ganz und gar göttlich — und durch und durch menschlich.

Und weil ihm nichts Menschliches fremd ist, weiß er nur zu gut, wie schwer das ist, der Versuchung standzuhalten und nicht hinzufallen. Deshalb, wenn wir in unseren Versuchungen kläglich scheitern, steht er dem auch nicht fassungslos wie ein betrogener Liebhaber. Er ist keiner, „der nicht mitleiden könnte mit unserer Schwachheit“, wie es unser Text ausdrückt. Er hat nicht nur Mitleid, kann nicht nur nachempfinden, wie das ist, wenn wir aufgeben wollen. Sondern er ist da wirklich bei uns. Er weiß genau, wie weh das tut, wenn wir es wieder nicht geschafft haben, und er trägt und leidet das mit. Er hält uns unser Versagen nicht vor, wie wir das gerne tun: Wie konntest du nur? Mir wäre das nicht passiert! — Nein, Jesus ist kein Moralist. „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“… Aber er findet sich auch nicht einfach damit ab, nach der Melodie: Man ist auch nur ein Mensch, man kann halt nicht aus seiner Haut! Nein, Jesus nimmt uns nicht einfach „an, wie wir sind“, sondern er traut uns zu, dass wir andere werden. Die nämlich, die wir von ihm her immer schon sind. „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr!“

III.

Was sind unsere Versuchungen? Worin sie im Persönlichen liegen, kann nur jede/r für sich selbst bedenken. Der unbekannte Verfasser des Hebräerbriefs hat hier nicht Einzelne vor Augen, sondern die Gemeinde als Ganze. Sie ist offenbar müde und leer geworden in ihrem Glauben, und darin einem Leiden ausgesetzt, aus dem sie keinen rechten Ausweg mehr sieht. Die Adressaten, wahrscheinlich in Alexandria um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert, sind jüdische Menschen ohne römisches Bürgerrecht, die zum Christusglauben gekommen waren. Sie sehen sich schlimmen Repressionen ausgesetzt: öffentliche Anklagen wegen Verweigerung des Kaiserkultes, Gefangennahmen und Folterungen, Schaukämpfe im Amphitheater, Konfiszierung des Vermögens u.a. Verständlich bei diesen Erfahrungen ohne ein spürbares Zeichen von Gottes Macht, dass der Christusglaube vielleicht noch in den Köpfen drin ist, aber nicht mehr die Herzen ausfüllt. Dagegen setzt der Hebräerbrief die Trostbotschaft: Ist auch Jerusalem zerstört, der mitleidende Christus ist euch viel näher, als ihr früher durch den Kult dort im Tempel Gott nahe sein konntet!

Vor so einem, liebe Gemeinde, brauchen wir uns nicht verstecken. Vor einem, der dasselbe und noch mehr durchgemacht hat, was uns um den Schlaf bringt. Er hat gekämpft und geweint, er hat Blut und Wasser geschwitzt, zu Gott geschrien und war zu Tode betrübt. So einem können wir ohne Scham unter die Augen. Endlich einer, wo wir keine Rolle spielen, dem wir nichts vormachen müssen. Keine Lage, in die wir geraten, könnte zu peinlich für ihn sein. Da können wir sein, wie wir oft sind: schwach, verdrossen, den Finger auf andere zeigend, im Glauben immer wieder hingefallen. Wir werden sogar ausdrücklich aufgefordert, davon Gebrauch zu machen: „So lasst uns also mit Zuversicht zum Thorn der Gnade hinzutreten, damit wir Barmherzigkeit erlangen zu der Zeit, wo wir Hilfe nötig haben…“

Diesem Thron müssen wir, anders als bei den Thronen der Welt, nicht mit gesenktem Kopf uns nähern, sondern „mit Zuversicht“, wie es hier heißt. Also mit offenem Visier und aufrechtem Gang. Früher wurden an der Thronen der Welt die Überbringer schlechter Nachrichten oft einen Kopf kürzer gemacht. Im Gottesdienst, vor dem Thron Jesu, wird das fragwürdige Motto des Journalismus „Only bad news are good news“ in einem hocherfreulichen Sinn wahr: Da werden wir herzlich willkommen geheißen, wenn wir ihm nichts vorspielen, sondern unsere „schlechten Nachrichten“ offen vor ihn hinlegen. Im Gottesdienst haben wir nichts zu geben, aber alles zu empfangen. Den Grund nennt unser Text: „Da wir also einen großen Hohepriester haben, der die Himmel durchschritten hat“. Es „gibt“ ihn nicht nur irgendwie und irgendwo — wir haben ihn! Er wurde uns „in allem gleich“. Aber es gibt keinen wie ihn.

 

Amen.

»Kairos beim Schopf packen«

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Kennen Sie das Bild des Gottes Kairos aus der griechischen Antike? Sein Name ist der Inbegriff für das, was wir heute „Momentum“ nennen, also den entscheidenden Augenblick, der plötzlich da ist und die Gelegenheit bietet, die man erkennen und am Schopf packen muss. Dass man das mit dem Wort „Kairos“ bezeichnet, rührt daher, dass der gleichnamige griechische Gott Flügel an Schultern und Fersen hat, mit denen er schnell unterwegs ist und plötzlich auftaucht. Charakteristisch auch seine Haarpracht: Der Kopf ist kahl, nur an der Stirn prangt ein mächtiger Haarschopf. Die einzige Gelegenheit, ihn zu ergreifen, ist also, ihn buchstäblich beim Schopf zu packen.

I.

Der eben gehörte Predigttext erzählt eine geradezu klassische Kairos-Geschichte. Und darin erscheint diese Begebenheit von den beiden Schwestern, die so grundverschieden mit dem überraschenden Besuch Jesu umgehen, klar und plausibel. So ist denn auch über Jahrhunderte darüber gepredigt worden: Hier Maria, die - auf der Linie ihrer Namensbase, der Mutter Jesu - ganz auf Empfangsmodus geht, sich nicht in hektischem Getue verzettelt, weil sie weiß, was die Stunde geschlagen hat, wenn der Herr selbst gekommen ist. Und deshalb, wie Luther übersetzt, „das eine“ tut, „was not ist“. Indem sie Kairos beim Schopf packt. Maria also als das Inbild des rechten reformatorischen Glaubens. - Dort als Negativfolie ihre fehlgeleitete Schwester Marta. Die mag zwar Modell sein für das berühmt-berüchtigte ‚Lob der Hausfrau‘ aus Schillers „Glocke“: „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau / und herrschet weise / im häuslichen Kreise / und reget ohn' Ende / die fleißigen Hände.“ Aber Martha verausgabt sich im Machen und Tun und verfehlt damit das Momentum auf ganzer Linie.

Nun braucht gerade das selbstverständlich Erscheinende oft einen zweiten Blick. Ein paar einfache Fragen sollten wir bei der Geschichte von Maria und Marta schon stellen. Zum Beispiel: Was ist wichtiger, hören oder tun? Muss man sich als Christ, wie es dieser Text scheinbar nahelegt, zwischen dem Maria- und dem Marta-Typus entscheiden? Muss man das überhaupt grundsätzlich klären, oder hängt das nicht immer von der jeweiligen Situation ab? „Wir wollen tun und hören“ (Ex 24,7), sagt das Gottesvolk im Alten Testament. Da kommt also das Tun an erster Stelle. Ähnliche Aussagen gibt es auch an etlichen anderen Stellen der Bibel - nicht nur in Jakobusbrief…

Es gibt Gottseidank Menschen mit einem wachen Gespür, wie sie andere aufrichten können. Sie beugen sich gleichsam herab und verbinden die Wunden. Sie öffnen ihre Tür für einen Gast und sorgen sich um sein Wohl. Sie wollen erst tun, und dann hören. Und es gibt Menschen, die spüren, dass sie jetzt selbst aufgerichtet werden müssen. Sie setzen sich hin und nehmen sich intensiv Zeit zum Hören, aus dem irgendwann ein Tun erwächst. Noch einmal: Schließt das eine das andere aus? Müssen wir zwischen Maria und Marta wählen? Beide sind in unserer Geschichte von Anfang an ganz präsent. Marta, indem sie Jesus bedenkenlos in ihr Haus aufnimmt. Maria, indem sie sich als Schülerin zu Jesu Füßen setzt und ganz Ohr ist. Für Frauen war damals beides ein Wagnis, gegen alle Konvention, allein einen großen Lehrer auf der Durchreise aufzunehmen. Dass die eine ihn bewirtet, ist so erstaunlich wie dass die andere zu seiner Schülerin wird. Beides oblag damals eigentlich dem männlichen Hausvorstand.

Jesus seinerseits ist auf dem Weg. Die Würfel sind schon gefallen: er hat seinen Blick nach Jerusalem gewandt. Er weiß, was das für ihn heißt. Dabei ist er, wie fast immer auf seinem Weg durch diese Welt, unbehaust. Marta öffnet ihm die Tür. Ihre Entscheidung ist das Wagnis der Gastfreundschaft. Daneben ihre Schwester Maria. Sie spürt, dass die Entscheidung für das eine die Entscheidung gegen etwas anderes einschließt - wie das so ist in wirklich bedeutsamen Momenten. Sie kann sich nicht zu Füßen des Gastes niederlassen, um ihm zuzuhören, und gleichzeitig hin- und herrennen, Getränke holen, die Suppe abschmecken und die Hühner aus der Küche scheuchen. Maria durchbricht die Konvention. Sie setzt sich „zu Füßen des Herrn“. Nichts anderes zählt jetzt für sie. Maria spürt etwas Grundlegendes: Das Evangelium können wir uns nicht selber sagen, es muss uns gesagt werden. Eben so wird sie zum Sinnbild der Christenheit.

Für Marta indes ist der praktische Dienst für den Gast selbstverständlich. Sie weiß sich orientalischem Brauch verpflichtet: ein Gast soll aufs Beste aufgenommen und bewirtet werden. Diakonie in des Wortes ursprünglicher Bedeutung, also Dienst, ist für Marta das Gebot der Stunde. Sie ist in Bewegung, und sie ist es auch, die als erste das Wort ergreift und ihrem Ärger über ihre Schwester Luft macht. Weil die bewegungslos zu Jesu Füßen verharrt, hört und schweigt. Dass sie gegen alle Sitten sich dem Nichtstun, kontemplativer Beschaulichkeit ergibt und beseelt an den Lippen des Gasten hängt, bringt Marta zum Kochen.

II.

Und was macht Jesus mit diesem Dramolett zweier ungleicher Schwestern? Auf den empörten Protest Martas gegen Marias Beschaulichkeit gibt er zunächst eine emphatische, fast liebevoll klingende Antwort: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe“. Jesus deutet Martas Gewusel also als Sorge. Das Wort, das dafür im Griechischen steht, bedeutet so viel wie: lärmendes Zugangesein, Hantieren und Hasten, aber interessanterweise auch: bange Erwartung, ja Angst vor etwas. Jesus weiß, dass wir Menschen Wesen der Sorge sind, was ja auch Vor- und Fürsorge einschließt. Und dass Martas fürsorglicher Eifer in gastronomischen und ökonomischen Dingen ja nur gut gemeint ist, erkennt Jesus an. Wenn er ihr spiegelt: „Marta, du sorgst und hetzt dich ab um vieles“, liegt darin auch ein Stück dankbarer Anerkennung. Jesus nimmt wahr, dass Marta ganz in ihrem häuslichen Aktivismus aufgeht, weil sie gar keine andere Möglichkeit sieht, Jesus ihre Verehrung und Liebe zu zeigen. „Gehe hin und tue desgleichen!“: so endete die Geschichte direkt vor unserem Abschnitt, das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Marta hat also schon was kapiert! Zur dunklen Folie, vor der Maria dann umso heller aufstrahlt, taugt sie nicht.

Und doch ist diese noble Wertschätzung durch Jesus umschlossen von einem kritischen aber, das der Gast, alle Höflichkeitsregeln beiseite lassend, der Gastgeberin dann noch mitgibt. „Eins aber ist not“. Anders gesagt: Marta, du bist so beherrscht davon, was sich gehört, von der Erhaltung des leiblichen Wohls, dass du tust und machst, als ginge es ums Leben. Dabei braucht der Mensch am Ende, wenn’s drauf ankommt, doch nur eines, und das steckt nicht in köchelnden Töpfen und funkelnden Weingläsern. Am Ende, wenn es - wie jetzt, da ich live bei dir bin - um die Begegnung mit dem lebendigen Gott geht, dann geht es darum, dass du, statt dich so in dein Getue zu verbeißen, mir die Chance gibst, etwas für dich zu tun. Nicht du mir, sondern ich dir! Aber das kann ich nur, wenn du dich auch beschenken lässt, also Kopf und Herz öffnest und dich wirklich auf mich ausrichtest. Leg deinen Groll auf Maria mal zur Seite und schau sie an: sie hat das begriffen! Und darum „hat Maria das gute Teil erwählt“. Dieses „gute Teil“: In der Sprache der Psalmen ist das ein Codewort für die Gottesliebe, die nach dem 1. Gebot über allem anderen steht. „Der Herr ist mein Gut und mein Teil“ heißt es in Psalm 16. Jesu Worte sind für Marta vielleicht wie Sauerteig. Es wird etwas gären in ihr. Würde sie es noch einmal so machen? Oder sich das nächste Mal auch dazu setzen? Vielleicht führt das Gespräch zur Spaltung, vielleicht zur Heilung.

III.

Bekämen wir unerwarteten Besuch, auf den wir nicht vorbereitet sind, wir hätten es leichter als diese zwei Schwestern. Wir könnten schnell reagieren, Pizza ordern oder beim Türken um die Ecke etwas holen. Maria und Marta hätten heute alle Zeit der Welt, ihrem Gast gemeinsam aufmerksam zuzuhören. Die Spannung zwischen Hören und Tun, Wort und Dienst wäre aufgelöst. Wir können Maria und Marta so zusammensehen, wie Jesus das Doppelgebot der Liebe, wo beide, Gottesliebe und Nächstenliebe gleichberechtigt beieinanderstehen. Das Frauendrama dieser Szene ist nicht zeitlos und unausweichlich. Wir müssen uns nicht für eine der beiden entscheiden.

Lukas, der diese Geschichte überliefert hat, hat das auch so gesehen. Unter den Evangelisten ist er derjenige, der einen besonders klaren Akzent auf das Tun als Dimension der Nachfolge Jesu legt. Sicherlich hatte das auch etwas mit seinem Brotberuf zu tun, Lukas war ja Arzt. Für die frühen Christen war es klar, dass die drei Grunddimensionen der Kirche Christi gleichberechtigt nebeneinanderstehen: leiturgia, koinonia, diakonia, zu Deutsch: gottesdienstliche Feier, Gemeinschaft, und Dienst, also tätige Liebe. Ist es das auch noch für uns? Wir haben in der Kirche inzwischen gelernt, wie wichtig eigenes Planen, Konzipieren, auch Rechnen ist, wenn es darum geht, der Kirche Zukunft zu eröffnen. Wir haben gelernt, dass Dinge wie Effektivität, Wirtschaftlichkeit, Zielorientierug nichts Böses, sondern auch für Gemeinden wichtig sind. So sind wir in der jüngeren Vergangenheit eine Kirche geworden, in der vor allem die Martas gefragt sind. Ich kritisiere das gar nicht, das hat es wirklich gebraucht.

Aber wie das so ist, wenn man sich intensiv ins Planen und Vorsorgen, ins Machen und Tun begibt: Das kann dann eine Eigendynamik bekommen, in der wir - wie Marta - so sehr in diesem Modus aufgehen, dass uns darüber aus dem Blick gerät, was auch für die Kirche das „gute Teil“ ist, das „eine, was not ist“. Und das lehrt uns Martin Luther: Kirche ist Geschöpf des Wortes Gottes. Bevor wir ans Werk gehen, ist sie immer schon da. Das aber würde heißen, dass wir uns gerade auch bei wichtigen sog. „operativen Entscheidungen“, über Gebäudeflächen, Gemeindefusionen und Sanierungsmaßnehmen ernsthafter die Frage vorlegen: Was würde Jesus dazu sagen? Was hat uns Gott hier vor die Füße gelegt, was will Er, dass jetzt dran ist? Manchmal bleibt ja in unseren kirchlichen Gremien der Zusammenhang zwischen der Andacht zu Sitzungsbeginn und dem weiteren Verlauf der Tagesordnung arg kryptisch. Und manchmal spüren wir: in unseren kirchlichen Aktivitäten, unseren Sitzungen, so wichtig sie sind, kann eine Leere aufkommen, und die Frage: Haben wir in alldem genug Tiefe? Ist uns klar, wofür wir einstehen? Wissen wir, wohin wir wollen? Im Bild gesprochen: wir atmen viel aus. Nehmen wir uns Zeit auch zum Einatmen?

Noch einmal Jesus: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Ja, so ist dein Leben. Aber ich habe das damals in der Wüste nicht ohne Grund dem Verführer gesagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Deshalb auch das andere: „Eins aber tut not. Maria hat das gute Teil erwählt.“ Also komm, lass dich locken! Das ist der Kairos: wenn nicht jetzt, wann dann? Schau, neben deiner Schwester ist noch Platz! Lerne einzuatmen. Zu meinen Füßen ist das möglich.

Amen.

Du sollst nicht töten lassen!

Geistlicher Impuls im Rahmen der Friedensandacht am 24.02.2025 anlässlich des 3. Jahrestages des Überfalls auf die Ukraine

gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Heute vor drei Jahren um dieselbe Zeit kamen über 600 Menschen hier in dieser Kirche zum Gebet für den Frieden und zur Klage über das am Morgen jenes Tages Geschehene zusammen.

Niemand von uns hätte sich damals vorstellen können, dass der Krieg, den Putin mit seinem zynisch als „spezielle Operation“ bemäntelten Überfall auf das Nachbarland und Brudervolk angezettelt hatte, über Jahre sich hinziehen würde.

Inzwischen empfinden viele beides: Ohnmacht, manchmal Verzweiflung über nicht enden wollende Gewalt, Bösartigkeit, Rechtlosigkeit. Aber doch auch das kleine Senfkorn Hoffnung, das sich aus der Durchhaltekraft, dem Mut eines Volkes speist, dessen Menschen durch diesen über sie gekommenen Krieg eigentlich erst zu einem wirklichen Volk geworden sind. Für unsere Stiftung, die den Friedensort Frauenkirche trägt und verantwortet, kann ich sagen: Unsere Solidarität gilt unverändert und in aller Klarheit den leidenden und kämpfenden Menschen in der Ukraine.

Dass dazu, neben allen humanitären Hilfen, auch die Lieferung von Waffen gehört und dass dies auch vom christlichen Glauben her ethisch verantwortbar sein kann: das haben wir in der Kirche seit 2022 sehr mühsam neu zu bedenken und zu akzeptieren gelernt. In der evangelischen Kirche hatte über eine lange Zeit eine pazifistische Grundhaltung dominiert. Es gehört zur Redlichkeit festzustellen: Ohne Waffen, die in diesen drei Jahren aus etlichen westlichen Ländern dorthin geliefert wurden, gäbe es die Ukraine nicht mehr.

Aber auch das gehört zur Ehrlichkeit an diesem Tag: Einen gerechten, belastbaren Frieden können Waffen nicht schaffen. Ganz aktuell freilich ist wohl eher das Umgekehrte brisant: Durch das Beenden von militärischer Hilfe für das geschundene Land werden zwar weniger Menschen sterben - aber die Ukraine läuft zum ersten Mal seit drei Jahren ernsthaft Gefahr, kein eigener, souveräner Staat mehr zu bleiben. Dass diese Gefahr ausgerechnet von dem Land ausgeht, das sich bisher immer als Fackelträger von Freiheit und Demokratie gesehen hat, Amerika: das ist verstörend und beängstigend.

In früheren Zeiten haben die Kirchen, das ist hinlänglich bekannt, allzu oft Waffen gesegnet und in Kriegszeiten „Gott mit uns“ gepredigt. Dass man daraus die Konsequenz gezogen hat, eine klare Option für gewaltfreies Handeln zu entwickeln, was richtig und notwendig. Es ist wahr, was die Kirchen nach 1945 wieder und wieder gesagt haben: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein! Die Anwendung militärischer Gewalt ist immer, ausnahmslos, eine Niederlage und bringt Schuld mit sich. Zugleich aber leben wir noch nicht im Reich Gottes, wie Jesus es in seinen Gleichnissen oder in der Bergpredigt konkret ausgemalt hat, sondern in der noch nicht erlösten Welt, diesseits von Eden sozusagen. Und das braucht es neben einer christlichen Gesinnungsethik auch eine soziale Verantwortungsethik - die aber eben auch eine Ethik ist. Zu ihr gehört das nüchterne, abwägende Ringen mit der Frage, ob es Fälle gibt, wo die Anwendung von begrenzter, klar definierter Gewalt das geringere Übel ist, um ein größeres zu verhindern. Dietrich Bonhoeffer, der berühmte evangelische Theologe, der als einer der ganz wenigen Pastoren in den politischen Widerstand gegen das NS-Regime ging und zum Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörte, hat dieses ethische Problem des sog. Tyrannenmordes theologisch reflektiert und als eine bewusste persönliche Schuldübernahme benannt, durch die aber eine größere Schuld verhindert werden könne, indem man, so sagte Bonhoeffer, dem Rad in die Speichen greift. Man denke etwa an den entsetzlichen Völkermord in Ruanda vor 31 Jahren, dem in drei Monaten fast eine Million Menschen zum Opfer fielen. Er hätte verhindert werden können, hätten damals die dort stationierten UNO-Truppen die Erlaubnis gehabt, von ihren Waffen Gebrauch zu machen und damit das Recht zu schützen. Das uralte 5. Gebot der Bibel „Du sollst nicht töten“ schließt auch ein: Du sollst nicht töten lassen!

Der dritte Generalsekretär den UN, der Burmese U Thant, ein gläubiger Buddhist, wurde einmal gefragt, wie er die Christen erlebt habe, mit denen er in seinem Amt zu tun hatte. Er gab die Antwort: „Christen geben weniger schnell auf, sie haben einen so langen Atem.“ Es gäbe dieses Gotteshaus und seine Botschaft des Friedens nicht, wenn Frieden und Versöhnung zwischen solchen, die erbitterte Feinde waren, nur eine weltfremde Utopie geblieben wären. Aber sie sind möglich geworden. Das ist ein Wunder, für das man nur danken kann. Diese Kirche erzählt davon. Möge der Friede, den Christus uns zu geben verspricht, uns immer wieder neu munter und resilient gegen alle Resignation machen, damit wir nicht verzweifeln und aufgeben.

Die Durchhaltekraft gibt uns nicht zuletzt das Gebet. Beten ist keine Weltflucht. Im Gegenteil. Wir laufen nicht vor einer schwierigen Welt davon, wenn wir beten, sondern wir bringen sie mit offenen Augen vor Gott. Ihm vertrauen wir uns und unsere Welt an, wenn wir beten. Darum ist das Beten immer ein politischer Akt. Hände falten ist das Gegenteil von Die-Hände-in-den-Schoß-Legen. Ich lade Sie ein, das jetzt zu tun:

Barmherziger Gott,

zu Dir nehmen wir Zuflucht

in unserer Trauer, in unserer Hilflosigkeit,

in unserem Versagen, dem Frieden näherzukommen.

Stattdessen: Drei Jahre Krieg in der Ukraine.

Aufgerissen, verwüstet, vermint das Land.

Verwundet, verstört, versehrt die Menschen.

Gott, Dir klagen wir:

Wie lange noch soll der Terror wüten?

Wie lange noch soll die Ukraine

ein Spielball von Despoten in Ost und West sein?

Wie tief muss die Wunde in Europa noch werden?

Gott, zu Dir nehmen wir Zuflucht.

In unserer Ohnmacht bitten Dir dich:

Komm mit Deiner Macht

und bezwinge die Machthaber, zerschlage ihre Pläne

und hilf den Gedemütigten, aufzustehen.

Sei Du ihnen Schutz und Schild,

und lass ihr Leben neu werden.

Und bitte: Schenk uns allen Leben, Frieden

Und eine gemeinsame Zukunft.

Amen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Unendlich Glück! Du littest uns zugute ...«

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

in der 9. Strophe des Passionsliedes „Herr stärke mich, dein Leiden zu bedenken“, über das Niklas Jahr eben improvisiert hat und das wir nachher singen, heißt es: „Unendlich Glück! Du littest uns zugute. / Ich bin versöhnt in deinem teuren Blute. / Du hast mein Heil, da du für mich gestorben, / am Kreuz erworben.“ Da ist in ungemein verdichteter Weise das ganze Geheimnis, der Kern der Passion, des Leidens Jesu in Sprache gebracht. Freilich in die Sprache des Barock, die uns fremd geworden ist, auch wenn wir hier in einer Kirche sind, die auf ihre Weise eine sehr barocke Sprache spricht. Etwas leichter nachzuempfinden ist das Geheimnis der Passion Jesu wahrscheinlich durch eine Choralstrophe, den jedenfalls die Musikliebenden unter uns sicherlich gut kennen. Sie geht so: „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn / muss uns die Freiheit kommen. / Dein Kerker ist der Gnadenthron; / die Heimstatt aller Frommen. / Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein, / musst‘ unsre Knechtschaft ewig sein.“ Dieser Choral ist nicht nur der vielleicht schönste unter den wunderbaren Chorälen aus Bachs Johannespassion, er bildet auch inhaltlich, theologisch die Mitte, das Herz von Bachs großem Werk. Und er sagt in der Sache nichts anderes als der eingangs zitierte Liedstrophe aus unserem Gesangbuchlied. Nur bildhafter, und damit nachvollziehbarer.

I.

In diesen paradox klingenden Wendungen: Sein Gefängnis ist unsere Freiheit - Sein Kerker ist unser Gnadenthron - Seine Knechtschaft ist unsere Freiheit, ist das sprachlich verdichtet, was die Theologen der frühen Christenheit das commercium mirabile genannt haben, zu Deutsch: den „seligen Tausch“. Oder wie Martin Luther es nannte: den „fröhlichen Wechsel“. Der vielen vertraute Weihnachtchoral „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“ buchstabiert diesen Wechsel in seinen sechs Strophen wunderbar durch, etwa wenn es dort heißt: „Er wechselt mit uns wunderlich, / Fleisch und Blut nimmt er an, / und gibt uns in seins Vaters Reich / die klare Gottheit dran“, oder auch: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein“ (EG 27,4+5)

Aber was für ein dunkler, rätselhafter Rollenwechsel ist das! Die Passion Jesu, auf die wir in diesen Wochen wieder zugehen, heißt: Ein Unschuldiger wird schuldig gesprochen und muss sterben, damit wir, die Schuldigen, vor Gott unschuldig dastehen. Wie lässt sich das, wenigstens von ferne, verstehen? Im Alten Testament findet sich beim Propheten Jesaja eine dunkle Aussage. Da heißt es: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit, er ist um unserer Missetat willen und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Die frühe Christenheit hat in diesen Sätzen des Alten Testaments das Rätsel des Sterbens Jesu vorweggenommen und auch gedeutet gesehen. Die neutestamentlichen Zeugen verdichteten das in den beiden einfachen Wörtchen „für dich“, die uns aus der Liturgie des Abendmahls vertraut sind. Mein Leib - für dich gegeben! Mein Blut - für dich vergossen! Die beiden Worte wollen den Glauben der Christenheit ausdrücken, dass Jesus seinen Weg durch diese Welt, vom Holz des Stalls zu Bethlehem bis zu den beiden Holzbalken auf Golgatha, als Platzhalter, als Stellvertreter gegangen ist. Stellvertretend für uns alle, die wir aus unseren Kräften niemals unsere Altlasten abwerfen, unser persönliches Konto auf eine schwarze Null bringen könnten. „Du hast mein Heil, da du für mich gestorben, / am Kreuz erworben.“ Diese Deutung des Todes Jesu ist über die Jahrhunderte in tiefsinnigen, hochkomplizierten Lehrgebäuden entfaltet worden. Das hat sein Recht - im Seminar. Auf der Kanzel taugt nur, was uns im Herzen erreicht. Ich möchte zwei Begebenheiten zur Hilfe nehmen, um diesem abgründigen Geheimnis zumindest ein wenig auf die Spur zu kommen

II.

Der Polizist hatte ihr gesagt, dass ihr Junge nach dem Autounfall noch einmal kurz zu Bewusstsein gekommen war und geschrien hatte. Wohl vor Schmerz, und weil er spürte, wie es um ihn stand. Noch auf der Fahrt ins Krankenhaus war er gestorben. Immer wieder hörte sie innerlich diesen Schrei. Sie kam nicht mehr los davon. Dann, nach über einem Jahr, eine Freundin hatte sie an Karfreitag in den Gottesdienst mitgenommen, hörte sie in der Lesung, dass jener Mann am Holzpfahl mit einem lauten Schrei gestorben war. Sie fasste es nicht. Jesus, der Sohn Gottes, der hatte auch geschrien? Hatte er geschrieben wegen der Schmerzen, die die Peiniger ihm zugefügt hatten? Oder mehr aus tiefer Verzweiflung, weil ihn alle im Stich gelassen hatten? Lange trug sie das mit sich herum. Er hatte auch geschrien. Nun waren es zwei Schreie, die sich in ihr seltsam überlagerten. Viele Jahre war sie nur selten zur Kirche gegangen, und nie zum Abendmahl. Diesmal, an Karfreitag, ging sie, ohne genau zu wissen, warum. Als der Pastor ihr das Brot reichte und sagte: „Christi Leib, für dich gegeben“, da schossen ihr die Tränen aus den Augen. Zum ersten Mal seit langem konnte sie wieder weinen. - Das an diesem Tag in der Kirche Erlebte ließ sie nicht mehr los. Es arbeitete weiter in ihr. Sie ging wieder zum Gottesdienst, und wieder, immer öfter. Sie knüpfte Beziehungen in der Kirchengemeinde, die ihr gut taten, und fing an, sich dort zu engagieren. Die unerwartete Erfahrung, dass der Glaube an den für uns Getöteten ihr half, am Tod des Kindes nicht irre zu werden, und dass sie diesen Glauben in der Gemeinde mit anderen teilen, vertiefen konnte, gab ihrem Leben wieder einen Boden. „Durch seine Wunden sind wir geheilt“.

III.

Manche Ältere unter uns werden das Bild noch Augen haben. 7. Dezember 1970. Erstmals besucht ein westdeutscher Regierungschef ein Land des damals sog. „Ostblocks“, dem 30 Jahre zuvor von Deutschland Furchtbares angetan worden war. Bundeskanzler Willy Brand ist in Warschau, um den Deutsch-Polnischen Vertrag abzuschließen, ein wichtiges Baustein seiner neuen Ostpolitik. Er macht den Gang zum Mahnmal des Warschauer Ghettos, das die Nazis dem Erdboden gleichgemacht hatten. Aus der vermeintlichen protokollarischen Routine wird eine Sensation, etwas nie Dagewesenes. Vor dem Mahnmal sinkt Willy Brandt in die Knie. In der BRD war das damals heftig umstritten. Aber in der weiten Welt, vor allem in den Staaten östlich des Eisernen Vorhangs hat dieses Bild eine enorme Wirkung gehabt und viel dazu beigetragen, dass man in der Welt das Gefühl bekam, Deutschen doch wieder vertrauen zu können. Der Journalist Hermann Schreiber, der damals dabei war, fand damals Worte dafür, die in ihrer Genauigkeit und Reflektiertheit mich heute noch beeindrucken: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selbst nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“ Hier wurde (ausgerechnet in dem kirchenkritischen „Spiegel“!) in Sprache gebracht, was das große, schwere theologische Wort Stellvertretung meint, und warum davon etwas Befreiendes für viele hervorgehen kann.

IV.

Man soll solche Gesten aus dem politischen Bereich nicht zu schnell geistliche, theologisch überhöhen. Das stellvertretende Leiden und Sterben, das wir Jahr für Jahr in der Passionszeit versuchen nachzuvollziehen, bleibt am Ende ohne Analogie. Aber gerade deshalb brauchen wir Bilder, Gleichnisse dafür aus unserer Sphäre. Im Kreuz Christi stößt Gottes Heiligkeit mit dem ganzen Schmutz der Welt zusammen und geht eine unauflösbare Verbindung damit ein. Das ist das Alleinstellungsmerkmal des Christlichen, das gibt es so in keiner anderen Religion. Aus Sicht der Bibel haben wir alle durch tiefsitzende Schuld unser Leben im Grunde verwirkt. Das ist der Sinn der alten Geschichte von der Vertreibung von „Adam und Eva“ aus dem Paradies. In ihnen finden wir uns alle wieder. Aber seit Karfreitag gilt: erst recht können wir uns in Jesus Christus finden, der uns so sehr geliebt hat, dass er dieses Urteil über uns an sich selbst hat vollstrecken lassen.

Liebe Gemeinde,

am Ende bleibt das alles, wie wir beim Abendmahl bekennen, ein tiefes Geheimnis des Glaubens. Wir können es nicht fassen. Wir können es uns nur wahr sein lassen:

Unendlich Glück! Du littest uns zugute.
Ich bin versöhnt in deinem teuren Blute.
Du hast mein Heil, da du für mich gestorben,
am Kreuz erworben.

Amen.

20 Jahre Nagelkreuzverleihung

In diesem Gottesdienst erinnerten wir an die Aufnahme der Frauenkirche in die Internationale Nagelkreuzgemeinschaft im Jahr 2005. Mit The Very Reverend John Witcombe predigte der Dean of Coventry als Repräsentant der St. Michael's Cathedral, mit der die Frauenkirche eng verbunden ist und wo die Nagelkreuz-Idee Ihren Anfang nahm. Anlässlich des 60. Jahrestages der Zerstörung Dresdens und in Erwartung der festlichen Weihe der Kirche acht Monate später war die Frauenkirche am 13. Februar 2005 in das Netzwerk der für Frieden und Versöhnung eintretenden Gemeinden aufgenommen worden. Sichtbares Zeichen ist das aus drei Nägeln zusammengesetzte Kreuz, das auf dem Altartisch der Frauenkirche steht.

Predigt zu Epheser 3,20.21 gehalten am 16. Februar 2025
von
The Very Reverend John Witcombe, Dean of Coventry

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Ich freue mich, mit Ihnen hier in Dresden, in der Frauenkirche, an diesem bedeutsamen Wochenende zusammen zu sein, an dem wir uns an die schreckliche Zerstörung von vor 80 Jahren erinnern, uns aber auch die hoffnungsvolle Partnerschaft vergegenwärtigen, die vor 20 Jahren begann, als Sie sich der Nagelkreuzgemeinschaft anschlossen und damit Beziehungen zur Kathedrale von Coventry aufnahmen.

Als wir am Donnerstagabend hier standen, erinnerten wir uns daran, wie die Zerstörungserfahrung Coventry und Dresden miteinander verband, vor 80 Jahren in Dresden, vor 85 Jahren in Coventry. Das ist lange her. Warum erinnern wir uns heute daran? Wir erinnern uns daran, weil diese schrecklichen Nächte, in denen Zerstörung vom Himmel auf unsere Städte regnete — Ihre Stadt ehrlicherweise schöner als unsere — in uns eine Berufung zur Versöhnung wachgerufen haben. Wir sind nun vereint, nicht so sehr durch den Blick zurück — obwohl das nach wie vor von entscheidender Bedeutung ist – sondern durch den Blick nach vorn, um zusammen für eine gemeinsame Zukunft aller zu wirken.

Dies ist die Botschaft unserer beiden heutigen Bibellesungen — die Worte des Paulus in seinem zweiten Korintherbrief sprechen von den Werten der neuen Schöpfung, die in Christus gewirkt wurde und die seine Kreuzigung und Auferstehung hervorgebracht hat. Und das Evangelium, das von denen spricht, die zwar spät zum Werk Christi und seines Reiches berufen werden, deren Anteil aber dennoch von Gott erwählt ist und von ihm anerkannt und sogar belohnt wird.

Hier an diesem geschichtlich geprägten Ort und von einem anderen geschichtlich geprägten Ort herkommend, sind wir aufgerufen, Partner im Werk der Versöhnung zu sein. Was ich Ihnen heute sagen möchte, ist dies: Alle Christen sind zum Dienst und zur Botschaft der Versöhnung berufen. Das ist die Botschaft des Paulus in unserer ersten Lesung heute, in 2. Korinther 5,18.19: „Das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“

Alle Christen sind zu diesem Werk berufen — aber einige sind mehr berufen als andere, um George Orwell zu paraphrasieren. (Sie kennen das Zitat sicher: Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere?) Warum also sind einige so berufen — und warum sind wir es, die wir heute hier versammelt sind?

Der Ruf zur Versöhnung ist etwas, das in unseren Herzen und Seelen arbeitet, vielleicht noch vor unserem Verstand. Sie kommt aus Herzen, die durch den Schmerz der Welt gebrochen sind. Es ist eine Leidenschaft, die aus dem Schmerz der Zerrissenheit und des Leidens in einer zerrissenen Welt geboren wurde. Sie kann daraus hervorgehen, dass wir diesen Schmerz selbst erfahren haben, als Opfer oder als Angehörige oder Nachkommen von Opfern. Sie kann aus dem Wissen hervorgehen, dass wir als Täter anderen Schmerz zugefügt haben, oder dass wir Täter als unsere Vorfahren hatten und vielleicht weiterhin von den Früchten ihrer Taten zehren. Es kann sein, dass wir uns als Zeugen wiederfinden, die aufgerufen sind, Geschichten zu sehen oder zu hören, die wir genötigt sind zu teilen, damit ihre Lehren nicht verloren gehen.

Hier in Dresden stehen Sie in der Geschichte der Opfer, in einer Stadt, die mit Zehntausenden von Einwohnern und anderen, die hier Zuflucht fanden oder inhaftiert waren, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sie mögen sich auch in der Geschichte der Täter wiederfinden, die die Folgen derer ernten, die die Zerstörung über andere brachten und sie dann selbst erlebten. Sicherlich sind wir alle Zeugen, die dazu berufen sind zu erzählen, dass diese Dinge geschehen sind, die die Stätten dieser Stadt besuchen, die durch den Besuch des Militärmuseums, der Gedenkstätten und anderer Orte verändert werden und die die Wahrheit dessen, was hier geschehen ist, in sich tragen.

Auf meinen Reisen zu unseren Nagelkreuzpartnern bin ich vielen Menschen begegnet, die erfahren haben, was es heißt, Opfer von Gewalt und Unterdrückung zu sein, oder die diese Geschichten in ihrer Familie oder Gemeinschaft mit sich herumtragen — die aber nun berufen sind, Täter des Friedens zu sein. Ich bin vielen begegnet, die erkannt haben, dass ihre Vorfahren diejenigen waren, die anderen Unterdrückung und Gewalt brachten, deren heutige Privilegien durch die Ausbeutung anderer, längst Verstorbener errungen wurden, und die nun den langen Weg der Versöhnung beschreiten. Viele von ihnen leben in Ländern, in denen das koloniale Erbe einen langen Schatten wirft. Ich war an anderen Orten, an denen ich erkannt habe, dass mein Platz darin besteht, Zeuge dessen zu sein, was ich gesehen und gehört habe — in Auschwitz zum Beispiel, und auch hier in Dresden.

Wenn wir diejenigen sind, deren Herzen gebrochen wurden und die von der Notwendigkeit berührt wurden, einen anderen Weg nach vorn zu finden, einen Weg, der den schrecklichen Kreislauf der Gewalt durchbricht, was tun wir dann? Die Gemeinschaft des Nagelkreuzes ist eine Gemeinschaft für diejenigen, die die Geschichte von Coventrys Weg von den Ruinen zur Versöhnung inspirierend finden und die darin die Hoffnung sehen, dass auch sie in ihrem eigenen Kontext Teil des gleichen Weges sein könnten. Wie Sie hoffentlich wissen, hat der Verein seinen Namen von den Nagelkreuzen, die aus den mittelalterlichen Dachnägeln gefertigt wurden, die den Boden bedeckten, nachdem unsere Kathedrale am 14. November 1940 abgebrannt war — Nägel, die von der Gegenwart Christi selbst inmitten der Zerstörung sprachen, von Gottes Liebe und Hoffnung, die gegenwärtig und real geworden sind. Diese Kreuze sprechen von der Kreuzigung, aber auch von der Auferstehung, von der Wahrheit, dass es keinen Ort gibt, an dem Gottes Liebe nicht zu finden ist. Sie haben Ihre eigene Version eines dieser Kreuze hier, besonders groß, hier auf Ihrem Altar.

Die Gemeinschaft des Nagelkreuzes ist eine Gemeinschaft von Menschen, die glauben, dass Zerstörung, weder von Gebäuden noch von Beziehungen, das Ende der Geschichte sein muss. Gott gibt uns die Gnade, einen Weg nach vorne zu finden, den Weg der Versöhnung.

Der Weg der Versöhnung ist eine Reise, die ich gerne als eine Reise von einer zerbrochenen Vergangenheit in eine gemeinsame Zukunft beschreibe.

Wir werden immer mehr Arbeit bekommen, denn die Menschen und Orte, die zerbrochen sind, werden immer mehr Zuwendung brauchen. In unserer Gemeinschaft haben wir uns drei Prioritäten gesetzt, die uns auf dem Weg der Versöhnung voranbringen sollen: Die Wunden der Geschichte heilen; mit Unterschieden leben lernen und Vielfalt feiern; und eine Kultur der Gerechtigkeit und des Friedens aufbauen. Diese drei Themen können uns wirklich helfen: die Vergangenheit mit ihren Fragen der Gerechtigkeit; die Gegenwart mit der Herausforderung, Beziehungen zu denen aufzubauen, die wir als schwierig oder sogar beleidigend empfinden; und die Zukunft, in der wir einen Weg finden, in Hoffnung zu leben.

Wenn wir uns einmal für diesen Weg entschieden haben — oder ich sollte sagen, von Gott für diesen Weg ausgewählt wurden – brauchen wir die Ermutigung und Unterstützung der anderen, um weiterzumachen. Versöhnung ist harte Arbeit. Wie John Paul Lederach, ein in den Vereinigten Staaten tätiger mennonitischer Theologe, sagt: „Man hat sich erst dann wirklich auf das Werk der Versöhnung eingelassen, wenn die eigenen Leute das Gefühl haben, dass man sie verraten hat.“ Zur Versöhnung gehört es, die Straße oder die Barrikaden zu überqueren, um Zeit mit unseren Feinden zu verbringen, mit denen, die uns hassen. Genau das hat Jesus in seinem Leben und Dienst getan. Und das ist der Auftrag an die Kirche.

In den Ruinen der Kathedrale von Coventry sind die Worte „Father Forgive“ (Vater vergib) tief in den Stein der Apsis hinter dem Altar aus den Trümmern der Bombardierung und dem verkohlten Kreuz geritzt.

Der Satz, der vielleicht erst in den Tagen nach der Bombardierung geschrieben wurde, ruft uns an den Ort der Vergebung zurück, wo wir Seite an Seite mit unseren Feinden stehen oder knien und uns daran erinnern, dass „alle gesündigt haben und der Herrlichkeit Gottes nicht gerecht werden“. Die Auslassung des Wortes „sie“ in unserem Zitat der Worte Jesu von seinem Kreuz ruft uns immer wieder zur menschlichen Solidarität zurück. Im Reich Gottes gibt es keinen Platz für „wir“ und „sie“.

Und so haben wir Partner unserer Nagelkreuzgemeinschaft in der ganzen Welt, fast 300 von uns arbeiten in Israel und Palästina, in Russland und der Ukraine, in Neuseeland/Aotearoa, in Südafrika, in den USA und Kanada, in vielen Ländern Europas und besonders in Deutschland mit fast 80 Zentren. Wir arbeiten immer noch daran, dass sich das, was hier passiert ist und was dazu geführt hat, nicht wiederholt. Wir sind aufgerufen, Brücken zu bauen und nicht einzureißen, Mauern einzureißen und nicht aufzurichten. Wir sind aufgerufen, an der Seite der Opfer zu stehen, sie zu schützen, wenn nötig mit machtvoller Stärke, aber niemals das Ziel von Gerechtigkeit und Frieden für alle aus den Augen zu verlieren. Wir müssen uns daran erinnern, dass, wie ich am Donnerstagabend sagte, sowohl Krieg als auch Frieden im Kopf beginnen – und deshalb widmen wir unseren Geist dem Frieden.

Dies ist eine Reise – eine Reise, die wir gemeinsam unternehmen. Als Ihnen vor 20 Jahren Ihr Nagelkreuz verliehen wurde, wurde Ihnen aufgetragen: „Hütet dieses Kreuz, bewahrt es und schaut darauf“ als Erinnerung an den Weg der Versöhnung, zu dem Sie hier in Dresden berufen sind und den wir mit Ihnen teilen. Das ist unsere Berufung. Das ist die Hoffnung der Welt. Möge sich Gott weiterhin unserer Geschichte annehmen und daraus eine gemeinsame Hoffnung für die Zukunft schmieden, zur Ehre seines Namens und zur Ausbreitung seines Reiches.

Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Amen. 

20 Years of the Frauenkirche’s Admission to the Cross of Nails Community

In this service, we commemorated the Frauenkirche’s admission into the International Community of the Cross of Nails in 2005. The sermon was delivered by The Very Reverend John Witcombe, Dean of Coventry, representing St. Michael’s Cathedral, with which the Frauenkirche shares a close connection and where the Cross of Nails initiative originated. On February 13, 2005, marking the 60th anniversary of Dresden’s destruction and in anticipation of the church’s festive consecration eight months later, the Frauenkirche was welcomed into the network of communities committed to peace and reconciliation. A visible symbol of this commitment is the Cross of Nails, composed of three nails, which stands on the altar of the Frauenkirche.

Service on 16 February 2025
Sermon held by The Very Reverend John Witcombe, Dean of Coventry

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I’m delighted to be here with you in Dresden, in the Frauenkirche, on this important weekend when we remember the terrible destruction experienced here 80 years ago, but also recall the hope filled partnership begun 20 years ago when you joined the Community of the Cross of Nails, in relationship with Coventry Cathedral.

As we stood here on Thursday evening we remembered how Coventry and Dresden are united in their experience of destruction, 80 years ago in Dresden, 85 in Coventry. It is a long time ago. Why remember it today? We remember it because those terrible nights when destruction rained from the sky on our cities - yours more beautiful than ours, if truth be told - have forged in us a calling to the work of reconciliation. We are now united not so much by looking back, to our history, although that remains of vital importance, but by looking forward, to work together for a shared future for all.

This is the message of both of our Bible readings today - the words of Paul in his second letter to the Corinthians speak of the values of the new creation won in Christ, the outworking of his crucifixion and resurrection. And the gospel, which speaks of those who may be called late to the work of Christ and his Kingdom, but whose part is nonetheless chosen by God, and recognised and even rewarded by him.

Here in this place, marked by history, and coming from another place marked by history, we are called to be partners in the work of reconciliation. What I want to say to you today is this: All Christians are called to the ministry and message of reconciliation. That is the message of Paul in our first reading today, in 2 Corinthians 5 verses 18 and 19: “All this is from God, who reconciled us to himself through Christ, and has given us the ministry of reconciliation; that is, in Christ God was reconciling the world to himself, not counting their trespasses against them, and entrusting the message of reconciliation to us.”

All Christians are called to this work - but some are more called than others, to paraphrase George Orwell. (You know the quote, I’m sure - all animals are equal, but some are more equal than others?) So, why might some be so called - and why might this be us, gathered here today?

The calling to reconciliation is something worked in our hearts, and our souls, perhaps before our minds. It comes from hearts that are broken by the pain of the world. It is a passion, born of feeling the pain of the brokenness and suffering of a fractured world. It may be born of experiencing that pain for ourselves, as victims, or the family or descendants of victims. It may be born of knowing that we have caused pain to others, as perpetrators, or knowing that we had perpetrators as our ancestors, and perhaps that we continue to benefit from the fruit of their actions. It may be that we have found ourselves as witnesses, called to see or hear stories that we are then compelled to share, that their lessons may not be lost.

Here in Dresden, you stand in the history of victims, in a city that was razed to the ground along with tens of thousands of its inhabitants and others who were sheltering or imprisoned here. You may also consider yourselves to be standing in the history of perpetrators, reaping the consequences of those who brought destruction on others, then experiencing it for themselves. For sure, we are all witnesses, called to say that these things happened, visiting the sites around this city, being transformed by our visit to the military museum, the memorials and other places, carrying within our souls the truth of what happened here.

As I have had the privilege of traveling to our Cross of Nails partners I have met many people who have known what it means to be victims of violence and oppression, or who carry those stories in their family or community - but are now called to be perpetrators of peace. I have met many who recognise that their forebears were those who brought oppression and violence to others, whose present privilege was won through the exploitation of others long dead, and are now treading the long road towards reconciliation. Many of these are in countries where the colonial legacy casts a long shadow. I have been in other places where I recognise that my place is to be a witness to what I have seen and heard - in Auschwitz, for example, and also here, in Dresden.

If we are those whose hearts have been broken who have been touched by the need to find another way forward, a way that breaks the terrible cycle of violence, what do we do? The Community of the Cross of Nails is a community for those who find the story of Coventry’s journey from ruins to reconciliation inspiring, and who find in it some hope that they too could be part of the same journey in their own context. It takes its name, as I hope you know, from crosses of nails first made from the medieval roof nails that covered the ground after our Cathedral burned on November 14th 1940 - nails that spoke of Christ’s presence even in the midst of destruction, of God’s love and hope made present and real. Those crosses speak of crucifixion, but also resurrection, of the truth that there is nowhere that God’s love may not be found. You have your own version of one of these crosses here, specially large, here on your altar.

The Community of the Cross of Nails is a community of those who believe that destruction, neither of buildings nor relationships, need be the end of the story. God gives us grace to find a way forward, the way of reconciliation.

The way of reconciliation is a journey, which I like to describe as a journey from a fractured past towards a shared future. We will always have more work to do, because those people and places that are broken will always need more care. In our Community we have looked to three priorities to help us forward on the journey of reconciliation: Healing the Wounds of History; Learning to Live with Difference and Celebrate Diversity; and Building a Culture of Justice and Peace. These three can really help us address: the past, with its issues of justice; the present, with the challenge of forming relationship with those we find difficult, even offensive; and the future, as we find a way to live in hope.

Once we have chosen - or I should say, been chosen for this path by God - we need one another’s encouragement and support to keep going. Reconciliation is hard work. As John Paul Lederach, a Mennonite theologian working in the United States says, “you have never really engaged in the work of reconciliation until your own people feel you have betrayed them.” Reconciliation involves crossing the road, or the barricades, to send time with our enemies, with those who hate us. Yet this is exactly what Jesus did in his life and ministry. And it is the calling upon the church.

In the ruins of Coventry Cathedral are the words “Father Forgive”, cut deep into the stone of the apse behind the altar made of rubble from the bombing, and the charred cross. The phrase, perhaps first written in the days after the bombing, calls us back to the place forgiveness where we stand, or kneel, side by side with our enemies remembering that, “all have sinned and fallen short of the glory of God.” The omission of the word “them” in our quote of Jesus’ words from his cross call us back again and again to human solidarity. There is no place for “us” and “them” in the kingdom of God.

And so we have our Community of the Cross of Nails partners across the world, nearly 300 of us working in Israel and Palestine, Russia and Ukraine, New Zealand/Aotearoa, South Africa, the USA and Canada, many countries in Europe and especially in Germany, with almost 80 centres. We are still working to ensure that what happened here, and what led up to it, will not happen again. We are called to build bridges, not tear them down; to tear down walls, not build them up. We are called to stand with those who are victims, to protect them, with force if necessary, but never to lose sight of the ultimate goal of justice and peace for all. To remember, as I said on Thursday night, both war, and peace, begin in the mind - and so we give our minds to peace.

This is a journey - a journey which we share. When your cross was presented 20 years ago, you will have been charged to “Cherish this cross, Guard it, and Look to it” as a reminder of the path to reconciliation to which you have been called here in Dresden, and which we share with you. This is our calling. This is the hope of the world. May God continue to take our history and forge from it shared hope for the future, to the glory of his name and the growth of his Kingdom.

Now to the one who by the power at work within us is able to accomplish abundantly far more than all we can ask or imagine, to God be glory in the church and in Christ Jesus to all generations, for ever and ever.


Amen.  Eph 3. 20,21

 

Wort & Orgelklang gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Warum liegt Jahr für Jahr an diesem Tag eine dumpfe drückende Schwere über dieser Stadt? Seit vier Jahren, seit ich hier lebe und arbeite, frage ich mich das, wenn der 13. Februar wieder da ist. Ich bleibe ratlos, weil ich keine Antwort finde. Ich kam aus Freiburg hierher - eine deutlich kleinere Stadt als Dresden, aber ebenfalls Ziel eines verheerenden Bombenangriffs im November 1944. Er machte die historische Innenstadt - nicht anders als in Dresden - zu einer apokalyptischen Trümmerwüste. Es sah damals dort aus wie hier oder wie derzeit im Gazastreifen. Nur Freiburgs Wahrzeichen, das Münster, blieb wie durch ein Wunder stehen. Das Bild des aus der Trümmerwüste nahezu unversehrt emporragenden Gotteshauses wurde zum ikonischen Freiburger Hoffnungszeichen und ist tief im Bewusstsein der Bürger*innen verankert. Und wenn sie alljährlich am Abend des 28. November im Münster zum Gedenken und zum Gebet zusammenkommen, ist die Stimmung ernst, von Trauer und Nachdenklichkeit bestimmt - aber auf eine eigenartige Weise ruhig, fast gelassen. Und friedlich.

Warum ist es hier so anders? Warum stößt sich die Trauer mit so viel Aggression, Rechtfertigungsbedürfnissen und dem Versuch, das Gedenken an eine Tragödie ideologisch und politisch zu vereinnahmen? Warum gilt „Dresden“ als das Symbol des alliierten Bombenkrieges schlechthin - obwohl etliche deutsche Städte doch nachweislich noch verheerender zerstört wurden: Hamburg etwa, Köln, oder in meiner badischen Heimat die Stadt Pforzheim. Anders als hier ist dort kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Man sieht es dem in aller Eile wieder aufgebauten neuen Pforzheim leider auch an. Das Pforzheim vor 1945 ist für immer untergegangen. Liegt es wirklich daran, dass - so wurde es mir oft erklärt - das alte Dresden eben eine der schönsten Städte der Welt war, wo es doch nur das Schöne gab - Kunst, Musik, Architektur -, und nichts, was zu zerstören einen strategischen Sinn gehabt hätte? So habe ich es oft gehört, und das hat sich tief im Empfinden der Dresdner*innen verankert. Zugleich kann man in der Literatur lesen, dass die Stadt eben nicht nur ein unschuldiger Hort des Wahren, Guten und Schönen war, sondern auch ein wichtiger Industriestandort und Verkehrsknotenpunkt.

Aber das scheint ein Spezialwissen von Historikern zu bleiben. Die Politisierung dieses Tages ist nicht erst nach der Wende eingetreten, sie hat eine sehr lange Geschichte. Die DDR verstand es geschickt, das 13. Februar-Gedenken ideologisch für seine „Friedenspolitik“ und gegen den „westlichen Imperialismus“ in Stellung zu bringen. Da nur diese offizielle Sicht erlaubt war, konnten die verschiedenen Weltanschauungen und Deutungen nicht so offen und hart aufeinanderstoßen, wie das jetzt in unserer freiheitlichen Gesellschaft der Fall ist.

Aber die Menschenkette hat sich gerade auch wieder gebildet. Eine beträchtliche Zahl an Bürger*innen unserer Stadt hat mit ihr wieder ein stilles Zeichen gegen die Politisierung gesetzt. Eindringlich in dem Signal, sich die Trauer und das Nachdenken über die Ursachen nicht von Parolen und Geschrei nehmen lassen. Trauer tut weh. Aber eben darum hat sie auch etwas Aufbauendes. Trauerarbeit wischt die Trauer nicht weg. Aber sie münzt sie in positive Energie für die Zukunft um, die darauf gerichtet ist, dass sich nicht wiederholt, was zu dem geführt hat, was mich trauern lässt.

In und vor dieser Kirche und an anderen Plätzen dieser Stadt sind zur Zeit die eindrücklichen Porträtaufnahmen von Luigi Toscano zu sehen. Und dem Titel „Gegen das Vergessen“ zeigen sie 120 Menschen, die die Shoa überlebt haben. Wohl besser als alle klugen Worte geben diese Bilder auch eine wichtige Antwort auf die Frage, warum der 13.2.1945 geschah. Er darf nicht losgelöst von dem betrachtet werden, was ihm vorausging: Rassenwahn, Gewalt, Menschenverachtung im damaligen Deutschland. Ein jüdischer Historiker wurde vor einigen Jahren gefragt, ob es vorstellbar sei, dass sich so etwas wie der Holocaust wiederholen könnte. Er gab die erschütternd einfache Antwort: „Er ist geschehen. Weshalb sollte er nicht wieder geschehen?“ Vor einigen Jahren hätte ich dazu wohl gesagt: Weil wir alle die Lektion unserer Geschichte gelernt haben. Heute, nach dem 7. Oktober 2023, und was dieser Tag weltweit an Hass gegen Juden ausgelöst hat und weiterhin auslöst, würde ich das nicht mehr so sagen.

Als Christen können wir am Ende nur sagen: Es macht den Schrecken und die Trauer über das, was damals geschah, nicht größer oder kleiner, wenn die Zahl der Opfer mehr oder weniger hoch veranschlagt wird. Schrecken und Trauer machen sich doch daran fest, was der Mensch, als Ebenbild Gottes geschaffen und wunderbar von ihm begabt, Böses ersinnen und seinesgleichen antun kann. Es gibt das berühmte und sehr wahre Jesuswort: „Wer ohne Schuld ist unter euch, der werfe den ersten Stein.“ Wenn wir an die Bombardierung unserer Städte denken, dann könnte das so gemeint sein: Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen vor dem Kreuz Jesu Christi für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig!

 

Amen.

 

Türöffner — Verkündiger — Friedensmensch

Danksagung des Küsters der Frauenkirche von 2005 - 2024 gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde, und in ihrer Mitte: Lieber Bruder Lutz Pesler,

noch kein halbes Jahr her, da haben wir den einen unserer zwei langjährigen Frauenkirchenküster in den verdienten Ruhestand verabschiedet. Da hätte sich noch keiner träumen lassen, dass wir diesen markanten Anlass schon so bald auch für den anderen begehen müssen, ebenfalls nach fast 20 Jahren. Wenn auch in Ihrem Fall, lieber Bruder Pesler, noch mitnichten in den Ruhestand: Sie stehen ja noch voll im Saft. Sie lassen sich noch einmal auf einen richtigen Stellen —, ja Berufswechsel ein und haben zu Jahresbeginn eine neue Arbeit in Bautzen angetreten, wo Sie leben und tief verwurzelt sind. — Zum Abschied soll nun, wie das gute evangelische Art ist, die Bibel das Wort haben, und das Gesangbuch. Mit deren Hilfe möchte ich einige Blitzlichter auf Ihr Wirken bei uns werfen, die zugleich auch den Menschen ins Licht stellen, der hier gewirkt hat.

I.

Ich beginne, das liegt nahe, mit dem Wochenspruch dieses Sonntages. „Kommt her und seht an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.“ So heißt es im 66. Psalm. „Wahnsinn!“: Diesen Ausruf haben Sie, lieber Bruder Pesler, oft gehört, als buchstäblich erstes Wort, das vielen Menschen über die Lippen geht, wenn sie in diesen Raum eingetreten sind und der Blick von der alles überstrahlenden Gloriole als Krönung unseres barockprunkenden Chorraums gefangen wird. „Wahnsinn“ — dass es so etwas wieder gibt im Herzen einer Stadt, die fast auf den Tag genau vor 80 Jahren ein Bild der apokalyptischen Verwüstung geboten hatte. „Wahnsinn“: dieser schier überirdische Glanz, der von der Gloriole ausgeht und den Besuchern durch den ganzen Kirchenrum entgegen strahlt. Irgendwie nicht von dieser Welt, und eben darum so schön – Zeichen, Hinweis auf eine Gegen-Welt. Wir brauchen solche Gegen-Welten. „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen“: so beginnt der 127. Psalm. Weil jene, die vor 300 Jahren dieses barocke Wunder erschaffen, und ebenso jene, die es vor 30 Jahren wiederaufgebaut hatten, davon wussten, ist seit bald 20 Jahren der heutige Wochenspruch auch ein Ruf dieses Hauses, ein Verweis auf den, der sein eigentlicher Baumeister ist: „Kommt her und seht an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.

Lieber Bruder Pesler, als Küster an diesem Ort sind Sie ein Botschafter dieses wunderbaren Gottes-Werks gewesen, auf vorgeschobenem Posten an der Front zur Welt, die hier hereinströmt. „Wer im Kleinsten nicht treu ist, ist es auch im Großen nicht“, sagt Jesus (Lk 16,10). Dabei waren Sie ein Türöffner, im doppelten Sinn: buchstäblich am frühen Morgen, wo Sie oft der Erste hier waren. Und im tieferen Sinn, indem Sie diesen Ort in einem Zustand gehalten haben, dass das, was viel Menschen mit der Frauenkirche verbinden, wirklich zum Leuchten kam: Schönheit, Harmonie, Glanz, Freude an Gottes neuer Welt. Sicherlich ist dem auch geschuldet, dass (neulich bei unserer Teamklausur hat uns das auch eine Beobachterin von außen so gespiegelt) nicht wenige, die hier hereinkommen, erst einmal selbstverständlich meinen, dass sie eine katholische Kirche betreten. Ist zwar falsch — aber unbedingt als Kompliment für die Qualität unserer Küster zu nehmen! Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!“: Sie haben dieses Wort aus dem 84. Psalm jeden Tag neu mit Leben gefüllt und für die Menschen, die hier hereinströmen, greifbar gemacht. Von Herzen Danke dafür.

II.

Zweites Blitzlicht. Am 25. August letzten Jahres bei der Verabschiedung Ihres Küsterkollegen Tobias Lochmann sagte ich: Zeige mir, wie deine Sakristei aussieht, und ich sage dir, was du für einen Küster hast! Unsere Sakristei ist ja anders als die meisten protestantischen Sakristeien. Man könnte meinen, man sei in ihr im Vorraum einer katholischen Kirche — denn die Katholiken haben eine Sakristeikultur, die wir in tausend Jahren nicht erreichen. Und das ist ein sprechender Hinweis auf die Güte und das Selbstverständnis der Küster, die an diesem Haus arbeiten. Wenn man zur täglichen Orgelandacht oder sonntags zum Gottesdienst unsere Sakristei betritt, tritt man in eine andere Welt ein. Es ist, als würde man der Welt und der Zeit, aus der man gekommen ist, irgendwie enthoben und könnte sich ganz auf Gottes Welt und seine Zeit einschwingen, die unsere Welt und Zeit bricht und in sich aufnimmt, wenn wir Gottesdienst feiern.

Sie, lieber Bruder Pesler, waren der gute Geist in unserer Sakristei, und zwar im doppelten Sinn. Sie haben mit Ihrem verschmitzten Oberlausitzer Humor dafür gesorgt, dass die Atmosphäre vor den Gottesdiensten und Andachten nicht zu gravitätisch oder gar priesterlich werden konnte. Wie oft haben wir kurz vor Gottesdienstbeginn noch einmal miteinander gelacht, wenn Sie zu irgendeiner Skurrilität, an denen dieses Haus reich ist, augenzwinkernd noch eine feinsinnige Seitenbemerkung losließen! Der gute Geist waren Sie erst recht aber auch, weil Sie immer groß gemacht haben, dass der Küsterdienst eben kein Handlanger- oder technischer Dienst ist, sondern auch ein geistlicher, der der Verkündigung des Evangeliums und dem Aufbau der Gemeinde dient. Sie waren in der — in der EVLKS besonders anspruchsvollen — gottesdienstlichen Agende trittsicherer als manche Pfarrperson, wussten immer aus dem ff, welche biblischen Lesungen am jeweiligen Sonntag dran waren, was gesungen und was gesprochen gehört etc. pp. Für mich war das am Anfang als Novize in der sächsischen Kirche eine große Hilfe. Kurzum, Sie haben diese Kirche nie nur menschen- und besucherfreundlich gehalten, sondern das Wort aus dem 27. Psalm ganz persönlich mit Leben gefüllt: „Eines bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: dass ich im Hause des Herrn bleiben könnte mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu betrachten“ (Ps 27,4). Oder um es mit einem alten Adventschoral zu sagen: „Seht, wie so mancher Ort / hochtröstlich ist zu nennen, / da wir ihn finden können / in Nachtmahl, Tauf und Wort“ (EKG 11,2). Sicherlich ist für nicht wenige Menschen diese Kirche ein solcher hochtröstlicher Ort geworden. Das ist nicht zum Geringsten Ihnen zu danken.

III.

Ein letztes Blitzlicht. „Siehe, wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen“ heißt es im 133. Psalm. Dass das nicht nur in der Welt, sondern halt auch in der Kirche alles andere als selbsterklärend ist, muss ich niemandem sagen. Schon gar nicht an der Frauenkirche, wo sich stärker als bei einer Gemeindekirche Geistliches und Weltliches zu einem arg komplexen Hybrid mischen. Wir sind nun mal ein hoch exponierter Ort, und an solchen wird die Luft manchmal recht frisch und auch dünn. Da waren Sie, lieber Bruder Pesler, mit Ihrer warmherzigen, immer auf Ausgleich bedachten Art eine Wohltat. Das Schroffe, Kantige war nicht Ihres. Sie waren ein „johanneischer“ Mensch, durchaus in dem Sinn, wie es von dem alt gewordenen Apostel Johannes heißt, der von morgen bis abends nur noch den einen schlichten Satz deklamiert haben soll: „Kindlein, liebet einander!“ Wenn Sie vor der Orgelandacht, vor dem Gottesdienst in die Sakristei kamen, strömte ein Geist des Friedens und des Wohlwollens in den Raum ein. Das hat uns gut getan Ich habe mehrfach erlebt, wie Sie in kontroversen Diskussionen — ich denke etwa daran als wir diskutierten, ob wir den Altarraum auch mal für Besucher öffnen sollten — mit umsichtigen Kompromissvorschlägen geholfen haben, die Dinge zu klären und zu entschärfen.

Lieber Bruder Pesler, wer Sie ein bisschen kennt, weiß, dass Sie mit Begeisterung reisen. Besonders gern per Schiff. So lassen Sie mich schließen mit Versen von Klaus-Peter Hertzsch, dem verstorbenen Theologen aus Jena, dem wir das wunderbare Lied „Vertraut den neuen Wegen“ verdanken, längst ein Klassiker unseres Gesangbuchs. Im Alter hat er Verse gedichtet, wo er das Leben als das beschreibt, was es ja ist, nämlich als eine weite Reise. Deren Schluss möchte ich Ihnen heute auf Ihren neuen Weg mitgeben:

Das Leben um uns träumt in Wiederkehr.
Doch wir sind wach und gehen nicht im Kreise.
Wir kommen aus geheimem Anfang her
und sind zu gutem Ziele auf der Reise.

Lass uns ein Stück noch miteinander gehn
durch manchen Kreis mit seinen Jahreszeiten.
Und lass uns vorwärts in die Weite sehn,
wo alle Horizonte offen stehn
und sich im Osterlicht die Berge Gottes breiten.

 

Amen.

 

Predigt im MDR-Hörfunkgottesdienst am 02.02.2025
gehalten von
Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke

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Predigttext Ex 3,1-8a.10-12a.13.14 – mit Orgelimprovisation unterlegt:

1 Mose hütete die Schafe Jitros,
seines Schwiegervaters, des Presters in Midian,
und trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Berg Gottes, den Horeb.

2 Und der Engel des HERRN erschien ihm
in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch.
Und er sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde.

3 Da sprach er: Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen,
warum der Busch nicht verbrennt.

 4 Als aber der HERR sah, dass er hinging, um zu sehen,
rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose!
Er antwortete: Hier bin ich.

5 Er sprach: Tritt nicht herzu,
zieh deine Schuhe von deinen Füßen;
denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!

6 Und er sprach weiter: Ich bin der Gott deines Vaters,
der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.
Und Mose verhüllte sein Angesicht;
denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.

7 Und der HERR sprach:
Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen,
und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört;
ich habe ihre Leiden erkannt.

8 Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand
und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land,
in ein Land, darin Milch und Honig fließt, (...)

10 so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden,
damit du mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten führst.

11 Mose sprach zu Gott:
Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?

12 Er sprach: Ich will mit dir sein. (...)

13 Mose sprach zu Gott:
Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen:
Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!,
und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?,
was soll ich ihnen sagen?

14 Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde.
So sollst du zu den Israeliten sagen:
»Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt.


Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Amen

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„Bilder, Öfen und auch Schlachten sollt’ man sich von fern betrachten!“ Ich konnte bisher nicht ergründen, woher diese Redensart stammt, die in meiner Familie die Runde machte. Der Reim ist jedenfalls scherzhaft gemeint, wenn zu viel Nähe zu einer Angelegenheit oder Sache Unannehmlichkeiten und Katastrophen hervorzurufen droht.

Bilder, Kunstwerke – die sind in der Tat mit einigem Abstand oft besser wahrzunehmen. Manchmal ist auch aus Ehrfurcht eine größere Entfernung geboten.

Öfen und Schlachten – nun ja, da liegt es auf der Hand, sich nicht zu sehr solch heißen Gerätschaften und gefährlichen Unternehmen zu nähern.

Die Mose-Erzählung ist mir seit Kindertagen vertraut. Unser Katechet hat sie uns oft in der Christenlehrestunde erzählt, ebenso wie Moses Rettung als Baby im schwimmenden Korb. Wir malten Bilder zu diesen Erzählungen.

Vielleicht ist die Familienweisheit ja gar nicht so verkehrt: Diese Bilder jetzt als Erwachsene mal aus der Ferne zu betrachten. Ich will die Dornbusch-Erzählung wie ein Bild mit einigem Abstand anschauen.

Um es besser wahrzunehmen? Aus Ehrfurcht? Oder weil ich respektable Scheu vor dieser heißen und im Wortsinn entflammenden Geschichte habe? – Das wird sich zeigen, denke ich.

Dieses Unglaubliche, das Mose da in der Wüste erlebt - es zieht ihm buchstäblich die Schuhe aus. Ein Dornbusch, der nicht verbrennt! Feuerflammen wie Engelsflügel. Und dazu diese Stimme: Mose, Mose! Zieh deine Schuhe aus!

Wer Steppe und Wüste kennt, zieht sich lieber nicht die Schuhe aus. Denn nicht nur der Dornbusch brennt - auch der Erdboden ist bisweilen so heiß, dass man meint, man laufe auf glühenden Kohlen.

Doch Mose folgt der Stimme aus dem Dornbusch. Er nähert sich der heißen Sache und streift die Schuhe von den Füßen. Das Ausziehen der Schuhe gilt zu Moses Zeiten als eine Geste des Eigentumsrechts in Israel. Wenn einer einen Besitz nicht ererben oder kaufen will, zieht er seinen Schuh aus und gibt diesen dem anderen; er bestätigt damit: „Hier sollst du Herr sein!“ Mose erkennt Gottes Herr-Sein an.* Der Boden ist Gottes Besitz.

Das Dornbusch-Bild ruft weitere Bilder in mir wach. Ich denke an eine Frauengestalt des Mittelalters, die auf vielen Altären dargestellt ist: Hedwig von Schlesien, Patronin von Polen und unserer Partnerstadt Breslau. Von dieser Heiliggesprochenen wird erzählt, dass sie ihre Schuhe auch im eisigsten schlesischen Winter in den Händen, nicht an den Füßen trug. War es die radikale Askese, die sogar Hedwigs Beichtvater Sorge um ihre Gesundheit bereitete, oder war es die Anerkennung dessen, dass jeder Quadratzentimeter dieser Erde Gottes Besitz und also heilig ist? Dass er allein der Herr ist?

Gluthitze und eisige Kälte – zwei Menschen, die sich auf ihre Weise diesem Dornbusch-Gott zuwenden. Spannung zwischen Distanz und Nähe, zwischen Dunkelheit und Licht, Geheimnis und Offenbarwerden, Wort und Antwort.

Denn dieser Gott sucht den Menschen auf, er kommt herab, sieht die Finsternis der Bedrängten und hört die Schreie der Ängstlichen, führt herauf in ein helles und weites Land, errettet schließlich... - denn seine Liebe lodert auf mit jedem Leidensschrei derer, die Gewalt und Unfreiheit erfahren.  Gott sieht die Niedrigkeit seiner Mägde und Knechte an, wie Maria, Jesu Mutter, es Jahrhunderte nach dem Dornbusch-Erlebnis des Mose besingen wird.

Wenn wir uns auf diesen Sonntag besinnen - der letzte des Weihnachtsfestkreises - dann leuchtet uns ein, warum der Dornbusch auch für uns heute weiter lodert. Das Licht der Welt scheint in die Finsternis hinein und lässt uns nicht im Dunkeln über Gottes Wesen.

Ein zeitgenössischer Künstler** hat Dornengebüsch und Bethlehem in einem Bildrelief kombiniert. Der Dornbusch ist zu sehen. Doch da, wo der Betrachter die lodernden Flammen erwartet, ist Maria mit dem Jesuskind zu entdecken. Am unteren Bildrand drei Sandalenpaare, nicht nur eines! Die drei Paar Schuhe sind die der drei Weisen aus dem Morgenland. Obwohl die Weisen erst ankommen, dargestellt als Könige mit Kronen und den teuren Gaben in ihren Händen, stehen die abgelegten Sandalen bereits da. Hier geht es offensichtlich um mehr als um die Darstellung eines banalen Schuhe-Ausziehens. Der Künstler deutet ein Plus an, ein Mehr, das über meine Wahrnehmung hinausgeht. Dieses Mehr betrifft die Haltung der drei Weisen. Sie sind innerlich schon darauf eingestellt, Gott zu begegnen, auf seinem heiligen Boden zu stehen, sich in seinen Machtbereich zu begeben und sich mit allem, was sie sind und haben, in seine Gegenwart hineinzuhalten.

Das Licht, welches vom Kind in der Krippe ausstrahlt, taucht auch die Gesichter der Anbetenden in warmen Glanz. Finsternis liegt hinter ihnen. Das ist uns aus anderen Bethlehembildern vertraut.

Es sind Geschichten vom Gesehen- und Gehörtwerden, vom Erkannt- und Errettetwerden, die sowohl die Mosebücher als auch die Evangelien erzählen. Und die auch in meinem und deinem Leben gelesen werden können.

Das Erleben von Nichterhört- und Nichterrettet-Werden fordert ebenfalls sein Recht. Wie mühsam war der Weg ins Gelobte Land, wie zerbrechlich blieb das neue Leben nach der Ankunft und verlangte immerzu das Vertrauen in diesen Gott, der von sich sagt: Ich werde sein, der ich sein werde.

„Ich werde sein, der ich sein werde“ – damit ist Gottes „Dasein für...“ gemeint, Dasein für uns Menschen. Und ein Mit-Sein, zeitlich unbegrenzt. Gott hat schon eine lange Geschichte mit uns, denn er nennt die Vorväter Abraham, Isaak und Jakob, „mit denen er auch schon war“.

Das Wort Gottes sucht Antwort beim Menschen. Gott sucht die Kooperation mit uns. Damit ist uns allerdings die Möglichkeit verbaut, Gott die Schuld für das Elend der Welt in die Schuhe zu schieben und ihn haftbar zu machen, wenn sich nichts zum Besseren wendet. Wir sind gefragt als Mitstreiter Gottes.

Vor einiger Zeit saß ich mit Leuten zusammen, die sich für die Brandbekämpfung  einsetzen. Einer der Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr sagte irgendwann: Es müsse doch mal jemand „von oben“ eingreifen, so verrückt könne es doch hier unten auf der Erde nicht weitergehen! Ich ermutigte zur Eigenverantwortung und warb für die große Freiheit, die „der da oben“ uns ließe und die wir gestalten können und sollen. Es käme auf uns an, was wir daraus machten. Ich dachte an Moses Antwort – geistlich wach, mit offenen Augen und Ohren, geistes-gegenwärtig: „Hier bin ich!“ - Oder pointierter: „Hier hast du mich!“ Bereit, dass Gott mich in Anspruch nimmt.

Hier hast du mich!

Freilich, der Mut sinkt von jetzt auf gleich, als Mose klar wird, zu welch unglaublicher Aufgabe Gott ihn beruft: „Wer bin ich denn, dass ich mit Volk und Pharao...“

„Wer du bist? – Du bist der, mit dem ich sein will! In meinem Besitz, meiner Schöpfung. Und außerdem: Bevor du ,Hier bin ich’ gerufen hast, habe ich dir schon Gewissheit verschafft: „Hier bin ICH!“

Der Weg, den Mose ging, als er aufbrach von Dornen und Schafen, ähnelt der Strecke, die vor uns liegt.

Nicht nur im Hinblick auf das Kirchenjahr mit Vorfasten- und Passionszeit, sondern auch im Blick auf die Wahlen, auf den Dialog innerhalb unserer demokratischen Gesellschaft, in der Einzelne und ganze Gruppen zündeln. Im Blick auf die Geschichte, die wir mit Israel haben.

Dazu mahnt besonders die 80. Wiederkehr des Shoah-Gedenkens vor wenigen Tagen am 27. Januar, mit den Erinnerungen an die Öfen in den Konzentrationslagern.

Gott wird sich niemals mit Diskriminierung abfinden, er wird sich nicht für Flammen des Hasses vereinnahmen lassen.

Seine Liebe wird sowohl für die brennen, die sich in fertige Antworten und Parolen verrannt haben und die er zur Umkehr ruft, als auch für jene, die sich der Frage:

„Wer sind wir denn...?“ öffnen – ja, ich sage es mit alten Worten: ehrfürchtig und demütig öffnen – und dann erleben: Wir sind Menschen, mit denen Gott sein will.

Egal, ob Hitze oder Eiseskälte, Dunkelheit oder Licht, Zweifel oder Gewissheit: Er weicht nicht.

Es ist ein Plus, ein Mehr, das über alles, was wir sehen und hören, noch hinausgeht.

Dann ist der brennende Dornbusch kein Bild mehr, das ich wie Öfen und Schlachten, welcher Art, Abart und Geschichte auch immer, aus der Distanz anschauen muss.

Dann brennt Gottes Liebe wahrhaftig auch für mich. Er ruft mich beim Namen und ich kann mich in seine Gegenwart vertrauensvoll hineinbegeben.

Hier hast du mich, Gott! In meiner Seele barfuß.

AMEN

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen


*
Vgl. Göttinger Predigtmeditationen GPM 2018/11, 108.
** Bernhard Kleinhans 1926-2004

Vom Wasser, das uns fortreißt

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“. Ein denkwürdiger Satz. Mit ihm beginnt Thomas Manns monumentaler Roman „Joseph und seine Brüder“. Ja, die Brunnen der Vergangenheit können tief sein. Man kann ihre Tiefe erahnen, ohne ihnen auf den Grund zu sehen. Man kann sich in ihnen verlieren, wie manchmal bei Menschen, die nur noch wehmütig zurückschauen können auf die vergangenen Zeiten, die immer die besseren waren. Man kann untergehen in ihnen, wie wir das immer mal wieder bei prominenten Menschen erleben, die aus extremer Flughöhe von etwas in die Tiefe gerissen werden, dass sie tief im Brunnen der Vergangenheit verborgen geglaubt hatten.

I.

Tief ist auch der Jakobsbrunnen, an dem sich die eben gehörte große Geschichte von Jesus und der Samaritanerin abspielt. Johannes erzählt hier, was diese Frau am Brunnen vor dem Tore erlebt, als dort ein geheimnisvoller Fremder aufschlägt. „Um die sechste Stunde“, das ist 12 Uhr mittags. High Noon am Brunnen. Zwei Welten prallen aufeinander. Im Orient ist der Brunnen ein eminent sozialer Ort. Da wird getratscht und geklatscht, da trifft man sich zum ersten Rendezvous. Man geht raus aus den eigenen vier Wänden, und bleibt doch in der Dorfgemeinschaft. Darum ist die Frau misstrauisch. Dieser Unbekannte von jenseits der Grenze, der mich hier einfach so anspricht — das kommt mir schräg vor! Wir Samaritaner bleiben doch unter uns. Zu uns kommt doch niemand aus dem anderen Land, das so heilig sein soll. Und wenn sich doch mal einer hierher verirrt, dann darf er nicht mit uns reden.

So stellt sich das aus Sicht der Einheimischen aus Samarien dar. Und von Jesus aus gesehen? Zunächst mal recht pragmatisch. Er will einem drohenden Konflikt mit den Pharisäern aus dem Weg gehen. So beschließt er, Judäa wieder zu verlassen und in seine Heimat Galiläa zurückzukehren. Der kürzeste Weg dahin führt durch Samarien. Fromme Juden aber machen einen weiten Bogen um dieses Gebiet, es war für sie „unreines Land“. Die Samariter gehörten nämlich weder zu den „Kindern Israels“ noch zu den „Heiden“. Sie waren ein Hybrid: Nachkommen von Juden und von heidnischen Kolonisten, die die Assyrer im Norden Israels angesiedelt hatten. Der Glaube der Samariter gründete sich zwar wie bei den Juden auf die Tora, die fünf Bücher Mose, aber die Psalmen und die Prophetenbücher waren für sie ohne Bedeutung. Auch mit dem Jerusalemer Tempel hatten sie nichts im Sinn. Sie hatten ihr eigenes Heiligtum. So wurde Samarien von den frommen Juden gemieden. Aber nun gab es ausgerechnet dort auch einen wichtigen Ort jüdischer Tradition: der Brunnen Jakobs mit dem Grab von Josef, Jakobs Sohn. An diesem Brunnen der Vergangenheit gemeinsamer Glaubens-Väter begegnet der Jude Jesus einer Einheimischen. „Gib mir zu trinken“. Mit einer einfachen Bitte eröffnet er das Gespräch — und überschreitet damit gleich eine doppelte Grenze. Weil sie eine Frau, und weil sie Samaritanerin ist. So steht sie hier für das Evangelium der buchstäblich grenzenlosen Barmherzigkeit Gottes — und durch sie das ganze Volk der Samariter. In seiner Zuwendung zu ihr überschreitet der Gottessohn erstmals im Johannesevangelium die Grenze vom exklusiven Glauben des Gottesvolkes Israel zum „Halbheidentum“.

II.

Und so lässt Jesus, der Mann aus der Fremde, am Brunnen nicht locker. Die Frau versteht ihn erstmal nicht, macht Einwände. Aber ihre Skepsis beirrt ihn nicht. Sie soll ihm etwas gaben — Wasser zum Trinken. Er könnte ihr auch etwas geben — Wasser des Lebens. Verbale Spiegelfechtereien, Ironie und Missverständnisse. Wie es so sein kann, wenn zwei aufeinandertreffen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben dürfen. Und dann lässt der Fremde die Katze aus dem Sack: „Wer aus dem Brunnen der Vergangenheit trinkt, der bekommt wieder Durst. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, wird auf ewig keinen Durst mehr haben. Vielmehr: das Wasser, das ich ihm gebe, wird ihm eine Quelle bis ins ewige Leben.“

Wasser ist im Nahen Osten nicht erst heute eine extrem wertvolle Ressource. Da fällt es schwer, sich ein Wasser vorzustellen, das für die Ewigkeit ausreicht. Dessen Quelle in uns liegt, die uns erfüllt und durchflutet, uns mitreißt „bis zum ewigen Leben“. Dass Wasser eine elementare, auch bedrohliche Gewalt hat, wissen wir nicht erst seit den immer spürbarer werdenden Folgen der Erderwärmung. Schon immer galt, was ein Religionswissenschaftler so beschrieben hat: „Lebendiges Wasser, Jungbrunnen, Lebenswasser etc. sind mythische Formeln ein und derselben religiösen Realität: Im Wasser ist das Leben, die Kraft und die Ewigkeit.“ (Mircea Eliade). Das ist wahr.

Was in der samaritanischen Frau wohl vorgegangen ist, als sie die verwegene Bitte an den Fremden ausspricht: „Herr, gib mir solches Wasser“?! Wer nach dem Wasser des Lebens, das der Unbekannte anbietet, ernsthaft verlangt, ahnt vielleicht noch gar nicht, worauf er sich einlässt. Denn er kann vielleicht in eine unerwartete, heftige Strömung geraten, die ihn gewaltig fortreißt. Grenzen verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Heilige Traditionen werden relativiert. „Herr, gib mir solches Wasser, damit ich nicht mehr durstig werde und herkommen muss, um zu schöpfen“: Wer sich von den Brunnen als Orten der Tradition zurückzieht, macht sich des Verrats, der Ketzerei verdächtig.

III.

Ein Happy End ist also noch keineswegs da. Bevor Jesus der Frau etwas gibt, soll sie etwas holen. „Geh und ruf seinen Mann und kommt wieder her! — Ich habe keinen Mann. — Du hast richtig geantwortet: Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Das Wasser des Lebens kann Bindungen zerreißen. Soziale Beziehungen relativieren sich. Was Menschen im Leben — manchmal auf unheilvolle Art — miteinander verstrickt, wird gelöst. „Ich habe keinen Mann“ — das kann jetzt auch bedeuten: Was mich bisher gefesselt hat, ist auf einmal verflogen. Ich lebe mit einem anderen Menschen. Aber eben, mit einem Menschen nur, und darum ist das etwas auf Zeit, nicht auf Ewigkeit. Ich bin niemand und nichts, auch keiner Anschauung auf Gedeih und Verderb verbunden. In wen das Wasser des Lebens einzusickern beginnt, der muss seine Kraft, seine Identität nicht mehr ausschließlich aus der Anerkennung durch andere, auch nicht aus Partnerbeziehung schöpfen. Eine Quelle in ihm hat zu fließen begonnen, die ihn innerlich freier, unabhängiger macht.

So etwas ist in der Frau in Gang gekommen. Und so sagt sie nun ehrfürchtig zu Jesus: „Ich sehe, du bist ein Prophet!“ So kann nur jemand reden, der nicht mehr nur aus eigener Einsicht spricht, sondern im Namen Gottes. Aber das war zu allen Zeiten so, und das macht es kompliziert: Gerade wenn es um Gottes Gegenwart geht, gibt es Probleme mit der Tradition, mit den Zeugnissen der Vergangenheit. Das ist ja ein Brunnen aus der Zeit der heiligen Väter, Jakob und Josef. Und dann gibt es diese Berge der Offenbarung, den Berg Garizim und den Berg Zion. Da gibt es Jerusalem und Rom und Konstantinopel, da gibt es Wittenberg und Genf, da gibt es Mekka und die heiligen Orte im Hinduismus. Und es gibt Dresden, die Frauen- und die Hofkirche. Wo soll man anbeten? Wo lässt sich Gott finden, wo soll man seinen Namen preisen? Komplizierte Frage.

Jesus sagte Verblüffendes dazu. „Es kommt die Zeit, ja sie ist schon da, in der die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater will Menschen haben, die ihn so anbeten.“ Mit anderen Worten: Wenn der, der aus der Höhe kommt, am Brunnen erscheint, der in die Tiefe führt, dann werden auch die tiefsten Bindungen, wenn nicht aufgelöst, so doch relativiert. An den heiligen Quellen selbst kann man lernen, dass Gott sich nicht von den ehrwürdigen Orten der Tradition einfangen lässt. Das Wasser des Lebens kann überall fließen, sich Bahn brechen. Nicht heilige Orte sind der Garant für die Anwesenheit des Gottes. Auch in der sechsten Stunde, 12 Uhr mittags, ist er nur so gegenwärtig: „im Geist und in der Wahrheit“.

„Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus genannt wird. Wenn der kommt, wird er uns alles verkündigen“. Die Frau aus Samarien wartet. Die Juden warten auf den Messias. Die Christen warten auf den wiederkommenden Herrn. Die Welt wartet auf Erlösung, auf Frieden, auf Schalom. Aber nun sagt er: „Ich bin es, der mit dir redet“. Anders gesagt: Am Brunnen der Tradition, um die sechste Stunde, kommt die Weltgeschichte sozusagen zum Stillstehen. Er ist da. Sein Wort steht im Raum. Sein Geist erfüllt uns. Seine Wahrheit reißt uns mit, durch die Tiefen unseres Lebens bis in sein ewiges Leben. Wo und wie das geschehen kann? Überall da, wo Menschen aus Gottes Wort etwas Neues, noch nie Gehörtes vernehmen und in ihr altes Leben hineinlassen.

 

Amen.

 

Manieren vor Gott

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

die vorhin gehörten Paulus-Worte aus dem Römerbrief können einen durchaus an Ermahnungen besorgter Eltern erinnern. Zieh dich warm genug an! Fahr vorsichtig! Ruf an, wenn du angekommen bist! Geh nicht zu schnell mit der neuen Freundin ins Bett! — Wir kennen das. Es ist uns, als wir noch dem elterlichen Zugriff ausgesetzt waren, natürlich auf den Wecker gegangen. Und genauso natürlich haben wir, als wir dann selber Eltern waren, es kein Deut anders gemacht. Denn wenn wir Eltern geworden sind, spüren wir: Eltern sagen das alles ja aus Liebe zu ihrem Kind. Sie wollen sie vor Krankheit und anderen Gefahren bewahren, oder ganz schlicht gesagt: sie wollen, dass ihr Kind ein gutes Leben hat.

 

I.


Auch für den Apostel Paulus sind die Briefe, die er an die Gemeinden scheibt, die er ja großenteils gegründet hat, Liebesbriefe. In die legt er hinein, was aus der Liebe kommt: Zuwendung, Leidenschaft und eben auch Sorge. Wohl darum gleich zu Beginn die Aufforderung „Eure Liebe sei ohne Falsch“. Also ohne Hintergedanken. Liebe, wenn sie echt ist, denkt nicht an sich, sondern zielt auf das Glück des geliebten Du. Paulus will, dass das Leben dieser kleinen Christengemeinde in der großen Welt-Metropole gelingt. Dass an der Art, wie die Menschen dort miteinander umgehen, etwas von Jesu Art aufscheint. Freilich, in diesen Imperativen, die Paulus da auf uns niedergehen lässt, die Sprache der Liebe zu entdecken, das ist nicht so einfach. Dass wir uns in der Kirche, wie Paulus es hier ausdrückt, in Ehrerbietung zuvorkommen, kann man ja nicht wirklich sagen. Ist, was Paulus hier von einer christlichen Gemeinde entwerwartetirft, nicht viel zu idealisiert?

Aber nun ist es ja das Spannende, dass der Apostel hier die Gemeinde nicht beschreibt, wie sie ist (er kannte die Gemeinde in Rom, als er ihr schrieb, noch gar nicht aus eigenem Erleben), sondern wie sie sein könnte, und auch sollte. Wozu er uns verlocken will, ist eine neue Optik. Erinnert euch an das wunderbare letzte Konzert eures Kirchenchores! Denkt daran, wie kreativ sich die neuen Konfis im Gottesdienst vorgestellt haben! Oder wie viele Ehrenamtliche damals das Kirchenasyl über Monate so toll gestemmt haben. Paulus spricht hier von „Gnadengaben“. Also nicht wir selber sind so toll, sondern Gott schenkt uns Befähigungen, ohne dass wir sie uns erarbeitet hätten. Gott wurde Mensch, meint Paulus, damit wir werden können, was wir von ihm her eigentlich sind: menschliche Menschen. Darum: werdet, was ihr durch eure Taufe längst seid!

 

II.


Wie kann das konkret werden? Ich versuche eine etwas ungewöhnliche Antwort. Anfang der Nuller-Jahre las ich mit großem Vergnügen ein Buch, über das damals viel gesprochen wurde. Sein Titel war nur ein Wort: Manieren. Sein Autor heißt Asfa-Wossen Asserate — ein gebürtiger Äthiopier, der nach der Revolution 1974 von dort floh und in Deutschland eine neue Heimat fand. Asserate machte sich den Vorteil zu eigen, dass Zugereiste gegenüber Einheimischen oft einen genaueren Blick für die Eigenheiten ihrer neuen Heimat haben. So beschreibt er in seinem Buch auf anregende, geistvolle Art Manieren: also die vielen ungeschriebenen Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, die wir einander gönnen — oder deren Fehlen wir uns zumuten, wie wir inzwischen, im Zeitalter der Brüllkultur in den „Social Media“, eher sagen müssen. Was ist eigentlich der tiefere Sinn des Handkusses? Wann sind Komplimente für Frauen angemessen, wann sind sie sexistisch? Wer darf in Deutschland wem das Du antragen? Warum soll man Kindern beibringen, dass das Messer rechts vom Teller platziert gehört? Warum soll man als Führungsperson dieselbe eben nicht raushängen, sondern Demut ausstrahlen? Gibt es Damen und Herren, oder nur Männer und Frauen? Solche und viele andere Fragen, die für uns erstmal wie aus der Zeit gefallen erscheinen, werden von Asserate auf köstlich-geistvolle, und sehr lehrreiche Art ausgebreitet.

Sein Buch ist also ein Knigge für unsere Zeit. Dabei geht es nicht, wie in manchen Adelskreisen, darum, auf Biegen und Brechen dem Wandel der Zeiten zu trotzen und Verhaltensweisen zu konservieren, die heute niemandem mehr vermittelbar sind. Sondern es geht um den zutiefst menschlichen Sachverhalt, dass hinter äußeren Benimmregeln eine Kultur der Achtung und Wertschätzung aufleuchtet — oder eben auch nicht. An welchen Verhaltensweisen ist zu spüren, dass wir jemand anderen nicht bloßstellen oder übervorteilen wollen? Woran zeigt sich, dass wir ihm Würde und Glanz gönnen und dazu beitragen, dass er sein Gesicht wahren kann? Es geht also nicht um hohle Förmlichkeiten und Floskeln, sondern in diesen Formen soll sich spiegeln, dass jeder Mensch eine unantastbare Würde, ein Ansehen hat. So gesehen sind gute Manieren eine jüdisch-christliche Mitgift für die säkulare Gesellschaft, weil sie einen Kern der biblischen Botschaft spiegeln: dass nämlich jeder Mensch eine unverlierbare Würde als Person hat, die auch durch noch so schlechte Taten nicht zerstörbar ist. „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch“: so einfach und einfach wahr hat es der damalige Bundespräsident Johannes Rau 2002 in Erfurt gesagt, im Blick auf den Schüler, der an einem Gymnasium dort einen entsetzlichen Amoklauf veranstaltet hatte. Und weil das so ist, hat auch der, der mir vielleicht aus guten Gründen tief unsympathisch ist, einen Anspruch darauf, dass ich, wenn nicht herzlich, so doch höflich mit ihm umgehe.

 

III.


Die biblische Botschaft geht aber noch weiter. Nicht nur untereinander, auch Gott gegenüber gibt es so etwas wie gute Manieren. Wenn Jesus in der Bergpredigt sagt, dass ein guter Baum gute Früchte bringt, müsste man fortfahren: jeder gute Mensch hat gute Manieren und ein glaubender Christ hat glaubwürdige Manieren vor Gott. Wie sehen die aus? Noch einmal die Antwort von Paulus: „Die brüderliche Liebe unter euch sei herzlich; einer komme dem anderen in Ehrerbietung zuvor. (…) Übt Gastfreundschaft, Segnet, die euch verfolgen.“ Das ist für Paulus der Maßstab für die Unterscheidung von Gut und Böse. Böse ist, was der Geschwisterlichkeit widerspricht. In dieser Hinsicht hat das frühe Christentum einen geistigen und sozialen Wandel ausgelöst, den man revolutionär nennen darf. Der hat sich nämlich inmitten einer Welt vollzogen, die nach ganz anderen Maßstäben lief. Eingeteilt in Herren und Knechte, Freie und Sklaven, Juden und Heiden. Das, sagt Paulus, gibt es für uns nicht mehr. Wir sind durch die eine Taufe jetzt alle gleichberechtigte Geschwister der Christusfamilie. Jeder ist sich selbst der Nächste — nein, jetzt eben nicht mehr! Geschwister teilen miteinander. Frauen müssen sich den Männern unterordnen — jetzt nicht mehr, Jesus ist Brüdern und Schwestern gleich nah. Völker und Nationen verachten und bekämpfen sich: Griechen und Juden; Römer und Germanen; Russen und Ukrainer — jetzt nicht mehr. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, sondern ihr seid alle eins in Christus“, schreibt Paulus anderswo (Gal 3,28).

Das ist der eigentliche Grund, dass die anfangs nur wenigen, die sich nach diesem Jesus Christus nannten, keine randständige Sekte blieben, sondern immer mehr Zulauf bekamen. Das war viel entscheidender als dass sich ein römischer Kaiser im 4. Jahrhundert bekehrte und das Christentum aus politischem Kalkül zur Staatsreligion erhob. Diese Revolution im Namen Gottes war damals so verwegen wie sie es eigentlich heute noch ist. Es gibt ein eindrückliches Zeugnis aus dem 2. Jahrhundert. Der heidnische Historiker Diognet hat über die Christen notiert:

Die Christen unterscheiden sich von anderen Menschen nicht durch ihre Wohnungen, ihre Sprache oder ihre Bräuche. In Kleidung, Nahrung und, was sonst zum Leben gehört, schließen sie sich dem Üblichen an. Und doch haben sie ein erstaunliches Gemeinschaftsleben. Sie leben zwar an ihrem jeweiligen Heimatort, doch wie Fremde. Sie beteiligen sich als Mitbürger an allem, doch ertragen sie es nur wie Durchreisende. Jede Fremde ist ihnen Heimat, und jede Heimat ist ihnen fremd. Was die Seele im Körper ist, das sind die Christen in der Welt. Die Seele ist über den ganzen Körper verteilt, und die Christen über alle Städte. Die Seele wohnt im Leib, aber sie hat dort nicht ihren Ursprung. Und die Christen leben in der Welt, aber sie haben in ihr nicht ihren Ursprung.

So haben damals die Manieren vor Gott Gestalt gewonnen.

 

IV.


„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“, lautet die Aufforderung von Paulus an die Christen in Rom. Oder so gesagt: Baut Vertrauen auf statt es zu zerstören, seid verlässlich füreinander und versucht, vom anderen her zu denken. Paulus ermuntert uns zu einer christlichen Selbstdisziplin, die den anderen, aber auch Gott selbst vor unserer Beliebigkeit schützt. Anderen die Ehre zu nehmen statt zu geben, wie das heute in der politischen Sphäre fast schon normal geworden ist: das passiert, wenn wir nicht versuchen, uns mit den Fröhlichen zu freuen und mit den Weinenden zu weinen. Geistlich wach und „manierlich“ sind wir, wenn wir verlässlich mit Gott umgehen. „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet“: also nicht nur an Gott denken, wenn es gerade für mich „stimmt“, oder nur zu ihm beten, wenn gerade etwas schiefläuft und ich nicht mehr weiterweiß. Die Basics des christlichen Glaubens festhalten, wiederbeleben, anderen nahebringen. Das fängt mit dem Einfachen an: in der Bibel lesen und den Psalm 23 auswendig kennen und es auch für Kinder und Enkel für zumutbar halten. Irgendwann einmal werden sie es uns danken, dass wir darauf bestanden haben. Über Gott und unseren Glauben reden, unbefangen und ehrlich, fragend und einladend, aber nicht leise und verdruckst. Zur Kirche stehen, auch wenn wir uns manchmal über sie entsetzen.

Liebe Gemeinde, das wäre ein guter Vorsatz für dieses noch frische Jahr, wenn wir uns bemühten, Gott so mit „guten Manieren“ zu begegnen. Leute ohne Manieren sind Leute ohne Würde, Haltung und Tiefe, und das tut niemandem gut. Über all unsere Befindlichkeiten hinaus sollen wir einander achten und wahrnehmen als das, was wir alle sind: Kinder Gottes, Geschwister in seiner Familie. So ehren wir einander, und geben Gott Ehre. Ihm zur Freude und uns zum Segen.

 

Amen.

 

Prüft alles und behaltet das Gute

Predigt gehalten im Neujahrsgottesdienst von
Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke

Das komplette Textbuch des ZDF-Fernsehgottesdienstes können Sie sich HIER HERUNTERLADEN (*.pdf)  

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Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Amen

Schon von weitem sehe ich ihn: den Zettel an der Frontscheibe.
Häh? Ich hab’ doch gar nicht falsch geparkt!

Nein, hatte ich auch nicht. Das gerollte Papierchen, das hinter meinem Scheibenwischer klemmt, sieht aus wie ein zu groß geratenes Los vom Kindergeburtstag. Es erinnert mich daran, dass ich eines schon mal hätte eher tun sollen: Das, was die Ordnungsbehörde gerade sehr genau getan hat: zwischendurch mal auf die Prüfplakette gucken. – Der TÜV war abgelaufen. Nun drohte ein Bußgeld. Beim Kindergeburtstag hätte ich diese Niete vielleicht im Sofaschlitz versenken können. Nur leider war das hier eine andere Veranstaltung. Ärgerlich! Andererseits bin ich auch froh, dass es Prüfplaketten und Gütesiegel gibt. Denn ich will ja weder andere noch mich selbst gefährden. Wenn ich Kontrollzeichen an Technik, Spielzeug und auf Böllern finde, dann garantiert das allen Sicherheit und Qualität; der Siegelgeber bürgt dafür, nicht nur im Straßenverkehr.

Gibt es so etwas wie ein Gütesiegel eigentlich auch für Menschen? Ein Zeichen, das etwas über das Wesen einer Person sagt, über ihre Güte im doppelten Wortsinn: ihr Gut-Sein und ihr Gütig-Sein? – Das ist ja noch mal was anderes als zum Beispiel eine Medaille im Sport oder ein Schulzeugnis. Welche Kriterien müssten für solch ein Gütesiegel angelegt werden? Für den Apostel Paulus ist klar: Seine Gemeinde in Thessalonich hat bereits das ultimative Güte-Siegel. Gott hat ihr sein Güte-Siegel verliehen. Es ist der Segen Gottes, der der Gemeinde in den Briefzeilen von Paulus zugesprochen wird:

Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch und bewahre [euch] unversehrt,
untadelig für das Kommen unseres Herrn Jesus Christus.
Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.

Gottes Segen – ein Güte-Siegel? Und dann auch noch eines, das er seinen Menschenkindern im Voraus verleiht? Er sollte doch am besten wissen, dass wir alle unsere Mängel haben! Menschen sind Menschen. Es gibt uns und es gibt uns mit Fehlern. Wir verletzen uns gegenseitig und haben Wunden. Nicht einmal Gott kommt unversehrt durchs Leben. Doch er: ein Gott mit Narben, der Verletztes heilen kann, gerade weil er sich verwundbar gemacht hat. Und weil aus der Verletzlichkeit neue Kräfte erwachsen. Wer versehrt und verletzlich ist, ist fähig zu Gefühl und Mitgefühl, ist geduldig, dankbar.

Mit Paulus verbindet uns, dass wir spüren, wie zerrissen und versehrt wir sind, was alles schiefgehen, ja tödlich enden kann. Und wie groß unsere Sehnsucht ist nach Ganzsein, nach Heilsein – Paulus nennt das „Heiligsein“. Sehnsucht nach etwas, das nicht endet auf einem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, im Schützengraben, an maroden Brücken. Sehnsucht nach etwas, das hinausreicht über unterirdische Tunnelsysteme und soziale Medien, das nicht aufhört im Plenarsaal, auf der Palliativstation. Diese Sehnsucht ist besonders heftig zu Beginn eines neuen Jahres, das noch so rein und unversehrt vor uns liegt – und doch die ersten Hiebe schon längst wieder weghat. Aber – ist es deshalb schon kein gutes neues Jahr mehr?

»Prüft alles und behaltet das Gute.«

„Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen!“ – Im Märchen ist es ganz einfach, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Und immer siegt das Gute! Doch nicht nur im Märchen braucht es offensichtlich den Weg über das Versehrte, Verletzte.
Der Junge und seine Mutter, von denen Claudia Baranyai vorhin erzählte, die sind ein eindrückliches Beispiel. Zwei Menschen, versehrt. Versehrt und verwundet durch die traumatischen Erlebnisse. Durch die Geschichte, die der Junge erzählt hat, um bei seiner Mutter bleiben zu können. Das muss man sich mal vorstellen! Da hat ein Kind seinen Vater im Krieg verloren. Neben der eigenen Trauer fühlt es mit, wie die Mutter trauert und leidet. Ein kleines Kind sieht keinen anderen Weg mehr als seine Mutter beschützen zu wollen und sie nicht aus den Augen zu lassen. Verkehrte Welt! Normalerweise beschützen Eltern ihre Kinder und nicht andersherum. Weil sich der Junge aber nicht anders zu helfen weiß, verbreitet er heftige Unwahrheiten. Die Wahrheit ist offenbar kein belastbares Kriterium, um das Gute zu ergründen.

Zwei Menschen, versehrt. Doch auch unversehrt. Unversehrt durch das Wahr- und Ernstnehmen ihrer ganzen Person, durch die respektvolle und einfühlsame Begegnung mit ihnen – ohne Vorurteile, durch die geduldige Suche nach den Motiven für ihr Verhalten und das Fragen danach, was die beiden jetzt brauchen. Unversehrt in der heilsamen, ja heiligen Liebe von Mutter und Kind zueinander. Versehrt und unversehrt zugleich.

Im Buch des Propheten Micha lese ich: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet: nichts als sein Wort halten und Güte lieben und demütig sein vor deinem Gott. Das ist etwas ganz Praktisches, was uns da nahegelegt wird: Wir müssen uns fragen und fragen lassen, ob das, was wir tun, der Gemeinschaft und dem friedlichen Zusammenleben dient. Der Junge und seine Mutter wurden durch das umsichtige Forschen der Verantwortlichen nach den Motiven wieder in die Gemeinschaft zurückgeholt.

Ein Gegenbeispiel sind etwa die vorhin angesprochenen Fake news – gefälschte, zurechtgebogene Nachrichten, die Leute gegeneinander aufhetzen und eine ganze Gesellschaft auseinandertreiben. Deshalb müssen Journalistinnen und Journalisten weiterhin unermüdlich prüfen. Und ich wünsche mir, dass Menschen wie Oliver Reinhard um Gottes und des friedlichen Miteinanders willen darin nicht nachlassen! Klar, auch dabei passieren Fehler. Aber da kommt gleich noch etwas anderes hinzu, das ein Kriterium für das Gute ist. Claudia Baranyai hat es angesprochen: Wir müssen gütiger werden. „Die Güte lieben“ so beschreibt es schon der Prophet Micha. Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen unseren Fehlern und gütigem Handeln: Gütige Menschen sind Leute, die selbst Fehler gemacht haben und merkten: Ich bin auf die Güte mit mir selbst und die Güte anderer angewiesen, um weitermachen zu können.

Ja, es ist anstrengend, das Gute zu suchen und es im Widersprüchlichen zu erkennen. Und – ja: das Gute bleibt angreifbar und verletzlich. Und doch: Lasst nicht nach, werdet nicht nachlässig!, ruft Paulus uns Thessalonicherinnen und Thessalonichern aller Zeiten zu. Bleibt dem Guten auf der Spur! Es lohnt sich. Und ich füge hinzu: Allein schon um dieses einen Jungen willen, dessen Wunden nun heilen können. Prüft alles und behaltet das Gute. – Wir werden in diesem Leben darin immer unterwegs bleiben und manchmal auch auf halbem Wege stagnieren. Mit Augenzwinkern sage ich: Wir sind „halb-wegs“ gut. Vom TÜV bekäme ich für ein „halbwegs“ gutes Auto mit Mängeln wohl kein Prüfsiegel. Aber Gott gibt es uns, seinen immerhin halbwegs guten Menschen, die durch allerlei Schrammen und Verletzungen gezeichnet sind.

Ein großer Theologe des Mittelalters, Meister Eckhart, schrieb: „Hafte Gott an, so hängt dir alles Gutsein an.“ Denken wir jeden Tag daran: Zuvor hat der Gott des Friedens uns schon sein Güte-Siegel angehaftet und aufgelegt. Sein Siegel: der Segen – für jede und jeden Einzelnen, für die Gemeinschaft. An jeder Schwelle zum Neuen. Der Gott des Friedens heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt .... Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.


AMEN

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