Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2023

»Gott ist ein Astronaut«

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

„Und Gott sprach: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken. Der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.“ Feierlich klingt das, und schön. Zu schön inzwischen, um noch wahr zu sein? „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Mit diesem ehernen Gottesversprechen hat im Kapitel davor die berühmte Geschichte von der Sintflut geendet. Klingt dieses Versprechen mit Blick darauf, wie es heute um unsere Erde steht, nicht fast schon zynisch? Man braucht ja nur die viel zu niedrig und träge dahinfließende Elbe zu erinnern, und natürlich die brennende Sächsische Schweiz im vergangenen Sommer, um zu sehen, dass das Wechselspiel von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter so verlässlich nicht mehr ist.

I.

Heute geht „Gaia“ zu Ende. Ein letztes Mal ist sie bei uns zu bewundern, die überwältigende Installation von Luke Jerram. Sie hat uns einen Zustrom beschert wie seit vielen Jahren nicht mehr; manche fühlten sich an die frühen Jahre der wiederaufgebauten Frauenkirche erinnert. Eine derartige Resonanz hatten wir vorher nicht auf dem Schirm, sie hat uns fast überrollt. Gaia zeigt uns Mutter Erde so, wie sie vor über 50 Jahren die Astronauten, genauer: die Mondfahrer unter ihnen mit ehrfürchtigem Staunen gesehen haben. Seither nennt man die Erde den Blauen Planeten. Die Älteren von Ihnen werden es noch erinnern, wie das damals war, als die ersten Menschen auf dem Mond aufschlugen. Deshalb mal eine kleine Zeitreise zurück in den Juli 1969.

Wer es bewusst erlebt hat, weiß es noch. Was er damals wo mit wem gerade gemacht hat. Die Mondlandung hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben wie die Ermordung von Jack Kennedy, wie der Tag, als die Mauer fiel, oder wie „9/11“. Man sagt, nach dem ersten globalen Medien- und Fernsehereignis, der Krönung der Queen 1953, sei die Mondlandung das zweite gewesen, das die ganze Welt auf ein Ereignis hin fasziniert hat. Außer den Chinesen - in China, damals in den Wirren von Maos Kulturrevolution ein hermetisch abgeriegeltes Land, wurde die Mondlandung offiziell verschwiegen. Erst Jahre später haben die Chinesen davon erfahren. Undenkbar heute, aber im analogen Zeitalter funktionierte sowas noch. 600 Millionen Menschen weltweit haben sich damals live vor den Bildschirmen versammelt. Heute nichts Besonderes, ein WM-Finale hat Milliarden Fernsehzuschauer. Vor 50 Jahren aber eine gigantische Zahl. Viele hatten damals noch keinen Fernseher. Wir auch nicht. Man lud sich bei Nachbarn ein, die bereits stolze Besitzer dieses Zauberkastens waren. Oder man wurde noch kreativer. Ich war damals acht, und habe bis heute vor Augen, wie mein Vater aufgeregt das Fernglas nahm und sich ans Fenster begab, um von dort Einblicke ins Wohnzimmer des gegenüberliegenden Hauses zu erhaschen, wo ein TV-Schirm flimmerte. Ein so rührendes wie sinnloses Unterfangen. Die Bilder, die die NASA lieferte, waren schrecklich verwackelt und unscharf. Die TV-Moderatoren hatten es schwer, etwas in dem diffusen Geflimmer zu erkennen, und geeignete Experten für das Jahrtausendereignis zu finden. Der ORF zog einen HNO-Arzt zu Rate, Herbert Pichler hieß der Mann. Er wurde den Zuschauern als „Hobby-Astronom mit profundem Wissen“ präsentiert. Prompt kalauerten ihn die Österreicher zum „Hals-Nasa-Ohrenarzt“ um. Und in der BRD wurde gerne und mit Stolz der frühere Deutsche Wernher von Braun erwähnt, der für die NASA die „Saturn V“ konstruiert hatte, die die Astronauten ins All katapultierte. So wurde die Apollo 11-Mission unter Hinweis von Braun präsentiert, als sei auch Deutschland irgendwie mitgeflogen auf dem Mond. Dass eben jener Wernher von Braun der Chef des Nazi-Raketenprogramms im „Dritten Reich“ gewesen und tief in Kriegsverbrechen verstrickt war, wurde damals einfach verschwiegen.

II.

Jeder kennt den Satz, den Neil Armstrong gesagt hat, als er seinen Fuß auf den staubigen Boden im „Meer der Ruhe“ aufsetzte: „That's one small step for a man, but one giant leap for mankind.“ Eigentlich eine banale Aussage, ohne Hintersinn. Und trotzdem einer der berühmtesten Aussprüche, die jemals ein Mensch getan hat. Auf eigenartige Weise zueinander gehörig fühlten sich die Menschen damals, die zuschauen konnten. Einer Menschheit zugehörig, die, wie Armstrong fand, nicht nur in der Zuschauerrolle war, sondern mit seinem kleinen Schritt auf den Mondboden selbst einen Riesenschritt tat. Die Astronauten aber haben noch eine ganz andere, überraschende Zugehörigkeit entdeckt. Sie flogen damals ins All, um den Mond zu finden. Sie fanden noch etwas anderes größeres: Mutter Erde. Sie sahen sie aufgehen, eine kleine blaue Kugel im All. Von weit oben gut zu erkennen: Wasser und Land, Wolken, Nacht und Tag und keine Grenze nirgendwo. Winzig und ausgeliefert wirkt die Erde, wenn man sie im All betrachtet, haben viele Astronauten gesagt. Ein Lebensschiff in einem Meer von Dunkel und Stille.

Den Mondfahrern ging es da wie der Besatzung von Apollo 8, ein halbes Jahr vorher an Weihnachten 1968. Das war der erste Apollo-Flug, der die bereits vertraute Erdumlaufbahn verlassen hatte, den Mond umkreiste und damit den Blauen Planeten ins Blickfeld bekam. Jim Lovell, einer der Apollo 8-Astronauten, hat später gesagt: „Als ich aus der Ferne diesen wunderbar leuchtenden blauen Planeten sah, erfasste mich ein heftiges Glücksgefühl, dass Gott mir Dasein geschenkt hatte auf dieser Erde. Und ich beschloss, für mein weiteres Leben zu tun, was ich konnte, damit dieser Planet bewahrt wird und die Menschen auf ihm menschwürdig leben können.“

Ganz ähnliches haben nach ihm viele Astronauten gesagt. Bis zu Alexander Gerst aus Deutschland, der vor drei Jahren auf der ISS-Raumstation war und von dort in einen Brief an seinen damals noch ungeborenen Enkel schrieb. 400 km über ihrer Oberfläche schaut er auf die Erde und beschreibt ihre zerbrechliche Schönheit. Er schreibt: „Ich muss mich bei euch, meinen Enkeln in der Zukunft, entschuldigen. Es sieht so aus, als würden wir euch unseren Planeten nicht im besten Zustand hinterlassen. Ich hoffe für euch, dass wir noch die Kurve kriegen. Dass wir nicht bei euch als die Generation in Erinnerung bleiben, die egoistisch und rücksichtslos die Ressourcen aufgebraucht hat. Die einfachen Erklärungen sind oft die falschen. Die eigene Sichtweise ist immer unvollständig. Die Zukunft ist wichtiger als die Vergangenheit. Und für Dinge, die es wert sind, muss man auch einmal ein Risiko eingehen. Was ich will und was jeder wollen sollte: die Zukunft durch eure Augen sehen und so diese Zukunft möglich machen“.

Vielleicht würde es helfen, wenn wir alle so auf die Erde schauen. Vielleicht ist es gar nicht so schwer, die Augen zu schließen und sich den Anblick der Erde vom Mond aus vorzustellen. „Planet earth is blue and there is nothing I can do” - sang David Bowie gerade zu jener Zeit, als Neil Armstrong und Buzz Aldrin ihre Füße auf den Mond setzten. Das ist ein passender Ton. 54 Jahre danach erst recht. Damals herrschten noch ungebrochener Fortschrittsoptimismus und Technikgläubigkeit. Heute fühlen viele so wie der Sänger: Die Erde ist blau - und ich kann nichts tun. Blau ist ja nicht nur eine schöne Farbe. Wenn einer niedergeschlagen ist, hat er den Blues. Das bedeutet auch: Traurig, verlassen, hoffnungslos. Last Generation.

III.

Und was ist es mit Gott in dem allen? Die USA sind immer noch ein ziemlich frommes Land, für unsere temperierten Verhältnisse irritierend religiös aufgeladen. Ich sehe noch vor mir, wie jedes Mal, wenn eine Apollo-Besatzung wieder glücklich im Pazifik gelandet und auf dem Flugzeugträger eingetroffen war, als allererstes ein Pastor ein Dankgebet sprach. Alle senkten andächtig die Köpfe. Und als im April 1970 die Besatzung von Apollo 13 in schlimme Turbulenzen geriet („Houston, wir haben ein Problem!“) und tagelang ungewiss war, ob sie es wieder zur Erde zurück schaffen würden, waren in den USA landauf, landab die Kirchen rappelvoll.

Aber Gott ist wohl noch auf andere Weise da mit drin als bloß in der Rolle des gnädigen Bewahrers. Ich sage es mal unorthodox: Gott ist ein Astronaut. Ein Weltraumfahrer auf Patrouille, ein Major Tom, wie der einsame Astronaut in David Bowies Liedern hieß. Einer, der sich in das Blau der Erde verliebt hat. Einer, dem die Verletzlichkeit der Welt und ihrer Menschen, Tiere und Pflanzen das Herz umstülpt. So dass er eines heilvollen Tages, „als die Zeit erfüllt war“ (Gal 4,4), beschloss, selbst seinen Fuß auf die Erde zu setzen. In der römischen Provinz Palästina, wo der Erdboden wie da oben auf dem Mond auch sehr staubig ist. Menschen landeten vor 54 Jahren auf dem Mond - Gott ist längst auf der Erde gelandet. „Welt ging verloren, Christ ist geboren“: Gott hat Heimweh nach dieser Welt. Deshalb sucht er die Erde und er sucht Menschen, die sich anrühren lassen von der unendlich kostbaren Schönheit und von der extremen Verletzlichkeit der kleinen blauen Kugel im All. Und die über all dem, was einen traurig und bitter machen kann an der Art, wie wir Menschen so unterwegs sind auf dieser blauen Kugel, dennoch nicht verzweifeln oder zynisch werden. Sondern die beherzt die Ärmel hochkrempeln und, jede an ihrem Ort, tun, was sie tun können. Und so ihre Antwort geben auf Gottes Versprechen: „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Für unser Heil, das ist Herzstück des evangelischen Glaubens, können wir nichts tun. Weil Gott dafür schon alles getan hat. Als er am Kreuz festgenagelt hing und sich den verführerischen Einreden „Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann steig doch einfach runter vom Kreuz“ (Mt 27,40) verweigerte und diesen kleinen Schritt von der Erhöhung ans Kreuz wieder runter auf den Erdboden nicht tat, war eben dieser verweigerte Schritt ein „giant leap for mankind“, ein unendlicher Schritt für uns Menschen. Zu unserem Heil eben.

Aber gerade weil wir für unser Heil nichts tun können, sollen wir für unser Wohl, für ein gutes, menschliches Dasein umso mehr tun. Ob das historische Faktum, dass Menschen den Mond gefunden haben, für das Wohl der Menschheit viel bewirkt hat, steht dahin. 54 Jahre später jedenfalls ist nichts so wichtig, als dass wir Menschen die Erde finden und für ihr, für unser Wohl viele kleine, aber auch große Schritte auf ihr tun. Damit doch wieder möglich wird, was ich bei einer „Fridays for future“-Demo auf dem Plakat eines jungen Mädchens las: „Make our earth cool again!“ Dazu helfe uns Gott.

 

Amen.

von Oberkirchenrat Christoph Seele, Beauftragter der ev. Landeskirchen beim Freistaat Sachsen


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Liebe Gemeinde,

es entspricht einer guten und hilfreichen Ordnung, dass für jeden Sonntag Abschnitte der Bibel für den Gottesdienst verbindlich vorgegeben sind. Die Texte richten sich dabei ganz nach dem inhaltlichen Anliegen des jeweiligen Sonntags aus.

Ich erkläre uns das deswegen, weil uns heute am Sonntag Okuli ein Wort für die Predigt vorgegeben ist – das Sie als Zuhörerinnen und Zuhörer ohne diesen Hinweise irritieren mag. Die bisherigen Textordnungen sahen in der Passionszeit selbst bislang keine Abschnitte aus der Passionsgeschichte Jesu vor. Seit wenigen Jahren ist das geändert. Die einzelnen Stationen der Passionsgeschichte sind auf fünf Sonntage in der Passionszeit verteilt. So mag es Sie also nicht verwundern, wenn wir heute als Wort für die Predigt folgenden Abschnitt aus der Passionsgeschichte des Evangelisten Lukas hören:

„Als Jesus aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen.
Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?
Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?
Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab.
Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter!
Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.
Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen?
Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt.
Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“

Der Herr segne an uns sein Wort, Amen.

 

Liebe Gemeinde,

ist sie nicht einerseits wunderschön – unsere Erde? Diese Schönheit wird uns gerade hier in der Frauenkirche regelrecht vor Augen geführt. Schön – und doch irgendwie verletzlich zugleich?! Zum Greifen nahe – und doch nicht greifbar! Unmittelbar im Blick und doch unserer Verfügbarkeit entzogen?!

Wenn sich da nicht andererseits das Wissen um die Wirklichkeit auf dieser Erde beimengen würde. Dann, wenn wir gewissermaßen die Meta-Ebene als Betrachterinnen und Betrachter verlassen und eintauchen in die Atmosphäre und landen auf dem oft harten Boden der Wirklichkeit. Was von außen betrachtet so wunderbar aussieht, weiß doch im Hier und Jetzt um viele Verletzlichkeiten. Schon, weil es menschlich zugeht? Weil an vielen Orten aus mancher dieser Menschlichkeit eine Un-Menschlichkeit erwächst.
Unmenschlich ist es, wenn Gewalt und Kriege unermessliches Leid schaffen.
Weltweit werden gerade an 18 Orten Kriege geführt. Nicht irgendwo und weit weg von uns. In erlebbarer Nähe ist ein Angriffskrieg auf ein souveränes Land ausgebrochen, der uns beschäftigt und bewegt. Das damit unermessliche Leid an Zerstörungen, Hass und Gewalt und in der Folge Vertreibung und Flucht reicht bis in unser Land, bis in unsere Stadt. Menschen suchen Schutz und Raum in unseren Lebensräumen.
Unmenschlich ist es auch, wenn aller fünf Sekunden ein Kind unter 15 Jahren auf dieser Welt stirbt. Dabei handelt es sich um Todesfälle, die oft vermeidbar wären.
Unmenschlich ist es, wenn Hunger und Durst Menschen aus ihrer Heimat vertreiben und sie zur Flucht zwingt.
Und schließlich: Die Unmenschlichkeit hat in unserem eigenen Land ihre eigenen Orte: dort wo Kinder missbraucht, wo Frauen vergewaltigt, wo Menschen durch Gewaltverbrechen getötet werden, wie vorgestern erst wieder in Hamburg.

Überall dort, wo sich solche Unmenschlichkeit zum Ausdruck bringt, wird die Schönheit dieser Erde in Frage gestellt. Wir erleben die Wirklichkeit wie eine Dunkelheit. Sie umgibt uns dann und nimmt uns oft gefangen.
Denn das ist die Macht der Dunkelheit oder der Finsternis, wenn wir Menschen Dinge, die uns lieb und wert sind, gegen uns selbst einsetzen. Wenn wir uns selbst unser Miteinander zerstören.
Und die Macht der Finsternis beginnt oft im Kleinen. Ja geradezu im Alltäglichen, wie wir gehört haben: Jemand will zurückschlagen. Jemand will sich mit Gewalt durchsetzen. Wir haben sogar unter den Jüngern noch die Frage gehört, ob diese Gewalt im Sinne Gottes, im Sinne Jesu sei. Doch es wird gar nicht erst eine Antwort abgewartet. Die Frage wird weggewischt. Es wird einfach zugeschlagen, ohne Gott doch mit im Spiel zu lassen. Der Verrat des Judas – zugegeben gegen alle Regeln unter den Menschen – wird mit der rohen Gewalt eines Schwertes beantwortet. Gott wird gar nicht erst Raum gelassen.
Wenn wir Menschen Gott nicht in unsere Gedanken hineinlassen, hat die Macht der Finsternis ein leichtes Spiel.

Dabei kann ich die Jünger gut verstehen; jedenfalls in dieser Situation:
Der Bedrohung entgegentreten, schneller sein, als der andere; scharf, schneidend wie ein Schwert den oder die andere verletzen, sie oder ihn fertig machen. Präventiv den Erstschlag ausführen, sonst hast du gar keine Chance…

Es liegt auf der Hand, dass wir diese Situation nur zu deutlich auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine hören. Auch dieser Angriffskrieg ist Ausdruck solch finsterer Macht. Hier zieht aber der Angreifer das Schwert, startet Raketen und zwingt die Angegriffenen zur Gegenwehr. Wir müssen schmerzlich erleben, dass es ohne Gegenwehr nicht geht. Die Folgen wären vermutlich verheerender, als der Einsatz militärischer Mittel der Verteidigung. Dass dabei täglich hunderte Soldatinnen und Soldaten auf beiden Seiten der Fronten ihr Leben lassen, klagen wir Gott ohnmächtig. Den wirklich Verantwortlichen Militärs möchten wir ins Gewissen reden – am besten mit dem Ruf Jesu: „Lasst ab. Nicht weiter.“
Oder um es mit den Worten auf den Punkt zu bringen, mit denen wir in unserem eigenen Land eine friedliche Geschichte schreiben durften: „Keine Gewalt!“

 

Liebe Gemeinde,

die Lage im Garten von Gethsemane war zweifellos dramatisch. Wir hören von Heimtücke und Verrat, von Gewalt und Verletzungen, von Ungerechtigkeit und Demütigung. Christus nennt sie selbst die Mächte der Finsternis. Und doch erfahren wir auch Bilder, die diesen Mächten der Finsternis entgegenstehen – Gegenbilder.

Ein Erstes:

Jesus sieht Judas und durchschaut sein Vorhaben.
Die Nähe die Judas sucht entlarvt er als Heuchlerei. Er demaskiert alle Heimtücke und allen beabsichtigten Verrat. Und auch den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels führt er ihr wirkliches Wollen und Tun vor Augen. Das bedeutet: Jesus durchschaut die Maskerade. Er schaut in das Herz derer, die gegen ihn antreten, die gegen ihn sind. Dieser Blick benennt ganz klar die wirklichen Ziele und Absichten. Wir können und wir brauchen Gott nichts vormachen. Gott sieht uns an – das will aber auch bedeuten, dass er unsere wirklichen Absichten durchschaut. Er schaut aber darüber hinaus und in unser Herz. Das muss uns keine Angst machen. Das will und kann befreien. Wir brauchen Gott nichts vormachen.

Ein zweites Bild:

Jesus behält die Macht über die Gewalt.
Er löscht die Folgen menschlicher Gewalt sogar aus. Jesus kann die Gewalt eines seiner Freunde nicht verhindern. Er dreht aber die Gewaltspirale zumindest von der Auseinandersetzung mit Schwertern auf das Miteinander reden zurück. Er durchbricht die Spirale von Gewalt und Gegengewalt. Dort, wo es in unser Ermessen gestellt ist, sind wir aufgefordert, das zu leben: Kein Wie du mir, so ich dir! Keine Vergeltung, die aus kleinen Pannen riesigen Streit erwachsen lassen kann. Jesus untersagt denen, die um ihn sind nachdrücklich, Gewalt für ihn, den Menschensohn, den Sohn Gottes anzuwenden.
Im Namen Gottes darf keine Gewalt eingesetzt werden.
Im Namen Gottes dürfen keine Kriege geführt werden.

Und schließlich ein drittes Bild:

Jesus lässt sich gefangen nehmen. Er lässt sich auf den Weg des Leidens ein. Er weiß darum, dass Gott ihn auch in dieser Situation letztendlich nicht verlassen wird. Seine Nähe ist jetzt für ihn nicht offenbar. Und die Jünger meinen, Jesus in Schutz nehmen zu müssen. Er aber weiß, dass er unter Gottes Schutz steht. Gott geht mit ihm den Weg durch Gefangenschaft, Leid und Tod. Er weicht dieser Macht der Finsternis nicht aus. Letztendlich wird sein Weg es zeigen, dass nicht die Gefangennahme und alle Gewalt, nicht das noch folgende Leid, nicht einmal der Tod das letzte Wort haben wird, sondern die Kraft seiner Auferstehung.
Dieser Blick nach vorn ist es, der uns zeigt, dass die Hoffnung eben nicht stirbt – nicht einmal zuletzt!

 

Liebe Gemeinde,

diese Gegenbilder wollen allesamt Bilder der Hoffnung gegen die Dunkelheiten des Lebens sein.
Sie gelten auch uns heute in unserem Hier und Jetzt. Im Angesicht der vielen Herausforderungen, um die auch unser Leben weiß, dürfen wir uns von Gott angesehen wissen. Gott lässt uns in keinem Augenblick unseres Lebens allein. Gott ist auch dort mit und bei uns, wo wir heute den dunklen Machenschaften des Lebens ausgesetzt sind. Wir brauchen diesen aber nicht die Macht zu überlassen. Wir können ihnen Bilder der Hoffnung entgegensetzen:

Und Gott gebe es, dass eines Tages die Schönheit dieser Welt wieder ihren wirklichen Ausdruck finden kann, weil es auf ihr Frieden geworden ist.

Denn der Frieden Gottes, der größer ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus bewahren,
Amen.

 

Eröffnungsgottesdienst für der Instellation GAIA - Achtung Zerbrechlich!

von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Es gibt für die Erde keinen Plan B!“ Oft kann man diese Plakataufschrift bei den Demos von Fridays for future sehen. Ist das Alarmismus, eine apokalyptisch aufgeheizte „neue Klima-Religion“, wie ein beliebter Vorwurf an die Klimademonstranten lautet? Prima vista scheint diese Botschaft in ziemlichen Kontrast zu einer anderen zu stehen. Die haben wir vorhin in der Lesung gehört: „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Das ist das große Versprechen Gottes, in das die allerweltsbekannte Geschichte von der Sintflut mündet. Richtig feierlich klingt das, fast wie eine liturgische Formel. Die Sintflutgeschichte arbeitet sich an der ihren Erzähler bedrängenden Frage ab: Was ist da aus dem Lot geraten, dass der Mensch so destruktiv durch die Geschichte torkelt, und dass Gott offenbar nicht segnet, sondern den Menschen mit Katastrophen bestraft? Jeden Abend gibt es am Ende der Nachrichten den Wetterbericht. Für viele ist das das wichtigste in der Tagesschau, und es wird in Zeiten, wo das Klima immer mehr aus dem Lot gerät, immer wichtiger. Die Sintflutgeschichte präsentiert uns gleichsam Gottes Wetterkunde.

I.

Und sie zeigt uns, wie realistisch und aktuell die Bibel ist. Schon auf den ersten Seiten sagt sie sehr klar, was auch uns klar ist - und was doch von einer erschreckend großen Zahl von Menschen bestritten wird: dass der Klimawandel nicht schicksalhaft über uns gekommen ist, auch nicht - wie manche „Fromme“ glauben - „Gottes Wille“ ist, sondern dass er unabweisbar eine Folge unseres way of life ist, vor allem in der nördlichen Erdhalbkugel. Unseres Lebensstiles - nicht nur von „denen da oben“. Auch wenn wir keinen SUV fahren, wenig Fleisch essen und versuchen, unsere Reiseziele auf dem Erdboden zu erreichen. „Die Krone der Schöpfung: der Mensch, das Schwein“: diesen ätzend scharfen Reim hat sich ein Dichter des letzten Jahrhunderts gemacht. Etwas vornehmer, aber in der Sache ebenso klar, stellt Gott schon in der Sintflutgeschichte dasselbe über unsereinen fest: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an.“

Jedenfalls, diese archaischen Bilder von den Wassern der Sintflut, die sprechen noch heute. Ganz unmittelbar, wenn wir an Inselgruppen im Indischen Ozean, an Pakistan im letzten Jahr oder an Megacitys wie Jakarta denken, die vom ansteigenden Meeresspiegel überspült zu werden drohen. Wir verstehen diese elementare Geschichte aber auch, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht. Wir müssen keine Sintflut erleben, um zu spüren, wie es ist, wenn eine Welt zusammenbricht. Manchmal reicht da schon ein Wort. „Ich liebe dich nicht mehr“ zum Beispiel. Dann ist das Chaos da, dann wird es in uns wüst und leer. Und wir fühlen uns verloren, wie in einer auf den Wassermassen sinnlos hin und her geworfenen Arche. Noah aber, der dies erlebt, verzweifelt nicht, sondern hat den Mut, eine Taube auszusenden. Um herauszufinden, ob es doch noch eine Zukunft gibt, auf die hin zu leben lohnt - oder ob das gilt, was in meiner Jugend in den 1970er Jahren an viele Betonwände gesprüht war: „No future!“ Heute ist dieser desillusionierte Slogan zurückgekehrt: in der Selbstbezeichnung Last Generation. Bertold Brecht hat das Gefühl seiner Zeit so ins Wort gebracht: „Fratze der Glaube, Fratze das Glück: / Leer kommt die Taube Noahs zurück“.

Ja, manchmal können sich auch für Christen Gott und der Glaube unheimlich verfinstern. Aber Gott selbst, liebe Gemeinde, spricht gegen diese Dunkelheit. Bei ihrer zweiten Rückkehr - „am Abend, da es kühle war“ - kommt die Taube mit einem frischen Ölblatt im Schnabel zurück: neues Grün auf der Erde! Man kann sich ausmalen, was da los war in der Arche, der überbordende Jubel: Wir sind noch mal davongekommen! Es gibt wieder Boden unter den Füßen. In dem grünen Blatt wird der Sieg des Lebens über die Todesmächte sichtbar, über das Verwüstende, das in uns Menschen nun einmal drinsteckt. Im Schnabel der Taube kündigt sich ein neuer Anfang an.

II.

Deshalb wäre „Ende gut, alles gut“ die falsche Überschrift über die Sintflutgeschichte. Denn dieser nicht mehr erwartete Schritt, den die Arche-Bewohner auf die wieder trockene Erde tun können, ist kein glückliches Ende einer Naturkatastroph - er ist ein radikaler Anfang. Diese Urerfahrung des totalen Neubeginns, die spiegelt sich in unserer Sprache wider. Wenn uns etwas als total veraltet, hoffnungslos von gestern erscheint, dann reden wir von „vorsintflutlichen Verhältnissen“. Dass Noah wieder Boden unter die Füße kriegt, ist also kein Happy End. Nichts ist mehr so, wie es war! Dazu ist die alte Welt zu gründlich von der Flut weggespült worden.

Noah ahnt das. Deshalb ist das erste, was er nach dem Ausstieg aus der Arche tut, der Bau eines Altars. Auf diesem Altar - übrigens der erste, der in der Bibel vorkommt! - bündeln sich alle Gefühle der Überlebenden in Jubel und Dank für den neu geschenkten Anfang. Noah spürt, dass der neue Boden unter den Füßen keine Belohnung ist für diszipliniertes Ausharren in der Enge der Arche, sondern ein ganz unverdientes Geschenk: Gnade eben. Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens, vom Brudermord Kains bis zu dem Angriffskrieg in Gottes Namen in unserer Zeit, das Gott Grund genug geben würde, diese elend missratene Krone der Schöpfung endgültig wegzuspülen: Das soll doch nicht das letzte Wort behalten. Gott fällt sich selbst in den Arm. Fragen Sie sich das doch mal bei sich selbst, ob Ihnen das auch schon geschenkt war, eine solche Erfahrung der Rettung aus einer persönlichen Sintflut. Vielleicht gäbe das neuen Schwung, weil es uns wieder den Blick dafür öffnet, wofür wir dankbar sein können - und auch wahrzunehmen, dass Gott mit uns noch Neues vorhat.

III.

Freilich, wir kommen in der Jetztzeit um eine Frage nicht herum. „Solange die Erde steht, sollen nicht mehr aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“: Klingt beim Zustand unserer Erde nicht fast schon zynisch? Es wird ja überdeutlich, dass das verlässliche Wechselspiel von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter in Wahrheit durchaus dabei ist aufzuhören. Die Bilder von Kunstschnee inmitten sattgrüner Bergalmen, oder von den Waldbränden vor unserer Haustür im letzten Sommer sprechen ja ihre klare Sprache. Ist dieses Gottesversprechen billiger Trost? Religion als Opium fürs Volk?

Seit gestern hängt sie nun hier, endlich. Lange erwartet, mit riesigem Vorlauf an Vorbereitung: Gaia, die Installation unserer Erde, die der berühmte britische Künstler Luke Jerram - er ist heute hier unter uns - geschaffen hat. Wir konnten computeranimieren, wie das aussehen könnte hier in der Frauenkirche. Aber jetzt ist es nicht mehr digital, sondern real und wirkt noch mal ganz anders. Mutter Erde, so wie sie damals die Astronauten von Mond aus sehen konnten. Ein faszinierendes, für manche vielleicht auch irritierendes Kontrastprogramm zur barocken Prachtsprache der Frauenkirche. Beides, das Faszinierende wie das Irritierende, ist gewollt und auch unvermeidlich.

Die Astronauten waren damals ins All geflogen, um den Mond zu sehen und zu finden. Wie ein unerwartetes Nebenprodukt sahen und fanden sie noch etwas anderes, größeres: die Erde. Sie sahen sie aufgehen, eine kleine blaue Kugel im All. Von weit oben gut zu erkennen, wie jetzt hier mitten in dieser Kirche: Wasser und Land, Nacht und Tag - und keine Grenze nirgendwo. Winzig und ausgeliefert wirkt die Erde, wenn man sie im All betrachtet, ein Lebensschiff in einem Meer von Dunkel und Stille. Jim Lovell, einer der Apollo-Fahrer zum Mond, hat später gesagt: „Als ich vom staubigen Mond aus diesen wunderbar leuchtenden blauen Planeten sah, erfasste mich ein tiefes Glücksgefühl, dass Gott mir Dasein geschenkt hatte auf dieser Erde. Und ich beschloss, für den Rest meines Lebens zu tun, was ich tun konnte, damit dieser Planet bewahrt wird und die Menschen darauf in Frieden leben können.“ Ähnlich haben sich seither viele Weltraumfahrer geäußert. - Ja, manchmal würde man sie am liebsten einfach zum Mond schießen, die Gleichgültigen und Zyniker, die Populisten und Klimaleugner. Damit sie die Erde wiederfinden, die jetzt kippt. Von dort oben erkennt man besser, wie die Permafrostböden in Grönland und Sibirien anfangen zu tauen. Vielleicht würde es helfen, wenn wir alle so auf die Erde schauen. -

Ingeborg Bachmann, unter den deutschsprachigen Dichter*innen des letzten Jahrhunderts vielleicht die sensibelste und genaueste, hat sich darauf einmal diesen Reim gemacht:

Nach dieser Sintflut

möchte ich die Taube

und nichts als die Taube,

noch einmal gerettet sehn.

 

Ich ginge ja unter in diesem Meer!

Flög sie nicht aus

brächte sie nicht

in letzter Stunde das Blatt.

 

Amen.

 

Einführungsworte im Rahmen des Ökumenischen Friedensgebets am ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine

von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen.

„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.
Ich gebe euch nicht das, was die Welt euch gibt.
Aber euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“
(Joh 14,27)

Dieser Satz Jesu aus dem Johannesevangelium trifft sehr in den heutigen Abend. Er trifft unsere ganz ambivalenten Gedanken und Empfindungen. Da ist das Versprechen, dass Jesus die, die sich an ihm ausrichten, nicht allein lässt, dass er ihnen seinen Frieden gibt: einen Frieden, der weiter reicht und höher ist als unsere menschliche Weisheit. Das gibt Trost, und hält unsere Hoffnung auf bessere, friedlichere Zeiten am Leben. Und da ist die sehr nüchterne Aussage, dass die Welt, so wie sie ist, keinen Frieden gibt. Wissen konnten wir das eigentlich schon lange. Aber seit einem Jahr, seit brutale Gewalt und Rechtlosigkeit, seit Krieg und Tod sich in unserer Nähe, mitten in Europa breit gemacht haben, ist es uns ganz neu und beklemmend bewusst geworden.

Genau vor einem Jahr um dieselbe Zeit kamen viele Menschen hier auch zum Gebet für den Frieden zusammen. Keiner konnte sich damals vorstellen, dass der Krieg, der heute vor einem Jahr durch Putins Überfall auf das Nachbarland und Brudervolk ein Jahr währen würde. Heute empfinden viele beides: Verzweiflung über nicht enden wollende Gewalt, Bösartigkeit, Rechtlosigkeit - und doch auch das kleine Senfkorn Hoffnung, das sich aus der Durchhaltekraft, dem Mut eines Volkes speist, dessen Menschen durch diesen unverschuldeten Krieg erst wirklich zu einem Volk geworden sind. Unsere Solidarität gilt unverändert und in aller Klarheit den leidenden und kämpfenden Menschen in der Ukraine. Dass dazu, neben allen humanitären Hilfen, auch die Lieferung von Waffen gehört und dass dies auch vom christlichen Glauben her ethisch verantwortbar sein kann: das lernen wir in der Kirche seit einem Jahr mühsam neu zu buchstabieren. Ohne Waffen aus anderen Ländern gäbe es jetzt keine Ukraine mehr. Aber, auch das gehört zur Ehrlichkeit an diesem Tag: einen gerechten, belastbaren Frieden werden Waffen nicht schaffen.

Der dritte Generalsekretär den UN, der Burmese U Thant, ein gläubiger Buddhist, wurde einmal gefragt, wie er die Christen erlebt habe, mit denen er in seinem Amt zu tun hatte. Er gab die Antwort: „Christen geben weniger schnell auf, sie haben einen so langen Atem.“ Es gäbe dieses Gotteshaus und seine Botschaft des Friedens nicht, wenn Frieden und Versöhnung zwischen solchen, die erbitterte Feinde waren, nur eine weltfremde Utopie geblieben wären. Aber sie sind möglich geworden. Das ist ein Wunder, für das man nur danken kann. Diese Kirche erzählt davon. Möge der Friede, den Christus uns zu geben verspricht, uns immer wieder neu munter und resilient gegen alle Resignation machen, damit wir nicht verzweifeln und aufgeben.

Die Durchhaltekraft gibt uns nicht zuletzt das Gebet. Beten ist keine Weltflucht. Im Gegenteil. Wir laufen nicht vor einer schwierigen Welt davon, wenn wir beten, sondern wir bringen sie mit offenen Augen vor Gott. Ihm vertrauen wir uns und unsere Welt an, wenn wir beten. Darum ist das Beten immer ein politischer Akt. Hände falten ist das Gegenteil von Die-Hände-in-den-Schoß-Legen.

Lasst uns heute Abend diese zerrissene Welt ins Gebet nehmen - für einen Frieden, in dem gequälte Menschen befreit aufatmen können und erste Schritte in eine neue Zukunft möglich werden. Vielen Dank allen, die heute Abend mitwirken. Und vielen Dank Ihnen, die Sie jetzt hier sind. Gemeinschaft im Gebet tut immer gut.

Erst durch Jesus sehen wir die Dinge richtig

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Wie schön!“, sagt die Braut, „wo kommt das nochmal her, mit Glaube, Hoffnung, Liebe? Irgendwie kennt man da ja. Ist uns jedenfalls gleich eingefallen, wir mussten gar nicht mehr nach einem Trauspruch googeln. Das wollen wir auf jeden Fall nehmen!“ - Ein immer wiederkehrendes Stück aus dem Pfarreralltag. Der Sitz im Leben dieses großen Liebesgedichts mitten in der Bibel ist in meinem Beruf das Traugespräch. Mehr als ein Drittel der Paare, die ich in der Frauenkirche traue, wählen sich ihren Trauspruch aus diesem Hohelied der Liebe des Apostel Paulus. Wie das in den Traugesprächen häufig so ist: erst einmal geht es ausführlich um das Styling des Ablaufs der Zeremonie. Aber irgendwann wird es ernst. Ich frage: „Wie haben Sie sich denn kennengelernt?“ Es ist berührend, das Lächeln der beiden zu beobachten. Erst einmal ein bisschen Schweigen. Dann - Achtung, Klischee! - sagt meistens die Frau erstmal was. Oder der Mann schickt schnell voraus: „Erzähl du, du kannst das besser!“ Dann weicht peu à peu die Verlegenheit und die beiden erzählen die Geschichte ihrer Liebe. Ich bin nur dabei. Nicht immer, aber immer wieder wird aus dem anfangs etwas dahin plätschernden Traugespräch ein dichter, intensiver Austausch.

I.

Und es kann auch tieftraurig enden. „Liebe ist stark wie der Tod“. Das Hohelied wollten sie gleich zweimal hören bei ihrem Traugottesdienst, das von Paulus, aber auch das so anders angelegte Hohelied aus dem Alten Testament. Sie kannten sich erst wenige Monate; mein vorsichtiger Versuch, darüber zu sprechen, drang gar nicht zu ihnen durch. Die Hochzeit war dann ein Fest wie im Rausch. Kein halbes Jahr danach saß er wieder bei mir. Allein und verlassen. Alles wie gelähmt. Wo eben noch alles möglich schien, ging jetzt gar nichts mehr. Dabei wollte er einen langen Weg mit ihr gehen.

Nicht nur diese traurige Erfahrung erinnert mich an meine erste Predigt über diesen Text. Vor 32 Jahren war das, ich war damals Vikar. Tage danach kam der Brief einer Frau, die im Gottesdienst gewesen war. Er enthielt eine ausführliche Kritik meiner Predigt und gipfelte in dem Satz, den ich nicht vergessen habe: „Mit genau diesen Vorstellungen habe ich damals meine Ehe begonnen. Und was ist daraus geworden? Ich finde, über diesen Text darf gar nicht gepredigt werden. Er bedeutet eine totale Überforderung.“ Ich habe mich danach über den ziemlich hohen Ton, den ich in meiner Predigt angestimmt hatte, geschämt. Denn wenn man das Hohelied in das einträgt, wie wir die Liebe oft erfahren, dann hatte jene Frau ja Recht. „Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, hofft alles, duldet alles“, findet Paulus. Im Blick auf unsere Liebeserfahrungen ist das ein ungedeckter Scheck! Wer kann das schon von sich und seiner Liebe sagen? Unsere Liebe erträgt, glaubt, hofft und duldet nicht nur nicht alles, sondern manchmal herzlich wenig.

Worauf will nun Paulus hier hinaus, wenn er von der Liebe redet? Wenn man dieses wunderschöne Gedicht für sich nimmt, bleibt einem das verschlossen. Man muss dafür den ganzen 1. Korintherbrief in den Blick nehmen. Wir wissen alle: Wo es um die Liebe geht, geht es oft auch um Beziehungsstörungen. Um belastete, gestörte Beziehungen geht es Paulus auch in dem, was er in zwei langen Briefen an die Christen in Korinth schreibt. Geistlich arm war diese Gemeinde weiß Gott nicht. Heute würden sich viele in ihrer Sehnsucht nach lebendigen Gemeinden, die den Menschen Heimat geben und ihnen etwas bieten, nach einer solchen Gemeinde die Finger lecken. In Korinth, da war Leben drin. Von „U-Boot-Christen“, die nur an Heiligabend in der Kirche auftauchen, keine Spur. Es war eine bunte Gemengelage von Gruppen, die sich gegenseitig überboten an kreativen Experimenten christlichen Lebens. Und vor allem, wie das in superlebendigen Gemeinden manchmal so ist: die jeweils eigene Frömmigkeit wurde so absolut gesetzt, dass man anderen Gruppen den Glauben absprach. Darüber drohte die junge Gemeinde in Korinth auseinanderzubrechen.

Ihr wäret eine tolle Gemeinde - scheint Paulus hier den Korinthern sagen zu wollen - wenn ihr dieses eine hättet, ohne das alle Geistesgaben, alle Phantasie, aller nimmermüder Aktivismus am Ende nichts sind: die Liebe. „Wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte keine Liebe, so wäre ich nichts“. Darin liegt übrigens hohe seelsorgliche Weisheit. Denn Paulus stellt die geistlichen Überflieger in Korinth nicht an den Pranger, sondern er versetzt sich eher in sie hinein, indem er in der Ich-Form redet. Ich übertrage das mal auf mein Dasein: Wenn ich tausende theologischer Bücher gelesen hätte, ein brillanter Prediger, kluger Seelsorger und tollmitreißender Pädagoge wäre, und ein taffer Manager noch dazu - und würde in all dem keine Liebe für die real existierenden Menschen mit ihrer Art, aber eben auch ihren Unarten ausstrahlen: dann wäre ich gar nichts, dann hätte ich meinen Beruf verfehlt.

Läuft also alles auf das Motto hinaus: Es kommt nur auf die Liebe an? „All you need is love“? Das klingt immer schön - solange es Theorie bleibt. Aber auch hier gilt der einfache und einfach wahre Lehrsatz eines bekannten Fußballehrers: „Grau ist alle Theorie. Entscheidend is‘ aufm Platz!“ Und da entscheidet es sich auch in Sachen der Liebe. Dass es auch in den Partnerschaften oft noch auf ganz andere Dinge ankommt, ist eine Binsenwahrheit. Irgendwann mal kommt die Liebe dann nicht mehr gegen die Dinge an, auf die es sonst noch ankommt.

II.

Paulus aber würde sagen: Alles richtig, was Ihr da einwendet gegen die Überforderung der Liebe. Und trotzdem ist es so: Die Liebe ist die kritische Instanz für alles andere. Denn die Liebe bleibt nie bei sich selbst, sondern ist immer unterwegs, hin zu einem anderen. Sie holt mich aus der Versponnenheit heraus, aus der incurvatio in me ipsum dem Eingekrümmtsein in mich selbst, wie Luther anschaulich den Menschen unter der Sünde beschrieben hat. Die Liebe treibt mich von mir selbst weg und zum anderen hin, und damit in die heillose Welt hinaus. Sie geht dazwischen, wenn ich in Versuchung gerate, mir mit meinen Begabungen selbst zu genügen, sie zur Selbstdarstellung einzusetzen. Sie verwehrt es mir, mich gegen andere, Andersdenkende abzuschotten, indem ich mich nur unter Gleichgesinnten bewege. Alles, was mir Gott gegeben hat, ist nichts, wenn die Liebe fehlt. - Was aber, wenn die Liebe nicht fehlt? Wenn sie da ist, wenn unsere sozialen, musischen, handwerklichen, denkerischen Begabungen durch die Liebe mobilisiert werden? Paulus gibt uns hier eine Antwort. In lauter kurzen, einfachen Sätzen, die sich aneinanderreihen wie Perlen einer Kette, meditiert der Apostel, was die Liebe tut und was sie lässt. Im Griechischen stehen hier 15 Verben.

Zum Beispiel: Die Liebe betreibt keine Gefühlsduselei, heißt es da, sondern sie ist die Energie, die uns bewegt, nicht länger uns selbst zu leben, sondern mit und für andere. Paulus redet hier von der Liebe wie von einer Person: „Die Liebe ist langmütig“, so fängt es an. Sie hat also einen langen Atem. Sie wird nie einfach fertig mit einem Menschen und sortiert ihn in eine Schublade ein. Sie stempelt niemanden zum erledigten Fall, sondern sieht jeden so an, dass von ihm noch etwas zu erwarten ist. Sie kann zuhören, abwarten, geduldig etwas reifen lassen. Sie gibt bei Enttäuschungen nicht auf, weil die Neugier auf den anderen, auf noch Unbekanntes an ihm am Ende immer noch größer ist.

„Die Liebe eifert nicht“, schreibt Paulus dann auch. Das scheint mir für unsere Zeit besonders wichtig. Liebe wird nicht fanatisch und auch nicht ausschließlich. Sie kennt nicht nur schwarz-weiß, sondern die vielen Grautöne dazwischen. Sie gießt in angespannten Momenten nicht noch mehr Öl ins Feuer. Sie lässt Emotionen zu, aber ihnen keinen freien Lauf. Sie kann verhindern, dass über strittigen Fragen wie die Corona-Maßnahmen oder der Waffenhilfe für die Ukraine durch Familien so tiefe Risse gehen, dass man aufhört, miteinander zu reden. Und sie macht es möglich, dass ein Pastor, der als solcher mit seiner Familie in der DDR Repression und Ausgrenzung erlitten hatte, in den aufgewühlten Wendezeiten denjenigen, der das alles zu verantworten hatte, in sein Pfarrhaus aufnahm, um ihn wenigstens vor dem nackten Volkszorn zu schützen. Vor einigen Monaten lief im Fernsehen ein bewegender Film über diese Geschichte von Pastor Uwe Holmer und den Eheleuten Honecker.

Also noch einmal: Ja, auf die Liebe kommt es an, auf nichts sonst! Aber: Es kommt deshalb auf die Liebe an, weil es auf den ankommt, der bei uns ankommen will - Jesus Christus. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass Paulus hier von der Liebe redet wie von einer Person. Paulus tritt hier nicht als Liebesbarde auf, sondern er zeichnet ein Porträt Jesu. Und wie es einem wirklich großen Künstler gelingt, ein Porträt so zu malen, dass die porträtierte Person sich erst dem zweiten, hintergründigen Blick erschließt, so gestaltet auch Paulus sein Porträt so, dass sein Gegenstand nicht gleich offen zutage liegt. Weder das Wort ‚Gott’ noch das Wort ‚Christus’ kommen im Hohelied vor. Aber Paulus könnte diesen Hymnus nicht schreiben, wenn er nicht von der Erfahrung der voraussetzungslosen Liebe herkäme, der er vor Damaskus ins Gesicht geschaut und die ihn buchstäblich umgehauen und seine Existenz vom Kopf auf die Füße gestellt hat.

Wenn wir uns auf diese Spur locken lassen, dann bekommen die Aussagen dieses Textes, die für unserer Erfahrung so überfordernd sind, einen ganz neuen Klang. Die Liebe „erträgt, glaubt, hofft, duldet alles“ - nein, das kann von keinem Menschen gesagt werden, und wenn er noch so hingebungsvoll liebt. Auch von Paulus nicht, der ja in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern auch ganz schön rechthaberisch sein konnte. Von Gott aber kann das alles so gesagt werden. In leichter Abwandlung eines anderen bekannten Paulusworts könnten wir die Summe dieses Textes auch so ziehen: „So liebe denn nicht mehr ich, sondern Jesus Christus liebt in mir“ (cf. Gal 2,20).

III.

Liebe Gemeinde,

nur darum kann er sich zu der steilen Aussage aufschwingen: „Die Liebe hört niemals auf“. Unsere Erkenntnisse, unsere Begabungen, unser Lebensglück, ja selbst Himmel und Erde werden einmal vergehen. Aber die Liebe bleibt. Das Einzige, was unsere Zeit mit Gottes Ewigkeit verbindet. Damit ist endgültig offenbar, dass die Liebe, wie Paulus sie hier meint, nicht unser Vermögen ist. Wir Menschen haben allenfalls Liebe; sie ist ein Teil von uns, neben anderen, dunkleren Teilen, die wir auch in uns tragen. Auch in der besten Partnerschaft erfahren wir irgendwann verstörend, dass da plötzlich eine unheimliche Fremdheit aufbrechen kann, die sich nicht einfach durch guten Willen beseitigen lässt. Wir können dem geliebten Anderen niemals so nahekommen, wie der sich selber nahe ist. Jeder, der liebt, weiß das. Das vermag nur Gott. Weil er allein nicht nur Liebe hat, sondern selber die Liebe ist (1. Joh 4). Er gibt nicht nur etwas preis von sich, wie wir in unserer Liebe, sondern er gibt sich selbst, ganz und gar.

So ist das also mit der Liebe: Wenn einer Ehebrecherin der Prozess gemacht werden soll und die Steine zu fliegen drohen, dann geht sie dazwischen und ruft: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Und wenn man dieser Liebe ins Gesicht spuckt, dann trägt sie das Böse nicht nach, dann schreit sie nicht: „Herr, gib‘s ihnen!“, sondern dann bittet sie: „Herr, vergib ihnen!“ Diese Liebe weidet sich nicht am Unrecht anderer, sondern freut sich mit, wenn unter den Menschen die Wahrheit aufblitzt, und sei es bei einer heidnischen Ausländerin, die penetrant für ihren kranken Sohn bittet, oder bei einem römischen Hauptmann, dem das Leid seines Knechtes zu Herzen geht. Alles erträgt diese Liebe, alles hofft sie, alles glaubt und duldet sie, so dass sie Hohn und Spott des Mainstreams auf sich zieht. Mit Essig und Galle wird sie getränkt, und wehrt sich nicht, weil sie weiß, dass ihr am Ende der Sieg gehört, dass dieser Sieg aber allen zugute kommt - auch denen, die sie mit Füßen treten. - Lesen Sie zuhause dieses Hohelied noch einmal in Ruhe, und ersetzen Sie Wort „Liebe“ immer durch das Wort „Christus“. Dann lesen Sie diesen großartigen Text richtig. Und so könnte man dieses Hohelied gewissermaßen in drei Abschnitte gliedern und sie mit den Überschriften versehen: Ohne Jesus ist alles nichtig – Mit Jesus wird alles wichtig – Erst durch Jesus sehen wir die Dinge richtig.

Die vor wenigen Monaten 99jährig verstorbene Dichterin Eva Zeller hat das Hohelied übertragen, mit eindrucksvollem sprachlichen Gespür dafür, worum es hier wirklich geht:

Wenn ich
das Schweigen brechen könnte
und mit Menschen-
und mit Engelszungen reden
und hätte der Liebe nicht
so würde ich leeres Stroh dreschen
und viel Lärm machen um nichts.

Und wenn ich wüsste
was auf uns zukommt
und könnte alle Situationen
im Simulator durchspielen
und den Winkel errechnen
unter dem ich
umkehren könnte
und ließe mich nicht einfangen
vom Schwerefeld der Liebe
so schösse ich
übers Ziel hinaus
und alle Reserven
nützten mir nichts

Und wenn ich
bei dem Versuch zu überleben
mein Damaskus hätte
und fände mich selbst
über alle Zweifel erhaben
auf dem Pulverfaß sitzend
wie in Abrahams Schoß
und hätte die Liebe nicht
als eiserne Ration hinübergerettet
so fiele ich
auf meinen bergeversetzenden
Glauben herein

Und wenn ich
alle meine Habe
den Armen gäbe
dass meine linke Hand nicht wüsste
was die rechte tut
und ginge nicht zur Tagesordnung über
sondern wäre der Spielverderber
und die lebende Fackel
und erklärte mich nicht
solidarisch mit der Liebe
so hätte ich im Ernstfall
Steine statt Brot
und Essigschwämme
für den Durst des Menschen

Die Liebe ist lächerlich
Sie reitet auf einem Esel
über ausgebreitete Kleider
Man soll sie hochleben lassen
mit Dornen krönen
und kurzen Prozess mit ihr machen

Sie sucht um Asyl nach
in den Mündungen unserer Gewehre
Eine Klagesache von Weltruf
Immer noch schwebt das Verfahren

Sie stellt sich nicht ungebärdig
sondern quer zur
Routine der Macht

Die Behauptung
sie ließe sich nicht erbittern
hat sie im Selbstversuch
eindrücklich bestätigt

Sie ballt nicht die Faust
sie steigt nicht herab
sie hilft sich nicht selbst
sie dient als Kugelfang
Sie freut sich nicht
über die Ungerechtigkeit
sie ergreift Partei
für die Ausgebeuteten

Daher ist es lebensgefährlich
sich mit ihr einzulassen
Sie könnte nämlich
Bewusstsein bilden
und den Lauf der Dinge
durchkreuzen
Also üben wir ihre Vermeidung
Tuchfühlung nur
mit ihrem ungenähten Rock
dem durch und durch gewirkten
um den wir würfeln
bis zum dreimal krähenden Morgen

Nun aber bleiben
Glaube Liebe Hoffnung
diese drei
Aber die Liebe
ist das schwächste
Glied in der Kette
Die Stelle an welcher
der Teufelskreis bricht


Amen.

Wir sind mehr als unsere (Un)Taten

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

--

Liebe Gemeinde!

„Dieses Evangelium erscheint so leicht, dass jeder meint, er versteht es gleich, wenn er es nur gehört hat“ - schreibt Martin Luther zu diesem Text. Aber er sagt dann auch: „Freilich, wenn man jemand fragte, zu wem er sich zähle, so würde er wohl antworten: Zu den Kranken und Sündern und den Gesellen des Matthäus. Denn, wo Christus ist, da wollen wir alle sein. Und vermessen uns immerzu guter Dinge von uns. Zu den Pharisäern will niemand gehören, zumal die Gerechten und Weisen nicht, wiewohl sie mitten unter ihnen sind.“

I.

Lassen wir uns also ein bisschen durch Martin Luther warnen beim Blick auf den scheinbar so plausiblen Bericht über die Berufung des Zöllners Matthäus. „Die Zöllner“ in den Evangelien gelten uns ja seit seligen Kindergottesdienstzeiten als die „Bösen“. „Zöllner und Sünder“: das gilt fast als Synonym, und dieses Begriffspaar aus unserem Text ist nicht zufällig fast sprichwörtlich geworden. Aber Achtung - so einfach ist es nicht. Der Zöllnerberuf damals war kennzeichnend für eine Entwicklung, die wir heute Outsourcing nennen. Zugrunde lag eine Entbürokratisierung im römischen Verwaltungswesen. Zöllner nahmen für die öffentliche Hand die Aufgabe wahr, den Zoll einzutreiben - ohne selbst Teil der römischen Finanzverwaltung zu sein. Zöllner, das war ein Sammelbegriff für lokale Steuerpächter. Als eine Art Subunternehmer zahlten sie dem Staat eine feste Summe im Jahr und erwarben damit das Recht, in einem bestimmten Bezirk Zölle zu erheben. Wenn sie weniger eintrieben, als sie an den Staat abführen mussten, war das ihr Risiko. Nahmen sie mehr ein, war es ihr Gewinn, über den sie niemand Rechenschaft abgeben mussten. Zwar war die Höhe der Zölle für Einfuhr und Ausfuhr grundsätzlich festgelegt. Aber für die Gewinnspanne des zuständigen Zöllners blieb doch einiger Spielraum - wenn er clever und geschäftstüchtig war. So ist das beim Outsourcing: ein hartes Geschäft, aber es birgt Gewinnpotential.

Man kann sich leicht vorstellen, wie es in jener Zeit der römischen Besatzung in Palästina um das Prestige von Zöllnern stand. Ein Zöllner war damals nicht nur ähnlich unpopulär wie das Finanzamt heute. Er galt geradezu als vaterlandsloser Geselle, als Kollaborateur der Besatzungsmacht. Und noch mehr: die Zöllner galten auch als Helfershelfer der Heiden. Denn der ungenierte Umgang mit denen an der Grenze war ein dauernder Verstoß gegen die jüdischen Gesetzesvorschriften. Mit einem Wort: ein Zöllner galt damals zumindest den frommen und zugleich national empfindenden Israeliten als persona non grata, als ein unmöglicher Mensch.

Dass Jesus einen von dieser Sorte in sein engstes Umfeld holt, muss auf Außenstehende mehr als irritierend wirken. Insofern ist die Frage der Pharisäer: „Warum isst euer Meister mit Zöllnern und Sündern?“ sehr verständlich. Nicht diese Frage ist provokant, sondern Jesus provoziert mit seinem Verhalten. Es gibt, das hat Luther richtig gesehen, keinen Grund, uns über die Pharisäer zu erheben. Die Scheu, sich mit denen gemein zu machen, die warum auch immer an die Ränder, oder richtig nach unten geraten sind, sitzt tief in jedem von uns.

„Die Starken bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken“. Mit diesem einfachen, unmittelbar einleuchtenden Bild antwortet Jesus auf den gesunden Menschenverstand, der bei den Pharisäern und mit ihnen auch bei uns ihr Befremden auslöst. Wenn es stimmt, dieses Bild, dann ist es auf jeden Fall aus mit unserer Selbstgerechtigkeit, mit der wir uns um das erste und schönste Menschenrecht bringen: unser Leben in ungehinderter Gemeinschaft mit Gott zu leben. Der Selbstgerechte braucht Gott nicht - allenfalls missbraucht er ihn zur Bestätigung der eigenen Rechtschaffenheit. Und dazu braucht er ja immer einen, an dem er sich messen und sich dann beruhigt sagen kann: Wie gut, dass ich nicht so bin! Es ist doch ganz in Ordnung, wie ich lebe. Sage keiner, er sei frei davon! Jeder von uns hat da seine Vergleichspersonen in der Hinterhand. Wie sehr das Vergleichen und die daraus erwachsende Selbstgerechtigkeit Gemeinschaft kaputt machen kann, nicht nur im privaten Bereich, sondern auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen, ja ganzen Völkern, sogar auch in christlichen Gemeinden: das wissen wir alle.

Unser Text, liebe Gemeinde, zeigt uns einen Weg, wie wir aus diesem Teufelskreis des Vergleichens herauskommen. Jesus zeigt uns hier nämlich, was geschieht, wenn man nicht auf Ämter und Funktionen schaut, sondern auf Menschen. Nicht um den „Typ Zöllner“, oder den Typ Sünder, Armer oder Kranker geht es ihm, sondern um den konkreten Menschen mit Namen Matthäus. Wir legen es gerne darauf an, dass die Menschen dem Bild ähneln, das wir uns von ihnen machen. Jesus schaut den Menschen an. Damit löst er etwas aus. Matthäus steht auf und folgt ihm nach.

II.

Sternstunden der Menschheit - das sind nicht nur die großen Ereignisse, die in den Geschichtsbüchern stehen. Sternstunden der Menschheit sind solche Begegnungen wie hier. Die Evangelien sind voll von solchen Sternstunden. Jesus zeigt, was wir eigentlich brauchen. Nämlich sein unbedingtes, ungeteiltes Erbarmen. Das macht nämlich das unmöglich Erscheinende möglich: der abgebrühte Geldeintreiber pfeift auf die Einnahmen und lässt sein altes Leben hinter sich. Das ist ein Wunder. Dass Jesus sich ihm zuwendet, hat nichts mit seinem Beruf oder einer Lebensleistung zu tun, sondern allein mit dem Leuchten von Gottes Barmherzigkeit. Darauf kann man nur mit Paulus antworten: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“.

Heute hat der Beruf des Zöllners mit den damaligen Verhältnissen nichts mehr zu tun. Die Aufgabe ist nicht outgesourct, an den innereuropäischen Grenzen ist dieser Beruf weithin zur brotlosen Kunst geworden. Aber die Erfahrung, auf Gottes Gnade angewiesen zu sein, beschränkt sich nicht auf den Typus Zöllner. Sie ist uns allen gemeinsam. Wir empfangen unser Leben als Gottes Geschenk. Seinen Sinn bekommt es nicht durch angestrengte Suche, sondern allein durch Gottes Barmherzigkeit, dadurch dass er uns ins Leben gerufen hat. Müssten wir selbst für den Sinn unseres Lebens geradestehen - das wäre nicht zum Aufatmen, sondern zum Verzweifeln. Es ist eben nicht ein bestimmter Typus Mensch, der umkehren muss. Wir würden alle auf die Seite der herablassenden Pharisäer rücken, wenn wir so dächten. Aber es ist anders. Jede und jeder von uns bleibt gewissermaßen sein erstes Missionsfeld. Hier wächst das Unkraut unter dem Weizen. Wir sind nicht entweder Sünder oder Gerechter. Wir sind, wie Luther gesagt hat, immer beides zugleich. Und wir bleiben ein Leben lang auf Menschen angewiesen, die uns daraufhin anschauen, dass wir Gottes geliebte Geschöpfe sind und die mit unseren Schwächen barmherzig umgehen.

Wir meinen ja oft, wir könnten selbst unserem Leben Erfüllung und Sinn geben. Wir wollen an der eigenen Biografie ablesen, wie gelungen unsere Existenz ist. Wir stellen uns gerne als solche dar, denen ganz vieles gelingt. Oder - eine besonders protestantische Versuchung! - wir können vom Jammern gar nicht genug bekommen. So oder so sind wir uns selbst genug. Wenn andere uns trotzdem auffallen, dann am ehesten, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen. Wieso bekommt der denn staatliche Unterstützung? Warum bekommt der denn mehr als ich? In solchen Vorwürfen sind wir uns selbst genug - eben weil wir nicht mit Gottes Barmherzigkeit rechnen. Dass Jesus uns anschauen könnte, kommt uns nicht in den Sinn. Wir müssen nicht an den Tisch des Herrn geladen werden. Wir sind doch keine Zöllner oder Sünder - wir doch nicht!

Das Evangelium benutzen wir dann nur als Mittel der Unterhaltung und der Zerstreuung. Hauptsache, wir sind auf der richtigen Seite. Dort das Unkraut, hier der Weizen, dort die großen Sünder, die Pharisäer und Schriftgelehrten, hier wir selbst. Auf dieser Landkarte können wir dann auch noch Jesus selbst seinen Platz anweisen. Für Werte ist er eingetreten, sagen wir gerne, für Werte, an die v.a. die anderen sich halten sollen. So schaffen wir uns eine prima Ausgangsposition. Kurt Marti, der Schweizer Dichterpfarrer, hat das einmal ironisch, aber treffend so beschrieben: „Trefflich sorgt / hierorts die Kirche / für einige Nebenbedürfnisse des Mittelstands. / Gefragt sind / ein Hauch heiler Welt mit Dias und Filmen bei Kuchen und Tee. / Ist dafür / einer / einst aufgehängt / worden?“

III.

Wie kann das, was uns dieser Text sagen will, konkret werden? Dazu eine für mich eindrucksvolle Erinnerung. Sie zeigt mir, dass Kirche mehr ist als „Dias und Filme bei Kuchen und Tee“. Es ist die Geschichte vom Bischof und der Terroristin. Sie ist fast 50 Jahre her. 1974 machte der große Berliner Bischof Kurt Scharf einen Besuch bei der in einem Berliner Gefängnis einsitzenden Ulrike Meinhof, dem Kopf der damals sog. „Baader-Meinhof-Bande“. Die Berliner Kirche geriet dadurch in eine schwere Zerreißprobe. „Handgranaten unter dem Talar“ betitelte der damalige „Bild“-Chefredakteur einen heftigen Kommentar. Ähnlich war es übrigens zwei Jahre später, als Ulrike Meinhof sich umgebracht hatte und der Theologe Helmut Gollwitzer sie kirchlich bestattete. „Das geht doch zu weit“ - lauteten damals noch die mildesten Stimmen. Kurt Scharf, der die Gabe besaß, geistliche Wahrheiten in einfache, eindringliche Worte zu fassen, antwortete auf seine Kritiker mit einem schlichten Satz: „Als Pastor und Bischof einer Kirche, die sich auf Jesus Christus gründet, habe ich getan, wozu uns der Umgang Jesu mit den Sündern verpflichtet“. Unbefangener, entwaffnender, mit einem Wort: christlicher hätte er den Angriffen nicht begegnen können. Anders gesagt: Hätte er die Gefangenen nicht besucht, hätte er sein Ordinationsversprechen nicht ernst genommen.

Die Starken bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken“. Jesus meint damit doch wohl mehr noch als den Zöllner Matthäus all die, die sich darüber empören, dass er sich mit so einem gemein macht. Wer wollte bestreiten, dass es sich auch bei denen, die vor 50 Jahren meinten, ein demokratisches Gemeinwesen kaputtmachen zu müssen, um Kranke gehandelt hat? Der kranke Mensch ist für die Jesus letztlich immer der von Gott getrennte, sich unaufhörlich mit seinen Taten und Untaten identifizierende und darüber definierende Mensch. Also der, den die Bibel Sünder nennt. Also der, der wir alle mehr oder weniger sind. Die einen nur offensichtlicher als die anderen.

Liebe Schwestern und Brüder, der Glaube an den, der die Sünder angenommen hat, steht und fällt damit, dass auch wir anfangen, einander als solche anzusehen, die vor all dem, was wir tun und worin wir versagen, zuerst und zuletzt sind: nämlich von Gott geschaffene, von ihm geliebte und eben dadurch mit einer unverlierbaren Würde ausgestattete Personen. Diese Würde kann weder dem Zöllner durch sein Finanzgebaren streitig gemacht werden, noch der Terroristin durch ihr Bombenlegen, noch dem Bischof durch eine Hetzkampagne. Leben ist mehr, als was wir daraus machen. Unsere Würde ist durch niemanden antastbar. Deshalb sagte Jesus in unserer Geschichte: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“. Deshalb besuchen Christen bis heute nicht nur Kranke, Alte und Einsame, sondern auch Menschen im Gefängnis, die von anderen mit ihren Untaten identifiziert und so zu Un-Menschen gestempelt werden. Das ist ins gelebte Rechtfertigungsbotschaft.

Es ist wichtig, dass Nachbarn, Freunde und Kollegen an uns sehen: Christen halten sich nicht für bessere Menschen. Unsere Lebensgewissheit stammt aus Gottes Erbarmen. Das verändert unser Leben. Wenn man uns Christen abspürt, dass uns das froh macht, dann kann sich das Wunder an der Zollschranke auch heute wiederholen. Wenn wir auf unseren Mitmenschen zugehen und uns seiner annehmen, kann sich für ihn ereignen, was Matthäus erlebt hat. Er begegnet Jesus Christus. Ein Matthäustag ist möglich mitten unter uns - 1974 in Berlin, heute und hier in Dresden.

 

Amen.

Gipfel taugen nicht zur Ebene

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

--

Liebe Gemeinde!

Der Evangelist Matthäus ist ein richtiger Bergfex. Auf einem Berg lässt er Jesus den Versucher endgültig abschmettern. Auf einem Berg lässt er Jesus seine welt-bewegende Predigt halten über das Miteinander in seiner Nachfolge. Auf einem Berg hinterlässt der Auferstandene am Ende des Evangeliums den zurückbleibenden Jüngern sein irdisches Vermächtnis. Und hier also auch ein Berg, auf dem drei Jesus besonders nahe Jünger eine Erfahrung machen, die ihr Bild von ihm, ihre Beziehung zu ihm grundlegend verändern und vertiefen wird. Aber der Reihe nach.

I.

„Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes und führte sie allein auf einen hohen Berg.“ Wer gerne im Gebirge unterwegs ist, weiß, wie unvergleichlich schön und erhebend es ist, nach einem mühsamen Aufstieg endlich den Gipfel zu erreichen. Während der letzten 200 Höhenmeter, unter sengender Sonne, ringt man manchmal mit dem inneren Schweinehund, der einem einflüstert, dass die Kraft nicht reicht, dass es unterhalb des Gipfels doch auch schon schön ist. Aber wenn man ihn besiegt und es nach ganz oben geschafft hat, dann ist das alles schnell vergessen. Jetzt gibt es einen Gefühlscocktail von seltener Intensität, der mich vom Staunen über die Wunder der Schöpfung bis hin zum unendlich befriedigenden Spüren der körperlichen Erschöpfung viele Aggregatzustände erfahren lässt. War ich vorher ganz auf mich und meinen Körper fixiert, so geht der Blick jetzt weg von mir, ganz nach außen. Das ist im elementaren Sinn etwas Ekstatisches, denn Ekstase heißt wörtlich: aus sich selbst heraustreten. Ein sonst ungekanntes Gefühl innerer Klarheit und Überlegenheit kommt auf und man empfindet eine eigentümliche Form von Glück und Erhabenheit. Ob wir nun die Berge ersteigen oder sie lieber von unten ansehen: wir brauchen solche Gipfelerfahrungen. Momente, wo uns ist, als fügte sich auf einmal all das Diffuse und Unübersichtliche, die Halbwahrheiten, in denen wir drinstecken, zu einem wunderbar klaren Ganzen, das uns endlich den ersehnten Durchblick schenkt.

Liebe Gemeinde, es muss ein solches Gipfelerlebnis gewesen sein, in einer noch einmal gesteigerten Intensität, das den drei handverlesenen Jüngern zuteil wurde, die mit Jesus diesen Berg erklimmen durften. Der Hinweis zu Beginn auf die sechs Tage, die sie gewartet hatten, bevor es losgeht, deutet schon darauf hin, dass es um eine Erfahrung geht, die alles andere als alltäglich ist. Die drei Jünger haben bis dahin ihren Bergführer ja schon ganz gut kennengelernt. Vieles haben sie mit ihm erlebt. Gerade erst hat Jesus - Matthäus berichtet es wenige Verse vor diesem Text - ihnen zum ersten Mal angedeutet, dass sein Weg nicht der des Triumphes, kein Weg nach oben sein, sondern gerade umgekehrt verlaufen wird. Dorthin, wo Leid, Einsamkeit und Tod warten. Die Jünger, allen voran der selbsternannte Klassensprecher Petrus, wollen das nicht hören, verwahren sich vehement dagegen. Zu nahe und lieb ist ihnen Jesus inzwischen geworden, als dass sie die Vorstellung seines Scheiterns ertragen könnten. Freilich: wer dieser Mensch eigentlich ist, das haben sie bei aller Faszination noch nicht begriffen. Ist er ein unkonventioneller jüdischer Frommer? Ist er ein großer Rabbi, theologischer Lehrmeister, wie er nur alle 100 Jahre mal auftaucht? Ist er ein Wiedergänger der großen Propheten? Oder etwa ein Befreiungskämpfer?

II.

Da geschieht es: „Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“. Was passiert da? Es wäre vordergründig und würde nicht weiterhelfen, das hier berichtete Geschehen irgendwie historisch-wissenschaftlich verstehen zu wollen. So wie etwa ein Neutestamentler von Beobachtungen berichtet, wonach Menschen im schneebedeckten Gebirge des Hermon wie mit einer Lichtaura umgeben gesehen worden sind. Oder andere, die sich das Ganze einfach mit einem Gewitter erklären. Aber solche „Deutungen“ gehen an dem vorbei, was für den Evangelisten Matthäus die Wahrheit dieses Textes ist. Warum sollte denn ausgeschlossen sein, dass die drei Jünger für ein kurze Zeit wirklich so etwas wie eine visionäre, die reine Leiblichkeit Jesu übersteigende Sicht von ihm bekommen haben? Die Grenze zwischen Wahrnehmen und Vorstellen ist manchmal sehr fließend. Große Kunst entsteht ja immer dadurch, dass ihre Schöpfer die vor Augen liegende Wirklichkeit transzendieren und den Blick „dahinter“ richten können. Aus dem äußeren Sehen erwächst bei ihnen ein inneres.

Mir macht es jedenfalls kein Problem, so etwas auch bei Petrus, Jakobus und Johannes anzunehmen. Mit einem Mal wird ihnen ein inneres Schauen, der tiefere Blick geschenkt, und an dem Jesus, den sie vor sich haben wie sonst auch alle Tage, wird ihnen plötzlich offenbar, was sonst in sein schlichtes Menschsein eingehüllt ist. Es passiert hier eigentlich genau das, was der Apostel Paulus in einem großartigen Satz so ausdrückt: „Gott hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, damit durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ (2. Kor 4,6). Eine solche Erleuchtung, die wir nicht machen können, sondern die ganz von außen über uns, in uns kommt. Nämlich: In dem Menschen Jesus, den wir zunächst nur als unseresgleichen erkannten, verbirgt - zeigt sich jetzt: Gott selbst.

III.

Vor einem Monat ist Joseph Ratzinger gestorben. In seinem dreibändigen Jesusbuch, das er als Benedikt XVI. vorlegte, hat er auf die Frage, was denn Jesus denn eigentlich Neues gebracht habe, was nicht andere „große“ Menschen auch bewirkt hätten, die einfache, klare Antwort gegeben: „Er hat der Welt Gott gebracht.“ Da steckt das ganze Geheimnis der Menschwerdung drin. Es ist eine sehr protestantische Tendenz - sie ist schon in Martin Luthers Theologie angelegt und ist, mit vielen Verflachungen, bis heute weitergegangen -, die Grundaussage von Weihnachten „Gott wird Mensch“ ganz stark auf das Menschliche hin zu betonen. Also: Gott wird Mensch! Deshalb berührt uns Weihnachten so viel mehr als Ostern. Dass aber Gott Mensch wird, diesen anderen Akzent von Weihnachten lassen wir eher links liegen. Damit aber entgeht uns Entscheidendes. Denn so sehr Jesus einer von uns ist, dem nichts Menschliches fremd ist, ist er doch zugleich auch der ganz andere. Der eine, der ganz auf Gottes Seite gehört, der unter der vollen Zustimmung des Vaters redet und handelt. „Gott von Gott, Licht von Licht, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater“, wie es im ältesten Glaubensbekenntnis in Sprache gefasst ist.

Matthäus drückt dasselbe erzählerisch aus, indem er hier dieselben Worte wieder auftauchen lässt, die schon bei seinem Bericht von der Jesustaufe am Jordan entscheidend waren: „Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ Nein, die drei haben kein fantastisches Wetterleuchten gesehen. Was ihnen da so überirdisch geleuchtet hat, war eben dieses Sohn-Sein ihres Meisters, die in seinem Menschsein geheimnisvoll verborgene, aber es ganz durchdringende göttliche Wesensart. Gott kann sich jedes Menschen vielfältigst bedienen, er kann viele Zeug*innen haben. Aber dieser Mensch Jesus ist der eine, in dem er selbst ganz und gar da ist. Das Christusbekenntnis, das Petrus im Kapitel vorher abgelegt hatte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16): hier auf dem Berg wird es von oben bestätigt. Und seither wird es sich immer wieder an Menschen als gültig und tragfähig erweisen, die sich, indem sie Jesus vor sich sehen oder in sich hören, in einer für sie überwältigenden Weise vor Gott selbst gestellt sehen. Darum geht es in diesem fremdartigen Text.

IV.

Und nun passiert mit den von ihrer Schau und der dadurch ausgelösten neuen Gewissheit völlig überwältigten Jüngern genau das, was zu einem grandiosen Gipfelerlebnis immer dazugehört. Man will so lange wie möglich oben bleiben, den Weg nach unten hinauszögern, wie es nur geht. Wir kennen das von Himalaya-Bergsteigern: manche von ihnen hat gerade dies das Leben gekostet. All das schwingt in dieser Geschichte mit. „Petrus aber sprach: „Herr, hier ist gut sein, hier lass uns Hütten bauen!“ Würde das Ganze im Hier und Jetzt spielen, Petrus würde garantiert mit seinem Smartphone seinen Followern auf Insta im Livestream berichten. Die sprechende Wolke, der überirdisch leuchtende Jesus - was für ein Spektakel! Und ich würde mein Handy wahrscheinlich auch zücken, wenn mir so etwas widerführe.

„Herr, hier ist gut sein, hier lass uns Hütten bauen!“ Die ruhelose Sehnsucht, die Goethes Faust antreibt, steckt da drin. Das verzweifelte Bemühen, den so lang ersehnten Augenblick, der mir endlich schenkt, wonach ich immer wieder gesucht habe, das Einssein mit mir und meiner Mitwelt, das nicht mehr loszulassen: „Verweile doch, du bist so schön“… Das ist zutiefst menschlich. Wer möchte in einer Welt, die so überkomplex und undurchsichtig geworden ist, nicht das ganz große Glück festhalten?

V.

Aber wie bei seiner Weigerung, Jesus und das Leiden zusammenzubringen, wird Petrus auch jetzt von seinem Herrn zurechtgstutzt - ohne Worte. „Als sie aber ihre Augen wieder aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.“ Petrus, Jakobus und Johannes sehen Jesus wieder mit ihren natürlichen Augen. So wie sie ihn immer gekannt hatten. Und dann geht es wieder abwärts. Aber Gipfel sind nun einmal Spitzen, keine Ebenen. Darum eignen sie sich nicht zum Hüttenbauen. Und so machen die Jünger nach der ekstatischen Erfahrung auch die andere: Gott lässt sich nicht einfach genießen. Eine ernüchternde Erkenntnis, aber eine heilsame. Die Mühen der Ebene bleiben auch dem, der die umwerfendsten Erfahrungen machen darf, nicht erspart. Keine überbordende Verliebtheit, die sich nicht irgendwann in die Mühen der Partnerschaft wandelt, mit ihren unvermeidlichen Wüstenzeiten, in denen sich zeigt, ob aus Verliebtheit Liebe geworden ist. Kein Freiheitsrausch wie unser deutscher vor 33 Jahren, der nicht früher oder später der ernüchternden Erkenntnis weicht, dass Freiheit und Zusammenhalt in vielen kleinen, mühsamen Schritten erarbeitet werden müssen. So ist es in der noch nicht erlösten Welt.

Und so ist es auch mit unserem Glauben. Er kann sich immer nur in dieser Welt entfalten und nie frei machen von den Stürmen, die uns in ihr anspringen. Der Weg Jesu nach Jerusalem lag nicht vor dem Aufstieg auf den Berg. Er kommt erst noch. Auch er wird auf einen Berg führen - aber nicht auf den des Lichts, sondern der Finsternis, den Kalvarienberg. Aber die Gipfelerfahrung wird sich dadurch nicht zu nichts zerstreuen. Sie wird mit den Jüngern und uns allen mitgehen - um sich gerade dann zu bewähren, wenn wir durchmüssen durchs finstere Tal.

 

Amen.

 

Glauben geht nur unverschämt       

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Ich habe mir oft vorgenommen, zu euch zu kommen“ - stellt Paulus am Anfang dieses Predigtabschnitts fest. Ein Eingeständnis also, dass er einen lang gehegten Vorsatz bisher nicht hat umsetzen können. Von Kleinasien aus gesehen, wo Paulus zunächst gewirkt hat, ist Rom eine gefühlte Weltreise weit weg. Und die Gemeinde der Christen dort ist, anders als etwa in den griechischen Städten Philippi und Korinth, nicht vom Paulus selbst gegründet worden. Alles, was er über sie weiß, hat er durch Hörensagen, vielleicht auch durch gelegentliche Briefe erfahren. Verständlich, dass es ihn treibt, endlich mal selbst dort aufzuschlagen. Rom als Metropole eines Weltreiches war damals die Welthauptstadt, wie heute New York. Da spielte die Musik, da wurden die Mega-Trends zuerst sichtbar, da musste man gewesen sein. Weshalb auch die christliche Gemeinde in Rom, so klein sie auch war, nicht irgendeine Gemeinde war. Da zog es Paulus natürlich hin. Das musste sein Selbstanspruch als Völkerapostel sein, der das Evangelium von Jesus Christus zu den Heiden bringen wollte, der auch als erster den Schritt von Kleinasien nach Griechenland getan, das Evangelium nach Europa gebracht hatte. Und so sollte die Gemeinde im Weltforum Rom auf Paulus durch ihn selbst aus der Ferne sachlich vorbereitet werden, in Form eines langen Briefes. Daraus wurde der Römerbrief, der mehrfach umwälzende Geschichte gemacht hat.

I.

Aber wie gesagt, so einfach war es für ihn wohl nicht, die große Reise umzusetzen. „Ich habe mir oft vorgenommen, zu euch zu kommen“. Man merkt hier, dass Paulus die Gemeinde in Rom noch nicht kennt. Der Jahreswechsel liegt drei Wochen zurück. Manches, was uns im Rückblick auf das alte Jahr beschäftigt hat, arbeitet vielleicht noch in uns. Bei mir gehört zum Wechsel von einem alten in ein neues Jahr oft die manchmal belastende Erkenntnis, was ich anderen schuldig geblieben bin an Vorsätzen der Zuwendung, des Hinhörens, der mir für sie (nicht) genommenen Zeit. Sie wurden einsamer darüber und nehmen diese Erfahrung mit ins neue Jahr. Im Pfarrberuf ist das eine häufige Selbsterfahrung. Aber sicherlich nicht nur da. Die Grenzen, die Bruchstückhaftigkeit unseres Lebens zeigen sich nicht zuletzt im Verpassen von Gelegenheiten, sich zu begegnen.

Seit bald einem Jahr kommt es in ganz Deutschland wie in Europa in vielen Bereichen, so auch in ganz vielen Kirchengemeinden zu neuen Begegnungen. Menschen aus der Ukraine kommen auf ihrer Flucht vor dem mörderischen Krieg hier an. Es sind oft erschütternde, aber auch bewegende Begegnungen, für die sich viele sehr schnell geöffnet haben. Ähnlich wie im berühmten „Herbst 2015“, ja mehr noch als damals eine Welle an Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Beratung, Begleitung, und nicht zuletzt zahllose Transporte mit Hilfsgütern in die Ukraine. Bis in die staatliche Bürokratie hinein geht diese Bewegung: Schnell wurde für die Ukraine-Flüchtlinge bei uns ein guter und sicherer Status geschaffen. - Zugleich verharren Flüchtlinge aus ferneren, islamischen Ländern vielfach in einem ungewisseren Status, mit weniger Leistungen und schlechterem Zugang zum Arbeitsmarkt. Weite und Enge, offene Türen für die einen und der jahrelang gehütete Spaltbreit für die anderen liegen dicht beieinander. Das Schicksal der Menschen in der Ukraine und die Fähigkeit zur Empathie mit ihnen liegen uns einfach näher, eben weil die Ukraine uns nicht nur geografisch näher ist.

Aber einfach ist es mit der Weite sowieso nicht. War es auch nie. Auch Paulus hat in seinem Brief an die noch unbekannte, ferne römische Gemeinde keinen persönlichen, empathischen Ton. Sein Wording im Römerbrief, der eher wie ein theologischer Traktat klingt, ist ganz anders als in den sehr persönlich angelegten Briefen etwa an die Christen in Korinth, die er eben gut kennt. Zwar ist es der Herzschlag seiner Theologie und seiner Briefe, dass das Evangelium von Jesus Christus, wie er es vor Damaskus buchstäblich überwältigend kennengelernt hat, Grenzen überschreitet. Grenzen seiner früheren Glaubensgemeinschaft, Grenzen von Ländern, Grenzen von Weltanschauungen. Diese Dynamik packt Paulus, bringt ihn in jeder Hinsicht in Bewegung. Aber er spricht im Römerbrief verhalten, fast etwas akademisch davon, weil er im Schwung dieser Bewegung nicht bei allen offene Türen erlebt hat. Er hat auch ernüchternde Erfahrungen gemacht mit der Macht der Enge, des Ausschließenden, der Zugehörigkeit zu einem Volk, das ein exklusives Verhältnis zu seinem Gott pflegt. Dass ein existentieller Glaube für alle gelten, dass da, wie Paulus im Galaterbrief formuliert, gelten soll: „Hier ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus“ (Gal 3,28) - das geht vielen zu weit. Identität, das Sichern der Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit der eigenen Gruppe ist nicht erst heute ein großes Thema. Paulus hat jedenfalls mehr als einmal erfahren müssen: Die Bewegung des Evangeliums in die Weite sowohl im räumlichen wie erst recht im ideellen Sinn - kann auch auf sehr unsicheres Terrain führen. Das Evangelium kann auch als schwaches Wort erscheinen, wo man sich fragt, ob sich sein Überbringer dafür schämt. Offensichtlich war Paulus mit solchen Resonanzen konfrontiert. Sonst würde er sich wohl kaum zu der - eigentlich doch selbstverständlichen - Aussage genötigt sehen: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“

II.

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die alle selig macht, die glauben. Die Juden zuerst und ebenso die Griechen.“ Paulus ist hier bei seinem Lebensthema. Und fängt dabei nicht mit Gott, sondern mit sich an. Eine der wenigen Stellen im abstrakt-gelehrten Römerbrief, wo Paulus so persönlich von sich redet. Woher kommt das? Hat er an sich gearbeitet? Hat er angefangen, sich nicht mehr hetzen, bestimmen zu lassen von Aufgaben und Pflichten? Hat er Achtsamkeit für sich gelernt, sich coachen lassen, Therapiestunden besucht? Bei vielen Nöten kann das alles sehr helfen. Aber zu dieser im Wortsinn Un-Verschämtheit verhilft es nicht. „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“: Wieso sind zwei auf offener Straße in innige Küsse versunken? Weil sie sich vor lauter gegenseitigem Fasziniertsein vergessen. Und wir, wir sind, wenn wir so etwas wahrnehmen, nicht peinlich berührt. Eher rührt es uns an, denn eine solche Schamlosigkeit ist ein schöner Ausdruck von Unbefangenheit. Ein unbefangener, innerlich freier Mensch wird man nicht durch Maßnahmen zur Selbstfindung, sondern aus - Selbstvergessenheit. Die kann aber man nicht erlernen, mit keiner Methode. Dazu verhilft mir, und das macht es so schön, immer nur jemand anderer.

Worte, die wir von anderen hören, sind eben nicht, wie der mißmutige Faust meinte, „Schall und Rauch“. Sie können erlösen. Es gibt ja Worte, die ein Abglanz des Wortes sind, das Paulus in die weite Welt getrieben hat. „Ich liebe dich“ ist so ein Wort. Oder: „Gewebeprobe ohne Befund!“ Oder: „Asylstatus anerkannt!“ Wem solche Botschaften gelten, dem verwandeln sie die Welt. Wenn es schon so ist mit glücklichen Menschenworten, um wieviel mehr ist dann das Evangelium, das von viel weiter her kommt, ein Wort, das einen überwältigen kann! Das schenkt uns nämlich, worauf kein Mensch je gefasst sein konnte: Gottes Gerechtigkeit. Ein ganz großes Wort.

Wir, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, wissen doch ganz gut, dass wir, „so wie wir sind“, Gott nicht von ferne gerecht werden können. Wir werden ja noch nicht mal unseren Nächsten gerecht. Dieses nach vielen Seiten zerbrechliche Beziehungsgeflecht macht unser eigentliches Drama aus. Sein Kern ist wohl, dass wir uns selbst nicht gerecht werden. Unsere Angst um ein gelingendes Leben. Unser manchmal zehrendes Verlangen nach Anerkennung, Glücklichsein. „Wer bin ich? Der oder jener? / Vor Menschen ein Heuchler / und vor mir selbst ein wehleidiger Schwächling?“, fragt sich Dietrich Bonhoeffer in der doppelten Dunkelheit der Gefängniszelle und der vergeblichen Suche nach dem eigenen Ich.

III.

Was Paulus nun vor Damaskus, und 1.500 Jahre später Luther im Erfurter Kloster buchstäblich umgehauen hat, ist dies: Gottes Gerechtigkeit spielt völlig anders als das, was uns Gerechtigkeit ist. Gott ist nicht in der Weise „gerecht“, dass er uns danach beurteilt, wie gut oder schlecht wir sind. Das wäre nicht himmlisch, sondern irdisch. Menschliche Gerechtigkeit funktioniert nicht anders als nach dem alten Grundsatz: Suum cuique, jedem das Seine. Da muss einer strikt nach seinen Taten beurteilt werden, ohne jedes Ansehen der Person. Deshalb ist Justitia blind, hat verbundene Augen. Und dann geht es darum, was er seinen Taten entsprechend verdient - nicht um Gnade, das immer Unverdiente. Und, wie gesagt: Von unseren kläglichen, immer bruchstückhaften Taten her verdienen wir bei Gott gar nichts. Allenfalls seine Enttäuschung.

Das hat Martin Luther ja, solange er Gottes Gerechtigkeit so irdisch und menschlich meinte verstehen zu müssen, in der Enge seiner Erfurter Klosterzelle auch seelisch so in die Enge getrieben. Bis er an der Stelle aus unserem Römerbriefabschnitt hängenblieb: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, den es ist eine Kraft Gottes, die gerecht macht alle, die daran glauben…“ Wieder und wieder brütete Luther über dem Sinn dieser Worte, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Die Mühlen des Himmels mahlen ganz anders in Sachen Gerechtigkeit! Gottes Gerechtigkeit besteht darin, dass er uns ganz einfach gerecht spricht. Denken Sie an den früheren US-Präsidenten Clinton und das Amtsenthebungsverfahren, das Ender der 90er Jahre gegen ihn lief. Wenn die Senatoren gesagt hätten: Du bist uns der rechte Präsident, deine Eskapaden hindern uns nicht daran, dies so festzustellen, weil wir dich als Präsidenten wollen - im Sinne weltlicher Gerechtigkeit wäre das ein Skandal gewesen. Aber genau so läuft es bei Gott. Er macht uns heil, ganz und schön: nicht weil wir das, so wie wir sind, verdient hätten, sondern einfach aus eigenem Gusto, aus Liebe. Den Augen der Liebe wird auch das unansehnlichste Du ein schönes Du. „Wenn du mich anblickst, werd‘ ich schön, / schön wie das Riedgras unterm Tau“ - heißt es in einem Gedicht von Gabriela Mistral. Dasselbe theologischer mit Luther gesagt: „Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön wären, sondern die Sünder sind schön, weil sie von Gott geliebt sind“.

IV.

Gott also unterscheidet Dich und mich ein für alle Mal von deinen und meinen Werken. Bei ihm bin und bleibe ich geliebt, komme was will. Diese Würde kann mir keiner nehmen. Nicht einmal ich selbst. „Wer bin ich? Der oder jener? / Vor Menschen ein Heuchler / und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?“ Bonhoeffer kommt schließlich zu der Antwort: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ Da kehrt es wieder, das Lebensthema von Paulus und Luther. Unsere Identität, unseren Lebenssinn finden wir nicht, wenn wir uns selbst auf den Grund gehen. Wir finden sie, weil ein anderer sie uns zuspricht. Jeder von uns ist Gottes geliebtes Blümlein Rühr-mich-nicht-an!

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig, die schön macht alle, die daran glauben“. Eine unerschöpfliche Aussage. Aber vielleicht haben wir jetzt wenigstens eine Ahnung, warum es nicht anders sein kann, als dass wir im Tiefsten nur mit Unverschämtheit an einen Gott glauben können, der selber ein Ausbund an Unverschämtheit ist. „Er schämte sich nicht, sie Brüder und Schwestern zu nennen“, heißt es im Hebräerbrief (2,11). Denn nur wer sich eines anderen nicht schämt, kann für ihn einen Weg gehen, der so endet wie auf Golgatha.

 

Amen.

Du bist ein Gott, der mich sieht

Predigt gehalten im Neujahrsgottesdienst von
Präses Dr. h.c. Annette Kurschus

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I.

Selten, liebe Neujahrsgemeinde, habe ich die Sehnsucht nach Gott und das Leiden, das mit dieser Sehnsucht einhergeht, so intensiv gespürt wie in dem Jahr, das gestern zu Ende ging. Vor einer Woche erst, zu Weihnachten, haben wir gefeiert, dass Gottes Sehnsucht nach den Menschen noch größer ist. So groß, dass Gott für sich selbst das Menschsein erwählt – und zwar in seiner zartesten, verletzlichsten, am stärksten auf Hilfe angewiesenen Form eines kleinen Kindes. Gott nimmt alle menschliche Schwachheit auf sich, um uns nah zu sein. In dieser unbegreiflichen göttlichen Sehnsucht liegt unsere Rettung: Das nehme ich als tiefe Gewissheit mit ins neue Jahr. Und diese tiefe Gewissheit brauche ich nötig! Die vielen schriftlichen Weihnachtsgrüße, die Gespräche in der Familie an den Weihnachtstagen zu Hause, die Telefonate mit Freunden zwischen den Jahren: Sie waren anders als sonst. Erschöpfung klang darin und manche Sorge. Viel Verunsicherung im Blick auf das, was vor uns liegen mag. Bei manchen auch richtige Angst.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“: Dieser Ausruf wird uns im Jahr 2023 als Jahreslosung begleiten. Das klingt, als ob jemand staunt. Und als ob sich in das Staunen etwas wie aufmüpfiger Trotz mischt. Ein trotziges Dennoch gegen alles, was seit fast drei Jahren wie willkürliches, blindes Schicksal pausenlos über uns hereinbricht. „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Es klingt wie ein machtvolles Stoßgebet gegen das ohnmächtige Grundgefühl, das viele aus dem alten ins neue Jahr hinüberschleppen.

II.

Das Stoßgebet kommt aus biblischen Zeiten zu uns, aus dem Mund einer schwangeren Frau namens Hagar. Sie ist auf der Flucht, irrt hoffnungslos in der Wüste umher. Übersetzt man ihren Ausruf ganz wörtlich aus der hebräischen Sprache, so lautet er: „Du bist ein Gott der Erscheinung“, also: „Du bist ein Gott, der sich zeigt.“

Was für ein tiefer und hoffnungsvoller Doppelsinn: Gott, der uns im Blick hat, ist ein Gott, der sich sehen lässt und nicht verborgen bleiben wird!

Wir sind nicht Hagar, nicht diese schwangere Frau auf der Flucht in der Wüste. Doch in wahrlich wüsten Zeiten leben auch wir: bedroht von allerlei Verwüstungen draußen in der Welt und drinnen in der Seele, drangsaliert von wüsten Kriegsherren und wüsten Viren, gefährdet von Wüstenklima, meteorologisch und gesellschaftlich, von Wüstlingen, die in der Demokratie herumtrampeln, Sand in die Augen der Menschen und ins gesellschaftliche Getriebe streuen.
„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“: Ein Stoßgebet aus Wüstenzeiten in wüsten Zeiten. Mehr noch. Dieses Stoßgebet rebelliert gegen faden Fatalismus, gegen das „Da-kann-man-nichts-machen-auf-mich-kommt-es-ja-nicht-an-was-soll-ich-schon-tun“. Das nämlich ist die große Versuchung: sich unsichtbar machen und wegducken. Kleine Kinder halten sich manchmal die Augen zu und rufen: „Such mich!“ Wir lächeln und antworten. „Ich seh‘ dich doch!“. Na klar wissen wir, dass das nicht funktioniert: Du hältst dir die Augen zu, und dadurch wirst du unsichtbar.

Wissen wir´s wirklich? Wenn sich Krise auf Krise türmt, man sich am liebsten die Augen zuhalten möchte und nicht mehr hinschauen mag – dann wird mancher und manche doch wieder zum Kind.
„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“: Diese Gewissheit gibt mir einen anderen Blick, als ich ihn mit meinen eigenen Augen habe. Wenn ich Gottes Augen auf mich gerichtet weiß, dann traue ich mich, meine eigenen Augen weit aufzumachen und wach hinzusehen: ungeschönt, ohne Weichzeichner, und doch zuversichtlich. Ich bin nicht mehr nur Auge in Auge mit der Katastrophe. Mein Horizont weitet sich. Licht bricht ein in meinen elenden Tunnelblick, der schon das nächste Unglück erwartet. Und ich ahne: Gott wird sich sehen lassen.

III.

Die Menschen, die in der Bibel zu Wort kommen, haben übrigens eine faszinierend andere Vorstellung von der Zukunft als wir. Wir sind gewohnt, wie Läufer mit dem Blick nach vorn zu eilen, in die Zukunft hinein, um sie zu gestalten oder zu „meistern“, wie manche sagen. Die Menschen in der Bibel hatten fühlten sich nicht wie Läufer, die das vor ihnen Liegende fest im Blick haben, sondern eher wie beim Rudern, bei dem wir nur das sehen können, was schon hinter uns liegt. Und so, im Rückblick, kommt uns Zukunft anders „vor Augen“: Kein Ablauf von Ereignissen, die sich berechnen lassen und logisch aufeinander folgen. Es gibt ihn nicht, den vorhersehbaren Lauf der Dinge. Wie oft ist Gott in der Vergangenheit in diesen „Lauf“ eingebrochen – und mit ihm das nicht Erwartete, das nicht Geplante.

Das ist ein aufregender Gedanke! Und auch ein tröstlicher. Mir macht er Hoffnung. Und Mut.
Nie ist die Zukunft so gekommen, wie Menschen sie sich ausdachten.
Wir haben so viele blinde Flecken in unseren Zukunftsplanungen. Klar, wir müssen in all den Krisen beharrlich nach Lösungen suchen, und wir müssen auch welche finden. Aber jenseits aller menschlichen Lösungen und weit über sie hinaus können wir mit der unberechenbaren Er-lösung rechnen, die von Gott kommt.
Der Krieg ist zu Ende.
Die Mauer ist gefallen.
Die Katastrophe ist abgewendet.
Der Tyrann ist gestürzt.
Der Krebs ist weg.
Die Liebe erfüllt sich.
Das Kind kommt zur Welt.
Der Gekreuzigte wird auferweckt zu neuem Leben.
Wer hat das gemacht? Gewiss, viele Menschen haben sich gemüht. Aber wäre da nicht Gottes Auge gewesen, das auf uns gerichtet ist und die ungeahnten Möglichkeiten sieht; wäre da nicht die Macht des liebenden göttlichen Blicks gewesen: Es wäre nichts geworden.

IV.

Und auch da, wo Gottes Hilfe und Rettung ausbleiben, ist unser Glaube nicht am Ende. Im Gegenteil: Ausgerechnet in dieser quälenden und notvollen Erfahrung hat er seinen Ursprung und seine Mitte.
Da ist das berühmte Auge Gottes hier in der Frauenkirche. Es wacht über den verzweifelten Jesus in Gethsemane, während seine Jünger schlafen.

Gottes Boten, die Engel, sind da, während Jesus mit seiner Todesangst ringt. Sie tragen das Kreuz – Symbol des christlichen Glaubens – und damit die Botschaft: Da, wo unsere Vernunft sagt: Hier ist kein Gott!, hat Gott seine größte Macht gezeigt. Hat sich selbst in den Tod begeben – um dem Leben zum Sieg zu verhelfen. Zu allen Zeiten sind Christen für ihren Glauben an einen solchen Gott ausgelacht worden. Wir können es nicht begreifen, warum Gott sieht und doch nicht so eingreift, wie wir´s uns wünschen; warum er sich zeigt, und doch so ganz anders als erwartet.
Aber dass Gott sieht - und dass Gott sich zeigen wird: Das ist gewiss.

Solche Gewissheit hilft, dem Schlimmen und Bösen standzuhalten und es zu überwinden. Sie gibt die Kraft, nicht aufzugeben und Rückschläge auszuhalten; den Mut, alles zu tun, was in unseren eigenen Möglichkeiten liegt.
So gewiss will ich in die Tage dieses Jahres 2023 gehen. Und wenn mich die Aussichtslosigkeit überfällt, dann wird dies mein Stoßgebet sein: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“. Ein lichtes Fenster zum Himmel ist offen. Drückende Enge weitet sich. Alles Gute wird möglich. Wir dürfen gespannt sein.

AMEN.

2022

Gottes Liebe: alle Jahre frisch und neu    

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Altjahrsabend: das ist wie das wie das nachdenkliche, etwas melancholische Betrachten einer herunterbrennenden Kerze. In den letzten Stunden des Jahres flackert sie noch einmal auf und wirft einen Schein auf Erlebtes im vergehenden Jahr. Sie lässt mich fragen: wie war dieses Jahr 2022? Und natürlich auch: wie war es für mich, und für die, die ich liebe?

In diese Stimmung hinein gibt uns unser Predigttext eine alles entscheidende Antwort. Wie immer dieses 2022 für uns gewesen ist, was immer 2023 für uns bringen wird, eines ist auf jeden Fall gewiss: Wir haben einen Gott, der für uns ist! – „Ist Gott für uns, wer sollte dann noch gegen uns sein?“: diese rhetorische Frage, mit der Paulus diesen Predigtabschnitt beginnt, klingt wie ein Fanfarenstoß! Hätte Bach diese Aussage vertont, er hätte dazu sicherlich Pauken und Trompeten eingesetzt wie beim Anfang des Weihnachtsoratoriums. Diese Schlussverse aus dem 8. Kapitel sind ein Gipfelpunkt in dem grandiosen Gebirge des Römerbriefs.

I.

Gott ist für uns! Gott ist keine rätselhafte, undurchdringliche „Vorsehung“, die in einem Stellwerk sitzt und den einen Lebenszug gut durchkommen, den anderen schrecklich entgleisen lässt. Von nichts und niemandem gezwungen, hat Gott neben sich noch Anderem Existenz und Freiheit gegönnt: uns Menschen als seinem Bild, bestimmt zur Gemeinschaft mit ihm. Auch wenn dieses Jahr 2023 wie selten eines in der jüngeren Vergangenheit gezeigt hat, wie sehr wir Menschen diese Gemeinschaft bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Gott aber lässt sich davon nicht verzagen, sondern brennt nur in umso tieferem Heimweh nach uns und seiner Welt. „Welt ging verloren, Christ ist geboren!“ In dem Kind in der Krippe, dem größten Geschenk, das wir Menschen bekommen können, verdichtet sich wie in einem Brennglas: Gott ist für uns! „Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“, fragt Paulus hier.

Dass er für mich ist: das ist das Wichtigste, was wir von einem anderen Menschen wissen und sagen können, jedenfalls wenn er uns etwas bedeutet. Am intensivsten, existentiellsten wird das natürlich in der Liebe. Auch in diesem Paulustext ist dies das entscheidende Wort, auf das alles wie auf einen strahlenden Schlussakkord zuläuft. Die Liebe zwischen uns Menschen lebt ja, wenn sie gelingt, immer in einer Balance von Selbsthingabe und Selbstbehauptung. Besonders schön hat das der Dichter Reiner Kunze in Sprache gebracht:

Rudern zwei ein Boot,
der eine kundig der sterne,
der andre kundig der stürme,
wird der eine führn durch die sterne,
wird der andre führn durch die stürme,
und am ende ganz am ende
wird das meer in der erinnerung
blau sein

Glücklich, wem es geschenkt ist, das so von seiner Liebe sagen zu können! Es kann ja auch ganz anders gehen. Unsere Liebe hat Grenzen. Sie kann nicht alles. Wie viele Menschen meinen, sie könnten mit ihrer Liebe die Depressionen, den Alkoholismus oder die Arbeitswut des Partners heilen. Das ist verständlich, aber es übersteigt unser menschliches Maß. Liebe vermag enorm viel - aber eben im Maß des Menschlichen. Und das bleibt immer bruchstückhaft.

Paulus hat nun aber nicht unsere menschliche Liebe vor Augen. Sondern den, der nicht nur, wie wir, Liebe hat - mal mehr, mal weniger -, sondern der selber die Liebe, und nichts als die Liebe ist. Mit einem Glaubensstolz, der uns heute unendlich fern gerückt scheint, buchstabiert Paulus hier, dass Gott ein für alle Mal Ja zu uns gesagt hat, dass er ein Immanuel, ein Gott-für-uns ist. Paulus hat überreich erfahren, was Gottes Liebe ist und bewirken kann. Er kann wahrlich ein Lied davon singen und er hat keine falsche Bescheidenheit, es zu tun. Dieser von Menschen verfolgte, von Krankheit und Ängsten gequälte Apostel könnte von ganz anderen Dingen Lieder singen: von Trübsal und Angst, von Hunger, Gefahr und mörderischem Schwert. Dennoch stimmt er selbstvergessen, fast übermütig ein Werbelied für die Liebe Gottes an. Es wirbt in einer Welt, die damals wie heute voll von Macht, Gewalt, Lieblosigkeit ist, unbeirrt für die Ohnmacht der Liebe Gottes. Sieben eindringliche Worte bringt Paulus hier, um anschaulich zu machen, was die sog. unerlöste Welt ausmacht. Das ablaufende Jahr hat das beklemmend konkret werden lassen.

II.

Am unmittelbarsten gilt das wohl für das Wort Schwert. Es steht für das, was den 24. Februar zu einem tiefen Einschnitt gemacht hat. Mit einem Vorher und Nachher. Nicht zufällig ist Olaf Scholz‘ Wording von der „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres gewählt worden. Das Schwert, die unselige Macht der Waffen scheint wieder den Lauf der großen Politik zu bestimmen. Vermeintliche Gewissheiten, bei uns in der evangelischen Kirche ein in den letzten Jahren dominierender Pazifismus, sind brüchig geworden, haben an Glaubwürdigkeit verloren. Es ist uns wie Schuppen von den Augen gefallen, auf wie dünnem Eis wir unterwegs sind. Mit Paulus‘ Eingangsfrage zu unserem Textabschnitt gesprochen: Was sollen wir hierzu sagen?

Nicht für uns, aber im globalen Süden beklemmend unmittelbar dann das Wort Hunger, das Paulus hier auch nennt. Die Auswirkungen von Putins Krieg auf die weltweiten Lieferketten haben die Bemühungen um ein Zurückdrängen des Hungers v.a. in Afrika um Jahre zurückgeworfen. Bei uns wiederum geraten Menschen aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten in Existenznöte. Ich denke an eine Familie, drei Kinder, die gerade ein Haus gebaut hat. Beide Eltern berufstätig - und doch wissen sie gerade nicht, ob sie das neue Haus halten können, weil die Inflation ihren Finanzierungsplan total durcheinandergeworfen hat.

Oder die Worte Trübsal und Angst aus unserem Text. Für wie viele Menschen ist Corona noch lange nicht Vergangenheit, weil sie an Long-Covid-Schäden leiden, oder weil sie - vor allem junge Leute - von Angststörungen gequält werden aufgrund der langen sozialen Isolationen. Der Krieg hat das dann noch potenziert, so dass mancher sich nur noch vorstellen konnte, seinen Alltag im geschützten Raum einer Psychiatrie zuzubringen.

In all diese Erfahrungen der Gebrochenheit der Welt und unseres Lebens, die Paulus mit den sieben großen Worten zur Sprache bringt, mischt er sich mit seinem Werbelied für Gottes Liebe ein. Denn gerade diese nach allen weltlichen Maßstäben ohnmächtige, ja lächerliche Liebe wird für Paulus am Ende einmal alles zum Besten wenden. Paulus wirbt hier für Gottes Liebe, indem er von dem spricht, der uns diese Liebe greifbar, anschaulich macht: „Jesu Christus ist hier, der gestorben, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.“ Das klingt wie ein feierliches, steiles Bekenntnis. Zugleich sagt Paulus hier etwas sehr Elementares. Wen ich gern habe, den habe ich auch gern bei mir. Und wen ich gern bei mir habe, der darf auch ein wichtiges Wort bei mir mitreden. Christus ist ganz nah bei Gott, „zu seiner Rechten“, wie Paulus schreibt. Er redet mit, wenn Gott „regiert“: zu unseren Gunsten, als unser Anwalt. Er mobilisiert Gottes Liebe, um sie mit vollen Händen an uns auszuteilen.

III.

Aber Vorsicht an der Bahnsteigkante: von Gottes Liebe ist die Rede - nicht von Gottes Macht. Gottes Liebe und seine Allmacht: sie sind zwar nicht voneinander zu trennen, aber sie sind genau zu unterscheiden. Anders als wir will Gott seine Siege durch Liebe erringen, nicht durch Ausübung von Macht. Darum wirbt Gott durch die Ohnmacht des Todes Jesu. Deshalb darf auch die Kirche kein weltlicher Machtfaktor sein, wie wir es verstörend bei der Kirche in Russland sehen. Sie ist nur Kirche Christi, wenn sie ein Faktor der Liebe ist. Deshalb kann die Kirche nicht anders als immer wieder durch offene Herzen und Hände zu bezeugen, dass die Tradition des christlichen Abendlandes nicht bei Ressentiments, Kraftmeierei und Aggressionen zuhause ist.

Paulus‘ Werbelied für Gottes Liebe verspricht keinen weltlichen Erfolg. Keine revolutionären Veränderungen unserer weiß Gott verbesserungsbedürftigen Welt. Es verspricht auch keine Gesundheit an Leib und Seele. Gottes Liebe macht keinen Arzt, keinen Therapeuten überflüssig. Nicht einmal den Tod, auch nicht den gewaltsamen, von ihm ausdrücklich verbotenen Tod kann Gottes Liebe verhindern. Denn mit seiner Allmacht mischt er sich nicht ein in die Machtkämpfe der Welt. Die überlässt er uns. Von Gottes Allmacht, liebe Gemeinde, trennen uns Welten. Wenn wir auf Kraftakte Gottes warten, weil wir all das Leid in dieser Welt nicht mehr aushalten und meinen, Gott müsse da doch dazwischenfahren, dann warten wir umsonst. Denn es ist das Wesen der Liebe, dass sie ohnmächtig ist gegenüber allem, was nicht Liebe ist. Das hat jede/r von uns beim ersten Liebeskummer auf dem Schulhof erfahren. Diese Ohnmacht, die Gewaltlosigkeit der Liebe braucht unsere Welt mehr als alle Macht und Gewalt. Und weil Gott das weiß, mischt er sich mit seiner Macht nicht in den Lauf dieser Welt. Uns hat er seine Erde anvertraut. Es ist unser, nicht Gottes Versagen, das sich in den Geschehnissen spiegelt, die 2022 für viele Menschen zu einem annus horriblis gemacht haben. Martin Luther hat gesagt: „Wir sollen beten, als ob alles Arbeiten nichts nützte. Wir sollen arbeiten, als ob alles Beten nichts nützte.“ Das gilt auch für die Lage in Europas Osten. Wir Menschen müssen es schaffen, dass in der Ukraine einmal wieder die Waffen schweigen. Und neben allen gewaltlosen Mitteln der Hilfe kann zu dieser Friedensarbeit - wir haben es in diesem Jahr vielleicht wieder lernen müssen zu akzeptieren - auch die Lieferung von Waffen gehören.

IV.

Am Ende des Tages aber – so singt Paulus in seinem Lied – werden wir „in dem allen einen herrlichen Sieg erringen durch den, der uns liebt.“ Und deshalb ist Paulus, deshalb ist der Glaube, deshalb bin ich gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Weltmächte, weder die Gegenwart noch die Zukunft, weder Höhen noch Tiefen noch sonst irgendetwas uns von Gottes Liebe trennen können, die in Jesus Christus greifbar und anschaulich da ist. Von Gottes Allmacht, wie gesagt, trennen uns Welten. Von seiner Liebe trennt uns kein Augenblick. Es mag alles gegen mich sprechen. Gottes Liebe spricht für mich. Und anders als unsere menschliche Liebe ist sie unerschöpflich. Zwischen ihn und die Welt, die er aus Liebe ins Dasein gerufen hat, kann nichts endgültig Trennendes treten. Gottes Verliebtheit in diese Welt kommt nicht nur nie ans Ende, sie ist alle Morgen – und alle Jahre! – frisch und neu.

Wie gut, liebe Gemeinde, dass dieser rein weltliche, christlich gesehen belanglose Wechsel eines Kalenderjahres vom anderen Rhythmus des Kirchenjahres umgriffen ist. „Heut schließt er wieder auf die Tür…“: es ist die Tür zu einer Welt, in der „der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein wird“ (Off 21,4). So wird im letzten Bibelbuch beschrieben, was hinter dieser Tür auf uns wartet. Wir können vertrauensvoll den Ausgang unseres Lebensspiels erwarten: weil wir einen Anwalt „zur Rechten Gottes“ haben, der unseren Prozess schon gewonnen hat, noch ehe der begonnen hat. Was immer uns das neue Jahr vielleicht an Niederlagen, Tiefschlägen bescheren mag – am Ende sind wir Gewinner. Wir wissen nicht, was 2023 uns bringen wird. Aber wir wissen, wen es uns bringen wird. Es ist der, der von sich und uns gesagt hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28).


AMEN.

Die PR-Agenten der Weihnacht

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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„Und es waren Hirten in derselben gegen auf dem Felde“. Zwar ist eines der populärsten Bilder, das die Bibel für Gott findet, das eines Hirten. Aber die durch zahllose kitschige Darstellungen beförderte Vorstellung eines romantischen Naturidylls ist fehl am Platz. Als Hirte zu arbeiten war damals ein extrem hartes Brot. Einheimische gaben sich für dieses trostlose Leben unter freiem Himmel selten her. So stellte man als Aufseher für die Schafherden umherziehende Wanderarbeiter ein, die sich in der Fremde ihr Geld verdienten. Eher eine zweifelhafte Corona, wie häufig bei vagabundierenden Leuten. Hartgesotten waren sie und abgebrüht, manche sicher mit so mancher Leiche im Keller. Bezeichnend jedenfalls, dass wir eigentlich nichts über sie wissen. Wir wissen nicht, wie viele da nachts ihre Schafe hüteten vor den Toren von Bethlehem. Kein Hirte wird in der Weihnachtsgeschichte beim Namen genannt. Dabei ist der erste von ihnen, der schließlich den Stall erreicht hat, doch ein Zeuge von welthistorischer Bedeutung, der es wahrlich verdient hätte, mit seinem Namen in die Geschichtsbücher einzugehen!

Wenn ich darüber nachsinne, finde ich es immer wieder erstaunlich und auch ein Zeichen für das Wunderbare, all unser Verstehen Übersteigende dieser Heiligen Nacht, dass diese abgezockten Figuren nicht ihre Ohren nicht auf Durchzug stellen gegenüber dem, was sie da in ihrer Tiefe aus der Höhe zu hören bekommen. Sie lassen sich auf die unglaubliche Mitteilung aus Engelsmund ein. Freilich, und darin sind sie uns Heutigen durchaus nah: ein Stück Skepsis hat den Hirten auch der Engel nicht austreiben können. „Ich glaube nur, was ich sehe“ – dieses Dogma unserer Zeit scheint auch das Motto der Hirten zu sein. Mit eigenen Augen sich überzeugen wollen sie schon, ob da was dran ist. Das wollen wir doch erstmal sehen! Sie machen die Probe aufs Exempel und ziehen los.

Der Engel hat sie dazu nicht aufgefordert. Das kommt aus eigenem Antrieb; ein Sekundeneinfall, der sich wie ein Lauffeuer zwischen ihnen ausbreitet: „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist“! Wer im Ohr hat, wie Bach im Weihnachtsoratorium diesen Ausruf in Töne bringt, in Form einer unruhigen, immer drängender werdenden Chor-Fuge, der hat das so richtig vor sich, was für ein hektisches Gerenne da einsetzt auf dem Feld. Was immer es ist, das die Hirten treibt, bei manchen sicherlich pure Neugier oder Sensationslust: Irgendwie beginnen sie an ihrem Unglauben zu zweifeln und lassen sich auf die Botschaft von der Geburt des Heilands der Welt ein.

Und dann finden sie den Stall mit dem Neugeborenen. Was sie da sehen, ist gar nichts Außergewöhnliches. Ein brüllender Säugling, über ihm die Eltern mit der geburtstypischen Mischung aus Erschöpfung, Glück und Überforderung: das war und ist immer und überall so. Zudem sind die Rahmenbedingungen dieser Geburt ja noch dürftiger als gewöhnlich. Aber für die Hirten ist entscheidend, dass es gerade so ist. „Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“: Gerade diese profane Kläglichkeit von Stall und Futtertrog ist für die Hirten das unwiderlegbare Signal, dass ihnen der Engel nichts vorgemacht hat. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Es ist also kein Opium fürs Hirtenvolk, sondern es ist wahr: Gott ist mitten drin im Alltag der Welt, greifbar und anschaubar.

Und doch ist das alles bis zu diesem entscheidenden Moment erst ein Vorspiel gewesen. Denn die eigentliche, die unverzichtbar wichtige Rolle der Hirten in jener Nacht - die beginnt jetzt erst. „Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war...“: Sie behalten das, was sie gehört und gesehen haben, nicht für sich, als Herrschaftswissen einer elitären Blase. Nein, sie bringen ihr Erlebnis unter die Leute, sie werden zu Lobbyisten des Krippengeschehens. Offenbar waren sie d auch ohne Fernsehen und Internet durchaus erfolgreich. Sonst wären nicht alle Jahre wieder in der Heiligen Nacht die Kirchen so brechend voll.

Fast genauso erstaunlich wie, dass ausgerechnet sie die ersten Zeugen und Ausleger des Weihnachtswunders werden, ist es, dass sie danach keine steile Karriere machen, ihre abgewetzten Feldjacken nicht gegen schicke Designerklamotten eintauschen und von Agenturen unter Vertrag genommen werden. Wäre das alles heute passiert, die Hirten wären vor keiner Einladung zu Lanz und Maischberger sicher gewesen. Stattdessen tauchen sie wieder ins Dunkel der Nacht ein, aus dem sie gekommen waren. Als Menschen aus Fleisch und Blut verlieren sie sich wieder; die Bibel erwähnt sie kein einziges Mal mehr. So teilen sie das Schicksal eines Homer oder Shakespeare, von denen man kaum mehr weiß als dass es sie gegeben hat - aber ihre Spur in Gestalt ihrer Verse bewegt die Welt bis heute. So auch die Spur, die die Hirten durch ihre Kommunikationsarbeit gelegt haben: die hat sich tief und unverlierbar in die Geschichte dieser Welt eingegraben. Sonst stünde nicht noch heute, nach mehr als 2000 Jahren, in der Heiligen Nacht die Welt still.

 

Amen.

 

»Willkommen, süßer Bräutigam!«

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Weihnachten: der große unendliche Gott wird ein kleiner endlicher Mensch. Das ist das denkbar größte, unfasslichste Geheimnis. Unsere gesamte, in diesen Zeiten oft und mit vielen schrägen Tönen beschworene abendländisch-christliche Kultur kommt und lebt aus diesem Geschehen, in dem Himmel und Erde sich nicht nur für einen kurzen, seligen Moment berühren, sondern unauflöslich für alle Zeit miteinander verbinden. Das sprengt alle Möglichkeiten, dieses Wunder mit sprachlichen Mitteln irgendwie zu fassen. Da gilt erst recht: Mehr als Worte sagt ein Lied! So hat Weihnachten wie kein anderes Fest der Christenheit Klänge, Lieder, Kompositionen in unendlicher Fülle hervorgebracht. Und deshalb nehmen wir uns heute am auch besonders viel Zeit und Raum zum Singen - auch mancher Weihnachtslieder, die an Heiligabend und am 1. Christtag kaum gesungen werden, einfach weil sie nicht so populär sind.

I.

Zu diesen gehört auch der eben gesungene Choral „Brich an, du schönes Morgenlicht“. Musikliebhabern ist er wahrscheinlich aus Bachs Weihnachtsoratorium vertraut. Weihnachten, „Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute“! Das heißt: Gott hat unendliches Heimweh nach dieser ihm verloren gegangenen Welt. Heimweh kann nur ein wirklich liebendes Herz empfinden. Gott hat sich in diese Welt hineingeliebt. Sonst gäbe es Weihnachten nicht. In der 2. Strophe von „Brich an, du schönes Morgenlicht“ haben wir gesungen: „Willkommen, süßer Bräutigam, du König aller Ehren!“ Auch hier also, wie vor allem in etlichen Adventsliedern, eine zarte, gefühlige Liebesmetaphorik, um das Kommen Gottes in diese Welt ins Wort zu bringen. Gott wird hier in das Bild des liebenden, aber auch des geliebten Bräutigams gebracht. Biblisch verbinden dieses Bild eher mit dem Ewigkeitssonntag und seinem Evangelium von den klugen und törichten Jungfrauen, die auf den zur Hochzeit kommenden Bräutigam warten. Aber so unweihnachtlich ist das Bild gar nicht, denn es taucht auch in etlichen Arien- und Rezitativtexten in Bachs Weihnachtsoratorium auf.

Dieser Weihnachtschoral will sagen: Das Betrachten der weihnachtlichen Geschichte zieht uns in eine große Liebesgeschichte hinein, in die zwischen Gott mit uns. Wenn Gott hinabsteigt in diese Welt, dann kommt er eben nicht nur als „König aller Königreich“ in seine Schöpfung. Dann will er uns unendlich nahe kommen - wie ein Liebhaber der Geliebten. Ein Liebesstrom beginnt zu fließen und kommt an sein Ziel, wenn - wie es in der 3. Strophe heißt - das Krippenkind die Krippe, „sein“ lässt und in unser „Herz hinein“ eilt. Dort ist der Ort, für den die beherzte Devise gilt: „Komm, komm, ich will beizeiten / dein Lager dir bereiten“. Nicht also, dass Jesus einst zu Bethlehem geboren wurde, ist entscheidend an Weihnachten, sondern dass er in dir, in mir zur Welt kommt. Mit dem berühmten Vers von Johann Scheffler (Angelus Silesius) gesagt: „Wär‘ Christus tausend Mal in Bethlehem geboren, doch nicht in dir / so bliebst du doch verloren.“

II.

Lob, Preis und Dank, Herr Jesu Christ, / sei dir von mir gesungen, / dass du mein Bruder worden bist / und hast die Welt bezwungen”, heißt es in der letzten Strophe. Gott verwandelt sich vom majestätisch, aber unerreichbar über uns thronenden rätselhaften Weltenlenker zu unserem Bruder. Ganz geerdet und auf Augenhöhe. Warum machen wir uns zu Weihnachten so gerne und viele Geschenke? Den meisten ist das nicht mehr bewusst, aber eigentlich ist es sehr einfach: Wir tun das, weil wir alle, ohne Ausnahme, an Weihnachten das größte Geschenk bekommen haben, das sich denken lässt. Wir haben an Weihnachten einen gemeinsamen Bruder bekommen! Vielleicht ist es uns durch die Jahrzehnte doch haften geblieben, wie das war, als unsere Eltern uns das erste Mal gesagt haben: Du bekommst ein Brüderchen, oder ein Schwesterchen! Ich war drei Jahre alt, als meine Eltern mir das gesagt haben. Und das weiß ich bis heute, was für ein aufregendes Glücksgefühl mich durchströmte, als ich diese Botschaft hörte. Nicht mehr das einzige Kind zu sein, nicht mehr allein im Kinderzimmer spielen zu müssen, sondern einen Bruder zu bekommen: das war das Größte!

Genau das kündigt uns Gott an Weihnachten an: Ihr seid nicht mehr allein auf euch selbst gestellt, ihr bekommt einen Bruder! Im Hebräerbrief heißt es von Jesus: „Er schämte sich nicht, sie alle Brüder und Schwestern zu nennen“ (Hebr 2,11). Und der das von uns sagte, ist ja der, von dem Gott gesagt hat: „Das ist mein lieber Sohn, den ich lieb habe“ (Mt 3,17). Du, Jesus, Sohn der Maria, du gehörst zu mir wie keiner sonst. In dir ist - wie bei mir - nichts als Liebe. Liebe, die nie aufhört, und die vor keinem zurückschreckt. Wenn so einer uns seine Brüder und Schwestern nennt, dann sagt er uns doch: Wir haben alle denselben Vater. Ihr und ich, wir sind miteinander Gottes Kinder. Nach ihm genannt, von ihm geliebt.

Dass Jesus, obwohl er das gar nicht nötig hätte, sich nicht zu gut ist, sich zu uns zu stellen, uns seine Geschwister zu nennen: das ist auch ein Wunder von Weihnachten. Und deshalb ist Weihnachten das größte Geschenk aller Zeiten. Anders als wir schenkt Gott uns nicht etwas, sondern nicht weniger als - sich selbst. Indem er in dem Krippenkind selbst zur Welt kommt, teilt er der ganzen Welt mit: Hier bin ich! Ich wollte nicht mehr länger weit weg von Euch über den Wolken sein - ich hatte solche Sehnsucht nach euch, nach der Welt, das ich einer von euch werden wollte. In der Welt sein wie ihr, glücklich und traurig sein, geboren werden und am Ende sterben wie ihr auch! Ein unglaubliches Geschenk.

Also: dass dieser Jesus, der Sohn Gottes, mich und uns alle seine Brüder und Schwestern nennt, darüber will ich mich an Weihnachten freuen! Jesus unser gemeinsamer Bruder: das verbindet uns mehr als alles andere.

 

Amen.

 

Weihnachtsfreude - Weihnachtsrauer     

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

„Wie in allen protestantischen Städten spielt Weihnachten hier die Hauptrolle in der großen Winterkomödie“ - notiert Heinrich Heine vor gut 200 Jahren aus Berlin. Er schildert, wie die Menschen „wie Schmetterlinge von Laden zu Laden flattern und von einem Geschäft zum nächsten wallfahren, als wären es Passionsstationen.“ 1819? Nein, das ist zeitlos, es könnte auch jetzt 2022 so gesagt sein. Gerade hier in Dresden, dem Epizentrum des „Weihnachtswunderland Sachsen“. Für manche wird dieser Heilige Abend, den wir so anders erleben als alle anderen Abende, vielleicht eher wie eine Passionsstation sein. Etwa so: die Familie unter dem Christbaum, und die Mutter auf der Palme, fix und fertig. Das ist dann die „Bescherung“. Andere haben vor diesem Abend einfach nur Angst. Ihnen graut davor, weil ihnen die Liebe fehlt und sie keine Wärme erwarten können, weil sie in diesem Jahr einen geliebten Menschen verloren haben. Oder weil sie schon lange einsam sind, ohne stabiles Netzwerk. Wieder andere werden an Weihnachten enttäuscht sein, weil sie anderes bekommen als sie erhofft haben, auch jenseits der Geschenke.

Es gibt das eigenartige, bei manchen sehr schmerzende Phänomen der Weihnachtstraurigkeit. Warum gehört Weihnachten für gar nicht so wenige zu den Momenten, vor denen sie am meisten Angst haben? Warum werden in der stillen, der heiligen Nacht mehr Tränen geweint als in jeder anderen? Ein Grund für diese Weihnachtstraurigkeit liegt vielleicht darin, dass das Christfest nach landläufiger Meinung irgendwie Freude verordnet. Wir haben das Gefühl, wir müssen zu Weinachten froh gestimmt sein. Ist es doch das Ereignis, das - wie es in einem Weihnachtslied heißt - „Gott gemacht“ hat, um seine Liebe über uns auszuschütten. Und wir, in unserem komplexen Gemisch aus familiären Ritualen, bürgerlichen Konventionen und dem, was wir noch an Religion haben, fühlen uns irgendwie zur Liebe verpflichtet, die der Ausdruck unserer „Weihnachtsfreude“ sein soll. Diese christlich verordnete Liebe und Freude, die sich alle Jahre wieder als Selbstanspruch vor uns aufbaut: das ist es, was Weihnachten für wache und sensible Menschen manchmal eher zu einer Passionsstation macht. Sie stimmt uns traurig, weil uns Kälte, Unversöhnlichkeit und Trauer um uns her, vielleicht auch ins uns, ans Herz greifen.

I.

Die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist allerweltsbekannt und zugleich ein literarisches Wunderwerk. Weil sie uralt ist und doch nie veraltet, und wir uns in ihren vertrauten wärmenden Klang fallen lassen können. Dieser Weihnachtsgeschichte ist das alles gar nicht fremd. Sie hebt nicht an mit Pauken, Trompeten und dem triumphalen „Jauchzet, frohlocket“ wie das Weihnachtsoratorium. Leise, eher beiläufig erklingt ihr erster Ton: „Es begab sich aber zu der Zeit“. Aber: unauffällig und bescheiden mischt sich die Weihnachtsgeschichte mit diesem Wörtchen in den Lauf der Dinge ein. Es deutet an, es gebe da noch etwas anderes, quer zum Üblichen, zum Gewöhnlichen. Leicht zu übersehen, aber nicht mehr wegzukriegen: „Es begab sich aber…“

Der Kaiser, der seine Provinzen mit eiserner Faust zusammenhält, erfasst seine Untertanen zu Steuerzwecken mit demographischen Mitteln. Ja, so ist es, sagt die heilige Geschichte. Aber - während all dem geschieht noch etwas ganz anderes. - Flüchtlinge, die Schutz vor Hunger, Bomben und Aussichtslosigkeit suchen, finden keinen Viehstall, sie landen, falls sie es lebend übers Mittelmeer geschafft haben, erstmal hinter Stacheldraht. Aber, sagte die heilige Geschichte, in Bethlehem… - Junge Menschen können sich nicht mehr vorstellen, ein Kind in diese aus den Fugen geratene Welt zu bringen, weil sie angesichts der Zukunft nur noch Verzweiflung fühlen. Aber, sagt die heilige Geschichte, Maria gebar, obgleich sie unter dubiosen Umständen in andere solche gekommen war. - Herden brauchen bei uns keine Hirten mehr, Elektrozäune sichern das Vieh. Aber, sagt die heilige Geschichte, „da waren Hirten auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde“. Das gibt es also in dieser Welt, dass Leben in die Hut, in Obhut genommen wird.

Mit ihrem schlichten aber schafft die weihnachtliche Geschichte eine Gegenwelt zu der unseren. So fängt sie an, in uns zu spielen und sich auszubreiten. Sie schafft mit ihren eindringlichen Bildern, ihrem unverwechselbaren Klang eine neue Wirklichkeit in uns.

II.

Nur: spüren wir denn etwas von diesem Neuen, das Weihnachten in diese Welt und in unser Leben bringt? Ist uns wenige Tage nach dem Fest nicht doch wieder vieles so alt und gewohnt wie davor? Unsere Angst, zu kurz zu kommen. Unsere Bitterkeit gegen die, von denen wir uns unfair behandelt fühlen. Unsere Furcht vor dem Neuen, Unerwarteten, was die sog. Zeitenwende dieses Jahres gebracht hat und was tief in unser tägliches Leben reicht. Das Licht der heiligen Nacht ist für manche eher ein Zwielicht geworden, wenn sie den hellen Schein Gottes wie eine Weihnachtskerze anzünden möchten und dabei spüren, wie ausgebrannt sie selber sind. Weihnachten mit seiner Botschaft vom Frieden auf Erden, seiner Aufforderung zum hehren Ideal der Liebe und Freude, das ist für viele ein Anlass, den breiten Graben zwischen Ideal und Wirklichkeit schärfer zu sehen als sonst - auch indem man ihn an sich selber erfährt.

Auch wenn ich als Pfarrer quasi von Berufs wegen zur Zuversicht und an Weihnachten zur Freude verpflichtet bin, aber manchmal sind mir solche Befindlichkeiten nicht fremd. Mir hilft dann der Blick auf die weihnachtliche Geschichte. Das Wunderbare an ihr ist, dass sie so konkret, anschaulich ist, weit weg von aller blutleeren Abstraktion. Sie führt uns vor: Gott bleibt nicht bei einem allgemeinen Ideal von „Mitmenschlichkeit“ und hoher Moral stehen, das die Freude nur verordnen kann und letztlich in die Traurigkeit treibt. Die Botschaft des Engels vom Frieden und Erden und Gottes Wohlgefallen an uns wäre am Ende nur ein theoretisches Prinzip, wenn es nicht vorher heißen würde: „Euch ist heute der Heiland geboren“.

In dieser knappen Mittelung verdichtet sich alles, was Weihnachten unvergleichlich macht, in Freude oder Traurigkeit. Durch den, dessen Geburt wir heute Nacht feiern, wird das mit dem Frieden und dem Wohlgefallen nämlich erst anschaulich, im buchstäblichen Sinn geerdet. Indem deutlich wird, dass sein Ursprung eben nicht auf der Erde, sondern im Himmel ist. Gott kommt als Heiland, d.h. als Retter zu uns. Nicht als Führer, als starker (weißer) Mann, wie das inzwischen für viele so populär ist. Nicht als einer, der top down diktiert, wo es lang geht. Nein Gott kommt - und dann hält er an. Er macht Halt meinem beschädigten Dasein mit seinen Rissen und Brüchen. Er macht Halt an meinem Leben mit allem, was ich schuldig geblieben bin. Er macht Halt, wo ich gnadenlos mit mir selbst umgehe, weil ich mir und anderen nicht vergebe. Gott will heilen, wo wir heillos sind. Du und ich mit unseren unverwechselbaren Namen und Geschichten, wir sind in den Mittelpunkt des Christfestes gestellt. Wegen Dir und mir ist Gott Mensch geworden. Gott sagt uns: Euch, Ihr Christnachtleute 2022, ist heute der Heiland geboren! Ich, Gott, bin euer Geschenk!

III.

Ein Geschenk, wenn es für jemand ist, den wir richtig gern haben, ist eine Zuwendung von Herz zu Herz. In seinem Geschenk, dem Krippenkind, schließt uns Gott vorbehaltlos sein Herz auf und lässt uns sehen, wer er ist, wie er es mir uns meint. Gott ist kein Appell, keine Forderung. Er wendet sich einfach uns zu. Und deshalb konnte es gar nicht anders sein als dass er als Kind sich uns zu sehen gab Denn nur Kinder sind ja zu vorbehaltloser Zuwendung und Hingabe fähig. Deshalb rühren sie uns so an. Ein Kind ist das größte Geschenk, das wir bekommen können. Das ist der eigentliche Grund, weshalb Geschenke zur Weihnacht gehören wie das Amen zur Kirche und die Frauenkirchenkuppel zu Dresden. Die Reverenz, die Gott uns erweist, geben wir im Geschenk weiter an andere. Und so kann ganz überraschend, ganz von außen, die weihnachtliche Freude über uns kommen und uns doch mit sich ziehen.

„Lasset fahrn, o liebe Brüder, / was euch quält, was euch fehlt, / ich bring alles wieder“ (EG 36,5), heißt es in Paul Gerhardts Weihnachtlied, das wir jetzt singen. Etwas fahren, also loslassen: manchmal kann das anstrengender sein als alles Festhalten. Aber wenn es geschafft ist, ist man befreiter. Weihnachten ist jedenfalls eine große Einladung an uns, einfach einmal abzustreifen, loszulassen, was wir an Lasten so durch die letzten Wochen und Monate geschleppt haben - und all das an der Krippe liegen lassen. Wenn wir das hinkriegen, wenigstens ein bisschen, dann wird uns Weihnachten nicht schwer, sondern ein Glück. Das wünsche ich uns allen.

 

Amen.

»Weihnachtsstress«

Geistliches Wort gehalten im Rahmen des Adventsliederdingens von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Die »Geistliche Besinnung« soll heute über ein (prima vista) ziemlich ungeistliches und unbesinnliches Thema gehen: den sog. »Weihnachtsstress«. Ein Wort, das alle Jahre wieder in diesen Wochen vielen, nicht zuletzt uns Pfarrer*innen flott über die Lippen kommt. Dieser elende »Weihnachtsstress«! Aber was ist das eigentlich?

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, und mit ihm all der vorweihnachtliche Zinnober, den wir gerne als »Pervertierung von Weihnachten« brandmarken. In meinen frühen Jahren als Pfarrer, wo man gerne mal nassforsch ist und noch nicht so zu verbaler Abrüstung tendiert, habe ich das auch wortreich getan. Die Lebkuchen schon im Frühherbst, die zu vielen Herrnhuter Sterne über den Fußgängerzonen, das »Stille Nacht«-Gedudel in den Kaufhäusern, das aggressive Gedränge vor den Verkaufstischen, der Geschenke-Overkill: ja, das kann man ohne großen Aufwand locker als »Pervertierung von Weihnachten« brandmarken. Vor 10 Jahren brauste ein ziemlicher Empörungshype durch die Kirche wegen des Werbeslogans einer Elektronik-Kette: »Weihnachten wird unterm Christbaum entschieden«. Dabei wäre dieser Slogan eine prima Steilvorlage gewesen, sich einmal wieder über die tiefere Bedeutung von Weihnachten Gedanken zu machen. Dann hätte man vielleicht entdeckt, dass Weihnachten in einem tiefen Sinn tatsächlich unterm Christbaum entschieden wird – ja wo denn sonst?

Jedenfalls dämmerte mir mit den Jahren: Was sich an Kitsch, Kommerz, Hektik um Advent und Weihnachten herum aufbaut, ist nur oberflächlich betrachtet eine Banalisierung. In Wahrheit ist es eher ein viele Male übertünchter, aber immer noch freilegbarer Abglanz dessen, was der Kern des Christfestes ist. Was wir so schnell als Weihnachtskitsch geißeln, ist Ausdruck unserer Sehnsucht nach Geborgenheit, Zusammengehören, Angekommensein. Nach all dem also, was in dem großen biblischen Wort Schalom drinsteckt: der Erfahrung des endlich gelingenden Lebens mit Gott und miteinander. Es ist doch gut, dass uns wenigstens einmal im Jahr die Sehnsucht nach der heilen, gelungenen Welt so richtig packt. Deshalb bleiben auch längst erwachsen gewordene Leute mit ihren Kindern zu Weihnachten nicht unter sich, sondern fahren hunderte von Kilometern »nach Hause«, zu den Eltern, um dort die eigene Ur-Heimat zu spüren, die so ganz nie weggeht. Dass wir an Weihnachten nicht genug kriegen können mit der Erfahrung von Harmonie und gegenseitiger Zuwendung, und, ja, auch mit Schenken und Beschenktwerden: dahinter steckt die tiefe Sehnsucht, unser Leben nicht nur selbst meistern zu müssen, sondern auch als das zu erfahren, was es letztlich ist: ein Geschenk. Deshalb lassen wir uns das Häuslichwerden und Miteinander-Feiern so viel an vorheriger Hektik und Erschöpfung kosten. Bis dahin, dass – wie ich mal in der Zeitung las – die Herzinfarkte zu Weihnachten um ein Drittel ansteigen.

Weihnachten ist eben nicht die Flucht vor einer bedrohlichen Welt in ein heuchlerisches Idyll, sondern es ist ein Vorschein der neuen, gelungenen Welt: der Welt, die nicht dem Dunkel und dem Leid ausgeliefert bleibt, sondern in der Wärme, Friede, Licht erfahrbar sind. Nicht umsonst spricht Paul Gerhardt in einem Adventschoral vom »Reich, da Fried und Freude lacht«. Ich meine: in der Hektik, die manchen bis in den Mittag des Heiligabends den Atem nimmt, spiegelt sich eine ferne Ahnung davon, dass Gott mit der Geburt Jesu Christi unsere Welt in Bewegung gebracht hat, dass mit jener Nacht, die wir die Heilige nennen, etwas grundstürzend Neues, noch nie Dagewesenes in diese alte Welt gekommen ist: Wer kann da noch ruhig bleiben??

So atemlos und unruhig diese Tage vor Weihnachten auch sind - wir alle sind in der Situation der Hirten auf dem Feld vor Bethlehem. Mitten in ihren immergleichen Alltag kommt senkrecht von oben die Botschaft von der Geburt Jesu. Daraufhin lassen sie alles stehen und liegen, geraten erst recht in Unruhe: »Und sie kamen eilend«. Bach hat diese Unruhe im Weihnachtsoratorium genial erfasst, in der drängenden, immer hektischer werdenden Chorfuge »Lasset uns nun gehen nach Bethlehem«. Lassen wir uns nicht einreden, Weihnachten könne nur feiern, wer besinnlich gestimmt ist! Ich bin immer irritiert, wenn mir auf den Weihnachtskarten eine »besinnliche Weihnacht« gewünscht wird. Wie auch immer: dieses Fest macht vor keinem halt. Es übt eine unwiderstehliche Kraft aus, und wir alle sind alle Jahre wieder in sein Kraftfeld hineingezogen.

Kurz und treffend gibt, worum es mir geht, eine kleine Geschichte wieder. Sie stammt von dem großen Denker des Christlichen Clive Staples Lewis. Die Geschichte spielt in New York und endet so:

Unser Taxi schaffte in jener Vorweihnachtszeit in 20 Minuten zwei Häuserblocks. »Dieser Weihnachtsverkehr ist eine Katastrophe«, schimpfte Bob. »Er nimmt mir das ganz bisschen Weihnachtsstimmung, das ich habe.« April dagegen war philosophischer. »Es ist unglaublich«, sinnierte sie, »ganz und gar unglaublich. Denk doch bloß: Da ist vor über zweitausend Jahren irgendwo in der palästinischen Wüste, mehr als achttausend Kilometer von hier ein Kind zur Welt gekommen - und das verursacht ein Verkehrschaos auf der Fifth Avenue in Manhattan.«

Ja, das ist wirklich unglaublich. Anders gesagt: Weihnachten ohne Stress, Hektik und blank liegende Nerven (es muss ja nicht gleich ein Herzinfarkt sein): das geht gar nicht. Es wäre wie Dresden ohne Stollen und wie die Kirche ohne Amen.

„Und abermals sage ich: Freuet euch!“

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Eigentlich hat die Adventszeit im Kirchenjahr ja einen stillen, ernsten Charakter. Die Kanzeln und Altäre sind in Lila gekleidet, die kirchliche Farbe der Buße und Selbstbesinnung. In diesem Jahr spüren wir diesen Ernst vielleicht noch stärker als in den vergangenen beiden, durch die Corona-Lockdowns bestimmten Adventszeiten. Da hinein diese steile Aufforderung: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ Wie Worte aus einer anderen Welt, einer sorgloseren Zeit, so klingt dieser Ruf. Wir hören ihn inmitten der bangen Fragen, ob und wie es weitergehen kann im Betrieb, im Laden oder auf dem Hof. Der 4. Advent trägt einen neuen Akzent in den Ernst, wie ein Farbtupfer im Grau, wie ein Kinderlachen, das auf eine leere Straße dringt. Sein Thema ist die Freude. Der 4. Advent öffnet die Räume, damit die Freude einziehen kann.

I.

„Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich euch: Freuet euch. Der Herr ist nahe.“ So schreibt Paulus an die Gemeinde in Philippi, einer Stadt in Nordgriechenland. Den Menschen dort fliegt die Freude nicht zu. Sie leben in einer Situation der Bedrohung. In der noch jungen Gemeinde, die Paulus gegründet hatte, erleben sie Anfeindungen und Isolation von ihrer Umwelt. Intern haben sie harte Konflikte um den richtigen Kurs. Erstaunlich ist auch, dass gerade Paulus sie so eindringlich zur Freude auffordert. Der Mann war ja nicht wirklich für die Leichtigkeit des Seins bekannt. Paulus war eher ein Angefochtener, er hat sehr an seinem apostolischen Dasein getragen. Und noch erstaunlicher ist, dass er in denkbar freudloser Lage zur Freude aufruft: Paulus sitzt in Ephesus im Gefängnis. Er wartet auf den Prozess wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er muss mit dem Schlimmsten, d.h. mit der Todesstrafe rechnen. Die Christen in Philippi auf der anderen Seite des Meeres sind in Unruhe über sein Schicksal. Was Paulus ihnen aus der Zelle schreibt, das atmet eine beeindruckende Gelassenheit. Seine Antwort auf besorgte Nachfragen aus Philippi, wie es ihm geht: „Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten“. Zu Deutsch: Danke der Nachfrage, dem Evangelium geht‘s bestens! Etwas von so einer inneren Freiheit den eigenen Stimmungen gegenüber täte uns gut - kurz vor einem Weihnachten, auf das wir aufgrund der Weltlage mit vielen gemischten Gefühlen zugehen. Da kann man diesen doppelten Imperativ, doch fröhlich zu sein, fast als etwas zynisch empfinden.

Und doch schreibt Paulus so, aus seiner Zelle heraus: „Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich euch: Freuet euch. Der Herr ist nahe.“ Das ist keine Freude, die einem so zufliegt. Es ist eine Trotzdem-Freude. Fast befohlen wird sie, mit doppeltem Imperativ: Freuet euch!

Freut euch - wie hört das der alte Mann, der dieses Jahr seine Frau verloren hat und nun doppelt allein ist. Seine Frau fehlt unendlich, und seine beiden Kinder leben im Ausland und können zu Weihnachten nicht zu ihm reisen.

Freut euch - wie hört das die Pflegerin, der Nacken und Rücken schmerzen, die manchmal still vor sich hin weint, einfach, weil sie so erschöpft ist, weil sie die letzten Kraftreserven zusammentrommeln muss, um den Tag zu überstehen.

Freut euch - wie hört das die Studentin, die nach den ersten Monaten in der noch fremden Unistadt noch keine Freunde gefunden hat und allein durch die festlich geschmückten Straßen geht.

Freut euch - wie hört das der Bürgermeister, der in diesem Jahr völlig erschöpft und mit den Nerven am Ende sein Amt niedergelegt hat, weil er und vor allem seine Familie die vielen Drohungen und Anfeindungen „besorgter Bürger“ nicht mehr aushalten konnten.

Freut euch - wie hört das die junge Frau aus der Ukraine, die es mit ihren Kindern hierher geschafft hat, in Sicherheit ist - aber oft spürt, dass sie nicht willkommen ist und jeden Morgen in Angst aufwacht, ob ihr Mann an der Front, der Vater ihrer Kinder noch am Leben ist.

Freut euch - wie höre ich das, wie hörst Du das, sechs Tage von einem Weihnachten entfernt, das - obwohl wir wieder ungehinderter zusammenkommen können - so überschattet ist von Mega-Krisen wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

II.

Paulus, wie gesagt, hat keinen Grund zum Lachen. Aber er spricht von der Freude, unbeirrt. Ein kleines Wort fällt auf: allewege. Das Wort im Griechischen dafür schillert, man kann es auf verschiedene Art übersetzen. „Freut euch allewege“: immer, freut euch in jeder Situation. Oder: Freut euch auf viele Weisen. Freude kann sehr verschieden sein. Laut, aber auch ganz leise. Ganz unterschiedliche Gewänder kann die Freude sich überziehen in verschiedenen Colors of Christmas. Das warme Rot der Erinnerung. Das glänzende Gold des Festes. Das nachdenkliche Lila der Stille. Das zarte Weißrosa eines Wintermorgens. Das frische Grün eines neuen Gedankens.

Die Freude kommt nicht irgendwann, wenn alles wieder gut ist, sondern allewege. Das will sagen: sie ist schon da. Paulus nennt den Grund: „Der Herr ist nahe“. Der Herr kommt, er ist schon ganz nahe und er kommt auch zu dir. Es ist jetzt schon da, was sein wird, worauf du zugehst und was die Bibel Heil nennt. Das ist die Haltung des Paulus. Ich finde sie wieder bei einem anderen Häftling. Auch er sitzt in einer Zelle und schreibt einen Brief, von dem er ahnt, es könnte sein letzter sein. Er richtet ihn an die, die ihm die Nächsten sind: an seine junge Verlobte und an seine alten Eltern. Er schreibt Verse, die - weil ein menschlicher Aufseher den Brief nach außen passieren lässt - weltberühmt geworden sind: „Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Dietrich Bonhoeffer ist der Schöpfer dieser Verse. Auch er spricht von der Freude, die Gott schenken wird: Freude an der Welt und ihrer Sonne Glanz und von der Dankbarkeit, weil jeder Tag ein Tag aus Gottes Hand ist, jeder Weg ein Weg, den Gott mitgeht. Und er sagt noch etwas anderes: Christus geht auch durch die Gefängnisse. Christus geht auch durch die allzu stillen Wohnungen, an den Tischen vorbei, wo manch einer fehlt. Christus geht durch die Alten- und Flüchtlingsheime und durch die Intensivstationen. Christus geht durch die stillen Straßen, durch die Büros, in denen Menschen voller Sorge über Rechnungen sitzen.

III.

Ich sehe die junge Studentin, die von ihrem Weg durch die lange Fußgängerzone in ihr stilles Zimmer zurückkommt und ihr Handy in die Hand nimmt. Welche Botschaft postet sie? „Ich bin neu und allein in dieser Stadt, ich kann nicht nach Hause, geht es anderen auch so?“ Ich denke, wenn Menschen den Mut haben, anderen eine Botschaft zu senden: ich brauche euer Interesse, ich brauche eure Wärme, eure Aufmerksamkeit, dann wird diese Botschaft gehört. Das hat uns dieses Jahr ja auch gelehrt. Es war in vielen kleinen und großen Situationen eben nicht nur das Jahr von Krieg und Gewalt, sondern auch ein Jahr unglaublicher Solidarität und Mitmenschlichkeit.

Ich sehe den Witwer vor mir. Er ist traurig und es gibt Stunden, da übermannt ihn das Alleinsein. Aber inmitten des Schweren sehe ich ihn auch besondere Augenblicke setzen wie Lichtmarken. Vielleicht noch keine Freude, aber etwas Helles. Wenn er die Kerze anzündet am Grab seiner Frau und in der Stille mit ihr spricht. Beim Telefonieren mit seinem Sohn in den USA und beim Schreiben von WhatsApp-Nachrichten an seinen alten Freund. Er ahnt: ich bin doch von guten Mächten treu und still umgeben. Es gibt sie, sie sind da, auch wenn sie heute nicht hier sind.

Ich sehe die Pflegerin vor mir. Sie lehnt an der Wand in einem kurzen Augenblick des Atemholens. Ein Kollege kommt und reicht ihr eine Tasse Kaffee. Eine Tasse Kaffee, das ist für viele Erschöpfte der einzige Moment des Atemholens inmitten der Flut von Aufgaben. Der andere legt ihr die Hand auf die Schulter. Auch er ist total müde. Hilft ja nichts, sagt er. Dem Patienten, um den sie so gerungen haben, geht es heute etwas besser. Es ist nicht umsonst, was ich hier tue, denkt die Schwester in ihre Tasse Kaffee hinein. Es macht einen Unterschied.

Welche Augenblicke der Freude wirst Du sammeln? Welche wirst Du schenken? Es macht einen Unterschied. Es macht einen Unterschied, dass Gott kommt, dass er uns schon ganz nahe ist, dass seine Nähe aufblüht in jedem guten Wort, in jeder Geste der Hilfe, in jeder Aufmerksamkeit, die Menschen einander schenken. Gott kommt; er ist schon ganz nahe; er kommt auch in unsere Sorge und in unsere Ratlosigkeit. Gott kommt und er kommt auch zu Dir. Freue dich! Allewege. „Und abermals sage ich: Freue ich!“

 

Amen.

Ad limina amoris         

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Frühlingsgefühle im Dezember. Blütenträume im Advent. Erotisch flirrende Sprache im Gottesdienst. Intimes Liebesgeflüster in diesem barocken Dom. - Geht’s noch? Ist Helene Fischer zur Frauenkirche unterwegs? Warum dieser ziemlich spezielle Predigttext an einem Adventssonntag?

Eigentlich klingen diese Verse aus dem Hohelied der Liebe ja wunderschön. Zärtlich und zugewandt, voll von Liebe und Leidenschaft. Nur sind wir in der evangelischen Kirche so einen Sound halt nicht gewohnt. Der Protestantismus ist ja eher als herb und sinnenfeindlich beleumundet. Da finden sich Anklänge an sinnliches Begehren, an Erotik noch am ehesten bei manchen Arien-Texten in Bachkantaten. Dabei sollte doch auch in der Kirche Eichendorffs Vierzeiler gelten: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ Das Zauberwort schlechthin, das wirklich in allen Dingen ein Lied erwecken kann, ist natürlich - die Liebe. Und eben sie - und zwar zwischen zwei liebenden Menschen, nicht zwischen Gott und Mensch - ist das große Thema dieses kleinen, aber feinen Buches im Alten Testament, das man zu Recht „Hohelied der Liebe“ nennt.

I.

„Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Sieh doch, dahin ist der Winter, vorbei, vorüber der Regen. Die Blumen sind im Land zu sehen, die Zeit des Singens ist gekommen, und das Gurren der Taube hört man in unserem Land. Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften.“ Liebesgeflüster, Blütenträume, Frühlingsgefühle im Advent! Seltsam. Jedenfalls ist es absolut bemerkenswert, dass diese Liebesdichtung, diese erotische Poesie in der Bibel enthalten ist. Gott ist hier eigentlich kein Thema. Die naheliegende Frage, wie eine so weltliche Liebespoesie einen Platz in der Bibel hat finden können, die kann bis heute keiner beantworten. Man weiß es einfach nicht. Irgendwann war das „Buch Liebe“ drin in der Bibel, geriet das Lied der Lieder in das Buch der Bücher. Und man fragt sich bis heute, was dieses Liebeslied nun mit Gott zu tun hat.

Im Judentum ist es eine Tradition, diese Beziehung zwischen dem Geliebten und seiner Freundin auf die Beziehung zwischen Israel und Jahwe, seinem Gott hin zu deuten. So ist es nicht verwunderlich, dass später die christliche Auslegung sich ähnlich entwickelt hat. Zum Geliebten wurde Christus und die Freundin war die Kirche (das ist die katholische Lesart), oder die Seele des gläubigen Menschen (das ist die protestantische Deutung). Ein mehr oder auch weniger überzeugender Versuch, das Lied der Lieder gleichsam zu taufen, mit ihm von Gott zu reden, obwohl von Gott darin nicht die Rede ist. Auch wenn die heutige Bibelauslegung ganz anders verfährt, finde ich es hier doch hilfreich, uns einmal auf diese Sicht einzulassen. Denn unsere Beziehung zu Gott hat doch auch etwas mit Liebe, Intimität und Sehnsucht zu tun. Wir reden nur nicht davon.

II.

Was sehen wir? „Horch, mein Geliebter! Sieh, da kommt er, springend über die Berge, hüpfend über die Hügel. Einer Gazelle gleicht mein Geliebter oder dem jungen Hirsch. Sieh, da steht er hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.“ Eine junge, ziemlich unsterblich verliebte Frau erzählt mit pochendem Herzen, dass ihr Geliebter auf dem Weg zu ihr ist. Sie kann seine Stimme hören und sie sieht, wie er kraftvoll und leichtfüßig zu ihr eilt. Noch ist sie nicht bei ihm, vielmehr: er noch nicht bei ihr. Er draußen, sie drinnen. Er lockend und werbend, sie sehnsüchtig lauschend. Er draußen am Fenster, sie drinnen hinter dem Gitter. Der Geliebte ist ganz nah - aber er kann nur durch das Fenster zu ihr sprechen. Er ruft sie: Siehe, der Winter ist vorbei! Sie hört es, aber sie bleibt noch da, wo man eben bleibt, wenn es Winter ist: im Haus. Sie ist noch nicht da, wo das Leben blüht. Und er, der schon da ist, ruft: Komm!

In unseren Adventsliedern ist das spiegelverkehrt. Da sind wir diejenigen, die immer wieder sagen: Komm! „Nun komm, der Heiden Heiland.“ - „Komm, o mein Heiland Jesu Christ.“ - „O komm, o komm, du Morgenstern.“ Advent heißt für uns: Wir warten im Dunkeln. Wir spüren schmerzlich, dass wir nichts von Gott sehen, wir sehnen uns danach, etwas zu spüren, zu erfahren von ihm. Und sowieso bitten wir ja in jedem Gottesdienst: Dein Reich komme.

Und hier jetzt: Das Bild eines Liebenden, der es eilig hat, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es junge Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch eilt er zu ihr. Still steht er erst vor dem Haus der Freundin, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Er bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon immer ihr Ort war. Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Seine Gegenwart, der Umriss seines Gesichts hinter der Scheibe durchdringt alles. Nun lockt er sie heraus aus dem trauten Heim in die Freiheit der Liebe. Aus der introvertierten Häuslichkeit des Winters, wo alles auf Standby runtergefahren ist, hinaus in die Weite und Lebendigkeit des anbrechenden Frühlings. Wir können das deuten als ein irdisches, menschliches Bild für Gottes Sehnsucht nach uns Menschen, nach einer liebenden, erfüllten Beziehung zwischen ihm und uns. Er ist ja längst zu uns geeilt. Er ist zur Welt gekommen im Krippenkind - auf dieses Wunder aller Wunder versuchen wir uns in diesen Wochen wieder einzustellen. „Wie soll ich dich empfangen, und wie begegn‘ ich dir“: Er weiß besser als wir, was wir brauchen, um ihn angemessen zu empfangen. Deshalb ruft er uns aus dem Haus, aus dem, was uns Sicherheit, aber auch Einschränkung bedeutet, hinaus ins Offene und wirbt um unser Vertrauen.

Eine Szene, so richtig Leben pur. Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, zu Pferd, mit dem Fahrrad, dem Mofa, mit der ersten Karre. Kommt und steht vor meiner Tür, mit windzerzausten Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will nur zu mir. Und der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. „Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!“

III.

Ein Lied vom Frühling und von der Liebe. Und eben doch auch ein Lied von Gott. Dass Gott die Liebe ist, das haben wir unzählige Male gehört. Vielleicht so oft, dass wir es gar nicht mehr richtig hören, ermessen können, was das eigentlich für eine ungeheuerliche Aussage über Gott ist. Aber so wie hier habe ich es noch nicht gehört, das von Gott und der Liebe. Dass Gott Liebe ist: das habe ich noch nie im Bild einer flirrend frühlingshaften Liebe verstanden. Sondern mehr wie eine „reife“, aber nicht mehr von glühend sinnlicher Anziehung befeuerte Liebe nach langen gemeinsamen Jahren: Ich kenne dich gut. Ich bleibe bei dir. Zu mir kannst du immer zurückkommen. Aber Gott als Liebhaber, der es nicht erwarten kann bei mir zu sein und der mich ruft: Steh auf, meine Schöne, und komm: Das sind doch andere Wünsche. Nebenbei bemerkt, nicht nur weibliche, auch wenn das Hohelied noch nichts von Gendergerechtigkeit weiß und die Rollen klassisch verteilt sind. Steh auf, meine Schöne und komm! Dass das eine*r zu mir sagt und es wirklich so meint! Dass der Frühling wiederkommt, wo schon so lange Winter ist und das Leben so graubraun und stumpf aussieht wie das Gras Anfang März. Das sind andere Wünsche. Und warum sollen sie nicht erlaubt sein, wenn es um Gott geht - der doch auch die erotische Liebe geschaffen hat?

Und die leidenschaftlich Liebende aus unserem Text kommt ihrem Geliebten entgegen und öffnet ihm. Nicht nur die Tür. Vor allem ihr Herz. „Komm, o mein Heiland, Jesu Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist“, singen wir zum Advent. Ja, Gott ist da, und natürlich können wir ihm vertrauen und immer zu ihm kommen wie zu unserem Partner nach langen gemeinsamen Jahren. Aber er kommt eben auch zu uns, wie ein Geliebter, wie ein junger, schöner Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei mir sein will, nur bei mir. Martin Luther hat diesen Satz aus dem Hohelied auf Gott bezogen. Er schreibt dazu: „Unter den Leiden, die uns von Gott scheiden wollen wie eine Wand, ja wie eine Mauer, steht er verborgen und sieht doch auf mich und verlässt mich nicht. Denn Gott steht und ist immer bereit zu helfen, und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt er sich sehen.“

IV.

An der Stelle kann ich mich fragen: In welchem Haus sitze ich? Welche Wand steht jetzt zwischen Gott und mir? Aus welchem Gefängnis versucht er, mich herauszuholen? In welchem Winter stecke ich noch drin? Vielleicht ist etwas in mir festgefroren durch Schmerz und Verlust. Vielleicht ist Winter in meiner Seele, weil jemand gestorben ist, der mir wichtig war, weil eine Liebe zerbrochen, weil mir etwas Wichtiges versagt geblieben ist. Für eine neue, intensive Beziehung zu Gott, für Gefühle und Leidenschaft fehlt die Kraft. Vielleicht ist aber auch gar nichts Dramatisches passiert, sondern ich bin einfach nur eingehaust in einer Routine des Lebens, die gut läuft, aber ohne Ausschläge. Alles gut eingespielt, berechenbar, erwartbar. - Vielleicht steht zwischen mir und Gott aber auch eine Wand des Misstrauens. Vielleicht habe ich etwas erleiden müssen, bei dem ich mich von Gott im Stich gelassen fühlte. Das soll mir nicht nochmal passieren! Besser Gott nicht mehr an mich heran lassen, mich nicht mehr auf ihn verlassen. Sein Wort höre ich allenfalls durch vergitterte Fenster, in schönen Konzerten vielleicht, oder geistvoll-kultivierten Predigten. Aber mein Herz, meine Seele bleiben unter Kontrolle und geschützt.

Ja, liebe Gemeinde, Advent kann auch das heißen: Sehen, spüren, wo noch Winter ist. Sehen, spüren, wo die Wand ist. Erkennen, was uns von Gott fernhält, oder was ihn von uns fernhält, und sich dem stellen. Heute hören wir zärtliche, sehnsüchtige Worte. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her. Versuchen wir zumindest, sie als Gottes Worte zu hören. Als das Werben des großen Liebhabers um jede und jeden von uns. Und antworten wir darauf, wie wir es jetzt eben können.

 

Amen.

Memento mori

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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„Denen die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein. (…) Dennoch bleibst du auch im Leide / Jesu, meine Freude“ - haben wir gerade in der Schlussstrophe von Bachs Motette gehört. Eine unendlich schöne Musik - ein irrsinnig steiles Wording. Wem heute die Seele zentnerschwer ist vor Betrüben, weil er/sie in diesem Jahr den geliebten Partner hat loslassen müssen, und ihn doch schier nicht loslassen will und kann: dem muss so eine Aussage scheinbar unerschütterlicher Glaubenszuversicht doch im Hals steckenbleiben! Oder?

Heute ist Totensonntag. In der Sache treffender, aber womöglich weiter weg von dem, was viele Menschen heute empfinden, nennen wir ihn inzwischen Ewigkeitssonntag. In den Gottesdiensten an diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr stehen die sog. „Letzten Dinge“ im Mittelpunkt. Es geht darum, dass das Leben endlich ist. Der 90. Psalm, der Bibeltext, der wie kein anderer die Vergänglichkeit alles Geschaffenen umkreist, macht die berühmte Aussage: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Mit unseren Worten: Lass nicht zu, dass wir den Gedanken an unseren Tod oft so gekonnt verdrängen; gib, dass wir ihm standhalten und Raum geben. An Wissen fehlt es ja nicht. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen. Nichts wird in der Zeitung aufmerksamer studiert als die täglichen Anzeigen, die uns vor Augen führen, dass keiner vor dem Tod sicher ist. Wir wissen, dass niemand von uns seinem Leben, wie es in der Bibel heißt, „eine Elle zusetzen“ kann.

Aber wissen, dass wir sterben müssen, und bedenken, dass wir sterben müssen: das ist nicht dasselbe. Wir sind immer wieder in der Gefahr, das Wissen zu verdrängen - damit es nicht zu einem Bedenken, dass wir sterben müssen, kommt. Wir versuchen immer wieder, unser alltägliches Leben so einzurichten, als gebe es den Tod nicht. Aber: „Der Tod ist groß / Wir sind die Seinen, / Lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Mit diesen sechs Zeilen, großartig in ihrer elementaren Lakonik, bringt Rilke auf den poetischen Punkt, dass wir dem Tod kein Schnippchen schlagen können.

Mors certa, hora incerta: so stand es früher oft auf Wanduhren geschrieben. Der Tod ist sicher, nur kennen wir seine Zeit nicht. Früheren Generationen war diese Einsicht noch selbstverständlich. In der Barockzeit standen in vielen Studierstuben sog. „Wendeköpfe“ auf den Schreibtischen. Das waren kleine Plastiken von wenigen Zentimetern Höhe: auf der Kehrseite eines blühenden Menschengesichts fand sich ein grinsender Totenschädel: zur ständigen Erinnerung an den künftigen Zustand eigener Verwesung. Darin sprach sich keineswegs eine bizarre Todessehnsucht aus, sondern es sollte zur Meditation des Memento mori helfen: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“…

In einem alten Lied gab es die Bitte: „Bewahre uns vor bösem, schnellen Tod“. So war das einmal: da wurde der schnelle Tod als der böse Tod angesehen - weil er uns keine Chance lässt, unser Haus zu bestellen und uns aufs Sterben vorzubereiten. In dieser Hinsicht waren die früheren Zeiten wohl wirklich die besseren. Heute ist es umgekehrt. Im berühmten Proust-Fragebogen der FAZ gab es die Frage: „Wie möchten Sie sterben?“ Die meisten haben etwa so geantwortet: „Schnell, schmerzlos und aus dem vollen Leben heraus.“ Es fragt sich, ob wir diese Einstellung zum Tod nicht mit einem hohen Preis für unser Leben bezahlen.

Ich schließe mit Worten des berühmten Hamburger Theologen Helmut Thielicke. Seine Autobiographie mit dem Titel „Zu Gast auf einem schönen Stern“ hat er mit diesen Sätzen beschlossen:

„Warum wage ich es trotzdem, diese gefährdete Erde als schönen Stern zu rühmen und mich ihrer Gastfreundschaft zu freuen? Immer wieder, wenn der Blick sich in die verhangene Zukunft bohren will, denke ich an das Wort, das Gott nach der Sintflut-Katastrophe über unsere Erde gesprochen hat: ‚Wenn es denn kommt, dass man Wetterwolken über die Erde führe, dann soll man meinen Bogen sehen in den Wolken.‘ Dieser Bogen soll Zeichen einer Zuwendung sein, die uns durch alle Zeiten treu bleibt. Ich habe ihn in meinem Leben immer wieder gesehen - jedenfalls dann, wenn ich aufhörte, monoman ins Dunkel zu starren und meine Augen erhob, um ihn zu suchen. Ja, mir ist noch keine Finsternis begegnet, über der er nicht leuchtete und kein noch so dunkles Tal, wo mich nicht einige Grüße Gottes erreicht hätten.

Nur um dieses leuchtenden Bogens willen rühme ich unsere Erde als schönen Stern und gehe dem Kommenden getrost entgegen. Wir sind freilich nur Gäste auf diesem schönen Stern. Bewohner auf Abruf mit versiegelter Order, in der Tag und Stunde des Aufbruchs verzeichnet sind. (...) Doch als Christen sind wir gewiss, dass die uns zugemessene Lebenszeit nur die Adventszeit einer noch größeren Erfüllung ist. Das Land, in das wir einmal gerufen werden, ist ein unbekanntes, ja unvorstellbares Land. Nur eine Stimme gibt es, die wir wiedererkennen werden, weil sie uns hier schon vertraut war: die Stimme des guten Hirten.“

Soweit Helmut Thielicke. Ich füge hinzu: Nur wegen dieses einen Grundes, wegen der Hoffnung, die uns schon vertraute Stimme Jesu dann wieder zu hören, noch einmal ganz anders, viel klarer, tiefer, wohltuender: nur deshalb kann man es wagen, zu singen und zu sagen: „Denen, die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein.“

 

Amen.

Gott ist unvergesslich

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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I.

Eberhard malte Tiere. Er ertappte sich dabei, dass er sich die Zunge zwischen die Zähne geschoben hatte wie ein Nerd in der Schule bei einer kniffligen Matheaufgabe. Auch das Lachen, das in ihm aufstieg, war jung. Er hatte sich schon lange auf den Besuch der Familie seines Sohnes gefreut. Sie wohnten weit weg, ihre Besuche waren so selten, dass Eberhard jeden Moment auskostete. Pauline, die große Enkelin, saß am Tisch und versuchte sich am Kreuzworträtsel der Tageszeitung. Die kleine Marie saß auf seinem Schoß und klatschte begeistert in die Hände, wenn sie wieder ein Tier erraten hatte. „Noch eins“, juchzte sie. Eberhard malte einen Pinguin. Er zog ihm gerade seinen Frack an, als Marie rief: „Pinguin, ein Pinguin!“ und auf seinem Schoß wie ein Gummiball auf und ab hüpfte. Eberhard lachte mit; das Lachen flutete den Raum.

Irgendwann schweifte Marie ab und sah ihren Opa nachdenklich an. Die kleine Stirn legte sich in Falten. „Du bist doch der Papa vom Papa.“ Eberhard nickte. „Und wo ist dein Papa?“, fragte Marie ernsthaft. Darauf war Eberhard nicht vorbereitet, die Frage traf ihn ungebremst ins Herz. Pauline sah von ihrem Rätsel auf und neugierig zum Opa rüber. „Mein Papa ist schon lange tot“, sagte er zögernd. Maries Blick trübte sich ein. „War er alt und krank?“ Eberhard schüttelte den Kopf. „Nein, er war noch ganz jung. Vor langer Zeit gab es einen schlimmen Krieg. Da haben die Menschen in ganz Europa gegeneinander gekämpft. Und da ist mein Papa gestorben.“ Eberhard fröstelte. „Mein Papa“ - wie lange hatte er das nicht mehr gesagt und noch nicht mal gedacht. Jetzt klang ihm das fast wie aus einer fremden Sprache. „Erster oder zweiter Weltkrieg?“, hakte Pauline nach. Sie war wirklich schon groß. „Zweiter“, sagte Eberhard. „Gehst du manchmal zu seinem Grab? Wir gehen immer zu Oma Ellis Grab, wenn wir in Köln sind“, sagte Pauline. „Dann zünden wir eine Kerze an. Mama muss dann manchmal weinen.“ Eberhard schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß nicht mal, wo das ist, sein Grab. Es ist ganz weit weg.“ - Die Kinder fragten nicht weiter. Pauline beugte sich erneut über das Kreuzworträtsel. Marie verlangte nach noch einem Tier. Eberhard malte weiter.

II.

Später, nach dem Kaffeetrinken, zog Eberhard aus dem Korb die Zeitungen der letzten Tage hervor. Er wusste noch, dass er irgendwann in den letzten Tagen die Anzeige dort gesehen hatte. Er musste nicht lange suchen. Die Anzeige zeigte ein fragendes Kindergesicht. Wo ist mein Uropa, wollte das Mädchen wissen. Darunter stand ein Hinweis auf die Online-Suche der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Eberhard nahm die Zeitung, ging leise die Treppe runter in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Er tippte die Adresse ein und sah zu, wie sich die Seite der Kriegsgräberfürsorge vor ihm auffächerte. „In unserer Online-Suche können Sie nach dem Verbleib bzw. der Grabstätte Ihres Angehörigen forschen“, las er dort. Er klickte das Feld Onlinesuche an und gab Namen und Geburtstag seines Vaters ein. Dann tippte er sich mühsam durch eine Reihe von Fragen zu seiner eigenen Person und wartete auf das Ergebnis der Suche.

Schon lange hatte er nur selten noch an seinen Vater gedacht. Flüchtig waren die Erinnerungen an ihn; manchmal kehrten sie nachts im Schlaf wieder, Traumschatten. Ein großer Mann in Wehrmachtsuniform, der ihn hochhebt und in die Luft wirft. Ähnlich sehe er ihm, das hatten die Mutter wie die Oma oft gesagt. Manchmal versuchte Eberhard in seinem Spiegelbild Züge des verlorenen Vaters wieder zu finden. Irgendwo da musste er doch sein, im Blick seiner Augen oder in der Art, wie er die Stirn runzelte oder lächelte. Eberhards Hand lag auf der Maus, er starrte sie an. Sie verwandelte sich in eine schmale Bubenhand. Da, wo die Narbe war, sah er das Blut herausschießen. Beim Holzspalten hatte er sich mit neun Jahren die Axt in den Handrücken gehauen. Nicht tief zum Glück, aber das Blut strömte nur so. Er sah das Gesicht seiner Mutter, weiß vor Schreck, und hörte ihr verzweifeltes: „Ach, wenn doch der Papa hier wäre!“ Aber er war nicht da. Auch mit diesem Moment musste sie alleine klarkommen. Sie wussten, dass er tot war. Der Feldpostbrief mit der Mitteilung, dass der Vater den „Heldentod“, wie das damals hieß, gestorben war, war schnell gekommen. Und doch war es Eberhard viele Jahre lang, als müsse er auf ihn warten. Glühend beneidete er seinen Klassenkameraden Götz, dessen Vater drei Jahre nach Kriegsende heimgekommen war. Abgemagert, mit erloschenen Augen und mit einem Gesicht, das kein Lachen oder Leuchten mehr trug. Aber er war da, und das schien Eberhard das Wichtigste. Im Jahr darauf bekam Götz ein Schwesterchen, und auch darum beneidete Eberhard ihn. Wie schön musste es sein, eine kleine Schwester zu haben, die man beschützen konnte. Als Eberhard aufs Gymnasium kam, was seine Mutter gar nicht gewollt hatte, aber nach beharrlichem Zureden ihres Pastors ihm ermöglichte, verloren sie sich aus den Augen. Was wohl aus Götz geworden war?

Er zwang seinen Blick wieder auf den Bildschirm und stellte verblüfft fest, dass da wirklich ein Ergebnis stand. Wie lange mochte schon bekannt sein, wo seines Vaters Grab lag, ohne dass er es wusste? In den ersten Nachkriegsjahren hatte seine Mutter oft beim Roten Kreuz nachgefragt, ob man etwas wisse über das Grab ihres Mannes, aber nie war etwas dabei herausgekommen. Irgendwann hatten die Alltagssorgen als Witwe und Mutter die Frage erlöschen lassen. Eberhard las den Namen seines Vaters, das Geburtsdatum, den Dienstgrad, Obergefreiter, und das Datum des Tages, an dem er gefallen war: 17. Januar 1945. Ja, es war bitterkalt gewesen, als die Nachricht eintraf. Er sah das Bild wieder vor sich: die Mutter mit erloschenem Blick am Küchentisch. Sie weinte nicht, und darum weinte Eberhard auch nicht, obwohl er gerne geweint hätte. Manchmal hörte er nachts durch die dünne Wand ihr Schluchzen. Später hatte er es sich gefragt, warum er nicht hinübergegangen war, um die Mutter zu trösten. Aber damals hatte er keinen Trost und keine Worte, die er ihr hätte geben können. Jetzt spürte Eberhard, wie das Elend dieses Winters vor 77 Jahren in ihm aufstieg, das über so viele Jahre in einer Seelenkammer zugeschlossen war. Seine Augen huschten über die dürren Daten: Nowowolynsk, nahe Lemberg, westliche Ukraine. Merkwürdig, dachte er: sie hatten immer gesagt, dass er „in Russland“ gefallen war. Dabei war es ja in der Ukraine gewesen. Und zum ersten Mal stieg in ihm die Frage auf, ob der Vater wohl in „schlimme Dinge“ verstrickt gewesen war. Es war ja viel ans Tageslicht gekommen in den letzten 20 Jahren über die furchtbaren Verbrechen der Deutschen im Osten, bei denen eben auch die Wehrmacht mitgemacht hatte. Er konnte weiter klicken, um Bilder des Soldatenfriedhofs anzuschauen. Ein weites großes Feld, Wege aus Kieselsteinen, viele Kreuze und ein hoher blassblauer Himmel. Und kein einziger Baum, dachte Eberhard, noch nicht mal ein Baum. Dann wurden seine Augen feucht. Er war wieder ein Kind, und ein paar Kindertränen rollten über sein Gesicht.

III.

Leise Schritte kamen die Treppe runter. Hanna stand in der Tür, eine Tasse Tee in der Hand. Sie stellte sie auf dem Tisch ab, sah Eberhard an und dann die Fotos, die der Bildschirm zeigte. Sie schwieg, legte nur ihre Hand auf seine Schulter. Eberhard war seiner Frau dankbar, dass sie nichts sagte. Manchmal in den letzten Jahren hatte er sich gefragt, ob sie sich fremd geworden seien. Aber jetzt spürte er, dass das gar nicht so war. Sie war ihm noch immer nah, las seine Gedanken und verstand ihn. Ein paar Augenblicke war es ganz still und gut zwischen ihnen, und Eberhard fühlte, dass etwas wie Trost durch sein Herz flatterte, wie ein aufgescheuchter Vogel.

Leise ging Hanna wieder nach oben, und Eberhards Blick kehrte zum Soldatenfriedhof zurück. Dort also war die letzte Ruhestätte seines Vaters. 29 war er, als er gestorben war, in einem Krieg, in den er wie die meisten damals ohne die Begeisterung von 1914, aber doch mit einem Gefühl gezogen war, dass er wohl sein musste. Die Nazis hatte der Vater nicht gemocht, daran erinnerte sich Eberhard noch. Aber er hatte geglaubt, es sei richtig, die gottlosen Bolschewisten zu bekämpfen, wie das damals hieß. Vor denen hatten alle Angst. Später hatte die Mutter ihm erzählt, dass der Vater bis zuletzt in seinen Briefen von der Front fast beschwörend die Hoffnung auf den Sieg hochgehalten hatte. Eberhard war jetzt 83. So viele Jahre, die der Vater nicht mehr hatte leben dürfen. So viele zu Asche gewordene Pläne. Kein Tod mit einem Grab, zu dem Kinder und Enkel kommen und weinen konnten und über dem sich ein Baum wölbte als Schatten und Schutz. Ein Vers des Dichters Rilke ging Eberhard durch den Kopf: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ Wieder lief eine einsame Träne über sein Gesicht. Hatte sein Vater einen solchen „eignen Tod“ gehabt?

Da, wo die Kieswege sich kreuzten, entdeckte Eberhard auf dem Bildschirm eine Stele, die hoch in den Himmel aufragte. Er zoomte näher. Fremde Schriftzeichen füllten die Stele, Kyrillisch wohl, doch dann vertraute Schriftzüge auf Englisch und Deutsch: „Gott vergisst nicht“, war da zu lesen. Im ersten Moment las Eberhard die Worte wie einen Vorwurf, aber dann schob er den Vorwurf weit weg. Er hatte ja auch nicht vergessen. Es war alles noch da, die Erinnerungen, die Trauer und auch die Liebe für diesen Vater, den er viel zu wenig kennengelernt hatte. Die Trauer um die Geschwister, die er nicht hatte haben können. Das Mitgefühl für die Mutter, die es so schwer gehabt und nie mehr geheiratet hatte. Und die sich doch kaum je etwas anmerken ließ. Die all Ihren Kummer in sich verschloss, auf ihre stille Art heiter wirkte und ihm das ermöglicht hatte, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt. Ganz plötzlich, mit Mitte 70, hatte sie scheinbar aus dem Nichts eine schwere Altersdepression bekommen. Mitten in jener schweren Zeit war sie gestorben, eines Morgens wachte sie einfach nicht mehr auf. Gott vergisst nicht. Sanft wie ein Windhauch war ihm dieses Wort jetzt, als eine Ahnung von Trost. Wie gut, dass es da noch einen gab, der nicht vergisst, der alle Erinnerungen festhält, dachte Eberhard, die glücklichen wie die schrecklichen. Auf einmal fühlte er sich diesem Gott auf eine merkwürdige Weise nah. Er hatte eigentlich immer ein rationales, distanziertes Verhältnis zum Glauben gehabt und ging nur an den hohen Feiertagen zur Kirche. Aber jetzt wusste er. Und verstand. Gott vergaß nicht.

Das Lachen von Pauline und Marie drang vom Garten her zu ihm. Er hörte die Stimme seines Sohnes dazwischen und dachte erstaunt, wie vieles es gab, was er ihm noch erzählen wollte. Dann ging er nach draußen in die Sonne.
„Sammle meine Tränen in deinen Krug, ohne Zweifel, du zählst sie alle.“


AMEN.

Gott und die Kirche: nicht zu verwechseln !

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Martin Luther liebte bekanntlich die Bibel. Am meisten in ihr liebte er die Psalmen. Und unter denen liebte er über alles den 46. Psalm, den wir eingangs gebetet haben. Er wurde zum Psalm des Reformationstages: weil er mit großer sprachlicher Kraft und eindrücklichen Bildern entfaltet, dass keine Kirche, kein Heiliger und kein noch so beeindruckender Mensch uns die Freiheit eines Christenmenschen bringt, sondern allein Gott selbst.

I.

Schon mit dem ersten Vers dringt der Psalm zum Kern vor, worum es Luther immer gegangen ist: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Es folgt eine Selbstaussage: „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge, wenngleich das Meer wütete und von seinem Ungestüm die Berge mitten ins Meer sänken.“ Starke Bilder. Aber glauben wir das noch? So vieles schiebt sich vor unseren Augen gegen solche Furchtlosigkeit. Dass „die Berge mitten ins Meer sinken“: das ist, etwa auf den Malediven im Indischen Ozean, inzwischen nicht mehr nur ein Bild, sondern schon Realität. Und davor fürchten wir uns. Zu Recht. Zum Fürchten gibt es ja überhaupt mehr als genug Gründe für uns. Von alten Menschen höre ich zurzeit oft, dass sie bis in den Krieg zurückdenken müssen, um zu erinnern, wann es so umdunkelt war zur Zeit. Klimawandel, Pandemie, Krieg, Inflation, Energieknappheit - fünf weltumspannende Krisen, von denen schon jede einzelne die Politik rund um die Uhr in Anspruch nehmen kann. Manchmal frage ich mich: Woher können unsere politisch Verantwortlichen, von Kanzleramt bis zum Dorfrathaus, die Kraft nehmen, diese Mega-Herausforderungen zu bewältigen? Und das, wo sie oft mehr Hass und Verachtung als Verständnis und Unterstützung ernten?

 

Auch Martin Luther hat sich vielfach gefürchtet. Der 46. Psalm mit seinen kraftvollen Bildern über Gottes Stärke und Schutz war ihm ein Zufluchtstext. Es ärgerte ihn, dass für die nun endlich in deutscher Sprache gefeierten Gottesdienste keine für die Leute singbaren Psalmen vorlagen. Die gab es nur auf Latein, was die meisten nicht verstanden. So machte er sich mit Mitarbeitern daran, die Psalmen nachzudichten und sie singbar zu machen. Zu Luthers vielen Begabungen gehörte auch, dass er ein begnadeter Liedermacher war. Es war wahrscheinlich 1527, dass er den 46. Psalm zu dem Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ vertont hat - neben „Vom Himmel hoch“ sein berühmtestes Lied. Damals durchlebte Luther für ihn beängstigende Tiefpunkte. Bis dahin mit robuster Gesundheit gesegnet, trafen ihn 1527 diverse Krankheiten. Mehrfach streckten ihn unerklärliche Ohnmachtsanfälle nieder. Einmal war er überzeugt, seine letzte Stunde sei gekommen. Er verabschiedete sich von Frau und Sohn, und legte ein erschüttertes Schuldbekenntnis ab. Er rappelte sich dann wieder auf - das Gefühl aber, an der Schwelle des Todes gestanden zu sein, schüttelte den 42 Jahre alten Luther durch. Zugleich bricht in Wittenberg die Pest aus. Viele verlassen die Stadt. Dazu kommt eine veränderte Stimmung. Bekam die Reformation zunächst breite öffentliche Zustimmung, so war diese Sympathie durch die Bauernkriege und Luthers einseitig-scharfe Positionierung gegen die Bauern und für die Fürsten weggebrochen. Die reformatorische Bewegung drohte sich zu spalten. Es wurde einsamer um die „Wittenbergisch Nachtigall“.

II.

Gegen diese für ihn existentiellen Erschütterungen schafft Luther ein Vertrauenslied. „Ein feste Burg ist unser Gott…, / er hilft uns frei aus aller Not“. Dieses Lied hatte immer eine besondere Kraft, wenn Ohnmacht und Verzweiflung um die Ecke lauerten. Etwa zur Zeit des sog. Kirchenkampfs im „Dritten Reich“. Da wurde es zum Protestlied. In den Gottesdiensten der Bekennenden Kirche wurde es oft gesungen, meist stehend. Viele sahen damals das Böse in die Kirche eindringen. Sahen Menschen, die, vom braunen Zeitgeist verwirrt, nicht mehr wussten, was sie glauben sollten. Da ging von diesem Lied Orientierung und Halt aus. Gesungen wurde es aber auch schon im 30jährigen Krieg, oder noch früher in den Zeiten der Bedrohung durch die Gegenreformation, oder bei Hunger und Pest. Martin Luther wollte mit ihm eine Art Schutz- und Trutzlied des Glaubens schaffen: gut und tröstlich zu singen für alle, die sich müde und hoffnungsleer fühlen.

Psalm 46 nennt Gott „eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ Eigentlich steht dort das Wort „Zuflucht“. Gott ist unsere Zuflucht. Eine Zuflucht ist ein Ort, wohin ich fliehen kann, wenn ich akut bedroht bin und mich nicht selbst schützen kann. Wo ich an Leib und Leben sicher bin. Etwa wenn Krieg kommt, wenn geschossen wird und Raketen einschlagen. Wir erleben das seit neun Monaten konkret: Europas Länder werden zur Zuflucht für die Menschen aus der Ukraine. Als ich vor 44 Jahren erstmals in Israel war, fiel mir auf, dass dort an vielen Unterführungen und Brücken Schilder standen mit der Aufschrift: „Shelter“. Das war der Hinweis: Wenn hier die Fetzen fliegen, kann man dort Schutz suchen und finden.

Gott als unsere Zuversicht und Stärke, als feste Burg für gequälte Menschen: Wenn das für uns wahr werden soll, dann müssen wir diesen alten Choral aber anders singen als unsere Vorfahren. Man hat diesen Choral zu lange zu laut gesungen. Man hat ihn nur zu gern als deutschnational-protestantische Kampfhymne angestimmt. Gegen Rom zuerst, und dann gleich noch gegen den Rest der Welt. Bis dann kam, was so wohl kommen musste: Viele deutsche Protestanten konnten das Reich, das uns doch bleiben muss, von einem anderen Reich, dem sog. „Tausendjährigen“ nicht mehr richtig unterscheiden. Als es dann vor 77 Jahren nichts mehr zu verwechseln gab, als das „Großdeutsche Reich“ in Trümmern lag, und in ihm auch diese Kirche, da war man der hohen Töne müde. Wollte nichts mehr hören von einem Gott, der mit Wehr und Waffen verglichen wird. Wir sind zu Recht misstrauisch gegen eine Frömmigkeit, die nicht nur den eigenen Leib, sondern dazu auch noch Gut, Ehr, Kind und Weib einfach so dahinfahren lässt, wie es in der Schlussstrophe heißt, die heute viele als eine nicht mehr erträgliche Zumutung empfinden. Kurzum: die evangelischen Christen haben kein einfaches Verhältnis zu ihrem alten Reformationslied.

III.

Das müsste aber nicht sein. Denn eigentlich sollten es alle Christen statt gegeneinander miteinander singen. Denn unser Gott wird ja hier als feste Burg besungen - nicht die (protestantische) Kirche! Zu früheren Zeiten, vor allem in Preußen, wo sie bis 1919 Staatskirche war, hat sie sich wohl gerne so gesehen: als eine Burg, stolz und kühn in der Landschaft stehend, mit ihren Türmen, Mauern und Schießscharten. Die Pracht und Überwältigungsarchitektur unserer Frauenkirche kann ja auch zu Fantasien von einer einflussreichen Kirche verführen. Aber so eine Burg wird in diesem Lied eben nicht besungen. Und die evangelische Kirche tut gut daran, sich nicht mit einem Bauwerk zu vergleichen, das als Denkmal vergangener Epochen in unsere Zeit hineinragt. Ein Bauwerk, das man zwar gerne mal besichtigt, in dem man aber bloß nicht bleiben, wohnen will.

Wie gesagt, es war kein selbstgewisser, heldischer Luther, wie er in der Geschichte des Protestantismus so oft verklärt worden ist, der diesen Psalm vertont hat. Es war ein von seiner Zeit geängstigter Christenmensch in einer vom schwarzen Tod bedrohten Stadt. Die Macht des Bösen schien ihm wie ungehemmt freigelassen. Für Luther, darin noch ganz Mensch des späten Mittelalters, war klar: Da muss der Teufel dahinterstecken! Das ist „der altböse Feind“, ausgestattet mit „groß Macht und viel List“. Und doch ist Luther überzeugt: Nur „ein Wörtlein kann ihn fällen“! Was Luther aus seiner Depression hilft, ist ein kindlich erscheinendes Zutrauen in Jesus Christus. So deutet er die Aussage im Psalm „Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jacobs ist unser Schutz“ ganz ungeniert auf Christus hin. Er ist der „rechte Mann“, der „für uns streitet“. Gott selbst hat ihn erkoren: „Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesu Christ, / der Herr Zebaoth, / und ist kein anderer Gott.“ In all seiner Not empfindet sich Luther bei Jesus aufgehoben. Auch Jesus hat gelitten, auch er kennt das Leid. Das bedeutet aber nun für Luther: Gott leidet nicht nur mit, sondern das Leiden kommt in Gott selbst vor. Das Kreuz, Jesu Mitleiden und seinem stellvertretenden Leiden für uns, wird für Luther der Grund seiner Zuversicht. So enden die Strophen 2-4 des Chorals jeweils mit Worten tiefer Glaubenszuversicht: „Das Feld muss er behalten.“ - „Ein Wörtlein kann ihn fällen.“ - „Das Reich muss uns doch bleiben.“

IV.

Eine Perspektive des Psalms aber hat Martin Luthers Lied nicht aufgenommen. Das ist ein Jammer. In Vers 10 preist der Psalm Gott als den, „der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt.“ Das sind Worte gegen Gewalt und Krieg von großer Klarheit - im Alten Testament nicht selbstverständlich. Schade, dass gerade für Luther, den Theologen des Kreuzes, so wenig wichtig war, dass zum Wort vom Kreuz auch diese Seite gehört, die Jesus so benannt hat: „Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Der Gott, der die große Geborgenheit schenkt, macht zugleich allem Kriegsgerät, aller Kriegswut ein Ende.

Martin Luther war ein Kind seiner Zeit wie wir Kinder unserer Zeit sind, das ist klar. Aber heute, gerade heute ist es doch unerlässlich, klar zu sagen: So tröstlich es ist in dieser dunklen Zeit, dass die Kirche, die Gemeinde Jesu bleibt, dass er „das Feld behalten muss“, wie Luther dichtete, - aber darüber hinaus gilt doch auch: Es wird einmal die Zeit kommen, in der nicht Hass, Waffen und das Recht des Stärkeren siegen werden, sondern die Gewalt der Gewaltlosen, die Macht der Ohnmacht und die Liebe der Geliebten. „Das Reich muss uns doch bleiben.“ Wir Christ*innen sind nicht naiv. Wir können, ja wir sollen vielleicht sogar in unserer persönlichen Lebenshaltung Pazifisten sein. Aber eine politisch verantwortliche Haltung in dieser noch unerlösten Welt kann der Pazifismus wohl nicht sein. Die Kirche Jesu Christi hat nicht erst in den letzten Monaten lernen müssen, dass im Extremfall auch die begrenzte, klar definierte Anwendung von Gewalt verantwortbar ist, um der unbegrenzten Gewalt zu wehren. Dietrich Bonhoeffer hat das mit seinem Weg in die Verschwörung gegen Hitler aufgezeigt. -

Noch einmal zurück zu Martin Luther. Als er im Februar 1546 in seiner Geburtsstadt Eisleben im Sterben liegt, notiert er, als er schon nicht mehr sprechen kann, mit letzter Kraft auf einen Zettel: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Was für ein „Letztes Wort“! Wir stehen vor Gott mit leeren Händen. Aber das heißt auch, mit geöffneten Händen, um zu empfangen, was Gott nun in sie hineinlegt. Wir brauchen uns nur ganz und gar unserem Gott anzuvertrauen, jeden Tag aufs Neue: „Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ - „Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat getroffen“.

Das singen wir jetzt. Noch einmal - aber nun in einer textlichen Übertragung in unsere heutige Zeit, und auch musikalisch in einem schönen Mix der Stile zwischen „klassisch Luther“ und ein bisschen Pop. Auch das ist sehr protestantisch: ecclesia semper reformanda, mit der Kirche wandeln sich auch ihre Texte und Lieder. Und: wir singen es nicht als Evangelische gegen andere Christen, sondern einfach dankbar, dass die Tore dieser festen Burg für alle bedrohlichen Mächte, für „Hölle, Tod und Teufel“, wie Luther gesagt hätte, fest verschlossen, für jeden Sünder aber, der dorthin flieht, sperrangelweit offen sind. Der Herr dieser Burg sieht uns längst kommen und wartet auf uns. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ.

 

AMEN.

Kapernaum ist überall

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

eine im buchstäblichen Sinn bewegende Geschichte. Nicht nur auf der Ebene ihrer Handlung, sondern auch in einem hintergründigen Sinn ist sie zwischen Lähmung und neuem Aufbruch angesiedelt. Irgendwie auch so, zwischen Lähmung und neuem Aufbruch, kommt mir unsere liebe Evangelische Kirche vor, fünf Jahre nach 2017, dem großen Reformationsjubiläum. Gelähmt von Kleinmut, der sich in nostalgischer Rückschau auf die vermeintlich „besseren Zeiten“ ergeht und zugleich einer seltsamen Überheblichkeit, als könne es einfach so weitergehen, wie es über Jahrzehnte gewesen ist. Auf der anderen Seite gibt es an manchen Stellen auch echte Aufbrüche, die Ausbrüche aus der gewohnten Routine sind. Es gibt dort den Mut, liebgewordene Traditionen abzubrechen, weil sie eigentlich nur noch äußerliche Traditionen sind, museal, aber nicht mehr lebendig. Vielleicht tut es uns ja gut, auf diese Geschichte zwischen Lähmung und Aufbruch zu hören: damit wir selber etwas in diese Bewegung reinkommen, die da an einer Straßenecke anfing. In Kapernaum, dem Fischerdorf am See Genezareth, das zu Deutsch „Dorf des Trostes“ heißt.

I.

Die Bewegung, die unser Text nachzeichnet, fängt nicht bei dem Gelähmten an. Der ist so unbeweglich, wie eine 505 Jahre alte Kirche nur unbeweglich sein kann. Nein, die Bewegung fängt erst an, als sich ein Gerücht ausbreitet. „Schon gehört? Jesus ist wieder da! In dem Haus am Ende des Dorfes soll er sein. Kommst du auch mit? Ich mach schon mal los, damit ich auf jeden Fall vorn dabei bin!“ Da gibt es Gerenne und Geremple, da kommt eine richtige Jesusbewegung in Gang. Der Gelähmte merkt, da liegt ein Event in der Luft. Zu diesem Jesus, da würde er auch gern hin. Aber bei dieser Jesusbewegung hat er keine Chance. Es bleibt ihm nur, traurig auf der Bahre liegenzubleiben, auf die ihn sein Schicksal in jeder Hinsicht festgelegt hat.

Dann kommen plötzlich noch vier hergelaufen. Die wissen noch gar nicht, was los ist. Der Gelähmte sagt es ihnen. „Was, Jesus ist da? Da müssen wir auch hin. Willst du nicht mit?“ - „Ach, nur zu gern! Aber ihr seht ja, wie ich hier festliege.“ Und nun handeln diese vier anders als die anderen. Sie lassen den Armen nicht einen gelähmten Mann sein, um nur ja die besten Plätze zu kriegen, sondern sie überlegen, ob da was geht. Sie schauen sich die Bahre an. Und ja, bei geschicktem Anfassen lässt sie sich gut hochheben. Sie packen zu und ziehen mit dem Kranken los.

Versuchen wir uns jetzt einfach mal in diesen speziellen Zug einzureihen. Unsere Fragen und Probleme mit der gelähmten Kirche legen wir gleich mit auf die Bahre drauf. Die sind doch wohl nicht so erdrückend, als dass die Vier sie nicht auch noch mit zu Jesus schleppen könnten. Die haben ja eine Menge Power. Vor allem aber haben sie offenbar ein weites Herz, und viel Phantasie. Kaum sind sie ans Ortsende gekommen, da sehen sie schon die Bescherung. Das Haus, in dem Jesus jetzt ist, ist hoffnungslos überfüllt - wie im letzten Mai, als Michael Patrick Kelly hierher in die Frauenkirche kam. Selbst draußen stehen sie Schlange. Keine Chance mehr, auch nur auf Sichtweite zu Jesus zu kommen. Der Gelähmte kann ihn kaum hören, bei dem hektischen Gewusel draußen. Wieder mal die bittere Bestätigung seines Lebensthemas: Ich bin zu spät dran…

Liebe Gemeinde,

damit könnten theoretisch auch wir wieder abziehen, mit unseren Fragen und Zweifeln. Wenn, ja wenn da nicht diese Vier wären, deren Beharrlichkeit und Phantasie größer sind als unsere Resignation. Not macht erfinderisch: Sie setzen sich kurzerhand über die Konventionen hinweg, hieven sie den Gelähmten auf das Dach des Hauses und fangen an, das Dach abzudecken. Man kann sich anschaulich ausmalen, wie sie da über Jesus gekratzt, gebohrt, geschuftet haben, bis das Loch groß genug ist, den Gelähmten runterlassen. Jesus direkt vor die Füße.

II.

Passen wir jetzt auf, was Jesus mit dem Gelähmten macht. Wenn es gut geht, könnte es nämlich sein, dass dabei auch wir mit unseren Fragen nach der unbeweglichen Kirche in Bewegung kommen. „Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Erstaunliche Worte. In zweifacher Hinsicht.

1. Da heißt es: „Als Jesus ihren Glauben sah...“ Es heißt nicht: „Als Jesus den Glauben des Gelähmten sah“, und schon gar nicht heißt es: „Als sich der Gelähmte zu Jesus bekehrte.“ Nein, von irgendeiner Handlung, mit der der Gelähmte einen entscheidenden Schritt hin zu Jesus getan hätte, kein Wort. Woher auch sollte er die Kraft nehmen, wo er doch so festliegt?! Es heißt einfach: „Als Jesus ihren Glauben sah...“ Also den Glauben der vier Leute, die nicht zuerst gefragt haben: Was bringt Jesus uns? - sondern die fragten: Wen können wir zu Jesus bringen?

Was wäre der Gelähmte ohne diese Vier gewesen? Er wäre wohl noch ewig an seiner Straßenecke geblieben und hätte die große Wende seines Lebens vielleicht nie erlebt. Er wäre so ein Sinnbild für alle geblieben, die von einer bitteren Lebensgeschichte, einer unseligen oder auch verklärten Kirchengeschichte gelähmt sind und keine Vorstellung mehr für die Zukunft haben. Dass es vier Menschen gibt, die für den Gelähmten eintreten, die für ihn Phantasie und Ausdauer, und das heißt: Glauben aufbringen: das erinnert uns daran, was die Kirche, was eine Gemeinde wirklich lebendig macht. Nicht ihre Vergangenheit, und sei sie bedeutend, nicht ihre Gebäude, und seien sie prächtig, auch nicht ein toller Pfarrer oder so - sondern zwei oder drei oder vier Menschen, die sich in Jesu Namen versammeln und stellvertretend für all die trägen oder müden Anderen sich nicht abbringen lassen zu fragen: Wie können wir einen Weg zu Jesus finden - nicht nur für uns selbst, sondern für solche, deren Geschichte ihnen den Zugang zu ihm viel schwieriger macht? Die durch Enttäuschungen oder Schicksalsschläge in ihrem Glauben erstarrt sind? Es gibt nicht nur die Fürbitte, es gibt auch Für-Glaube für die, die selbst nicht mehr glauben können. Ein solcher Fürglaube sagt dem anderen: Auch wenn du nicht glauben kannst, Gott glaubt an dich. Das ist unser aller gemeinsames Ding, das Dach zu öffnen und durch das Loch Verbindung zu Jesus herzustellen.

2. Das zweite, was ich an der Geschichte des Gelähmten erstaunlich finde: Jesus sagt zu ihm „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“. Ich stelle mir diesen Menschen gar nicht wie ein Kind vor. Aber diese Anrede aus Jesu Mund macht deutlich, dass in ihr bereits die Vergebung anfängt. Vergebung der Sünden, das heißt ja: Dein alter Adam, der alte, unbewegliche Greis in dir, der Menschen und Dinge unabänderlich festgelegt hat und immer wieder nur um die Bestätigung der eigenen Vorurteile kreist, der kann noch einmal jung und beweglich werden. Vergebung der Sünden heißt: Du kannst mit dir selbst und deinem Nächsten, ja auch mit deiner Kirche noch einmal neu anfangen! Du vergibst dir nichts, wenn du dir vergeben lässt! Deshalb hat Sündenvergebung etwas mit der Anrede „Kind“ zu tun - denn Kindsein heißt ja, jeden Tag etwas Neues anzufangen. Kinder, deshalb rühren sie uns so an, sind anfängliche Wesen.

III.

Klar, dass die Schriftgelehrten dagegen Einspruch erheben. Das tun Schriftgelehrte immer gern, wenn die Sünde und ihre Vergebung im Namen Jesu so kinder-leicht erscheint. Sünden vergeben - das darf doch nur Gott allein, und nicht ein Mensch, der ja selbst Sünder ist! Sünde heißt doch Trennung von Gott, unüberwindliche Gottesferne. Und die kann logischerweise auch nur von Gott selbst überwunden werden. Theologisch völlig korrekt. So haben wir es in unseren Dogmatik-Lehrbüchern gelernt. Echte Schriftgelehrte lassen keine Lücken. Eine Lücke aber gibt es in unserer Geschichte, und die kann auch durch alle Schriftgelehrsamkeit nicht abgedichtet werden: die Lücke im Dach des Hauses. Dass die von den Vieren wieder ordnungsgemäß geschlossen worden wäre, darüber wird nichts berichtet. Das heißt also, dass der Gelähmte von seiner Bahre unten zu Jesus hoch - und gleichzeitig über ihm durch das Loch im Hausdach den offenen Himmel sieht. Er sieht also, was die auf Jesus herabschauenden Schriftgelehrten nicht sehen: wie in Jesus Himmel und Erde zueinander finden. Das sieht der Gelähmte aus einer Perspektive, die außer Kranken nur kleine Kinder und Sterbende haben. „Kind, deine Sünden sind dir vergeben“ - das hört unser Gelähmter anders als die gelehrten Theologen. Er hört diese Worte, als würden sie ihm direkt vom Himmel gesagt, der ihn wieder Kind sein und somit neu anfangen lässt. Anders gesagt: Er sieht, dass in Jesus eben nicht nur ein Mensch, sondern wirklich - Gott selbst ihm die Schuld vergibt.

Die Schriftgelehrten hören Jesu Wort nicht so. Sie hören einen Begriff, den sie aus der Schrift kennen und den sie in ihrem dogmatischen System für Gott reserviert haben. Liebe Gemeinde, wie viele Worte und Taten Jesu mag es wohl geben, die wir auf den Spuren der Schriftgelehrten in eine falsche Heiligkeit eingezwängt und fest in den Griff unserer Kirchensprache genommen haben: Gnade - Rechtfertigung - Heiligung - Seligkeit - Sünde etc.: Wer spürt noch die Kraft, die eigentlich in diesen großen alten Worten steckt? Da tragen die modernen Schriftgelehrten, also wir Theologen viel Schuld dran, weil wir uns zu wenig Mühe machen, die Aktualität, die diesen Worten innewohnt, durch eine Sprache zum Leuchten zu bringen, die die Menschen heute erreicht. Ich erinnere eine Situation in meinem Studium, als einer meiner Professoren in einer Seminarsitzung scharf dazwischen, als ein Kommilitone mit getragenem Ton von „unserem sündigen Fleisch“ salbaderte. Der Professor forderte ihn auf, die Sitzung jetzt mal zu verlassen und sich auf einem Spaziergang ein paar Gedanken darüber zu machen, wie man vom Glauben redet.

IV.

Nun kann ich mir vorstellen, dass sich mancher zum Schluss fragt: Wo gehöre ich denn nun eigentlich hin? An die Seite der vier Träger? Oder auf die Bahre des Gelähmten? Oder zu dem erstaunten Volk, das einfach zuschaut? Oder gar zu den oberlehrerhaften Schriftgelehrten? Das muss jeder für sich selbst bedenken. Ich weiß nur, dass es in der Gemeinde Jesu immer welche gibt, die die Kraft zum Tragen haben, und andere, die getragen werden müssen. Und dass, da alles seine Zeit hat, jeder von uns mal zu den einen, mal zu den anderen gehört. Martin Luther hat einmal Sätze geschrieben, die für unsere heutige Situation fast visionär sind: „Diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müssten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Haus allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. Hier bedürfte es nicht viel und groß Gesänges. Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sakrament halten und alles auf Wort und Gebet und die Liebe richten.“ - Was für eine Bereitschaft, die ganzen kirchlichen Traditionen auch preiszugeben, wenn es am Platze ist! Was für eine Offenheit zur radikalen Reduktion auf „das eine, das not tut“. Das schwebte Luther vor: die kleine Gemeinde, die sich in einer Wohnung versammelt, in der man einander kennt und miteinander unter dem Evangelium zusammen ist, in der nicht einer predigt und die anderen hören zu, sondern in der man miteinander die Bibel liest und einander Anteil gibt an dem, was einem am Evangelium aufgegangen ist, wie man als Christ im Alltag Jesus treu sein kann, nicht introvertiert, sondern ganz missionarisch; in der man aneinander Seelsorge übt, miteinander Abendmahl feiert und tauft.

Gerade in einer Kirche wie unserer muss man nüchtern festhalten: Diese Gedanken von Luther sind unserer kirchlichen Gegenwart immer noch weit voraus. Und doch sind sie uns schon viel näher, als wir meinen. Denn so oder so ähnlich wird jedenfalls für die, denen es ernst ist mit ihrem Christsein, die Zukunft aussehen. Denn damit unsere Kirche bleibt, kann in ihr vieles nicht mehr bleiben, wie es Jahrzehnte lang war. Und mir ist überhaupt nicht bange davor, im Gegenteil. Denn Kapernaum liegt nicht nur am See Genezareth. Es kann überall sein: Ort des Trostes, der Ermutigung. Überall, wo Jesus hinkommt, können Menschen nicht nur aufatmen, sondern sogar aufstehen, weil ihnen vergeben wird, weil sie nicht auf der Bahre ihrer selbst festgeschnallt bleiben. Und weil ein Glaube erwacht, der weniger an das eigene Heil denkt als vielmehr daran, dem einen Platz bei Jesus zu schaffen, der mit seinem Leben schon am Ende schien. So werden wir, was wir von Gott her sein sollen: ecclesia semper reformanda, die sich immer erneuernde Kirche Jesu Christi.


AMEN.

Gottes WG-Regeln

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

 

der Epheserbrief, aus dem der vorhin gehörte heutige Predigttext kommt, gehört in die zweite Generation der Christen. Allmählich wird die Kirche als Institution erkennbar. Nun geht es darum, dass das große Mysterium, das für den Epheserbrief die Kirche ist, auch nach außen erkennbar werden muss, und zwar durch die Art, wie die Christen miteinander umgehen. Der Verfasser des Epheserbriefs, ein anonym gebliebener enger Schüler des Apostels Paulus, sagt: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (2,19.20) Wir gehören also zu Gottes Wohngemeinschaft. Wir sind nicht mehr Fremde, nicht mehr Gäste, sondern sollen uns in seiner Wohnung „ganz wie zuhause“ fühlen.

I.

Mitglieder einer WG haben Rechte und Pflichten. Unser Predigtabschnitt benennt die Pflichten. Seine beiden ersten Verse lauten: „Achtet nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht wie Toren, sondern als Weise, indem ihr die Zeit auskauft, denn die Tage sind böse.“ Die erste Pflicht lautet also: achtet umsichtig auf euer Leben! Gebt acht auf euch! Euer Leben ist wertvoll, jedes Leben. Wert und Würde hat jedes Leben in sich und unabhängig von allen Leistungen in Gott. Deshalb lebt wie weise Menschen und nicht wie Unweise, wie Toren, die meinen, sich ständig selbst produzieren, rechtfertigen zu müssen, vor den Mitmenschen oder gar vor Gott.

Um im biblischen Sinn ein weiser Mensch zu werden, muss man keineswegs erst ein höheres Lebensalter erreicht haben. Nein, diese Aufforderung gilt allen Christ*innen, ja eigentlich allen Menschen - unabhängig von Bildung und Diplomen. Ein Vorbild dafür finde ich Greta Thunberg, die viel Bewunderte und viel Geschmähte. Die inzwischen 19jährige ist zunächst ein Vorbild für Mut und Zivilcourage - am Anfang vor fünf Jahren, als sie sich ganz allein auf öffentliche Plätze in Stockholm setzte und mit an Sturheit grenzender Beharrlichkeit darauf verwies, dass die Natur mit dem aus den Fugen geratenen Klima uns das zurückspielt, was wir ihr durch unseren way of life antun. Dieser Sommer hat uns das ja vor unserer Haustür auf eine drastische Weise präsentiert. Und später dann Greta Thunbergs Stehvermögen, nicht klein beizugeben durch nicht enden wollendem Hass und Bedrohungen von Leib und Leben. Zugleich ist sie darin auch ein Vorbild für Weisheit, weil sie so unbeirrt dabei bleibt und dafür eintritt, dass die Menschheit ihrem Dogma den Abschied geben muss, dass der Mensch sich selbst das Maß aller Dinge ist. Ich weiß nicht, ob Greta Thunberg ein religiöser Mensch ist. Aber mit dieser Unbeirrbarkeit, den Finger immer wieder in diese Wunde der menschlichen Maßlosigkeit zu legen, ist sie nah dran an dem, was für die Bibel Weisheit ist. „Lehre uns unsere Vergänglichkeit bedenken, damit wir ein weises Herz gewinnen“, heißt es im 90. Psalm.

Unser Text knüpft sein Zutrauen, dass wir als Mitbewohner in Gottes Haus weiser werden können, an die Feststellung: „Die Tage sind böse“. Wie aktuell das ist, muss ich gar nicht weiter ausführen. Es ist selbsterklärend bei der aktuellen Großwetterlage - das Wort ist wörtlich und übertragen zu nehmen. Und weil die Tage böse sind, sollen wir, so heißt es hier, „die Zeit auskaufen“. Was Luther hier mit diesem etwas zopfigen Wort übersetzt, ist auch im griechischen Original nicht ganz klar zu deuten. Gemeint ist jedenfalls nicht, in einer Art Torschlusspanik unserer Lebenszeit ein Maximum an Intensivierung und Effektivierung auszupressen und uns damit total zu überfordern. Sondern eher, die Zeit in der Weise zu nutzen, dass wir sie wirklich wach und ausgeschlafen wahrnehmen und ihre „Zeichen“ erkennen, auch die Botschaften, die sie an mich aussendet: Was ist jetzt an der Zeit für mich? Und dann schwingt auch noch mit, dass dieses „Auskaufen“ in der antiken Welt an ein Freikaufen auf dem Sklavenmarkt erinnert - christlich gewendet: ein Freikaufen von der Sünde, von dem, was mich immer wieder von Gott und von den Mitmenschen trennen, mich nur auf mich selbst fokussieren will. Die Zeit nutzen, das sollen wir als von unguten Fesseln Befreite, als Gottes Mitbewohner, die für Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einstehen. Vor allem aber kennen wir als Gottes WG-Genossen die Hoffnung: die bösen Tage sind begrenzt. Sie dauern nicht ewig. Gott selbst hat ihnen ihre Grenze gesetzt. Diese Hoffnung macht unseren Einsatz nicht überflüssig, im Gegenteil, sie beflügelt ihn.

II.

Dann wird die nächste Pflicht in Gottes Wohnung aufgeführt: „Deshalb werdet nicht unvernünftig, sondern versteht, was Gottes Wille ist.“ Wieder die Aufforderung, zu verstehen! Den Willen Gottes kann ich nicht so einfach auswendig lernen und dann aufsagen. Er liegt nicht wie ein Keks in der Dose. Ich kann nicht mit einzelnen Bibelworten wie ein senkrecht vom Himmel gefallenes Gotteswort um mich werfen, sondern ich muss mich mühen zu verstehen, was sie mir jetzt sagen wollen. Muss fragen: Was ist der Wille Gottes heute, für mich, oder für uns in Kirche und Gesellschaft? Das ist häufig ganz schön strittig. Zumal in unserer evangelischen Kirche, die kein oberstes Lehramt kennt, das uns sagt, was wir zu glauben haben und was nicht. Gerade in komplexen ethischen Dilemma-Situationen, wie bei der Frage der Lieferung sog. schwerer Waffen an die Ukraine, oder welche evt. einschneidenden Maßnahmen wir gegen die drohende Energieknappheit einleiten müssen, um über den Winter zu kommen.

Um etwas zu verstehen, brauche ich einen klaren Kopf. Deshalb ist die Mahnung des Textes kein moralinsaurer Spielverderber, auch wenn sie erstmal so klingt: „Sauft euch nicht voll Wein, das bringt nur Unheil, sondern seid vom Geist erfüllt.“ Hier geht es nicht um wilde WG-Partys, die es sogar in Dresden geben soll. Hier geht es um die Party in Gottes Wohngemeinschaft: nämlich um den Gottesdienst und das Zusammensein der Gemeinde. Ich weiß nicht, ob die Epheser beim Abendmahl dem Wein besonders zugesprochen haben. In der von Paulus gegründeten Gemeinde in Korinth kam das, wie man weiß, wiederholt vor. Immerhin ist das Zentrum des christlichen Gottesdienstes die Mahlgemeinschaft; und die war damals noch eine richtige Mahlzeit. Zu ihr gehörte natürlich Wein, denn der erfreut des Menschen Herz, er wurde von Christus eingesetzt und ist ein Symbol des Festes. Die Mahnung im Epheserbrief zielt auf die zweite Hälfte des Satzes, auf Gottes Geist. Um den Willen Gottes zu verstehen, braucht es einen klaren Kopf, und es braucht Begeisterung. Gottes Geist soll unsere Wohn- und Gottesdienstgemeinschaft erfüllen.

III.

Dazu braucht er äußere Mittel, die abschließend in unserem Abschnitt genannt werden: „Lasst euch vom Geist erfüllen, indem ihr einander mit Psalmen, Hymnen und Liedern ermuntert, indem ihr dem Herrn singt und spielt in eurem Herzen, indem ihr allezeit für alles Gott dem Vater dankt im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Äußerlich wirkt Gottes Geist unspektakulär, fast unscheinbar. Er ist es deshalb, weil er immer der Geist Christi ist. Er wirkt in der Kommunikation, in der Begegnung. Eigentlich jedes Mal, wenn ich einem Menschen begegne, kann ich damit rechnen, dass mir dabei Gottes Geist etwas schenkt und zu verstehen gibt.

Zur gottesdienstlichen Begegnung und Kommunikation gehören Psalmen und Hymnen: alte, aber auch neue Lieder, die sie in die jeweilige Sprache und die Kontexte ihrer Zeit übersetzen. Bei den geisterfüllten Liedern dachten die Epheser an ihre Begabung, mit Hilfe des Geistes neue Lieder zu erfinden. Als Protestanten sind wir dankbar und, ja, auch ein bisschen stolz auf den enormen Reichtum, den Schatz unserer Lieder von Martin Luther bis Paul Gerhardt, von Matthias Claudius bis Manfred Siebald. Sie stellen uns in eine lange Tradition, sie werden in unseren Gottesdiensten in der Frauenkirche oft besonders üppig und herrlich musiziert. So macht Gottes Geist unser Singen zum Mittel, um präsent, gegenwärtig zu werden. Immer wenn ich Musik höre oder selbst singe, soll ich damit rechnen, dass mir dabei Gottes Geist etwas schenkt und zu verstehen gibt und das Herz erhebt.

Zum Singen helfen soll uns, meint unser Text, dass wir „allezeit für alles Gott dem Vater danken im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Von dem großen Mystiker Meister Eckart stammt die Aussage: „Wäre das Wort ‚Danke‘ das einzige Gebet, das Du je sprichst, so würde es genügen.“ Die Muttersprache des Dankens, denke ich, ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Deshalb sind Musik und Lieder wichtiger als alle Predigten und Lehren. Man denke an David: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch kluge religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel.

IV.

Was Lieder für ein Kraft haben! - John wälzt sich auf dem Sofa hin und her. Es ist schon Mittag. Der Schädel brummt wie verrückt, der Kater trocknet ihm die Kehle aus. „Wie konnte ich sie nur wieder so beschimpfen! Jetzt wird sie mich für einen anderen verlassen. Ich kann nicht schlafen. Es hat doch alles keinen Sinn!“ - „Kauft die Zeit aus, singt und spielt dem Herrn in euren Herzen und dankt Gott allezeit für alles - das würde John jetzt grotesk und zynisch in den Ohren klingen. Es bricht aus ihm heraus: ich bin ein Niemand! Das Beste aus meiner Zeit machen? Wünsche, Ziele, Sehnsüchte - in seinen Gedanken führt alles ins Nichts. John ist ein berühmter Mann. Doch in ihm ist nur Leere, und seine Ehe ist am Kippen. In diesem traurigen Zustand findet ihn sein Kollege und Freund Paul vor. Johns Gedanken formen sich zu dem vor sich hin gemurmelten Vers: „He’s a real nowhere man, sitting in his nowhere land, making all his nowhere plans for nobody“. - Er ist ein echter Nirgends-Mann, sitzt im Niemandsland und macht Nirgends-Pläne für niemanden… Klingt total desolat - aber Paul muss doch auch schmunzeln. Irgendwie liegt auch Witz in diesen Worten. So langsam dämmert John seine Situation. Jetzt wacht er auf, kann wieder etwas tun. „Du Nirgends-Mensch, die Welt steht dir trotzdem offen!“, dichtet er weiter. Der Nowhere Man fasst Vertrauen ins Leben und öffnet sich anderen: „Leave it all till somebody else lends you a hand.“ Gemeinsam finden John und Paul eine heitere Melodie, die die Finsternis auf die Schippe nimmt. Aus einer großen inneren Leere heraus wird ein humorvoller Welthit geboren: „Nowhere Man“ von Lennon/McCartney. Ein Balanceakt zwischen Hilferuf und Selbstbehauptung, Klage und Lebenslust.

„Singt und spielt dem Herrn in euren Herzen.“ Erzählt ihm euer Leben, wie es ist, singt vom Schmerz und von der Freude, von der Fülle und der Leere, von Finsternis und von Licht, und Gott wird euer Lied in einen Lobgesang verwandeln.

 

Amen.

 

Gott will zu allen

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

hier versucht einer, im Lärm der Welt Gehör zu finden. Nicht nur bei denen in Hörweite, sondern weltweit: „Hört mir zu, ihr Inseln und Völker in der Ferne!“ Er hat kein Mikrophon, kein Smartphone, kein Facebook und Twitter. Er hat nur seine Stimme. Es ist nicht die Stimme des Herrschers einer Weltmacht. Im Gegenteil, es ist die Stimme eines Anonymus, der in dunkler Zeit spricht. Das Gottesvolk befindet sich in der Entwurzelung: es ist die Zeit des Exils in Babylon, wohin die führenden Schichten Israels nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 durch den babylonischen Potentaten Nebukadnezar zwangsverschleppt worden waren. Eine lähmende, depressive Zukunftslosigkeit hatte sich breit gemacht. Angesichts der übermächtigen babylonischen Supermacht hatte lange Zeit alles grau in grau ausgesehen. Die realen Erfahrungen fraßen alle Hoffnungen auf bessere Zeiten auf. Das muss man sich mal vorstellen: Ein total Machtloser, einer, der nichts hat und nichts gilt, wendet sich an die Welt. Und das nicht mit einer Anklage gegen die Unterdrücker oder einem Hilferuf, sondern mit einer unglaublich hoffnungsvollen Botschaft für und an die Welt.

Unser Text ist eine von vier berühmten Prophetenreden, die wir im mittleren Teil des Jesajabuchs finden. Man nennt sie die Gottesknechtslieder. Sie zählen zu den großen, bewegenden Texten der Bibel. Wer ist dieser ominöse „Gottesknecht“? Der Prophet selbst, oder ein anderer, Unbekannter? Oder gar das Gottesvolk als Kollektiv? Darüber rätseln die Ausleger bis heute. In dem Gottesknechtslied, das wir heute bedenken, spricht der Prophet tatsächlich von sich selber. „Du bist mein Knecht“, hat Gott zu ihm gesagt, und: „Ich mache dich zum Licht für die Völker“. Der Prophet hätte das sicher nie von sich selber gesagt: Ich bin das Licht für die Völker. Aber ein halbes Jahrtausend später kam einer in Israel, der seine Heiligen Schriften und dieses Gottesknechtslied kannte und sich ihn ihm erkannte: Dieser Gottesknecht bin ich! Und der darum von sich sagte: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12). Und das dann sogar in einem unglaublichen Zutrauen auf seine Leute ausgeweitet hat: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). - Wir werden also in dem geheimnisvollen „Gottesknecht“ mehr als nur den Propheten sehen, der hier spricht. In dem, was der Prophet hier sagt, von seiner Berufung, von seiner Angst, von seinem universalen Auftrag, kommt etwas zum Vorschein, was Gott mit der Welt vorhat. Man kann es einfach sagen: Gott beschränkt sich nicht auf sein auserwähltes Volk. Er will zu allen. Von daher sind mir drei Dinge an diesem Text wichtig geworden.

I.

Gott will zu allen: Deshalb nimmt er Menschen in seinen Dienst. - Gott will seine Welt wiederhaben, die ihn vergessen hat und ihre Sache selbst in die Hand nehmen will. Die sich aber zerstören würde, wenn Gott sie sich selbst überließe. Weil Gott das nicht will, hat er eine Gegenbewegung gegen die Todesmechanismen der Welt in Gang gesetzt. Sie beginnt mit der Erwählung Israels zum Hoffnungsträger für die Welt. Nicht etwa, weil es ein besonders großes und starkes Volk war. Das war es ja notorisch nicht. Aber Gott will die Geschichte zum guten Ende der Welt nicht mit solchen machen, die sich selbst als Herren der Weltgeschichte aufspielen. Die Menschen in der Ukraine erleiden jetzt ja peinigend, was das heißt. Es ist andersherum: Gott beruft Menschen, die sich selber loslassen und sich ihm anvertrauen können.

Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war“, sagt der Prophet von sich. Ehe er also denken konnte, hat Gott schon an ihn gedacht. Genauso war das auch bei Jeremia: „Ich sonderte dich aus, ehe du von deiner Mutter geboren wurdest“, sagt Gott zu ihm. Und später auch bei Paulus - wie auch bei uns in der Gemeinde der Gottesmägde und Gottesknechte. „Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wollest werden“, dichtet Paul Gerhardt im Weihnachtslied. Und so hat Gott heute auch zu Florentin und Rosalie in ihrer Taufe gesagt wie hier zum Propheten: Du bist mein Knecht, meine Magd. Auch durch dich sollen Menschen auf mich neugierig werden, sollen erfahren, dass ich Gutes mit ihnen will, dass ich sie liebhabe. Auch wenn wir uns dazu gar nicht für geeignet halten. Die Bibel kennt das. Mose: „Herr, ich bin keiner, der öffentlich reden kann. Da komme ich ins Stottern.“ - Jesaja: „Herr, ich habe unreine Lippen.“ - Jeremia: „Herr, ich tauge nicht dazu, ich bin viel zu jung.“ - Sind uns solche Einwände fremd? Wohl kaum. Ich kann das nicht, die krebskranke Nachbarin besuchen. Ich krieg das nicht hin, meinen Kindern biblische Geschichten erzählen. Ich trau mir nicht zu, für den Kirchenvorstand kandidieren. Bei der Flüchtlingsarbeit oder beim Hospiz mitmachen. Aber Gott lässt solche Einwände nicht gelten. Die Bibel erzählt in vielen Geschichten: Wem Gott eine Aufgabe zeigt, den macht er dann auch fähig dazu. „Gelobt sei der Herr täglich. Er legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“, heißt es im 68. Psalm.

II.

Gott will zu allen: Deshalb trägt er Menschen in ihren Erfahrungen von Vergeblichkeit und Scheitern. - Eigentlich müsste Gott, wenn er jemand in seinen Dienst nimmt, ja auch dafür sorgen, dass etwas dabei rumkommt. Dass Menschen, und zwar immer mehr, sich von ihm treffen und ihr Leben von ihm verändern lassen, so dass andere aufmerksam werden und ins Nachdenken kommen. Wie in der Antike bei Augustinus, im Mittelalter bei Franz von Assisi oder in unserer Zeit bei Frère Roger von Taizé. Aber es kann eben auch anders sein. So wie hier, dass einer die frustrierende Erfahrung macht: „Ich dachte, ich arbeitete vergeblich, verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz“. Es beeindruckt mich, was für ein ehrliches Buch die Bibel ist, dass solche Erfahrungen der Vergeblichkeit, des Scheiterns Platz in ihr haben. Darin spiegelt sich ja viel von unserer Realität. Die Eltern, die ihre Kinder immer wieder ermuntern, mal mit in den Gottesdienst zu kommen - und ernten nur ein genervtes Augenrollen. Der Pastor einer Landgemeinde, der sicher nicht nach dem Motto lebt: Wie erhalte ich der Kirche einen rüstigen Rentner? Sondern sich abmüht, Besuche macht ohne Ende und täglich für das Wachsen seiner Gemeinde betet - und dann kommen jeden Sonntag doch nur dieselben 15 bis 20 Gesichter. Und der sich irgendwann fragt: Lohnt das alles noch? Sollte man das marode Kirchengebäude wirklich für viel Geld sanieren? Statt zu wachsen, scheint die Kirche überall nur abzunehmen. Und darum erwarten die Menschen von der Kirche manchmal vielleicht noch Herzbewegendes (hier im barocken Glanz der Frauenkirche ist das wohl so), aber nichts Weltbewegendes mehr. - Alles Erfahrungen, die einen ganz schön mürbe machen können.

Aber nun ist es hilfreich zu sehen, wie unser Mann aus dem alten Gottesvolk mit seinem Frust umgeht. Offensichtlich lässt er sich davon nicht in die Resignation treiben. Das schafft er dadurch, dass er den Blick von der Fixierung auf die trostlose Gegenwart löst und ihn zurück auf den Anfang lenkt. Er macht sich klar: Nicht ich habe mich ja zu diesem Dienst gedrängt, sondern Gott hat mich dazu gerufen. Und deshalb muss auch nicht ich über Erfolg und Misserfolg meiner Arbeit befinden. Mir kommt es zwar vor, als käme bei dem, was ich tue, nichts heraus. Aber: „Mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn ist bei meinem Gott“. Im Klartext: Mein Tun wird nicht gerechtfertigt durch das, was ich kontrollierbar erreicht habe, wieviel Menschen sonntags zu mir in die Kirche kommen, wie viele ich pro Jahr getauft habe, wie hoch die Kollekten sind, wie viele sich nach dem Gottesdienst bedanken. Sondern mein Dienst hat seine Legitimation einfach darin, dass Gott Ja zu mir gesagt und meine Berufung nicht zurückgenommen hat. Zu seinem Volk, zu seinen Botschaftern zu gehören, ist mir genug. Das lohnt auf jeden Fall! Von Gott, und uns als seinen Werkzeugen, gehen Wirkungen aus, die sich menschlicher Messbarkeit entziehen.

III.

Gott will zu allen: Deshalb gebraucht er Menschen zum Heil-Werden der Welt. - Gott zieht seine müde gewordenen, sich scheinbar für nichts und wieder nichts abmühenden Dienstleute nicht aus dem Verkehr. Er verengt auch nicht ihren Aktionsradius, im Gegenteil: er erweitert ihn noch! Er setzt ihnen neue Ziele und öffnet ihnen den Blick für das Universale ihres Dienstes. Sie sind nicht an einer Winkelsache beteiligt, sondern sie arbeiten - auch in der kleinsten Lausitzer Dorfgemeinde - im Welthorizont. Wir alle sind durch unsere Taufe Glieder am universalen Leib Christi, und als solche sind wir Global Player. Unser Prophet bekommt zu hören: „Ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde“. Auch zu den ganz Fernen, auch zu denen, die weit weg sind von Gott, mit ihm und seiner Gemeinde nichts am Hut haben, zu denen „am Ende der Erde“. Und die müssen nicht über dem Ozean sein, die sind über dem Hausflur oder der Straße. Auch zu ihnen will Gott hin und ihr Leben verändern.

Liebe Gemeinde, das sollte die Frage sein, die aus diesem Gottesdienst mit uns geht und uns - jedenfalls soweit wir Christen sind - hoffentlich ein bisschen in Unruhe bringt: Macht uns das zu schaffen, dass so viele Menschen, denen wir täglich begegnen, nichts davon wissen wollen, dass Gott sie einlädt zu einem Leben mit ihm? Sind wir bereit, uns dafür von Gott gebrauchen zu lassen, dass Menschen, mit denen wir zu tun haben, mit Gott in Kontakt kommen? Es macht mir schon zu schaffen, wie „schicksalsergeben“ wir darauf reagieren (oder eben nicht reagieren), dass Jahr für Jahr immer mehr Menschen mit der Kirche abschließen.

Vor vielen Jahren saß ich mit Tausenden junger Leute auf dem kalten Boden einer Stuttgarter Messehalle und hörte Frère Roger zu, dem Gründer von Taizé. Er sagte damals: „Wenn einer auch nur ganz wenig von Gott weiß, wenn er nur ganz wenige Erfahrungen mit ihm gemacht hat, so hat er doch so viel, dass er einen anderen auf ihn aufmerksam machen, dass er einem, der nach Leben hungert, zeigen kann, wo es Brot gibt, und ihn vielleicht ein Stück weit dahin mitnimmt.“ - Ich füge hinzu: Dass er einen, der im dunklen Keller seiner Traurigkeit, seiner Angst, seiner Verbitterung sitzt, behutsam ans Licht führt. Das können wir alle.

Amen.

 

Die Abwesenheit des Heiligen

Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik


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Liebe Gemeinde,

heute steht die Bach-Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ im Mittelpunkt. Wir werden sie nachher hören. Sie hat es zu besonderer Popularität gebracht. Das liegt einmal natürlich an der hinreißenden Musik. Es hat aber auch damit zu tun, dass diese Kantate in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung in Bachs großen Kantatenwerk Bachs einnimmt. Sie ist eine der ganz wenigen Solokantaten, also ohne Chor, für Solo-Sopran und Trompete. Und ihre Musik verlangt beiden, der Singstimme wie dem Instrument, Außerordentliches ab. Teilweise, vor allem im Schlusssatz mit seinem „Halleluja“, klingt es fast wie in einer Opern-Arie. Wir werden es dann hören.

Aber das sind kompositorische Dinge. Wie steht es geistlich, inhaltlich mit dieser Kantate? Dazu einige Gedanken. Zunächst kommen wir um die nüchterne Feststellung nicht herum, dass wir nicht nur diese Bach-Kantate mit sehr anderen Empfindungen hören, als sie die Hörer*innen damals zu ihrer Entstehungszeit hatten - und für die auch J. S. Bach die Vorstellung gefehlt hätte. „Dass wir ihm fest vertrauen, / Gänzlich uns lass'n auf ihn, / Von Herzen auf ihn bauen, / Dass uns'r Herz, Mut und Sinn / Ihm festiglich anhangen“: Am 15. Sonntag n. Tr., wahrscheinlich (ganz genau wissen wir es nicht) im Jahr 1730, das war damals der erste Septembersonntag, hörte die Leipziger Thomaskirchengemeinde in diesem Text den gesungenen Nachhall zur Predigt. In einer Form, die man mutmaßlich mit mehr Genuss als die Predigt konsumierte. Denn glücklicherweise hatte Luthers Reformation nicht jede Kunst aus dem Gottesdienst ausgetrieben. Aber dass die Künste dem Wort dienstbar bleiben mussten, verstand sich auch in der Leipziger Thomaskirche von selbst. An dieser ehernen Hierarchie änderte eine miserable Predigt so wenig wie eine begnadete Musik.

Zugespitzt gesagt: Auch der Text einer Kantate kann so hölzern sein wie der dieser Cantata 51 – die Musik ist dafür geschaffen, dass man ihn hören soll, und sie schafft es auch, dass er sich hören lässt. Und in unseren Ohren sorgt sie jetzt dafür, dass wir ihn gegebenenfalls auch überhören können. Er geht in Bach einfach auf wie Salz in der Suppe, der seltsame Text, und die Frage bleibt uns erspart, wie er uns, für sich genommen, schmecken würde, ohne die Musik. Wir hören nicht Gottes Wort, wir hören Bach. Mit weniger gibt sich ein heutiges Publikum nicht zufrieden, während für die Thomasgemeinde um 1730 die menschliche Unvollkommenheit auch in dieser Form im Lob Gottes eingeschlossen gewesen war. Es genoss die Erleichterung von der Schwere des Wortes durch die schönen Töne, während wir auch ihre geistliche Dimension vor allem ästhetisch wahrnehmen. Uns packt die unglaubliche Strukturiertheit, dass präzise Durchkomponierte der Bachschen Musik, weshalb man sie gerne „objektiv“ oder „absolut“ nennt. Was zu Bachs Zeiten nur einige Kenner gehört haben - den einzigartigen Rang dieser Musik -, gehört heute allgemein zum Ruf, die ihr vorausgeht, zur Aura, die sie umgibt. „Nicht Bach, sondern Meer sollte er heißen“, hat Albert Schweitzer voller Ehrfurcht gesagt, der wohl größte Bachforscher und -kenner seiner Zeit.

Wahrscheinlich erscheint uns Bach auch darum als beispiellos, als Solitär, weil die sakrale und soziale Umgebung seiner Musik so restlos weggebrochen ist. Ganz anders als die großen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts, von Mozart bis Wagner, gibt Bach als Person kaum etwas her zum Faszinosum. Sein Musikerhaushalt, die Wohngemeinschaft mit seinen Schülern inklusive, ist, bis zu Schlafrock und Perücke, von durchdringender Biederkeit, die kaum durch ein paar Anekdoten aufzulockern ist. Wir sehen einen bürgerlichen Musikmeister am Werk, der nach Brot geht und nicht ohne Pfiffigkeit die nächstbessere Stelle sucht, die ihm auch die Butter dazu verspricht. Diese professionelle Mobilität ist die auffälligste Bewegung, die man an ihm wahrnimmt, bevor er sich 1723 dauerhaft in Leipzig niederlässt, bis an sein unspektakuläres Ende. Ein solches Leben gibt kein Künstler-Narrativ her. Aber dann im 20. Jahrhundert hatten die Erschütterungen und Umstürze des überkommenen Menschenbildes die merkwürdige Nebenwirkung, Bachs Licht immer stärker und unangefochtener leuchten zu lassen. Er wurde für die Moderne und Postmoderne der Inbegriff absoluter, objektiver Kunst. Die sie auch schon für ihren Urheber gewesen war - aber für ihn als demütige Spiegelung der objektiven Allmacht einer absoluten Größe. „Muss gleich der schwache Mund von seinen Wundern lallen, / So kann ein schlechtes Lob ihm dennoch wohlgefallen.“

Und fasziniert können wir die grandiosen Sopran-Koloraturen seines Halleluja im Schlusssatz hören, ohne die Verpflichtung, was wir hören, auch zu glauben. Man ist kein Spielverderber, wenn man daran erinnert, dass wir diese Kantate ganz außerhalb des Kontexts genießen, in dem sie komponiert wurde und ohne den sie nicht entstanden wäre. Es wäre schon viel, wenn es uns gelänge, ihren Resonanzraum gegen den obligatorischen Lärmpegel des Gottes unserer modernen Welt, nämlich des Marktes, abzudichten. Dieser Gelegenheit verdanken wir das Erlebnis einer aus ihrem Zusammenhang entnommenen Kunst als Absolutum. Es ist gerade ihre Ferne, die die größte Nähe erzeugt: als wären in ihr Fernweh und Heimweh eins geworden.

Ja: Bachs Musik hat die seltene Eigenschaft, die Leere, in der wir sie hören, nicht zu übertönen, nicht zu verkleiden, nicht zu beschönigen, sondern fühlbar zu machen. Sie macht uns Musik-Kunden zu Lauschenden. Wir hören etwas nach, das auf keinem Markt zu haben ist - weil man es überhaupt nicht haben kann. Das Schöne sei „nichts als des Schrecklichen Anfang“, sagt Rilke in einer seiner Duineser Elegien. Und weiter: „…und wir bewundern es so, / weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“. Etwas von dieser schrecklichen Schönheit berührt uns in Bachs Kantaten, die uns vom Heiligen nur eines, dies aber unüberhörbar zu melden haben: Es fehlt, und es fehlt uns. Unter dem Eindruck dieser überwältigenden Abwesenheit werden wir, in Bach, fast wieder eine Gemeinde. Und dann können wir das Lob Gottes in dieser Kantate 51 auch als Klage hören. Wenn uns da ein Trost bleibt, hat ihn vielleicht nur Bachs Musik zu bieten.

AMEN.

Die Bekehrung des Ananias

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der vorhin gehörte Predigttext erzählt das sprichwörtlich gewordene „Damaskuserlebnis“. Von den Begleitern des Paulus heißt es dort: „Sie standen sprachlos da.“ Ja, man kann sprachlos werden angesichts dieser grundstürzenden Lebenswende, die hier überliefert ist. Am Anfang hören wir: „Paulus raste vor Wut und Mordgier gegen die Jünger des Herrn.“ Am Schluss heißt es: „Alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus“. Was für eine Wende! Vor 30 Jahren war aus guten Gründen viel von den „Wendehälsen“ die Rede, die vor 1989 ihr „Er lebe hoch!“ auf Honecker & Co. angestimmt hatten, und danach gar nicht flott genug im Kapitalismus ankommen konnten. War die große Wende, die Paulus vollzogen hat, war dieses ebenfalls sprichwörtliche „Vom Saulus zum Paulus werden“ eine echte Wende? Dabei bekommen leicht übersehene Einzelheiten in dieser Erzählung ihr besonderes Gewicht.

I.

Musikliebhabern wird diese Geschichte Klänge aus Mendelssohns Oratorium „Paulus“ durchs Ohr gehen lassen. Sie spielt sich vor und in Damaskus ab. Das war kein unbedeutender Fleck irgendwo an der Peripherie. Damaskus war in der damaligen Zeit eine echte Metropole, wie heute Berlin, London oder Paris. Eine Weltstadt mit Atmosphäre und Kultur, ein Soziotop konkurrierender Weltanschauungen und Lebensentwürfe. Die Römer haben beflissene Beamte eingesetzt, die dort die Verwaltung innehaben. Wer sich zu auffällig benimmt, wird überwacht. Paulus wird später einmal durch ein Fenster in einem Korb die Stadtmauer hinabgelassen, um sein Leben vor dem Zugriff der Besatzungsmacht zu retten. Dort in Damaskus gibt es auch eine junge, sehr kleine Gemeinde von Christen. Um nur ja nicht aufzufallen, führt sie eine unauffällige Nischenexistenz. Man gibt sich gegenseitig Nestwärme und schaut sorgfältig darauf, dass nur die dazugehören, denen alle vertrauen können.

Unsere Geschichte wird in allen Bibeln mit der Überschrift „Die Bekehrung des Paulus“ versehen. Es ist hier aber nicht nur von einer Bekehrung die Rede, sondern untergründig noch von einer zweiten. Und erst die macht es möglich, dass das, was Saulus vor Damaskus erfährt, wirklich zu einer Bekehrung wird. Aber dazu müssen wir diese Geschichte von hinten her lesen – indem wir unseren Blick ein bisschen von Saulus weg und auf jemand anderen richten: jener Christ aus Damaskus namens Ananias. Deshalb soll heute von der Bekehrung des Saulus zum Paulus die Rede sein, indem ich die Bekehrung eigener Art, die Ananias erfährt, in den Blick nehme.

Die Bibelkundigeren mögen sich wundern. Dieser Ananias, wer ist das schon?! Er taucht noch ein einziges Mal kurz auf in der Apostelgeschichte, er ist keiner der großen Namen, eher eine Randfigur. Ananias ist der Pastor der kleinen Christengemeinde in Damaskus. Er tritt erstmals in dem Moment auf, da er erfahren hat, das Saulus, der gefürchtete Christenfresser, ante portas ist – versehen mit Vollmachten aus Jerusalem, Frauen und Männer, die sich in Damaskus zur Gemeinde Jesu Christi bekennen, zu verhaften. Man kann sich vorstellen, wie es Ananias zumute ist und was er jetzt als seine Aufgabe ansieht: unauffällig für seine Gemeinde da sein, sie schützen, mit ihr im Verborgenen bleiben. Und dann hört er wie aus dem Nichts Gottes Anruf. „Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann namens Saulus von Tarsus“. Ausgerechnet an diesem unscheinbaren Repräsentanten einer kleinen Gemeinde entscheidet sich, ob Paulus, der große Völkerapostel, wirklich erkennt, was Gott mit ihm vorhat, ob das, was ihm vor den Toren von Damaskus widerfahren ist, wirklich zum „Damaskuserlebnis“ wird oder nicht. Ananias soll sich nicht weiter verkriechen, sondern raus, hin zu Paulus, und das ins Zentrum der Stadt. Die Gerade Straße war damals in Damaskus die Magistrale, der Prachtboulevard. Wie die Champs Elysées in Paris oder Unter den Linden in Berlin. So war es mit dem Evangelium von Anfang an: Es lässt sich durch nichts aufhalten; es kann mich ansprechen, wo ich ganz bei mir selbst bin, so wie Ananias, als ihm Gott erschien. Dasselbe Evangelium bleibt aber nicht im Leisen, Verborgenen. Es lässt sich nicht aufhalten und drängt hinaus auf die Gassen und die Prachtstraßen, auf die Märkte und Plätze.

II.

Es folgt der nächste Schritt zu seiner Bekehrung: Ananias blockt, wehrt ab! „Herr, ich habe von vielen gehört, wieviel Böses dieser Mann deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat“. Daraus spricht nicht nur Angst vor dem berüchtigten Christenverfolger, sondern auch ein gehöriger Schuss Misstrauen, ja Resignation. Ananias mag bei sich denken: Ist das wirklich Gottes Stimme gewesen, die ich gehört habe? Kann Jesus einen so fanatischen Gegner wie diesen Saulus umkrempeln? Ist das wirklich eine dauerhafte Bekehrung von Grund auf, oder eher nur ein vorübergehendes Nachgeben in der Schwäche und Blindheit? Isst und trinkt Saulus wirklich nicht aus echter Buße und Erschütterung über sich selbst - oder einfach nur, weil er nicht kann, weil der körperliche Schock jener Lichtvision zu groß war? Hier bricht das Dilemma auf, das wir so gut kennen wie damals Ananias. Auf der einen Seite glaubt er an den Gott, der Wunder tut, und an das Kreuz, das Versöhnung für alle bringt. Auf der anderen Seite aber scheint alles beim Alten zu bleiben. So steht es da, unerschütterlich: das Dogma von der Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Unveränderbarkeit der Menschen. Aber Ananias lernt nun, sich nicht lähmen zu lassen von seinen ängstlichen Vorurteilen. Gegen alle inneren Widerstände macht er sich auf den Weg ins Stadtzentrum. So erfährt auch er ein wichtiges Stück Bekehrung - indem er das Zutrauen in Gott lernt, dass er Menschen gewissermaßen „umdrehen“ kann, dass Menschen nicht auf immer festgelegt bleiben auf ihre Ideologie, ihren Fanatismus.

Und dann - das ist die dritte Stufe seiner Bekehrung - erfährt Ananias, dass Jesus den Saulus nicht nur erschüttert hat und neu ausrichten will, sondern mit ihm Großes vorhat: „Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel“. Saulus wird nichts Geringeres zugetraut als dass er den Namen Jesu dort ins Spiel bringt, wo Macht und Gewalt herrschen. Aber gerade nicht so, wie es heute der Patriarch von Moskau tut, wenn er dem Diktator im Kreml seine Aufwartungen macht und ihn segnet zum Schlachtenglück im Nachbarland. Sondern so, wie man es sich vom Papst wünschen würde, wenn Putin ihn denn empfangen würde: „Herr Präsident, in Jesu Namen, zu dem Sie sich doch bekennen, sage ich Ihnen: Sie lästern Gott und tun ihm unendlich weh mit dem, was Sie tun. Jedes Kind, jede Frau, jeder Soldat, der durch Ihren Krieg sein Leben verliert, ist ein Kind unseres Gottes. Und Jesus ist nicht gegen die Ukrainer gestorben, sondern für uns alle, auch für Sie.“

III.

Zurück auf die Gerade Straße in Damaskus. Das erste Wort, das Ananias nach seinem Eintreffen dort zu Saulus spricht, ist die erstaunliche Anrede: „Lieber Bruder Saul!“ Darin liegt mehr als dass Ananias ein höflicher Mensch ist. Diese Anrede ist wie eine Absolution, gesprochen auf dem Grund dessen, was Jesus selbst vor drei Tagen dem Saulus mitgeteilt hat. Damit, dass der Erzfeind mit dem Brudernamen angeredet wird, ist dessen Vergangenheit für erledigt erklärt. Was gewesen ist, was Saulus getan hat, ist durch Christus selbst beseitigt. Das kann Saulus sich nicht selber sagen - dafür muss ihm durch jemand anderen der Blick geöffnet werden. „Und sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er wurde wieder sehend; und er stand auf und ließ sich taufen und nahm Speise zu sich“. Das heißt ganz grundsätzlich: Unsere Annahme durch Gott und unsere Aufnahme in die Gemeinde seiner Kinder sind nicht zwei verschiedene Dinge, sondern das zweite folgt unmittelbar aus dem ersten. Und das ohne Wenn und Aber, ohne Bewährungszeit. Es ist ja schon schwierig sich vorzustellen, was einer wie Saulus - das Auftragspapier der Jerusalemer Hohepriester wahrscheinlich noch in der Tasche - empfinden muss, wenn er von denen, die er unschädlich machen sollte, so als einer der ihren aufgenommen wird.

Aber eben das ist gelebtes Evangelium. Evangelium, das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt Frohe Nachricht. Ihr Inhalt: Gott holt Dich und mich, er holt seine Gemeinde weg von allem Kleinteiligen, von aller Durchschnittlichkeit und Ängstlichkeit. Gott lässt seine Gemeinde nicht als unbrauchbar links liegen, weil sie so ängstlich, so unansehnlich ist. Er belässt uns nicht in der Verdruckstheit, wo wir nur unsere Defizite sehen und feststellen, dass wir als Christ*innen immer weniger werden, eine kleine Minderheit in einer Gesellschaft, die ganz anderen Lebenszielen nachrennt. Das Interesse der vielen, vielen im an der Kirche im Wendeherbst 1989 war ja nur ein Strohfeuer du gar nicht echt. Aber nein, Gott lässt solchen Kleinmut nicht gelten. Er macht aus Leuten mit eingezogenen Köpfen solche mit aufrechtem Gang, er bringt seine Gemeinde auf den Weg, damit sie sich von seiner Sache packen und von Grund auf verändern lässt.

IV.

Es bleibt noch die Frage: Wie war das damals bei Saulus? Was dort vor den Toren von Damaskus geschah, bleibt geheimnisvoll. „Ich bin Jesus“, vernimmt der verstörte Saulus auf seine Frage „Herr, wer bist du?“ In dieser Antwort ist verdichtet das ganze Evangelium enthalten, wie es für Martin Luther bei seiner großen Wende im Kloster so entscheidend wurde, die er ja auch als eine Bekehrung erlebt hat. Jesus rechnet mit Saulus nicht ab, hält ihm kein Sündenregister vor. Bei uns geht es ja oft nach dem notorischen Mechanismus: Die eine richten, die anderen rechtfertigen sich, und alles bleibt beim Alten. Neuanfänge werden so nicht möglich. Hier in der direkten Konfrontation mit Saulus nennt Jesus seinen Namen: „Ich bin Jesus, den du verfolgst“. Darin steckt, dass er seinem Erzfeind in diesem Augenblick sein ganzes Interesse, seien Hingabe, sei Heimweh nach ihm spürbar machen will. Er bringt neuen Glanz, ein Aufatmen in ein Leben, das vor lauter Hass und Fanatismus finster und hart geworden war. Es ist, wenn mir jemand, den ich vot lauter Antipathie nur mit Misstrauen und Vorbehalten behandelt habe, rundheraus sagt: „Sag Du zu mir! Ich will mit dir zusammengehören. Ich bin nicht derjenige, für den du mich hältst!“

Liebe Gemeinde,

es sind nicht unsere Überzeugungsversuche oder unsere bitteren Anklagen, die Menschen eine wirkliche Wende erfahren lassen. Da spielen immer zu viele subkutane Vorurteile oder Verletzungen mit. Jesus Christus ist es, der Menschen ganz neu auf den Weg bringen kann. Weil er nicht mit einer Abrechnung beginnt, sondern weile er seine überwältigende, zupackende, uneingeschränkte Liebe spüren lässt. Wie auch immer – es fällt auf, dass Lukas im Fortgang seiner Apostelgeschichte kein einziges Wort mehr über die dunkle Vergangenheit des nun ohne weitere Erklärung zum Paulus gewordenen Saulus verliert. Und es ist wirklich nicht einzusehen, dass Vergleichbares nicht auch heute geschehen kann. Der auf seinem Weg durch diese Welt immer wieder die aufgesucht hat, um die andere einen Bogen gemacht haben, der wird auch heute, wie damals vor Damaskus, Mittel und Wege finden, die Fernen zu erreichen und zu Nahen zu machen. Und er möchte, dass wir uns, wie damals Ananias, da mit einspannen lassen.


AMEN.

Sich klein machen ist Sünde

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Als unser Herr auf Erden
in Sprüchen sich erging,
da hieß er uns bewerten
den Wucher nicht gering.

Er riet all den Besuchern,
die er bei sich empfing,
mit ihrem Pfund zu wuchern,
so gut es irgend ging.

Und dass er Ihm gefalle,
strengt sich ja jeder an!
So wucherten denn alle,
die’s vordem auch getan.

Und sieht man denn nicht stündlich
auf Erden weit und breit,
dass Gott dem, der nicht gründlich
mitwuchert, nicht verzeiht?

 Nur, die kein Pfündlein haben,
was machen denn dann die?
Die lass‘n sich wohl begraben
und es geht ohne sie?

Nein, nein, wenn die nicht wären,
dann gäb’s ja gar kein Pfund.
Denn ohn‘ ihr’ Schwielen und Schwären
macht keiner sich gesund.

Diese bittersarkastischen Reime, liebe Gemeinde, hat sich einer der großen Dichter deutscher Sprache auf das eben gehörte Gleichnis Jesu von den anvertrauten Zentnern gemacht: Bertold Brecht, mit der „Ballade vom Pfund“ aus seinem Dreigroschenroman. Der Marxist Brecht las dieses Gleichnis als eine Rechtfertigung von Ausbeutung und Profit durch Jesus höchstpersönlich. Gott erschien ihm hier als ein Gott der Kapitalisten, nicht der Armen.

I.

Der erste Blick scheint ihm Recht zu geben. Dass Geld arbeiten muss, dafür spricht nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch unsere Lebenserfahrung. Anlegen, Riestern, Investieren Verzinsen: das betrifft uns alle. Zugleich wissen wir, dass sich Geld nur selten zum Nutzen aller vermehrt. Wir wissen um die Effekte von Aktienhandel und Weltmarktpreisen, wir haben davon gehört, dass Nahrungsmittelspekulationen zu Hungerkrisen führen, der Ausverkauf von Land wie in Brasilien oder Indien Menschen die Existenzgrundlage entzieht. Insofern hätten wir von Jesus ein Gleichnis ausgerechnet aus dieser kapitalistischen Sphäre wohl nicht erwartet. Es wirkt schräg, von ihm belehrt zu werden, dass und wie man Geld vermehrt. Er selbst hatte ja keines. Die Jünger mussten am Sabbat vor Hunger auf fremden Feldern Ähren raufen. Eine ordentliche Mahlzeit bekamen sie nur, wenn Jesus sich bei einem reichen Zöllner oder anderen Sympathisanten zum Essen einlud. Von Geld keine Spur. Deshalb gehört die Besitzlosigkeit, neben der Keuschheit und dem Gehorsam, ja auch zu den sog. Evangelischen Räten, nach denen die leben, die sich als Mitglieder eines Ordens auf eine besonders konsequente Form der Nachfolge Jesu einlassen.

Aber nun das hier: Jesus redet von Riesensummen. In Zentnern Silbergeld wird gerechnet. Ein Zentner, das ist ein riesiger Barren Silber. So viel, wie ein Mensch gerade noch tragen kann. 30 bis 40 Kilogramm. Ein Zentner, das waren in der Zeit Jesu so um die 17 Jahreseinkommen einer armen Familie. Die acht Zentner eines Investors entsprechen also etwa 140 Jahreseinkommen. Gelobt wird der, der das ihm anvertraute Vermögen in kurzer Zeit verdoppelt. Zu dem, der auf diese Weise zehn Zentner Silbergeld abliefern kann, sagt der von seiner Reise zurückkehrende Herr: „Du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen.“ Da wirkt es fast schon zynisch, in so einem Zusammenhang von „wenig“ zu reden.

Jedenfalls hat nicht nur Bert Brecht in diesem Gleichnis einen durch Gott höchstpersönlich abgesegneten Lobpreis der Kapitalvermehrung gesehen. Dieses kleine Gleichnis hat eine enorme ideengeschichtliche Wirkung entfaltet. Der große Soziologe Max Weber hat vor gut 100 Jahren diese Wirkung analysiert, besonders auf die Reformation. Er kam zu der berühmten These, dass Texte wie dieses Gleichnis die protestantische Arbeitsethik hervorgebracht haben, die wiederum einen entscheidenden Nährboden für das Aufkommen des Kapitalismus bereitet habe. Da ist schon etwas dran. In protestantisch geprägten Ländern war und ist die kapitalistische Wirtschaft besonders dominant und erfolgreich. Blick in die USA genügt. Himmlischer Segen wurde und wird dort in etlichen protestantischen Kirchen mit irdischen, materiellen Segnungen identifiziert. Je mehr Wohlstand, desto fleißiger und gottgefälliger lebt einer, desto mehr Segen von oben muss auf ihm ruhen. Dieses sog. Wohlstandsevangelium lässt seit Jahren im ursprünglich katholischen Lateinamerika die protestantischen Freikirchen immer mehr anwachsen.

II.

Aber all die Auswüchse des Kapitalismus bitte ich Sie jetzt einmal ad acta zu legen. Denn dieses Gleichnis ist keine Anleitung zur ökonomischen Geldanlage heute. Es ist ein sog. Endzeitgleichnis. Der Herr, der hier verreist: für die Gemeinde des Matthäus war das Christus selbst, der nach seiner Himmelfahrt nicht mehr irdisch da war. Umso intensiver haben sich die Menschen auf seine Wiederkunft vorbereitet und damit die Endzeit, das letzte Gericht verbunden. Wenn Christus in Herrlichkeit wieder für alle sichtbar auf die Erde kommt, dann wird alles ans Licht kommen, alle Ungerechtigkeit und alle Schuld, aber auch Liebe und alle Gerechtigkeit.

Durch die maßlose Übertreibung, mit der dieses Gleichnis arbeitet, will es unsere Aufmerksamkeit ganz woanders hin lenken. Ein verreisender Herr hätte ja, realistisch betrachtet, bessere Wege, sein Vermögen vermehrend arbeiten zu lassen als dass er es einfach den Sklaven überlässt. Da kann er kaum mit Wachstumsraten rechnen, wie wir sie nicht einmal vor 30 Jahren beim Boom der New Economy erlebt haben. Vor allem aber wird er von seinen Sklaven nicht erwarten, dass die gegen das geltende Recht verstoßen. Denn Wucher war damals vom rabbinischen Recht strikt verboten. Vorhandenes Vermögen konservativ zu sichern, war die einzig legale Verhaltensweise. Es zu vergraben, war durchaus üblich. Dieses Vorgehen war keineswegs so befremdlich, wie es heute auf uns wirkt. Also, das ist zunächst ein wichtiges Zwischenfazit: Nicht die beiden ersten Knechte, die sich der wunderbaren Geldvermehrung rühmen, haben sich korrekt verhalten. Sondern der dritte Knecht ist der Einzige, der sich an die üblichen Gepflogenheiten gehalten hat. Nicht nur deshalb hat er meine Sympathie. Die beiden ersten brauchen die gar nicht. Sie wurden reichlich ausgestattet mit fünf und mit zwei Zentnern Silbergeld. Die Art, wie sie damit gewirtschaftet haben, findet das Wohlwollen ihres Herrn. Sie sollen sowieso eingehen „zu ihres Herrn Freude“; unsere Empathie brauchen sie nicht. Den dritten Knecht dagegen benachteiligt der Herr ganz offensichtlich. Nur ein Zentner Silbergeld wird ihm anvertraut. Wie er dieses Vermögen hütet, stößt auf die scharfe Kritik seines Herrn. Er verwünscht ihn sogar, indem er ihm ewiges „Heulen und Zähneklappern“ in Aussicht stellt. Dabei hat dieser Knecht doch nur getan, wozu er verpflichtet war. Auf die Härte und Unerbittlichkeit des Herrn, die ihm ohnehin schon lange einschüchtert und Angst macht, bräuchte er sich dafür gar nicht berufen. Der Hinweis auf die Klarheit der Regeln hätte genügt.

III.

Aber warum nur gibt ihm Jesus nicht Recht? Warum stellt er ihn so in den Senkel? Jetzt wird wichtig, dass wir es hier mit einem Gleichnis zu tun haben. Ein Gleichnis Jesu hat immer zwei Ebenen: eine sog. Bildhälfte und eine sog. Sachhälfte (A. Jülicher). Die sind nicht identisch. Die Bildhälfte ist in Jesu Gleichnissen immer aus dem prallen diesseitigen Leben gegriffen. Sie soll illustrieren, anschaulich machen, was die Botschaft ist, die Jesus mit Hilfe des Gleichnisses rüberbringen will. Diese selbst ist aber die Sachhälfte. Und die Botschaft dieses Gleichnisses ist: Um den Umgang mit dem Geld geht es gar nicht. Das ist nur die veranschaulichende Bildhälfte. Es geht um den Umgang mit den Gaben, die Gott uns geschenkt hat. Es geht um den Umgang mit der einen großen wunderbaren Gabe, die sich wirklich vermehrt, wenn wir sie verschwenderisch ausgeben, und die tatsächlich verkümmert, wenn wir sie vergraben: die Liebe, und, von ihr abgeleitet, die Versöhnung. Wer diese Gottesgabe versteckt, um sie unter Kontrolle zu halten, zerstört sie. Heulen und Zähneklappern sind die Folge. Ja, wer alles horten, unter Kontrolle behalten will, knirscht auch noch im Dunkeln mit den Zähnen. Er holt dann nachts all die Kontrolle auch noch nach, zu der es am Tag nicht gereicht hat. Anders gesagt: Wer Gottes Liebe so unter Kontrolle halten will, verliert alle Kontrolle. Es geht also nicht um kapitalistische Geldvermehrung als Norm. Das Geld, das sich vermehrt, wenn man nur kreativ genug damit umgeht, ist für Jesus nur ein - allerdings provozierendes - Bild für die Liebe, die sich nicht verausgabt, wenn man sie mit anderen teilt. Die zu einem großen Strom anschwillt, wenn man sie nur strömen lässt.

Deshalb ist es abwegig, wenn man Jesus mit einem düsteren Herrn gleichsetzt, der in die Ferne reist und bei der Rückkehr unerbittliche Rechenschaft fordert. Kann das derselbe sein, der von sich sagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28)? Soll man sich von ihm vorstellen, er habe den Menschen Heulen und Zähneklappern in der Finsternis, also - die Hölle angekündigt? Freilich: dass Menschen durch die Angst, in der sie ihre Fähigkeit zu lieben vergraben, statt sie zu leben, sich selbst in eine unheimliche Einsamkeit und Dunkelheit bringen können, das ist so. Wir kennen solche Momente von uns selbst wie von anderen. Es ist aber genau diese Finsternis selbst, die Jesus auf sich genommen hat. Die Finsternis, in die der dritte Knecht sich gestoßen fühlt, ist dieselbe, in welcher der Gottesknecht, der wahre Herr aller Knechte starb: „Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde“, so heißt es beim selben Evangelisten Matthäus in der Passionsgeschichte, „und Jesus schrie mit lauter Stimme und starb“ (Mt 27,45.50). Dass Jesu Schrei diese Finsternis erreicht, ist der Grund der Hoffnung für alle, die sich selbst zu hoffnungslosen Figuren erklären. Ohne diese Verheißung könnten wir kaum leben. Es ist die Hoffnung auch für den dritten Knecht.

Deshalb stehen auf einer tieferen Ebene eben doch nicht Heulen und Zähneklappern am Ende dieser Geschichte. Denn Jesus ist für jeden hoffnungslosen Fall ans Kreuz gegangen - wodurch es uns schlicht verboten ist, einander oder gar uns selbst zu solchen Fällen zu erklären. Und darum steht etwas anderes am Ende dieser Geschichte: nämlich die Freiheit von der Angst, zu versagen. Die ist nicht mehr nötig. Denn keine unserer Gaben ist zu gering, als dass sie nicht im Licht der göttlichen Liebe strahlen könnte. Keine unserer Begabungen ist unnütz, keine braucht zu verkommen. In der göttlichen Haushaltsordnung hat jede unserer Gaben ihren Wert: die Gabe zu trösten ebenso wie die Fähigkeit zu planen, die Lust am Geschichtenerzählen ebenso wie die Durchhaltekraft bei der Arbeit. Denken Sie an das berühmte Kinderbuch von der Maus Frederick. Frederick sammelt nicht wie die anderen Mäuse essbare Vorräte für den Winter; Frederick bereitet sich darauf vor, in den kalten Wintermonaten die anderen durch seine Erzählungen zu erwärmen und zu erfreuen. Auch das ist ein Talent.

IV.

Haben wir ein Recht, die schönen Begabungen unter den Scheffel zu stellen, die Gott jeder von uns anvertraut hat? Jesu Gleichnis gibt uns dazu kein Recht. Übrigens: gäbe es dieses Gleichnis nicht, dann hätte das Allerweltwort Talent nie Eingang in unsere Sprache gefunden! Das Wort, das Luther hier mit „Zentner“ übersetzt hat, heißt nämlich im griechischen Urtext „Talent“. Wenn wir davon sprechen, dass einer Talent hat, dann gehört das auch zu der großen Wirkungsgeschichte dieses kleinen Gleichnisses von den anvertrauten Zentnern bzw. eben den anvertrauen Talenten. Es will uns mit auf den Weg geben, dass damit unser Glaube beginnt: dass wir die Talente suchen, die Gott so reichlich in dieser Welt und damit auch in jedem von uns versteckt hat. Wir sollen sie dankbar annehmen und verschwenderisch verschenken. Sie werden dadurch nur mehr.

Das ist christliche Freiheit. Nelson Mandela, der große erste Präsident des neuen Südafrika, hat vor 28 Jahren bei seiner Antrittsrede diese christliche Freiheit eindrücklich zur Sprache gebracht. Er sagte damals: „Unsere tiefste Angst ist es nicht, ungenügend zu sein. Unsere tiefste Angst ist es, dass wir über die Maßen kraftvoll sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, das am meisten Angst macht. Wir fragen uns selbst, wer bin ich - von mir zu glauben, dass ich großartig, begabt und einzigartig bin? Aber in Wirklichkeit - warum solltest du es nicht sein? Du bist ein Kind Gottes. Dein Kleinmachen dient nicht der Welt. Es zeugt nicht von Erleuchtung, sich zurückzunehmen, nur damit sich andere Menschen um dich herum nicht verunsichert fühlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes, die in uns liegt, auf die Welt zu bringen. Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem! Und indem wir unser eigenes Licht scheinen lassen, geben wir anderen Menschen die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, befreit unser Dasein auch die anderen.“

Berührende Worte eines Staatsmannes, der kein Theologe war, aber viel von der Freiheit eines Christenmenschen verstanden hat. Denn genau so ist es mit den Talenten, die Gott uns anvertraut.


AMEN.

Die vereinsamte Sünde

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

gerade haben wir mit den Taufen von Emma und Lydia das Wunder des von Gott geschenkten Lebens gefeiert. Aber jetzt haben wir einen Predigttext zum Thema Taufe gehört, wo fast in jedem Satz die Worte Tod oder Sterben vorkommen. Wie geht das zusammen mit dem, was uns die Taufe ist? Die ist uns doch die Geburtsstunde eines Christenmenschen. Dieser Paulustext aber wirkt prima vista eher wie eine Todesanzeige. Auf jeden Fall ist das eine ganz schön steile Tauftheologie! „In Christi Tod getauft“: Trauen wir Pfarrer*innen uns überhaupt noch, das in Taufgesprächen und -gottesdiensten anzusprechen? Wer kann das heute denn noch verstehen oder gar nachempfinden? Wir sagen ja gerne, dass wir im Namen des Gottes taufen, der sein großes Ja über dem Täufling spricht. Wir sprechen von der Hoffnung, dass er ihn oder sie begleiten und behüten möge.

I.

Indes: Wir Pfarrer*innen können bei der Taufe ja nur deshalb so vollmundig Segen, Schutz und Begleitung zusprechen, weil nicht wir dafür einstehen müssen, sondern weil Gott selbst uns gleichsam die Garantie dafür gegeben hat. Oder besser: uns eine Art Siegel dafür eingeprägt hat. Durch das Kreuz Jesu Christi. Und durch seine Auferstehung. Was wir im Namen Gottes zusprechen, ist nur die sichtbare Spitze eines geistlichen Eisbergs, der tief nach unten geht. Nur weil Gott in Jesus unsere menschlichen Abgründe nicht gescheut hat, kann er uns versprechen, in allen Tiefen und Dunkelheiten unseres Lebens bei uns zu sein. Das können wir doch gut nachvollziehen: Wenn es uns elend geht, dann tut es gut, wenn wir das jemand mitteilen können, von dem wir wissen, er ist durch ähnliches durch. Bei Jesus geht es noch weit darüber hinaus: Nur weil er die tiefsten Tiefen menschlicher Existenz durchmessen hat, kann er dann auch in die höchsten Höhen aufsteigen. In den Himmel. Zugespitzt könnte man sagen: der Tod, oder besser: das Sterben als notwendige Bedingung zum wirklichen Leben.

Paulus jedenfalls geht es hier nicht, wie wir es bei der Taufe so gern betonen, um Bestärkung des bereits existierenden Lebens, sondern um eine richtige Neuinszenierung. Aber das geht doch ziemlich seltsam vor sich, irgendwie unordentlich und turbulent. Paulus scheint die Taufe als ein geheimnisvolles Geschehen anzusehen, in dem ich, ganz real, zu Christus in seinen Tod gestoßen und mit ihm begraben werde – um dann aber auch mit ihm wie Phoenix aus der Asche wieder emporzusteigen aus der Gruft als ein quicklebendiger Springinsfeld. Das provoziert auf jeden Fall unseren gesunden Menschenverstand, unseren Ordnungssinn. Für den hat ja alles seinen festen Platz. Da kommt uns ein Drehbuch ziemlich absurd vor, das uns im ersten Akt sterben, im zweiten begraben werden und im dritten wieder ins Leben zurückkommen lässt. Für unser Lebensgefühl hat ja nicht der Tod das erste Wort und das Leben das zweite, sondern umgekehrt. Um auf den Anfang zurückzukommen: Paulus formuliert hier eine Todes- und eine Geburtsanzeige in einem! Oder noch genauer gesagt: Geburtsanzeige, weil Todesanzeige!

Liebe Gemeinde,

dahinter steht eine Erfahrung, die wir alle in unserem Leben machen, ob uns das bewusst ist oder nicht: Nur durch ein Stück Sterben hindurch geschieht wirkliches Zum-Leben-Kommen. Jesus hat nicht umsonst gesagt: „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und erstirbt, bringt es viel Frucht“ Einer Mutter muss man das nicht sagen: In jeder Geburt passiert immer auch ein Stück Sterben. Die kaum erträglichen Schmerzen, die eine Frau beim Gebären gegenüber dem paradiesischen Mutterleib, in dem es ihm an nichts fehlte, erstmal nur grell und angsterregend erscheinen kann. Das ist alles ein Bild und „Angeld“ dafür, wie einmal bei unserem letzten Sterben sein wird, das, so meint Paulus an anderer Stelle, „verschlungen ist in den Sieg“, d.h. in die Geburt zum neuen, ewigen Leben.

Aber was für ein Sterben ist es denn, von dem Paulus hier in so vielen Wendungen spricht? Im letzten Vers sagt er: „Haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid“. Und zwar deshalb, weil wir „mit Christus gestorben“ sind. Für mich heißt das: Das Dunkle und Abgründige in uns, von dem wir uns auch durch noch so große moralische Kraftakte nicht befreien können, das hat er ans Kreuz getragen, damit es dort mit ihm sterben und uns künftig nicht mehr quälen soll. Das, was unser Text „Sünde“ nennt, soll in uns abgetötet werden. Der „Alte Adam“ in uns wird, wie Luther gewohnt drastisch sagte, im Wasser der Taufe „ersäuft“.

Das klingt theologisch steil, aber es steckt für mich etwas sehr Verheißungsvolles dahinter. Es ist viel mehr, als was wir so mit dem Wort „Sünde“ verbinden. Wir wagen es nicht mehr, von „Sünde“ zu sprechen, weil dieses Wort so viel Ballast mit sich schleppt. Wir haben christlicherseits jahrhundertelang die Sünde moralisiert und damit eine Abwertung der Sexualität verbunden, die unbiblisch ist. Und wir haben sie weltlicherseits banalisiert, indem wir sie auf „Parksünden“ oder „Diätsünden“ reduzieren.

II.

Aber was ist Sünde denn nun wirklich? Unsere Gottesferne, das, was uns in der Tiefe von Gott trennt, heißt es schön korrekt in den theologischen Lehrbüchern. Aber was heißt das konkret? Ich versuche es so zu sagen: Sünde ist für mich das, was sich in mir sträubt und sperrt gegen das Leben. Wieviel Sperriges gibt es in mir, wie viel Widersprüchliches, wie viel Abgründiges, wie viel Angst. Wer von Ihnen gern Krimis liest, weiß, wie voll sie davon sind. Auch in meinem Alltag lässt mich dieses Unbereinigte, Chaotische in mir ungeduldig, ungerecht und aggressiv gegenüber anderen werden. Es ist das, was mich – mit Paulus im folgenden Kapitel zu sprechen – statt des Guten, das ich will, das Böse tun lässt, das ich eigentlich gar nicht will. Das, was mich selber quält und treibt und mein Leben bestimmen will. Diese inneren Sklaventreiber, die mir permanent einhämmern: Du musst dies noch machen, und jenes noch leisten! Oder die mir einflüstern wollen, dass ich die Zuneigung, die Liebe eines anderen Menschen eigentlich gar nicht „verdient“ haben kann, so wie ich mich selbst erlebe und mich deshalb dagegen sperre, obwohl ich mich doch nach nichts mehr sehne als geliebt zu werden. Das alles ist der „Alte Adam“ in Reinkultur, um mit Paulus und Luther zu sprechen.

Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort, das viel darüber aussagt, was Sünde eigentlich ist: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“. Das ist es: Sünde ist Hass gegen den, der mir helfen will. Biblisch gesprochen: Sünde ist Hass gegen den Sieg der Gnade. Den in sich eingesponnenen Menschen, der sich selbst zum Kokon wird, einen Betonwall errichtet gegen alles, was von außen her helfend auf ihn zukommt: So hat Martin Luther in einem ganz starken Bild den von Gott getrennten, sich gegen ihn abschottenden Menschen unter der Sünde beschrieben. Dass das keine „mittelalterliche“ Anschauung ist, sondern auch heute beklemmend aktuell, davon können die Psychotherapeuten ihre Lieder singen, und wir in unserer Seelsorge auch. Dietrich Bonhoeffer hat es einfach und einfach wahr so gesagt: „Die Sünde will mit dem Menschen allein sein“. Sünde ist der unheimliche Sog ins Alleinsein, in die Beziehungslosigkeit.

Und nun noch einmal zu dieser schwierigen Aussage des Paulus: „Wir sind mit Christus gestorben“. Am Schluss dieses großen Taufkapitels sagt Paulus lakonisch: „Der Tod ist der Sünde Sold“. Auch so eine steile, schwere Aussage. Aber eigentlich finde ich sie gar nicht so schwer zu fassen. Denn der Tod ist ja deshalb „der Sünde Sold“, weil er das Ereignis totaler Stummheit ist. Und so den Drang in die Beziehungslosigkeit, der die Sünde ist, auf die Spitze treibt. Deshalb ist das Sterben anderer, die wir liebhaben, so schmerzhaft: es beendet Gemeinschaft, es macht uns einsamer. So hat auch der Tod Jesu denen bitter weh getan, die Gemeinschaft mit ihm hatten. Aber nun stellt Paulus hier die verwegene Behauptung auf, dass dieser Tod Jesu noch in einem ganz anderen, hocherfreulichen Sinn Gemeinschaft zerstört hat: die unselige Gemeinschaft mit der Sünde. „Haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid“: Die Gemeinschaft mit der Sünde ist zerstört, und das heißt: Jetzt sind nicht mehr wir die Einsamen, die nur aus sich selbst und für sich selbst leben, sondern die Sünde wird einsam. Sie schafft es nicht mehr, sich an uns zu vergreifen.

III.

Aber klingt das nicht viel zu schön, um wahr zu sein? Wo wird das denn sichtbar, dass wir, wie Paulus hier so selbstverständlich behauptet, „in einem neuen Leben wandeln“? Ist es nicht vielmehr unsere Erfahrung, dass wir mit unseren Vorsätzen, uns zu ändern, etwas von diesem neuen Leben an uns aufscheinen zu lassen, immer wieder kläglich abstürzen? Ja, so ist es wohl. Aber eben, nicht zufällig spreche ich hier von den guten Vorsätzen. Die sind nämlich das Detail, in dem sich hier der Teufel versteckt. Denn mit guten Vorsätzen, so sagt das Sprichwort zu Recht, ist der Weg in die Hölle gepflastert. Also eben nicht der Weg in den Himmel und zum neuen Leben! Gerade Paulus konnte ein bitteres Lied davon singen: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht...“ Im Klartext: Von dem her, was vor Augen liegt, sind wir alle miteinander Gegenargumente gegen die kühne Behauptung des Paulus, wir seien „mit Christus der Sünde weggestorben“. Nein, bessere Menschen als die Nichtgetauften sind wir durch unsere Taufe nicht geworden. Ich sehe es so: Sünde ist dieser Wahn, das Leben habe das erste Wort, der Tod aber das letzte, entscheidende. So will sie uns einflüstern, die Sünde, der wir doch gestorben sind: Es ist alles umsonst, das Böse ist übermächtig in der Welt, das Evangelium kommt doch nicht dagegen an, lassen wir die Welt links liegen und sorgen uns nur um unser persönliches Wohlbefinden und Seelenheil!

Aber Gott sei Dank, dass es nicht so, dass es anders ist! Denn von ihm, von Gott her ist diese Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ – so sagt es Paulus hier – nicht mehr da, ist sie wirklich erledigt. Wenn wir mit Paulus durch unser Getauftsein „wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht mehr stirbt; der Tod kann hinfort nicht mehr über ihn herrschen“ – dann ist es eben so, dass die Sünde ihre Macht über uns verloren hat. Für Martin Luther war das Wissen um seine Taufe immer wieder Trost, wenn er seine depressiven Anwandlungen bekam und an seinem Leben verzweifeln wollte. Dann konnte er sich trotzig sagen: Bapticatus sum, Ich bin getauft! Das hat er sich auf seinen Schreibtisch geschrieben. Und wir sollten es uns hinter die Ohren schreiben: Ich bin getauft. Ich selbst kann mich zwar nicht daran erinnern, aber ich werde immer wieder daran erinnert: in jedem Gottesdienst, in dem mir nach dem Bekenntnis meiner Schuld Gottes Vergebung zugesprochen wird. Auch das ein Zeichen dafür: Mein Weg geht durch den Tod hindurch – ins Leben.

Paulus sagt es zwei Kapitel später auf dem Gipfel seines Römerbriefes so: Nichts und niemand, auch nicht der Tod, kann uns von Gottes unbeirrbarer Liebe trennen. Das ist das große Thema von Paulus: Wir sind auf Gedeih und Verderb – aber eigentlich muss es heißen: auf Verderb und Gedeih! – mit Jesus verbunden. In dem herrlichen Osterlied, das wir jetzt singen, hat Paul Gerhardt genau dies ins Wort gebracht: „Er reißet durch den Tod / durch Welt, durch Sünd, durch Not, / er reißet durch die Höll, / ich bin stets sein Gesell“ (112,6). „Ich bin stets sein Gesell“: Wer sich darauf stellt, der freut sich einfach über Gottes uneingeschränktes Ja zu sich und den anderen. Und dieses große Ja wartet auf ein kleines, aber leuchtendes Wörtchen, auf unser


AMEN.

»Weiß ich den Weg auch nicht ...«

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Im Anfang war Abraham. Denkmal. Mythos. Methusalem. Erzvater. Heiliger. Zankapfel. Und weil Abraham im Anfang war, spricht man heute von den »Abrahamitischen Religionen«, wenn es um das Verbindende zwischen den drei großen monotheistischen Religionen geht. Abraham ist die Gestalt an ihrer Wiege; in allen drei Weltreligionen bis heute tief verehrt.

Der Predigttext dieses Sonntags führt uns genau zu dieser Wiege. Er ist kurz, aber randvoll an Bedeutung und Wirkung. Ein biblischer Großtext. Er ist es deshalb, weil er den Übergang darstellt von der sogenannten biblischen Urgeschichte in den ersten 11 Kapiteln der Genesis hin zur Menschheitsgeschichte. Ging es in dieser Urgeschichte nicht um Historie, um die Geschichte eines Ur-Menschen, sondern um die ur-menschliche Geschichte des Menschen, der wir alle sind, so geht es jetzt zur konkreten Historie, die Gott mit den Menschen schreibt, beginnend mit der Person Abrahams. Man kann auch sagen: nach der Urgeschichte beginnt mit Abraham die Heilsgeschichte. Aber lassen wir unser Wissen oder Halbwissen einfach mal beiseite und fragen Abraham selbst, über den Graben von vier Jahrtausenden.

Abram, in unserem Predigttext heute scheint Ihrem Namen eine Silbe zu fehlen. Wir kennen Sie als Abraham. Wie kommt das?

Nur keinen falschen Respekt, liebe Leute. Bei uns im alten Orient duzt man sich. Ihr könnt Abraham zu mir sagen. Gott hat mir diese eine Silber noch dazugegeben, als er mir nach meinem Auszug in die Fremde durch drei Boten die Wahnsinns-Mitteilung machte, dass ich in meinem hohen Alter doch noch Vater werden sollte. Abraham heißt in eurer Sprache so viel wie ‚Vater der Völker‘. Und als solchen sehe ich mir bis heute besonders gerne.

Könntest du uns das näher erklären, inwiefern du der Vater vieler Völker bist?

Nun ja, natürlich sehe ich mich zunächst einmal als Vater meines, des jüdischen Volkes. Es verehrt mich bis heute – nein, nicht als Begründer seiner Religion, der hieß Mose und kam erst viele Jahrhunderte nach mir. Aber als Begründer des Volkes. Übrigens ein Volk mit unglaublich vielfältigen DNA. Ihr würdet heute von einem Volk sprechen, das die Globalisierung im Blut hat. Ich selbst stamme ja ursprünglich aus dem Zweistromland, für Euch heute der Irak. Aber dann, an zweiter Stelle, sehe ich mich auch als Vater des arabischen Volkes. Auch in ihm werde ich bis heute als solcher in Ehren gehalten. Mein Sohn Ismael, den Hagar, meine Nebenfrau, mir noch vor Isaak geboren hatte, gilt ja als Stammvater des arabischen Volkes. Und dann ist mir noch eine Vaterschaft zugewachsen, eine ganz spezielle. Nicht direkt wie bei Isaak und Ismael und ihren Nachfahren. Ihr Christ*innen könnt mich über einige Ecken ja auch als Vater ansehen. Nicht im ethnischen Sinn, wie die Juden und Araber. Aber eben geistlich. Schließlich ist einer meiner fernen Nachkommen, Jesus von Nazareth, euer „Religionsstifter“, euer Zugang zu dem einen Gott. In seinem Stammbaum im Matthäusevangelium ist von ihm als „Sohn Davids und Sohn Abrahams“ die Rede. Und euer Apostel Paulus schreibt einmal: „Gehört ihr zu Christus, so seid ihr Abrahams Same“.

Das hört sich aber ein bisschen kompliziert an…

Nun ja, ist es auch ein bisschen, weil es sich eben um eine geistliche Vaterschaft handelt, keine genetische. Für mich bedeutet dieser große Satz, den Gott zu mir sagte: „In dir werden gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden“, dass ich sozusagen der Prototyp dafür bin, dass Gott den Menschen nicht verwirft, sondern in Liebe erwählt. Eine frühes Vorzeichen des Bundes, den er später einmal mit Mose am Sinai schließen sollte.

Aber bist du nicht doch viel mehr als nur ein Prototyp für uns alle? Für uns bist du doch der exemplarische Glaubende überhaupt. Das Beispiel für Glaubensgehorsam, an dem alle Glaubenden Maß nehmen sollen. Ich meine, Gott hat dir immerhin zugemutet, dein Land zu verlassen, also deine Heimat, die dich geprägt hat. Und damit deine Verwandtschaft, das Allermeiste von deinem Besitz - und einfach so ins Blaue hinein marschieren, nur auf dieses Wort eines Gottes hin, den du ja noch gar nicht wirklich kanntest. Und du hast tatsächlich alles stehen und liegen gelassen und bis losgezogen! Das ist doch total ungewöhnlich! Wer macht so etwas denn?

Naja. So flott und bruchlos ging das nun nicht vonstatten. Schließlich sind in diesen alttestamentlichen Versen nicht meine Tagebücher verewigt, sondern nur der äußerste Zeitraffer meiner Geschichte. Und auch diese Kurzversion war, bevor man sie aufgeschrieben hat, schon durch tausend Münder und Ohren gegangen, sie ist quasi glattgeschliffen. In Wirklichkeit war mein Auszug ein langer, zäher Prozess. Wie das eben so war damals, vor fast 4.000 Jahren, wo es große Wanderbewegungen von Beduinensippen zwischen dem Zweistromland und der arabischen Wüste gab. Gesegnet jedenfalls habe ich mich eigentlich erst Jahre später, in den Momenten, da ich meine Söhne Ismael und Isaak in Händen hielt.

Aber mit materiellen Gütern reich gesegnet warst du doch schon im fruchtbaren Zweistromland! Warum bist du denn überhaupt von dort weg?

Ach, das ist eine alte Geschichte, und eigentlich eine ewig junge. Wir lebten in Haran, ja, als eine reiche Beduinensippe. Viele Herden, viele Knechte, viel Ansehen. Aber wie das dann so ist, viel Rivalität, viel Neid, viele Intrigen. Hinzu kam, dass wir uns im Aussehen ein wenig von den angestammten Einwohnern dort unterschieden. Und irgendwie grassierte in unserer Sippe seit langer Zeit schon eine unbestimmte Sehnsucht nach einer neuen, andere Heimat. Nach einem Ziel. Und, ganz wichtig: Mit der Zeit hatten wir für uns einen Gott erfahren und kennengelernt, der anders war als die Götter der anderen. Ein naher Gott, der sich mit uns bewegte, der nicht gebunden war als feste Orte, wo man hinmusste, um ihn zu erfahren. Unseren Gott erfuhren wir eher als einen, der selbst Sehnsucht hatte: nach einem Weg, den er mitgehen kann, nach einem neuen Ziel, nach einem Volk, das er sich als Partner auserwählen würde.

Also kein allmächtiger Gott, der euch Anweisungen erteilt?

Also so würde ich das nicht sagen. Allmächtig war er schon, unser Gott. Schon deshalb, weil wir keinen Namen für ihn hatten – das wäre uns wie eine Begrenzung, eine Einschränkung seiner Gottheit erschienen. Und natürlich gab es einige feste Regeln, die wir für unseren Gott einhielten. Feste Opfer- und Gebetsregeln etwa. Und einen gewissen Verhaltenskodex, den wir auf den Willen unseres Gottes zurückführten. Aber über so Dinge wie sein Wesen, seine Eigenschaften, wie seine Allmacht zu verstehen ist, darüber haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Das scheint mir eher ein Problem von Euch zu sein.

Aber du hast doch die klare Anweisung bekommen zu gehen?!

Also, da muss ich doch mal in meinen langen Bart lächeln. Ja, ich habe diese Anweisung erhalten – aber sie galt meiner Familie schon immer. Es war die Anweisung zu suchen. Gott zu suchen, den Ort zu suchen, an dem er unser Herz erreicht. Und eben das, wenn Gott in deinem Herzen angekommen ist: das ist dann Segen. Wenn du das, was du an Gutem und Schönen siehst und um dich herum hast, annimmst als ein Geschenk, das du dir nicht verdient hast und dankbar dafür sein kannst. Und wenn das, was du auch siehst und erlebst und manchmal schier nicht mehr ertragen kannst, dein Herz trotzdem nicht verdunkelt, sondern du es abgeben kannst an Gott. Im Vertrauen, dass es bei ihm aufgehoben ist und er seine Wege hat, Übel und Leid zu bekämpfen. Das meint der Satz, den ich damals von oben vernommen hatte: „Ich will segnen, die dich segnen, und ich will verfluchen, die dich verfluchen“.

Aber wenn das so ist, warum dann dieser Auszug ins Unbekannte? Dann hättest du doch auch bleiben können, wo deine Heimat war?!

Nein. Dieser Auszug, der Aufbruch ins Ungesicherte war mein Weg Gott zu finden, in ein wirklich enges Verhältnis zu ihm zu kommen. Mich unter seinen Segen zu stellen, den er mir in seiner Aufforderung verheißen hatte, obwohl da zunächst noch nichts Greifbares war: das war die Herausforderung, die ich damals spürte. Wie es in einem Eurer Kirchenlieder heißt: »Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl …« Das war die Herausforderung an meinen Gottesglauben. Ich habe etliche Jahre und Stationen dafür gebraucht. Und ich habe auf dieser langen Reise gelernt, wie eng Wahrheit und Lüge beieinander liegen. Ich habe gelernt, dass menschliche Weisheit lächerlich gering ist – immer noch übrigens. Ich habe verstanden, dass es manchmal schwierige Zeiten braucht, um sich selbst näher zu kommen, sozusagen reiner zu werden im Herzen. Ich habe gelernt, dass Gottes Segen wirkt in vielen Varianten. Ich, Abraham, habe dafür diesen Weg gebraucht. Andere finden anders dorthin.

Zum Beispiel?

Oh, die Geschichte meines Volkes ist voller Beispiele. Denkt an Mose, auch so ein Prototyp des Suchens und Findens. Er wurde aus seiner behüteten Existenz als Findelkind am ägyptischen Königshof herausgerufen, erst in die Wüste, wo er im brennenden Dornbusch unserem Gott begegnete, und dann zum Pharao beordert, um schließlich sein Volk in neues, freies Land zu führen. Da wurde Saul von seinen Eselinnen, David von seiner Schafherde weggeholt, um Könige Israels zu werden. Amos rief Gott von seinen Maulbeeren fort, um ein gottvergessen gewordenes Volk als Prophet wieder zu Gott und seinem Wort zu rufen.

Und bei euch Christen war es dann ja nicht anders. Petrus und 11 weitere Familienväter ließen sich von Jesus von ihren Fischernetzen und Familien wegrufen, um ihr Leben ganz auf ihn und damit auf Gott zu setzen. Paulus wurde weggerissen von seinen Pharisäerfreunden, musste grundlegend umlernen und wurde der große Völkerapostel, ohne den es euch gar nicht gäbe. Da mussten Augustinus und Franz von Assisi, Zinzendorf und sogar euer modernen evangelischer Heiliger Dietrich Bonhoeffer Abschied nehmen von Haus, Nachbarschaft und Freundeskreis, weil die Sache Gottes, von der sie sich haben packen lassen, tiefer reicht als alle menschlichen Bindungen, die bis dahin ihr Leben bestimmt hatten. Das ging bei allen nicht bruchlos und ohne Schmerzen ab, klar. Aber sie erfuhren sich alle als von Gott geführt – auch wenn es dorthin ging, wohin sie eigentlich von sich aus nicht wollten. Sie erfuhren, was besagter Bonhoeffer so ausgedrückt hat: »Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen.« So ähnlich habe ich mir das damals auch zu sagen versucht, wenn mich die Angst in die Mangel nehmen wollte vor dem Unbekannten. Ich hatte ja keinen Fahrplan, keine Landkarte, auf der die einzelnen Wegstationen markiert gewesen wären.

Habe ich dich also richtig verstanden, verehrter Abraham, dass du uns allen auch einen Auszug empfiehlst? Nicht unbedingt den Exodus aus unserem Haus, Beruf und Heimat, aber doch aus unseren Gewohnheiten, aus manchen allzu selbstverständlichen Perspektiven? Zumindest ein innerlich aufbrechen, um die eigenen Herzen aufzubrechen? Und das, was uns da neu begegnet, annehmen als einen Weg näher zu Gott hin, und als Zeichen seines Segens?

Nun, das hast du ein bisschen europäisch-kompliziert ausgedrückt, aber ja, so in etwa meine ich’s. Wenn ihr wirklich aufbrecht, euch einlasst auf das, was das Leben von euch fordert, dann werdet ihr wachsen, euer Herz wird weit werden, so dass es zum Segensort werden kann. Denn glaubt mir: Der Segen ist die dichteste, dramatischste Stelle des Gottesglaubens. Dort nämlich wir konkret und erfahrbar, was Gnade ist: Nicht erringen und sichern müssen, wovon man wirklich in der Tiefe lebt. Sich nicht bannen und lähmen lassen durch die Zweifel und Zersplitterung des eigenen Lebens. Als Gesegnete muss ich nicht nur ich selbst sein. Als Gesegneter kann ich hinfallen, stürzen: in den Abgrund der Liebe Gottes. Dazu berufen seid ihr alle, durch mein Beispiel.


AMEN.

Sehnsucht nach Heimat

Geistlicher Impuls im Rahmen der Morgenandacht auf der Aussichtsplattform gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Was ist für Sie Heimat?“ Vor einiger Zeit hat mich ein Journalist das gefragt. Mit so einer Frage hatte ich gar nicht gerechnet, und zu meinem eigenen Erstaunen hat sie mich erstmal ziemlich in Verlegenheit gebracht. Klar, ich habe auch bemerkt, dass das Wort Heimat - über Jahrzehnte war es in Deutschland eher verpönt, jedenfalls bei allen, die sich für halbwegs modern und „aufgeklärt“ halten – seit einigen Jahren erstaunliche Konjunktur hat. Und das eben nicht mehr nur bei Trachtenvereinen über Schlager- und Volksmusikfans bis hin zu den sog. Neuen Rechten. Auch eine nüchterne Verwaltungsorganisation wie das Bundesinnenministerium hat das Wort entdeckt und es vor einigen Jahren in seinen offiziellen Namen mit aufgenommen. Aber für mich klingt Heimat nach wie vor so ein bisschen nach „Der Förster im Silberwald“, „Schwarzwaldmädel“ oder anderen einschlägigen Kinofilmen aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen nach all den Schrecken vorher die heile Welt propagiert wurde.

Für eine Mehrzahl der Menschen aber hat der Begriff Heimat inzwischen Sehnsuchtscharakter. Das gab es allerdings schon öfter in der Geschichte. Immer dann, wenn die Gegenwart besonders viele Veränderungen mit sich bringt und Menschen Orientierung suchen. Wie das so ist in unserem Zeitalter der sog Globalisierung. Und erst Recht in einer Epoche und einer Welt, die seit Jahren scheinbar nur noch von Krise zu Krise taumelt und, wie es immer wieder heißt, „aus den Fugen“ geraten scheint. Kein Wunder, dass dieser Begriff so viele unterschiedliche Vorstellungen in den Köpfen der Menschen hervorruft. Heimat ist dann plötzlich das Symbol für Geborgenheit, Vertrautsein, Sich-nicht-erklären-müssen, akzeptiert werden, aufatmen usw. Einfach nur sein, dasein können, nicht mehr machen, leisten, produzieren, eine Rolle spielen müssen. Also in etwa das, was Goethe am Ende seines Osterspaziergangs im Faust mit den unvergänglichen Worten ausgedrückt hat: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein!“

Und wenn mir das in diesem Licht überlege, dann verliere ich die Verlegenheit, die ich bei Wort „Heimat“ spüre. Dann weiß ich auch endlich, was für mich Heimat ist: Mein Glaube. Ich glaube, dass ich mich Gott gegenüber nicht erklären muss, dass ich mich Gott völlig anvertrauen kann und dort Rückhalt habe, auch wenn sich alles um mich herum verändert. Dass ich bei Gott einfach Mensch bin und Mensch sein darf. Weil er mich nicht daraufhin ansieht, was ich aus mir und meinem Leben mache, sondern einfach mit den liebenden Augen dessen, der mich unverwechselbar zu dem gemacht hat, der ich bin. Mit meiner Art, an der die anderen hoffentlich ein wenig Gefallen finden. Aber auch mit meinen Unarten, mit denen ich anderen manchmal zu schaffen mache. Theologisch ausgedrückt: Gott nimmt mich als Person in den Blick. Das kommt immer zuerst und zuletzt. Das Werk, was ich leiste, wo ich Erfolge habe oder wo ich versage, kommt immer erst an nachgeordneter Stelle für ihn. Und gerade weil ich mich von Gott unbedingt akzeptiert weiß, bekomme ich von dort die Kraft, mit Veränderungen umzugehen. Ja, ich kann sagen: mein Glaube ist meine Heimat, egal, wo ich lebe.

Der Monatsspruch in der Evangelischen Kirche für diesen Monat Juli ist ein Wort aus dem 42. Psalm, den wir vorhin miteinander gebetet haben. Das ist mir in diesem Kontext schnell vor Augen gekommen. „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott“ (Ps 42,3). Wie groß kann die Sehnsucht nach Gott sein? Die Sehnsucht nach Begegnung, nach bedingungsloser Annahme, nach Unterstützung, nach Liebe. Sehnsucht. Schon das Wort macht im Deutschen klar, dass Sehnen süchtig machen kann. Das kann eine wunderbare Erfahrung sein. Das ist in der Regel so bei einer glücklichen, d.h. einer erwiderten Liebe. Bleibt eine große Liebe freilich unerwidert, oder zerbricht sie gegen mein Empfinden, wandelt sich die Lust an der Sucht des Sehnens in fürchterliche Qualen.

Aber süchtig sein nach Gott – gibt es das? Was empfindet man dann? Psalm 42, aus dem der für den Monatsspruch stammt, macht das in beredten Worten klar: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ (V 2+3) Und weiter heißt es dort: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit seinem Angesicht. Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir.“ (V 6+7a) Musikliebende haben bei diesen Worten vielleicht ihre wunderbare Vertonung durch Felix Mendelssohn im Ohr.

Sehnsucht will Seelenfutter, Speise für die Seele. Auch unsere Seele braucht Zuwendung, Nähe, Fürsorge. Gott kann sie geben, das weiß der Beter dieses Psalms. Umso schmerzlicher vermisst er die Nähe Gottes, sein Angesicht, seine Hilfe, die seinen Gegnern klarmacht, dass Gott mit ihm ist, er nicht alleine ist. Was aber, wenn er sich nicht zeigt? „Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?“ V (11) Dann bleibt nur die in Erfahrung gründende (Selbst-)Beruhigung: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“ (V 12)

Sehnsucht können wir nach vielem haben. Nach Heilsein, nach Natur, Schönheit, Akzeptanz, Romantik, Zärtlichkeit … Und in diesen elenden Zeiten wahrscheinlich am allermeisten nach Frieden. Joseph von Eichendorff, einer der großen Dichter der Romantik, fand 1834 diese Worte für Sehnsucht, die ich Ihnen an diesem Sommermorgen nicht vorenthalten will:

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.

Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:

Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die über'm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,

Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

Lassen Sie sich verzaubern – nicht nur von einem Sommermorgen auf der Kuppel der Frauenkirche, sondern auch von einer Sommernacht und den Spuren von Gottes Angesicht in ihnen!


AMEN.

Das Recht der Gnade

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Eine Szene wie der Schlussakt eines Theaterstücks, in dem sich alles zuspitzt. Da gibt es einen Konflikt buchstäblich auf Leben und Tod. Da gibt es aufgeheizte männliche Wutbürger. Da gibt es ein total verängstigtes Objekt ihrer Erregung. Und da gibt es eine auffällig unauffällige Gestalt, der auf sehr originelle Weise eine Auflösung der toxischen Gemengelage gelingt. Eine grausame Hinrichtung wird verhindert. Die aufgeladenen Moralisten kommen ins Nachdenken, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Der ins Zwielicht Geratenen wird zugetraut, dass sie ihr Leben ändert. Aus dem Drama scheint am Ende ein Lehrbeispiel gelungener Mediation zu werden.

I.
Aber so einfach ist das alles nicht mit dieser bekannten Geschichte. Bis heute ist umstritten, ob diese Szene, wie sie im Buche steht, überhaupt ins Buch der Bücher gehört. In den wichtigsten alten Handschriften nämlich sucht man diesen Text vergebens. Nur ausgesprochen fragwürdige, unsichere Zeugen haben ihn überliefert. Vielleicht hat das mit seinem Thema zu tun. In allen Bibeln, die ich im Regal habe, steht über dieser Geschichte die Überschrift: „Die Ehebrecherin“. Eigentlich müsste sie anders heißen: „Die Ankläger“. Denn die Aufmerksamkeit der Geschichte liegt nicht auf der Frau. Sie liegt auf den Männern, die eine Frau hergeschleppt haben. Der Grund ist das prickelnde „Thema Nr. 1“. Sie haben die Frau in flagranti erwischt, im Bett mit einem, der da nicht reingehört. Damit ist aus dem Objekt sexueller Begierde ein Objekt sozialer Erregung geworden. Ihre Lebenslust hat den sozialen Wertekodex verletzt – damit hat sie ihr Leben verwirkt. Sie muss gesteinigt werden. So verlangt es das Gesetz des Mose.

Aber es geht den frommen Männern noch um mehr als um Gesetz und Moral. Sie wollen den Fall dieser Frau zur Falle gegen den Mann aus Nazareth machen. Jesus könnte jetzt sagen: so ist das Gesetz. Dann würde die Frau sterben – und er seine eigene Predigt Lügen strafen, mit der er die Sünder annimmt. Oder Jesus könnte sagen: Mose hat in seinem Gesetz gesagt, ich aber sage euch… Dann werden sie mit Fingern auf ihn zeigen, ihn als Weichei, als laxen Liberalen outen und einen Gotteslästerer nennen. Gefühlt ein cooles Win-win-Szenario für die Frager. Sie reiben sich schon die Hände: Was immer er sagen wird, am Ende heißt es 1:0 für uns!

Wenn Jesus sich entscheiden würde, die Frau jetzt zu verteidigen, was würde er sagen? Vielleicht würde er die Not ansprechen, wenn junge Frauen nicht selbstbestimmt heiraten können, sondern verheiratet werden. In vielen orientalischen Ländern ist das ja immer noch so. Vielleicht würde er auch die himmelschreiende Ungerechtigkeit, beklagen dass da nur die Frau steht. Wo ist der Mann? Zu einer gestohlenen Nacht gehören zwei. Aber nur die Frau steht da. So sieht es die Logik der Männergesellschaft vor. Die Frau muss weg. Dass ihr Ehemann sein Gesicht nicht verliert, dass ihm Genugtuung widerfährt, ist wichtiger als ihre Lage.

Aber es kommt ganz anders. Jesus unterläuft beide elenden Alternativen auf souveräne, faszinierende Weise. Kein flammendes Plädoyer für Barmherzigkeit, für Menschenrechte oder die Emanzipation der Frau. Keine Gegenpredigt an die gnadenlosen Saubermänner. Nur ein paar kurze, unglaublich wirksame Sätze. Ein praktischer Vorschlag zur Durchführung der Hinrichtung: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der nehme die Sache in die Hand, werfe den ersten Stein auf sie“. Dann noch zwei überflüssige, rein rhetorische Fragen: „Wo sind sie geblieben? Hat dich niemand verdammt?“ Und zum Abschluss eine persönliche Erklärung und eine Aufforderung: „Dann verdamme ich dich auch nicht; geh und sündige in Zukunft nicht mehr“. C’est tout.

Was wird hier eigentlich gespielt? Ist es das bei uns so hochemotional behandelte Gender-Thema, der uralte Gegensatz zwischen den Geschlechtern? Oder sehen wir in dieser Szene, wie zwei Etappen in der Geschichte des Moralbewusstseins einander ablösen? Da ist die alte, normative Haltung, die auf das geschriebene Recht pocht und die Ahndung seiner Verletzung verlangt. Und da ist die neue Entdeckung, dass es vor dem Gesetz nicht einfach auf das äußere (Fehl)Verhalten, sondern vor allem auf die Gesinnung ankommt. Das ist ja ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates: Niemand darf für eine Tat, die er begangen hat, bestraft werden, wenn erwiesen ist, dass er subjektiv gar kein Unrechtsbewusstsein haben konnte.

Nun leben wir in einer Zeit, in der immer mehr Menschen sich immer weniger an moralischen und erst recht an religiösen Normen orientieren. Da fällt es schwer, die Radikalität dieser Szene noch nachzuvollziehen. Die einen wollen Gottes Gesetz anwenden, uneingeschränkt. Der andere stellt, ebenso uneingeschränkt, die Frage: Wer kann das denn wagen? Wer kann einen anderen schuldig sprechen, wenn er selbst nicht schuldlos ist? Vielleicht ist diese Geschichte auch deshalb so verdächtig gewesen, weil sie die Ordnung menschlichen Zusammenlebens letztlich unmöglich macht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“: nach diesem Grundsatz könnte kein Mensch je über einen anderen zu Gericht sitzen. Das aber hätte Chaos zur Folge. Schuld muss ja festgestellt und dann geahndet werden. Wenn nur noch der Recht sprechen kann, der selbst absolut schuldlos ist, dann würde alles zusammenbrechen. Hat Jesus die Anarchie proklamiert – er, der doch von sich sagte, er sei nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen (Mt 5,17)? Ja, es ist vertrackt mit diesem Text.

II.
Wir kommen seiner Wahrheit auf die Spur, wenn wir noch einmal einen Moment innehalten. Was ist es eigentlich mit diesem Konflikt? Keineswegs so harmlos, wie uns die Allerweltscausa Ehebruch glauben machen will. Hier, vordergründig, die „Libertinage“ – hinter der doch die tief menschliche Sehnsucht nach dem ungelebten Leben steckt. Dort die Repräsentanten sozialer Ordnung, beunruhigt vom Werteverlust, dass so vieles wegbricht, was über Jahrhunderte vermeintlich common sense war, beseelt davon, eine bedrohte Welt zu bewahren. Diese Grundkonstellation ist zeitlos. Sie bestimmt in vielen Varianten auch unser Leben. Und die Steine liegen meist in Griffweite, und oft genug fliegen sie. Im wörtlichen Sinne, bei so manchen Kundgebungen, die sich harmlos „Spaziergänge“ nennen. Vor allem aber fliegen die Steine als Worte in den Untiefen der Social media.

In dieser aufgeladenen Situation soll sich Jesus erklären. Und was tut er? Statt eine große Predigt über die Unmoral der reinen Moral zu halten, bückt er sich, wendet sich ab von den Streithanseln – und kritzelt im Sand herum. Sogar auf ein eigenes Urteil scheint er zu verzichten: „Hat dich niemand verdammt? – Dann tue ich’s auch nicht“. Ein fast surrealer Moment, in dem Jesus eigentümlich weltfremd, fast ängstlich wirkt. Aber gerade dadurch ist diese Handlung so wirkungsvoll. Die aufgeheizte Szene friert für Augenblicke ein. Da erhitzen sich die Sachwalter der überlieferten Ordnung – und einer macht nicht mit, fällt aber auch niemandem in den Arm, sondern treibt seltsame Kinkerlitzchen. Das ist so verblüffend, dass es zum Innehalten, zum Abstandnehmen von der eigenen Aufgeregtheit zwingt: Was soll das denn? Was macht der da?

Als Syrakus von Feinden belagert wurde, soll der berühmte Archimedes Figuren in den Sand gezeichnet haben, um den Gang der Schlacht zu beeinflussen. Betreibt Jesus hier esoterisches Mantra auf der Erde? Schade, die Bibel hat da eine echte Lücke! Es ist dies nämlich das einzige Mal, dass Jesus etwas geschrieben hat! Und ausgerechnet diese Worte hat keiner überliefert. Keine wissenschaftliche Theologie, keine kirchliche Organisation kann es rekonstruieren.

Aber die Atempause wird zur schöpferischen Pause erst durch das Wort, das Licht in die brisante Situation bringt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der soll als Erster auf sie werfen“. Das kommt noch unerwarteter als das Gekritzele im Sand. Das Häuflein Elend in seiner Todesangst – die zu allem entschlossenen Moralisten: Muss da nicht Klartext geredet werden? Diese tollen Entsorger des Weltschmutzes, mit ihrem hehren Kampf für das Rechte und Reine, gehören sie nicht mal so richtig in den Senkel gestellt? Aber nichts davon! Jesus denkt nicht im Schema „Moral contra Unmoral“. Ihm geht es nicht darum, die selbsternannten Söhne des Lichts als tatsächliche Söhne der Finsternis zu entlarven. Er greift viel höher: Er will ihnen die Finsternis verleiden!

 „Wer unter euch ohne Sünde ist…“: wie gesagt, mit diesem Satz lässt sich kein Staat, schon gar kein Rechtsstaat machen. Aber seelsorgerlich ist er genial! Denn er spielt die Entscheidung den Saubermännern zu. Ganz schön riskant! Denn was, wenn sich jemand tatsächlich für porentief rein hält? Aber – wie Jesus diese Aufforderung formuliert, das hat etwas unglaublich Entlastendes! Lasst gut sein, kommt runter, eure Rolle ist ein paar Nummern zu groß für euch! Ihr braucht eurem Reinheitsideal nicht nachjagen. Ihr müsstet dann ja auch euch selber jagen! Ihr müsstet dann ja auch eure Umweltverschmutzung beseitigen! Aber hört: Eure Welt ist längst entsorgt, so wahr ich ihren Schmutz auf mich nehme. Dafür steht das Holz, an das ihr mich nageln werdet.

Und sieh an: es fliegt kein Stein. Sie gehen einfach nach Hause. Gegen die leise, bezwingende Macht der Liebe kommt der Lärm rigoroser Moral nicht an. Wenn wir meinen, wir müssten die Welt oder die Kirche blankputzen um der Ehre Gottes willen – dann müssten wir als erste uns selber wegputzen. Die Sorge aber um Gott und seine Sache können wir getrost Gott selbst überlassen. Wir sollen es uns einfach nur gefallen lassen, mit unseren Schatten und Abgründen von Gott geliebt zu sein. Wie könnten wir dann noch ernsthaft darauf aus sein, die Welt blankzuputzen mit Steinen aus Worten oder Kiesel?

III.
Und dann ist da noch die Frau. Die ist über dem ganzen Drama fast aus dem Blick geraten. Aber keine Sorge, sie kommt auch noch dran. Und zwar fast galant: „Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt? Dann tue ich’s auch nicht!“ Jesus fordert ihr weder ein Eingeständnis noch Reuebekundungen ab. Denn Gnade ist immer umsonst, sonst wäre sie nicht Gnade. Aber billig ist sie eben nicht: „Geh, und sündige hinfort nicht mehr!“ Liebe Gemeinde, fast denke ich, dieser Satz ist der wichtigste, auch schönste in der Geschichte, ihr eigentliches Happy End. Er ist deshalb so schön, weil er die Frau ernster nimmt, als sie sich selbst nahm, weil er ihr Würde zurückgibt und sie damit in einem tiefen Sinn schön macht. Sieh doch, die Moralisten sind ins Nachdenken gekommen! Da hat still und leise eine Verwandlung eingesetzt. Willst du da bleiben, wie du bist?

So bestrickend von der Liebe umworben, kann die Frau nicht mehr einfach ins alte, verworrene Leben zurück. In einer Welt, die von niemandem mehr für Gott blankgeputzt werden muss, sollte auch der Drang, sie zu verschmutzen, nicht mehr so leicht funktionieren. „Geh, und sündige nicht mehr“ – ich höre das so: Jesus traut uns zu, dass wir das manchmal als schicksalhaft und unveränderbar erlebte Verstricktsein in Lebenszusammenhänge, die uns und anderen nicht gut tun, auflösen können. Er nimmt uns nicht einfach an, „wie wir sind“, sondern er traut uns zu, dass wir noch andere sein, werden können. Jesus lässt nicht einfach „Gnade vor Recht“ ergehen (das wäre zu billig), sondern er setzt seine Gnade ins Recht. Er richtet das Recht der Gnade auf. Es ist das „Recht, ein anderer zu werden“. Auf diesen schönen Begriff hat Dorothee Sölle einmal die Freiheit eines Christenmenschen gebracht.

„Sündige hinfort nicht mehr.“ Sünde, das ist: am Leben vorbei, nur aus sich selbst und für sich selbst leben. Lebe nicht an dem vorbei, was dem Leben dient. Was das heißt? Das wirst du selbst herausfinden. Mit nur einem Satz gibt Jesus dem Gesetz seine Absicht, seine Würde, seinen Glanz zurück: dem Leben dienen. Er gibt die Frau dem Leben zurück.


AMEN.

Verbesserlichung: reale Möglichkeit

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Zu dem Wenigen, das die Wende vor 32 Jahren, den Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus, erstaunlich unbeschadet überstanden hat, gehört das Foyer der Berliner Humboldt-Universität. Genauer gesagt, der berühmte Satz von Karl Marx, der dort immer noch an der Wand zwischen den Treppenaufgängen steht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Man kann über diesen Satz ausgiebig streiten. Aus Sicht der Bibel gibt es dazu aber keine zwei Meinungen. Die gibt dem Atheisten Karl Marx, man höre und staune, Recht. Darauf nämlich kommt es der Bibel von A bis Z an: dass diese Welt anders, besser wird. Nicht die Frage, wie die Welt zu verstehen ist, nicht das, was wir Weltanschauung nennen, ist das Entscheidende, sondern entscheidend ist die Verwandlung der Welt. Wie das geschieht – da indes scheiden sich dann die biblischen und die marxistischen Geister.

I.

Genau um diese die Menschen zu allen Zeiten aufwühlende Frage, ob die Welt unverbesserlich oder verbesserlich ist, dreht sich das Büchlein Jona, aus dem der heutige Predigttext kommt. Es ist eine kleine biblische Novelle aus gerade nur 4 Kapiteln, und ein Kabinettstück alttestamentlicher Erzählkunst. Ein literarisches Juwel, trotz seines ernsten Inhaltes mit viel Anmut und Leichtigkeit. Vor Jahrzehnten hat der Jenaer Theologe Klaus-Peter Hertzsch das Buch Jona poetisch nacherzählt. Eine Kostprobe vom Anfang:

Wie schön war aus der Fern und Näh, / wie schön war die Stadt Ninive.
Sie hatte Mauern, stark und dick, / die Wächter machten Blasmusik.
Und Gott sah aus von seiner Höh / und sah auf die Stadt Ninive.
Die schöne Stadt, sie macht’ ihm Sorgen, / die Bosheit blieb ihm nicht verborgen.
Da tranken sie. Da aßen sie / die Hungernden vergaßen sie.

Eine Humoreske ist das Jona-Buch aber nicht. Bei seiner Hauptperson bekommen wir es mit einem rätselhaften, starrsinnigen, alles andere als humorvollen Menschen zu tun. Jona ist ein hochkomplizierter Mensch, voller Widersprüche. Einer, der schwer am Leben und an sich selbst trägt. Mit den Leuten von Ninive, wohin er von Gott geschickt wird, will er nichts zu tun haben. Deren Niedertracht und ethische Verkommenheit ist bekannt. Er weigert sich, sie im Auftrag Gottes zur Umkehr zu rufen. Bei denen ist doch Hopfen und Malz verloren! Jona ist einer von den Leuten, die nicht an eine bessere Welt glauben, die ihren Mitmenschen nicht mehr zutrauen, dass sie sich ändern können. Ich kenne diese Versuchung, im Urteil über jemand, der mir irgendwie suspekt ist, mich ausschließlich auf negative Erfahrungen zu fixieren. Jona ist in dieser Einstellung so verbiestert, dass er nicht den von Gott gewiesenen Weg nach Ninive einschlägt, sondern ganz woanders hin. „Weit weg vom Herrn“, wie es im Text heißt. Er findet ein Schiff, um nach Tharsis zu fahren, das ist in Spanien, am äußersten Ende der damals bekannten Welt. Obwohl der Prophet Gott mit einem klaren, wichtigen Auftrag zu sich hat sprechen hören, will er von ihm nichts mehr hören. Wie es weitergeht, ist bekannt. Das Schiff gerät in Seenot, die Mannschaft ist verzweifelt. Jona bietet er sich als Opfer an, um das Meer zu beruhigen. Das ist noch einmal eine Steigerung seiner depressiven Stimmung. Nichts hält ihn mehr am Leben. Die Matrosen sehen keinen anderen Ausweg, sie werfen Jona ins Meer. Der große Fisch, den Gott dann schickt, um Jona zu verschlingen, ist ein Bild für die chaotische, verzweifelte Abgründigkeit, in die sich Jona hat hineinreißen lassen.

II.

„Der Herr sprach zu dem Fisch, und der spie Jona ans Land“. So heißt es unmittelbar vor unserem Predigttext. Gott hat seinen Auftrag nicht ad acta gelegt, er schickt Jona erneut nach Ninive. Damit setzt der Predigttext ein. Diesmal hört Jona auf Gott. Aber er tut es als derselbe Starrsinnige, Unverbesserliche, der von seiner alten Spur nicht loskommen will. Anderes als eine Drohbotschaft hat er für die Leute in Ninive nicht im Gepäck. Zunächst einmal kann man das nachempfinden. Ninive, diese riesige Metropole im Zweistromland, damals eine Mega-City, wird andernorts in der Bibel „Blutstadt“ genannt. Das klingt schauerlich. Nach Zone des Bösen, Unheilvollen. Lange nach der Zerstörung des historischen Ninive war der Name für die Juden des 4. Jahrhunderts, in dem das Buch Jona entstanden ist, ein Synonym für die Hölle auf Erden. Wenn sie das Wort Ninive hörten, fuhren sie zusammen wie die Israelis, wenn sie das Wort Auschwitz hören, oder die Tschechen beim Wort Lidice oder jetzt die Ukrainer beim Wort Butscha. Ninive ist für Jona der Inbegriff der unverbesserlichen Welt.

Über drei Tagesmärsche erstreckt sich die Stadt. Jona geht einen Tag lang, dann sagt er, was er zu sagen hat. Er geht also nicht bis ins Zentrum, er bleibt am Rand der Innenstadt stehen. Hat er Angst? Oder rechnet er da, wo die wohnen, die mutmaßlich am meisten von den Unrechtsstrukturen profitieren, sowieso nicht mit offenen Ohren? Wie Greta Thunberg, die sagte, Gespräche mit Trump oder Putin seien nur Zeitverschwendung? Fakt ist jedenfalls, Jona erlebt das das total Unerwartete, demgegenüber die Sache mit dem Fisch als ein Kinderspiel anmutet: er wird gehört! Und das noch größere Wunder: die Niniviten kehren um, ändern ihr Verhalten. Jonas Botschaft, die eigentlich eine Götterdämmerung angekündigt, keine Chance mehr gelassen hatte, setzt so etwas wie eine Bürgerbewegung in Gang: „Sie glaubten an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle den Sack zur Buße an“. Sie krempeln ihr Leben nicht auf irdische Anweisung von oben um, denn der König spring erst später auf den Umkehrzug auf. Sie tun es, weil sie tatsächlich anfangen, sich an Gott und seinen Geboten zu orientieren.

Das hebräische Wort, das dieses Kapitel beherrscht, meint die Wendung eines Menschen um 180 Grad. Nicht dass er ein bisschen menschlicher, ein bisschen liberaler wird, sondern er wird ganz neu. Es geht nicht einfach um eine religiöse Erweckungsbewegung, eine gewandelte Weltanschauung. Sondern es geht, im Weltzentrum der Menschenquälerei und der Völkervernichtung, um ein radikales Aufräumen mit dem Bösen. Aus Menschenverachtung wird Menschenfreundlichkeit. Die Konzentrationslager reißen ihre Stacheldrähte nieder, die Munitionsfabriken produzieren von nun an Kochtöpfe und Pflugscharen, sie arbeiten nicht mehr für die großen Bomben, sondern für den großen Krieg gegen den Hunger. Gemeint ist: Aus Auschwitz wird Bethel.

III.

Ja, liebe Gemeinde, so grotesk realitätsfremd erscheint uns, was diese Story erzählt von der Verbesserung des Unverbesserlichen als realer Möglichkeit. Was damit den Juden des 4. Jahrhunderts mit ihrem Bild von Ninive zugemutet wurde! Da muss man zu bizarren Vergleichen greifen. Stellen wir uns vor, man erzählte Juden heute, dass Adolf Eichmann ein frommer Jude oder zumindest ein großer Humanist geworden war. Oder man erzählte den Menschen in der Ukraine, wie Wladimir Putin als Krankenpfleger nach Kalkutta ging. Das ist ja nie geschehen – so wie nach allem, was man weiß, auch das historische Ninive unbekehrt zerstört wurde, 150 Jahre bevor das Jonabuch geschrieben wurde. Man würde den Erzähler solcher Geschichten für einen geschmacklosen Beleidiger der Opfer, einen unverbesserlichen Gutmenschen halten. Denn es wird den Hörern des Jonabuches, der jüdischen Gemeinde des 4. Jahrhunderts gesagt: Wenn ihr treue Juden sein wollt, dann müsst ihr an die Bekehrbarkeit Ninives glauben! Mehr noch, dann müsst ihr für die Umkehr Ninives aktiv werden, unter Einsatz eures Lebens wie Jona ja unter Einsatz seines Lebens nach Ninive gegangen war. Oder ihr seid keine echten Juden, nehmt euren Gott nicht ernst. Und da das Jonabuch auch Teil unserer Bibel ist, geht dieselbe Zumutung auch an uns. Verständlich, dass sich vieles in uns dagegen wehrt. Diese Geschichte erscheint utopisch, geschmacklos, sie verletzt unseren Realitätssinn. Aus Schwarz wird nicht weiß. Ninive ist unverbesserlich.

Ja, sagt der Autor des Jonabuches: Ninive wäre in der Tat unverbesserlich – wenn Gott unverbesserlich wäre. Die Umkehr, die Buße Ninives wäre eine sinnlose, gefährliche Utopie, wenn es nicht auch die Umkehr, die Buße Gottes gäbe. Zunächst heißt es in dem Edikt der Königs von Ninive: „Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben“. Und eben diese verwegene Hoffnung wird bestätigt: „Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Weg, reute ihn, was er ihnen angekündigt hatte und er tat’s nicht.“ Liebe Gemeinde, hier geht es um nicht weniger als dass Gott Buße tut. Und weil es diese Buße, diese Umkehr Gottes gibt, darum gibt es auch die Umkehr Ninives, gibt es wirklich die Verbesserung der unverbesserlichen Welt von innen heraus.

Auf den ersten Blick sieht es ja so aus, als würde die Bußbewegung in Ninive erst die Umkehr Gottes in Gang setzen. Als sei Gott davon so gerührt und beeindruckt, dass er sich eines anderen besinnt. Aber auf einer tieferen Ebene zeigt sich: Von selbst kommt diese grundstürzende Bewegung nicht. Die Menschen in Ninive sind nicht einfach durch eigene Gewissenserforschung zur Umkehr gekommen. Der eigentliche Anstoß geht von Gott aus, davon, dass Gott offenbar einer ist, der sich selbst in die Speichen fallen, der seinem eigenen Zorn nicht das letzte Wort lassen will. Deshalb hatte er Jona überhaupt nach Ninive geschickt, deshalb hatte er ihn nicht fallen lassen, sondern war ihm hinterher gelaufen bei dessen Flucht vor ihm, bis in die abgrundtiefe Einsamkeit im Bauch des Fisches. Gott will einen Bußprediger, weil seine Liebe am Ende immer noch größer ist als sein Zorn. Und so gelangt Jona schließlich doch dorthin, wo er hinsoll, mitten in die Welt, mit deren Schrecken er nichts zu tun haben wollte, weil er sie für absolut unverbesserlich hielt. So bringt Gottes Umkehr die Umkehr des vermeintlich Bösen in Gang.

IV.

Am Ende bleibt aber eine entscheidende Frage: Was macht das mit uns? Ist unsere Welt, wo vom Klima bis zum Krieg das Alte, Zerstörerische seine Triumphe feiert, noch zu retten, ist sie verbesserlich? Die Vorstellung, es würde einer durch eine Megacity wie Bombay oder Shanghai laufen, den bevorstehenden Untergang ansagen und alle gehen dann in sich, ist ja ein Märchen, und kein wirklich gutes. Der Sound der Jonabotschaft „noch 40 Tage“ hat viele Resonanzen in unserer Zeit: „Es ist fünf vor 12“ (seit wieviel Jahrzehnten eigentlich??) – „Wir haben noch soundso viele Tage Zeit, die nächste Infektionswelle zu verhindern“ – „Nur noch dies Regierung hat Zeit für Maßnahmen, die Pariser Klimaziele evt. zu erreichen“ – „Ich will, dass ihr panisch werdet“ (Greta Thunberg). Kann man so Umkehrbereitschaft auslösen? Wohl eher nicht. Am Ende ist die Jona-Novelle ja auch mehr ein Gleichnis über Gott als eine Blaupause für die Menschen zur Weltrettung.

Mir kommt beim Hören dieser biblischen Erzählung eine Frau aus meiner früheren Gemeinde in Erinnerung. Ende 50, mehrfache Großmutter. Sie weiß: Wenn wir so weiterleben, ja, dann werden meine Enkelkinder, wenn sie einmal alt sind, kein Trinkwasser mehr finden, keine saubere Luft zum Atmen, keinen Erdboden mehr, der nicht vergiftet ist. Wenn es in unserer Gesellschaft mit ihren Spaltungen, dem tiefen Misstrauen gegen „die da oben“ so weitergeht, werden Hass und Gewalt irgendwann normale Kommunikationsformen sein. Sie engagiert sich bei den „Omas gegen rechts“, sie demonstriert mit bei den Jungen von „Fridays for future“, sie scheut sich nicht, unangenehme Wahrheiten immer wieder auszusprechen. Und gleichzeitig hofft und betet sie, dass ihre illusionslose Prophetie nicht Recht behält! Sie weiß, dass es nach allem menschlichen Ermessen stimmt, was sie befürchtet, aber sie gräbt sich nicht ein in der Resignation, dann das empfände sie als Verrat an ihren Enkeln und deren Kindern. Sie macht sich, wie die Leute in Ninive, sozusagen „fest an Gott“. Sie setzt ihr Vertrauen darauf, dass – gegen alle Realität – beim Thema Untergang das letzte Wort vielleicht doch noch nicht gesprochen ist. Dass es noch das „wer weiß“ gibt, auf das der König von Ninive gesetzt hatte: „Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut…“ Wer weiß! Diese Mutter und Großmutter weiß es auch nicht, aber sie weiß: Hoffen ist ein Tuwort! Und so tut sie, was sie mit ihren Möglichkeiten kann. Kleine Schritte, aber wer weiß. Vielleicht gelingt es doch noch diese Erde zu bewahren als guten Ort für ihre Enkel und alle Menschenkinder. Der sie geschaffen hat, ist ja auch kein Unverbesserlicher.


AMEN.

Einander (nicht) zur Hölle werden

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Vor neun Jahren erregte ein Bischof einer anderen Landeskirche ziemliches Aufsehen. Auf seine Grußkarte zum Weihnachtsfest 2013 war nicht, wie man es bei diesem Genre kennt, eine erbauliche Darstellung Alter Meister von der Heiligen Familie abgebildet. Sondern darauf war ein Schock-Foto zu sehen: Menschen, die nachts vor Lampedusa von einem total überfrachteten Seelenfänger ins eiskalte Meer springen. Es wurde damals diskutiert, ob das geht auf der offiziellen Weihnachtskarte eines Bischofs, die doch besinnlich daherkommen und weihnachtlichen Frieden transportieren soll. Das mag man so oder so sehen. Keine zwei Meinungen aber kann es darüber geben, dass das, was im Mittelmeer und an der befestigten Außengrenze der EU geschieht, zum Himmel schreit. Darauf wollte jener Bischof (es war Ralf Meister aus Hannover) aufmerksam machen. Damals schon, zwei Jahre vor der sog. „Flüchtlingskrise“.

I.

Das Szenario, das der eben gehörte Predigttext entwirft, lässt sich mit bitterer Klarheit in die Lage an den Außengrenzen Europas eintragen. Die Geschichte handelt von zwei völlig ungleichen Menschen, die doch ganz nah nebeneinander existieren. Der eine im Luxus, Geld spielt keine Rolle, jeder Tag Friede, Freude, Fest. Der andere gelähmt vor seiner Tür liegend, hungernd, bedeckt von Geschwüren, an denen die streunenden Straßenhunde lecken. Die Chance, hineinzukommen ins Haus des Reichen ist gleich Null. Das höchste der Gefühle: die Reste der Brotfladen zu ergattern, an denen die Tafelnden da drinnen sich die Finger abgewischt und dann einfach zu Boden geworfen haben. Mehr down under geht nicht.

Wozu hat Jesus diese Geschichte erzählt? Hat er die Lazarusse aller Zeiten, die Leute an den Hintertüren des Lebens, die unter dem Strich existieren, hat er die aufrichten wollen, indem er sie auf ein jenseitiges Schlaraffenland vertröstete, das ihnen doppelt und dreifach zurückgibt, was ihnen auf Erden verweigert war? Ist diese Geschichte ein Musterbeispiel dafür, was die großen Religionskritiker – nicht selten zu Recht – gesagt haben: dass das Christentum den Leuten mit der Vertröstung auf bessere Zeiten in einer jenseitigen Welt Sand in die Augen streut, damit sie bloß nicht auf die Idee kommen, ihr Elend im Diesseits zu bekämpfen? Denn das hieße dann ja auch: diejenigen anzugreifen, die es sich auf ihre Kosten gut gehen lassen. Ja, wäre es so, dass Jesus zu diesem Zweck die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus erzählt hätte, dann hätte Karl Marx Recht gehabt: Religion, Christentum – das ist Opium fürs Volk!

Auf den ersten Blick, liebe Gemeinde, ist es bei diesem herben Text gar nicht so einfach, solche Vorwürfe zu widerlegen. Man fragt sich ja wirklich: Hätte Lazarus nicht aufgefordert werden müssen, sich mit seinesgleichen zusammenzutun und den kaltherzigen Reichen kurzerhand aus seinem Prunkpalast zu jagen? Aber es ist nun mal nicht zu bestreiten, dass Jesus mit seiner Botschaft vom nahenden Himmelreich kein Sozialrevolutionär war. Im Unterschied zur Sekte der Essener von Qumran hat er die Armut nicht zum allgemeinen Lebensgesetz erhoben. Vor allem aber gilt gerade bei dieser Geschichte: Trost und Vertröstung, das ist zweierlei! Es ist ein Unterschied, ob denen, die sich aus ihrem Elend selbst nicht raushelfen, die dem reichen Mann noch nicht einmal die Scheiben einschlagen können, weil das Regime vor dem Haus die Sicherheitskräfte postiert hat (s. die Befestigungen der Außengrenzen Europas!), ob denen vordoziert wird: Wenn ihr euch geduldig mit eurer Lage abfindet und kein Trouble macht, dann wird es euch dereinst gelohnt! Oder ob sie als tröstliche Botschaft zu hören bekommen: Ihr kommt nicht zu kurz! Auf euch wartet Gottes Reich – und seine Umrisse könnt ihr schon hier entdecken!

II.

Aber das ist im Grunde gar nicht die eigentliche Absicht dieser Erzählung. Ihre ersten, wichtigsten Adressaten, noch vor den Lazarussen aller Zeiten, die getröstet werden sollen, sind nämlich – wir. Wir, die wir fast alle in irgendeiner Weise reich sind. Jesus erzählt uns diese Geschichte, und das ist allerdings das Ernste, Beunruhigende an ihr, damit es uns nicht so geht wie dem reichen Mann. Der kommt ja erst zu neuen Einsichten, als es zu spät ist. Als sich zeigt, dass nichts mehr zu ändern ist, als unwiderruflich feststeht: Leben verfehlt, Chancen verpasst! Eine Wiederholungsprüfung findet nicht statt. – Für uns ist es noch nicht zu spät. Aber, und deshalb steht diese Geschichte in der Bibel, wir sind in der Gefahr, die der Reiche zu spät erkannt hat und die er nun verzweifelt wenigstens von seinen Brüdern abwenden will: nämlich einfach so weiterzumachen, wie wir leben. Also den Ruf Jesu: Tut Buße, macht nicht so weiter!, zu überhören und das mit der Umkehr immer wieder rauszuschieben, nach der Melodie: Erst mal sehen! So übel sieht’s doch gar nicht aus bei uns. So nach dem frohsinnigen Kölschen Lebensmotto: „Et hätt‘ noch immer jot jejange!“

Jesus lässt das nicht gelten. Er lässt uns hier unmissverständlich wissen: mehr als dieser Ruf zur Umkehr kommt nicht! Gott wird uns weder mit Brachialgewalt zwingen noch durch irgendwelche Sondermirakel nachhelfen, so wie es der arme Reiche aus der Hölle heraus für seine noch lebenden Brüder erfleht. Das ist gar nicht nötig, denn: „Sie haben Mose und die Propheten, die sollen sie hören!“ Das will uns sagen: Wir gehören auch zu den fünf Brüdern des reichen Mannes! Denkt nicht, es käme noch ein Extraberichterstatter aus dem Jenseits, der erst wirklich beglaubigen würde, was in „Mose und den Propheten“ steht. Wem es ein Leben lang wunderbar gelingt, um Gott und sein Wort einen großen Bogen zu machen, der wird wahrscheinlich auch eine Totenerscheinung für leeren Spuk halten. „Sie haben Mose und die Propheten“ – das heißt nicht weniger als die ganze damalige Bibel. Da kann man sich nicht so einfach rausreden.

Und nun kommt für uns hinzu, dass unsere Lage gegenüber derjenigen der fünf Brüder des Reichen noch um einiges vertrackter ist. Das Wort, das wir in dieser Geschichte hören, ist ja das Wort dessen, der tatsächlich von den Toten zurückgekommen ist. Das Wort des Auferstandenen also, dem sich nach der Meinung des Reichen ja keiner mehr entziehen kann. Wer hier nicht hinhört, dem ist wohl wirklich nicht mehr zu helfen. Was uns mit dieser Geschichte gesagt wird, lässt sich also auf den Nenner bringen: Schlagt Gott und sein Wort nicht in den Wind!

III.

Im Grunde ist das eine einfache Botschaft, die jeder verstehen kann. Er hätte es ja besser wissen können, der Reiche. Er hatte doch auch „Mose und die Propheten“. Und da steht ja genug drin. Zum Beispiel beim Propheten Jesaja: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die, die im Elend sind, führe ins Haus“. Das Verhängnis des reichen Mannes besteht also nicht in seinem gut gefüllten Geldbeutel, sondern in seinem (Nicht-)Verhältnis zu Gottes Wort. Anders gesagt: Nicht Reichtum an sich ist von Übel, wohl aber, wenn man davon keinen verantwortlichen Gebrauch macht. Gottes Wort weist uns an den armen, übersehenen Bruder. Es zeigt ihn uns, denn Lazarus hat heute so viele Gestalten. Dass es den hungernden, zerlumpten, schmutzigen Lazarus auf der südlichen Halbkugel dieser Erde millionenfach gibt, da ist in dieser globalisierten Welt ja jeder von uns mit unserem Lebensstil irgendwie hinein verstrickt. Wir schieben das gern von uns weg und beteuern, dass wir unser Auto doch meistens in der Garage stehen lassen, dass wir penibel unseren Müll trennen. Aber denken wir, um nur ein Beispiel zu nennen, beim Kauf einer preiswerten Textilie eigentlich daran, warum sie so günstig zu haben ist? Oder dass wir, wenn wir unsere Lebensmittel bei Billig-Discountern besorgen, die Klimakatastrophe mitverursachen, unter deren Folgen v.a. die südlichen Länder wirtschaftlich massiv leiden? So reihen wir uns unter die fünf Brüder des Reichen ein.

Keine Frage, Gott hat uns nicht zu Marionetten gemacht. Und so können wir den Umkehrruf seines Wortes, der immer ein Hinkehrruf zum armen Lazarus ist, lange in den Wind schlagen. Wir haben Zeit. Aber eben, wir haben Zeit – nicht Ewigkeit. Zeit ist im Unterschied zur Ewigkeit begrenzt. „Es begab sich aber, dass der Arme starb“ – „Der Reiche aber starb auch“ – da war es dann vorbei mit der Zeit. Während der andere „in Abrahams Schoß“, also in Gottes Ewigkeit gelangt, wird der Reiche einfach nur „begraben“, er landet also ganz unten, ganz weit weg von Gott. Jetzt zeigt sich, wie anders die Maße sind, mit denen Gott unser Leben misst. Der Reiche kommt dorthin, was durch das Wort bezeichnet ist, das heute ziemlich diskreditiert ist: in die Hölle. Darf man darüber noch reden und predigen, nach all dem, was die christliche Mission früher mit der Erzeugung von Höllenangst angerichtet hat? Ich denke, die Sache, für die dieses Wort steht, ist nicht überholt. Es gibt das berühmte Wort von Jean-Paul Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“ So sehen wir das. Jesus sagt etwas anderes: Die Hölle: das bin ich – und zwar ich ohne die anderen. Wo man nur mit sich allein ist, immer aufs Neue auf sich zurückgeworfen, eine Runde nach der anderen um sich selbst drehend, ohne Gott und ohne andere: das ist die Hölle. Der andere, dem ich die Hölle bereitet habe durch meine Gleichgültigkeit, der wird mir zur Hölle, wenn ich für alle Ewigkeit von der Freude ausgeschlossen bin, die er jetzt in alle Ewigkeit erfährt.

„In der Hölle sein“, das heißt letztlich nichts anderes als ganz weit weg von Gott sein. Aber doch nicht so weit, als dass man ihn nicht mehr sehen könnte. Was nach Meinung Jesu die Sache nur noch schlimmer macht. Wenn ich gar nicht weiß, was mir fehlt, dann ist der Leidensdruck ja geringer. Hier aber ist es so, dass der Reiche aus der Ferne Gott sieht – wie ein Verdurstender eine rettende Quelle, von der er aber nicht trinken darf. Auch wenn wir das nicht gern hören wollen: Aber ob das so kommt, das entscheidet sich auch hier, jenseits von Himmel und Hölle, wo wir vom Wort Jesu aufgefordert sind, unsere Augen auf den Bruder, die Schwester zu richten, für die die Hölle kein akademischer Begriff ist, sondern nackte Realität.

Ob damit dann definitiv, ein für alle Mal über uns entschieden ist, wie es diese Geschichte nahelegt? Ich kann es nicht sagen. Wir haben Gott als dem letzten Richter nicht über die Schultern zu schauen. So lange das Jüngste Gericht aussteht, möchte ich mich gerne an das Wort eines großen katholischen Theologen halten: „Es ist zwar kirchliches Dogma, dass es die Hölle gibt. Es ist aber kein kirchliches Dogma, das auch jemand in ihr ist“ (Hans Urs von Balthasar). Diese Hoffnung kann uns auch ein beunruhigender Text wie der heutige nicht nehmen lassen. Aber die Dringlichkeit des Rufes, die uns aus ihm anspringt: die sollen wir nicht überhören.

Es ist nun einmal so: Zwar kriegen wir Gottes Gnade umsonst, ohne dass wir sie uns verdienen müssen. Aber billig ist sie deshalb gerade nicht. Gott selber hat sich seine Gnade ja sein Teuerstes kosten lassen. Und: Die Gnade will gelebt sein – sonst ist sie nicht Gnade. Noch haben wir Zeit.


AMEN.

Auch der Geist kann fleischlich sein

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Musikliebende haben eben beim Hören der Worte des Predigttextes sicherlich deren herrliche Vertonung durch Bach in seiner Motette „Jesu, meine Freude“ im Ohr gehabt. Sie sind der Auftakt zum 8. Römerbrief-Kapitel, einem Gipfelabschnitt in den Paulusbriefen. Seine Aussagen sind Schwarzbrot des Glaubens, an dem man lange kauen kann. Das macht ihr Verstehen nicht unbedingt einfach. Der Jubel über die mitreißende, nach vorn drängende Kraft des Heiligen Geistes, der doch am Pfingstfest laut werden soll, brandet hier nicht von selbst auf. Was ist das, wovon Paulus hier so akademisch-abstrakt redet? Was ist das für ein Geist, den wir im Glaubensbekenntnis bekennen, um dessen Kommen auch zu uns wir in Liedern und Gebeten bitten?

I.

Der hier bedachte Gegensatz von ‚Geist‘ und ‚Fleisch‘ ist als Thema ein Blockbuster in der Bibel. „Fleischlich gesinnt sein ist der Tod, aber geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede“: Wenn man das so hört, denkt man zunächst an den Gegensatz zwischen der materiellen und der geistigen Welt. Zwischen dem Physisch-Naturhaften, dessen Gesetzmäßigkeiten man analysieren und präzise bestimmen kann, und dem Inwendig-Psychischen, das sich einer klaren Bestimmung entzieht. Aber wenn wir es so verstehen, haben wir bereits den Einstieg in diesen Text verfehlt und verheddern uns im abseitigen Gelände. Denn wenn die Bibel von Fleisch und Geist redet, dann meint sie nicht diesen Gegensatz zwischen Geist und Materie, wie wir ihn landläufig verstehen. Der entspringt dem idealistischen Denken der griechischen Philosophie, ist also heidnischen Ursprungs. Die Bibel interessiert dieser Gegensatz nicht. In ihr geht es nicht um abstrakte Ideen, sondern immer um konkrete Beziehungen: Die zwischen Gott und Mensch und, daraus folgend, die der Menschen untereinander. Für die Bibel entscheidet sich alles, was über uns zu sagen ist, daran wie es um unser Verhältnis zu Gott steht. Auch die Spannung Fleisch-Geist hat hier ihren Angelpunkt.

Fleisch: Das ist für die Bibel das von Gott losgelöste Dasein. Das ist die Welt, die aus sich selbst und für sich selbst sein will. Das meint ein Leben, das sich Gott gegenüber verschlossen hält, ihn außen vor, sich seine Gnade nicht gefallen lässt. Das Leben des bei sich selbst gefangenen Menschen, der nur aus dem Eigenen leben will. Der Mensch, der sich selbst zum Maß aller Dinge macht (auch ein Satz aus der griechischen Philosophie!), weil er einer ihm übergeordneten Macht nicht untertan, sondern selbst-herrlich sein will. Deshalb ist, so meint Paulus und mit ihm die ganze Bibel, letztlich die Feindschaft gegen Gott der eigentliche Kern seines „fleischlichen“ Wesens. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das ein Licht auf diesen abgründigen Sachverhalt wirft: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“ Das ist es: Sünde, ‚Fleisch‘, das ist Hass gegen den, der mir hilft. ‚Fleisch‘ ist Hass gegen Gottes Gnade.

Dieses ‚Fleischliche‘ steckt also keineswegs nur in unserer körperlichen Natur, in den Anlagen, die man so als niedere, sinnliche Triebe ansieht. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“: so bringt Jesus in der Nacht von Gethsemane seine Enttäuschung über die schlafenden Jünger zum Ausdruck. In unserem Sprech ist diese Aussage zur banalen Wendung verkommen, die man augenzwinkernd bemüht, wenn man bei der Abmagerungskur dem Stück Torte, oder überhaupt bei der Kur dem „Kurschatten“ nicht hat widerstehen können. Mit dem, was Paulus meint, hat das nichts zu tun. Für Paulus können nämlich unser Geist, unser Intellekt, unsere Innerlichkeit – also die Dimensionen, die uns über die nichtmenschliche Kreatur herausheben und uns zur „Krone der Schöpfung“ machen – genauso ‚fleischlich‘, gottwidrig sein wie die Organe und Triebe unseres Leibes. Nicht irgendwelche sinnlichen Laster, sondern die kultivierten Formen menschlicher Selbstüberhebung sind der wirklich gefährliche Ausdruck der ‚fleischlichen‘ Gesinnung. Wenn Paulus hier sagt: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt“, dann haben wir diese Aussage richtig verstanden, wenn wir sie einfach durch einen Satz ersetzen, den der Apostel einmal den Korinthern geschrieben hat: „Wir aber haben nicht den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott empfangen“ (1. Kor 2,12).

II.

Was aber ist dann der Geist, der dem Fleisch, wie Paulus sagt, kritisch gegenübersteht? Er ist zunächst einmal nicht unser, sondern Gottes Geist. Also der Geist, der nicht aus uns kommt, sondern der von außen in uns eingehen, in uns wohnen und uns prägen will. Und dann wird dieser Geist ohne jeden Abstand als Geist Jesu Christi bezeichnet. Erst durch Jesus wird der Gegensatz zwischen Geist und Fleisch in seiner ganzen Tiefe offenbar. Denn Jesus Christus ist eben keine „innerer Idee“, sondern konkrete leibhafte Wirklichkeit, eine Person. An ihn glauben wir, wenn wir an Gott glauben, und nicht an irgendeine „höhere Macht“, die in einem himmlischen Stellwerk sitzt und den einen Lebenszug gut durchkommen, den anderen entgleisen lässt.

Worum es dabei geht, führt uns eine berühmte Szene der deutschen Literatur vor: die Szene in Goethes Faust, wo das fromme Gretchen es nicht mehr aushält und von Faust endlich Klartext über sein Verhältnis zum Glauben hören will. Sie stellt die berühmte „Gretchenfrage“: „Heinrich, nun sag, wie hältst du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon“. Faust will (sich) das natürlich nicht eingestehen, und legt als Antwort ein „Glaubensbekenntnis“ ab, das in seiner wortreichen Angestrengtheit nur die Bestätigung der Ahnung Gretchens ist: „Wer darf ihn nennen, und wer bekennen? / Der Allumfasser, der Allerhalter. / Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / dafür! Gefühl ist alles, / Name ist Schall und Rauch, / umnebelnd Himmelsglut“. Gretchens lakonische Entgegnung auf diesen ergreifenden Wortschwall hat es in sich und ist eine hübsche Karikatur kirchlicher Predigten: „Das alles ist recht schön und gut, / ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / nur mit ein bisschen andern Worten“.

Ja, wenn es um den Glauben geht, ist der Name eben nicht Schall und Rauch, sondern im Gegenteil, er hilft zur Unterscheidung der Geister und entscheidet darüber, von welchem Geist wir erfüllt sind. Paulus stellt die forsche Behauptung auf: Von Jesus Christus geht ein Geist aus, der mich frei gemacht hat aus einem hoffnungslosen Leben. Hoffnungslos darum, weil es ein geknechtetes Leben war unter dem, wie er es nennt, „Gesetz der Sünde und des Todes“. Wieder so eine wuchtige Wendung. Aber ich glaube, jetzt können wir besser verstehen, was er damit meint:

Gesetz der Sünde und des Todes“, oder eben „Geist der Welt“: Das ist das gnadenlose Dogma von der Eigengesetzlichkeit der Dinge und der Unveränderbarkeit der Welt, das sich in dem resignierten Ausruf austobt: Da kann man nichts machen! Man muss mit den Wölfen heulen, sonst wird man untergebuttert!

Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist die Meinung, wir sollten und dürften, was wir mit unserer Vernunft erreichen können, auch machen. Wir können aus dafür entsorgten Embryonen hochpotente Stammzellen gewinnen – was wiegt schon so ein Embryo gegen die Aussicht, „vollwertigen“ Menschen wirksam aus bisher unheilbaren Krankheiten zu helfen? Der Geist der Welt hat für alles und jedes eine plausibel klingende Begründung parat.

Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist der offenbar unausrottbare Mechanismus, nach dem Schuld immer die Schuld der anderen ist. Und dass demokratisch gewählten Menschen in politischer Verantwortung grundsätzlich nicht zu trauen sei, weil sie, von geheimen weltumspannenden Kräften gelenkt, nur Böses gegen das eigene Volk im Schilde führten

Gesetz der Sünde und des Todes“: Das ist das heimliche Dogma unserer Zeit, dass der Wert eines Menschen nicht durch sein pures Da-Sein gegeben ist, sondern sich an dem bemisst, was er leistet. Johannes Rau hat das als Bundespräsident einmal treffend kritisiert: Nicht was einer ist, sondern was er kann und in Folge seines Könnens hat, zählt heute meistens, sagte er. Ich breche hier ab. Jeder von uns könnte noch viele Paragraphen im Gesetz der Sünde und des Todes entdecken.

III.

Paulus setzt dagegen: „Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er auch eure sterblichen Leiber durch seinen Geist lebendig machen“. Gottes Geist kann also unser Leben von Grund auf erneuern, es in die Richtung Jesu bringen. Und die lautet für Paulus so: „Er erniedrigte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an“ (Phil 2,7). M.a.W.: Er wollte nicht hoch hinaus, sondern tief herunter. Der Geist Christi hat einen unverwechselbaren Zug nach unten. Das ist einzigartig, das gibt es so in keiner anderen Religion. Deshalb hat Jesus grenzenlos geliebt und ist so unbeirrt für das elementarste Menschenrecht eingetreten: ungeschmälert Mensch sein zu dürfen.

Gottes Geist, der Geist Christi: Das wirkt sich aus in der beharrlichen Hoffnung derer, die nicht mit den Wölfen heulen und unsere Welt nicht sich selbst überlassen, sondern mit vielen kleinen Schritten das ihnen Mögliche tun, in diese Welt Spuren des Reiches Gottes einzuzeichnen. Weil Gott es nicht auf die Vernichtung, sondern auf die Rettung unserer Welt abgesehen hat.

Gottes Geist, der Geist Christi: Das ist der Geist, der die Welt als Gottes Schöpfung erkennen lässt, die uns nicht zum Besitz übergeben, sondern nur treuhänderisch ausgeliehen ist. Der entscheidende Gesichtspunkt für ein von Gottes Geist geleitetes Denken ist nicht: Was bringt es für uns ein?, sondern: Dient es dem Leben des Menschen und seiner Mitgeschöpfe? Müssen wir es machen? Der Geist Christi ist ein Geist, der nicht will, dass wir, statt uns zu freuen, dass Gott Mensch wurde, daran arbeiten, dass der Mensch zum Gott wird.

Gottes Geist, der Geist Christi: Der bewirkt, dass – es war genau vor 20 Jahren, nach dem Massaker an der Schule in Erfurt, wenige Tage vor Pfingsten – 100.000 Menschen, von denen die wenigsten zur Kirche gehörten, still und konzentriert einen ökumenischen Trauergottesdienst mitvollzogen, auf einem Platz in Ostdeutschland, wo 13 Jahre vorher die Mächtigen noch das gesetzmäßige Aussterben des Christentums propagierten.

Gottes Geist, der Geist Christi: Der macht nicht mit, wenn jetzt (zuletzt durch eine führende Berliner Verteidigungspolitikerin) gefordert, die Bundesweht brauche, um eine effektive Armee zu werden, endlich wieder ein Feindbild. Und dieses Feindbild sei Russland. Der Geist Christi, der weder gegen Putin noch gegen Biden gestorben ist, sondern für uns alle, bewirkt, dass wir nicht vom Feindbild Putin und seiner schrecklichen Soldateska ein Feindbild „der Russen“ herleiten. Auch russische Menschen sind Geschöpfe und Kinder Gottes wie wir.

Liebe Gemeinde, wenn jeder von uns in diesem Geist Jesu anfinge, da, wo er lebt in dieser Welt, sich eines Menschen anzunehmen, ihm Beachtung und damit Achtung entgegenzubringen, ihn anzusehen und somit zu einem angesehenen Menschen zu machen, sich zu ihm zu stellen, Zeit für ihn zu haben – um den herum würde ein Stück Welt menschlicher. Gott sei Dank zeigt sich immer wieder: Es gibt solche Menschen. Es gibt viel mehr von ihnen, als wir oft meinen.

Sicher, wir können nicht alles, wir können nicht die Last der Welt auf unsere Schultern nehmen. Aber wir können eben auch nicht nichts, wie uns der Geist der Welt, das „Fleisch“ gerne einflüstert. Sondern wir können etwas – etwas im Geist Jesu. „Wenn du einen einzigen Menschen gerettet hast, so hast du die ganze Welt gerettet“, sagt ein altes Sprichwort aus dem Talmud. Das ist nicht „fleischlich“, nicht der Geist der Welt – der würde diesen Spruch sofort für aberwitzig und unlogisch erklären. Das ist „geistlich“, das ist Gottes Geist. – Lassen wir es uns also von niemandem ausreden: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn Gottes Geist in euch wohnt“.


AMEN.

„Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Das 8. Kapitel des Römerbriefs, aus dem der eben gehörte Predigttext kommt, ist ein Königstext im neuen Testament. Es geht in ihm um den Heiligen Geist, und was er im Leben der Christen bewirkt. In unserem Abschnitt schlägt Paulus aber einen verhaltenen Ton an. Auf den ersten Blick jedenfalls. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; aber der Geist selbst vertritt uns bei Gott mit unaussprechlichem Seufzen“. Das sind wir also. So und nicht anders war die Christenheit von Anfang an, und so wird sie bleiben bis ans Ende: einerseits „voll des Heiligen Geistes“ – aber was andererseits dann dabei herauskommt, sind nichts als „unaussprechliche Seufzer“. Da erzählt die Bibel an vielen Stellen, wie Gottes Geist neue Ein- und Durchblicke schenkt, zu ungeahnter Klarheit führt, gebeugten Leuten aufrechten Gang ermöglicht – und die Christen antworten auf diese Gabe nicht anders als mit Seufzen und wissen nicht, was sie Gott sagen können. Da werden wir mit dem Reichtum von Gottes Geistesgegenwart beschenkt – und im gleichen Atemzug wird uns ein Armutszeugnis ausgestellt: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen.“

I.

Aber eben, das ist eine Grunderfahrung mit unserem Christsein, und deshalb auch (für uns oft schmerzlich) mit der Kirche: dass dieser Gegensatz zwischen dem, was wir durch unsere Taufe sein sollen, und dem, was wir persönlich an uns selbst und aneinander immer wieder erfahren, so heftig sein kann. „Der Geist hilft unserer Schwachheit“ auf“: Haben wir nun Gottes Geist? Oder sind wir von vielen guten Geistern verlassen? Wenn mich einer, wie das unter Christen gelegentlich so ist, direkt auf den Kopf zu fragte: Hast du den Geist aus Gott empfangen?, dann würde ich ihm schon so antworten: Ja, ich habe ihn empfangen. Aber nicht ein für alle mal. Sondern gerade so, dass ich immer aufs Neue um ihn bitten muss. Ich habe ihn also nicht so bekommen, dass ich ihn gleichsam auf Flaschen ziehen und mir einen Vorrat anlegen könnte, der mir jederzeit abrufbar zur Verfügung steht. Ich bleibe darauf angewiesen, um ihn zu bitten.

Kennen Sie das schöne Bonmot: ‚Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass die Kirche ein Auslaufmodell ist? Antwort: Im Prinzip ja – aber dem Heiligen Geist ist nicht zu trauen!‘ Das ist es, liebe Gemeinde! Gottes Geist ist in der Tat nicht zu trauen, jedenfalls nicht derart, dass er erwartbar und planbar ist. Er weht, wann, wo und wie er will. Man kann ihn nicht in eigene Regie nehmen. Aber er kommt. Und so hat er seither in fast 200 Jahren unberechenbar und eigenwillig über das dürre Kirchenfeld geweht. Oft da, wo man es am wenigsten erwartete. Totgeglaubte Gemeinden hat er wieder munter gemacht, müde gewordene Christen in Schwung gebracht, und Leute, die mit Gott gar nichts am Hut hatten, hat er Zugang finden lassen zu Evangelium. Vor allem aber: der Heilige Geist hat ganz normale Menschen im ganz normalen Gottesdienst aufgerichtet, getröstet, zum Leben ermutigt. Wenn uns Gottes Geist nie angerührt hätte, ob wir dann jetzt hier wären?

II.

„Du bist ein Geist der Freude, von Trauern hältst du nichts“ (EG 133,6) heißt es in einem Pfingstlied von Paul Gerhardt. Eine steile, aber schöne Aussage. Was für eine Freude ist es, die Gottes Geist schenkt? Es ist zuerst und zuletzt die Freude darüber, dass Gott uns Jesus Christus geschenkt hat. Jesus, der sich unseres von so vielen Spuren des Todes gezeichneten Lebens annimmt. Er hat all das, was wir Gott und einander schuldig geblieben sind, als seine eigene Schuld sich aufgeladen und es so aus der Welt geschafft. Nun steht nichts mehr zwischen uns und Gott. Nun gilt, was Paulus am Schluss dieses 8. Römerbriefkapitels geradezu stolz proklamiert: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“ (Röm 8,39). Wir sind und bleiben von Gott geliebt, und das ist das Beste und Wichtigste, was von uns zu sagen ist. Martin Luther hat das in einem seiner schönsten und tiefsten Sätze so auf den Punkt gebracht: „Gott liebt die Sünder, nicht weil sie schön sind, sondern sie werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“. Auch das ärmste, bedrohteste Leben ist in Gottes Augen schön und hat unendlichen Wert. Es gibt nichts schöneres, als geliebt zu sein. Der Theologe Helmut Gollwitzer hat das einmal in den einfachen Satz gebracht: Wir sind noch viel geliebter, als wir wissen! Das ist der Kern des christlichen Glaubens.

Wir sind geliebter, als wir wissen: Das mindestens zu erahnen und uns von daher nicht runterziehen zu lassen in die Abgründe von Routine und Traurigkeit, an deren Rand wir uns oft bewegen – das ist bereits eine stille, aber nachhaltige Wirkung des Geistes, den wir nicht aus uns selber haben, sondern der kommt und unserer Schwachheit aufhilft. Vielleicht ist dies das Schwierigste und zugleich Tiefste, was in einem Christenleben zu lernen ist: Die Überbrückung, oder jedenfalls das Zusammenhalten dieses schmerzhaften Gegensatzes zwischen dem, was wir von Gott her eigentlich sind, und dem, wie wir miteinander und mit uns selbst sind, wirklich dem Heiligen Geist überlassen zu können, anstatt uns selber sysiphushaft daran abzuarbeiten. „Der Geist selbst vertritt uns bei Gott mit unaussprechlichem Seufzen“. Er vertritt uns im Himmel besser, als auch der frömmste Mensch jemals seine Sache vor Gott vertreten könnte.

Aber auch der beste Stellvertreter taugt nichts, wenn er keine Vollmacht hat. Ein Stellvertreter, das liegt in der Natur der Sache, braucht immer eine Vollmacht, die ihn beglaubigt – das ist, denke ich mir, im Himmel auch nicht anders als auf Erden. Wer jemand glaubwürdig vertreten soll, der muss bejaht werden von dem, für den er eintreten soll. Wir kennen das aus der Diplomatie. Wenn eine Regierung kein wirkliches Vertrauen mehr in ihren Botschaften in einem anderen Land hat, wird der von seinem Posten abberufen. Anfang der Nuller Jahre kam das mal in Berlin vor. Der dortige Botschafter der Schweiz geriet wegen gewagter Auftritte seiner kapriziösen Gattin in der Berliner Nachtszene in die Schlagzeilen und drohte sein Land unmöglich zu machen - vorbei war’s dann bald mit der Stellvertreterrolle. So auch bei Gott: Da soll, wer sich bei ihm vertreten lassen will, auch Ja sagen zu diesem Stellvertreter. Er soll dem Heiligen Geist Vertrauen schenken, seine Sache bei ihm gut aufgehoben glauben. Gerade weil ihm laut Radio Eriwan nicht zu trauen ist, hat Gottes Geist unser Vertrauen verdient. Dass das geschah, dass Menschen - anfangs ganz wenige, und dann immer mehr – jemand, den sie nicht sehen konnten und der kein Gepränge entfaltet wie ein würdevoller Diplomat, ihr Vertrauen schenkten und ihre Sache ihm überließen: das ist das Geheimnis von Pfingsten und seither der Kirche.

III.

Der vor einigen Monaten verstorbene große Theologe Eberhard Jüngel hat mit Blick auf diesen Text gesagt: „Die Angst um die Welt und die Kirche, die auch der Christ nicht verliert, drückt sich aus in unaussprechlichen Seufzern. Seufzend gestehen wir uns und Gott unsere Angst ein. Ein solcher Seufzer ist das ehrlichste Gebet von der Welt“. Das ist steil ausgedrückt. Aber ich finde, es stimmt. Vielleicht haben Sie das auch schon mal so erlebt: dieses Ahnen, dass wir gerade dann, wenn wir gar nicht mehr wissen, was wir sagen und beten sollen, wenn wir nur noch eingestehen können, dass „wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus noch ein“, dass wir dann näher bei Gott sein können als in frommen und wohlformulierten Gebeten. Ich erinnere mich eines früheren Bischofs, der mal von seiner Beklommenheit vor einer weichenstellenden Sitzung seiner von inneren Konflikten zerrissenen Kirchenleitung sprach und seine Sorge vor dem Verlauf der Sitzung auf die sehr paulusmäßige Formel brachte: „Wenn morgen nicht der Heilige Geist mit Macht dazwischenfährt, dann können wir alle einpacken!“ Ein solcher aus der Tiefe kommender Stoßseufzer ist manchmal mehr wert als alle Gebete. Auch wenn es manchmal nur ein einziges seufzendes „Ach“ ist. Nein, wir brauchen uns unserer Gebetsunfähigkeit nicht zu schämen.

Aber nun ist und bleibt es die große Verheißung für unsere Seufzer, dass der Heilige Geist, der Dolmetscher unseres Lebens und Glaubens, sie nicht nur versteht, sondern sogar in sie einstimmt und sie so dahin transportiert, wo sie hingehören. Er liegt mit unseren „Achs“ Gott in den Ohren. Auf Pfingsten hin zu leben und von Pfingsten her miteinander Kirche sein, das heißt also beides: dem Heiligen Geist vertrauen, Ja zu ihm sagen - und zugleich: sich des seufzenden „Ach“ über die sichtbare, oft wenig ansehnliche Seite unseres Lebens nicht schämen. Karl Barth sagte einmal: „Ach ja – in diesen beiden Worten steckt das ganze Pfingstgeheimnis“.

Liebe Schwestern und Brüder, die Welt, in der wir leben, auch die Kirche, wie wir sie erfahren, nötigt uns gerade jetzt oft nur ein „Ach“ ab. Aber wir bleiben damit nicht uns selbst überlassen. Wir können mit diesem „Ach“ zu Gott kommen, wenn wir „Ja“ zu ihm sagen. „Auf Hoffnung“ hin, wie Paulus nicht müde wird, in Römer 8 zu sagen. So können diese beiden Wörtchen „Ach ja“ fast zu einer Art Summe eines Christenlebens werden - eine Summe, die sich von mathematischen Summen darin unterscheidet, dass sie nicht endgültig ist, sondern nach vorne offen bleibt. Damit Gott selbst, wann und wie es ihm gefällt, das Saldo feststellen kann.

Wie das aussehen wird? Wissen können wir’s nicht. Sonst hätte Paulus dieses Kapitel nicht schreiben müssen. Eins aber wissen wir, und das ist wie ein verhaltenes, aber unüberhörbares Echo auf das Eingeständnis, dass wir nicht wissen, was wir beten sollen. Paulus weiß wohl, warum er es gerade mal zwei Verse später uns zuruft: „Wir aber wissen, dass denen, die sich Gott öffnen, alle Dinge zum Besten dienen“.


AMEN.

„Regierungswechsel und Zeitenwende“

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Die Bibel ist ein unheimlich faszinierendes Buch. Im Fall des heutigen Predigttextes meine ich das wortwörtlich: die Bibel kann auch unheimlich sein; und oft ist sie faszinierend. Und manchmal ist sie beides zugleich. Vielleicht ist es Ihnen eben so gegangen beim Hören dieses total fremdartigen Textes. Seine bizarren Bilder, die mit Sprachgewalt entfaltet werden, erinnern Bibelleser an das letzte Bibelbuch, die Johannesapokalypse. Und in der Tat, Daniel, einer der jüngsten Propheten im Alten Testament, wird der sog. spätjüdischen Apokalyptik zugerechnet.

I.

Wer war dieser Daniel, von dem wir vermutlich nicht viel mehr wissen als die berühmte Episode von jener Löwengrube, in die man ihn irgendwann geworfen hatte, um den Gott auszutesten, den er verkündigte? In dem Buch, das nach ihm heißt, wird erzählt, wie Daniel schon als Teenager aus seiner Heimat Jerusalem nach der damaligen Supermacht Babylon verbracht wird. Er durchläuft eine Ausbildung zum höheren Verwaltungsdienst und findet einen exponierten Arbeitsplatz in der Kanzlei des damaligen Großkönigs Nebukadnezar. Solche Stellen an einem orientalischen Hof galten als Schleudersitze, aber Daniel arbeitet über Jahrzehnte offenbar hochkompetent, bis schließlich die Perser das babylonische Reich erobern. Daniel aber ist für den anstehenden Regimewechsel ein unentbehrlicher Fachmann, er bleibt auf hoher Ebene in der Verwaltung. Wir würden sagen, als Hauptabteilungsleiter im Ministerium, wo die echte Fachkompetenz sitzt, die auch bei jedem Regierungs- und Ministerwechsel im Haus bleiben muss.

Daniel kennt seinen jüdischen Glauben. Er weiß etwas von Gottes Gnade auch in Zeiten des Umbruchs und Nächten totaler Ungewissheit. Er hat sein Elternhaus, seine Heimat, seine Freiheit verloren. Aber auch in dieser entwurzelten Umgebung vertraut Daniel dem Gott seiner Mütter und Väter, Tag und Nacht, wach und im Traum. In seinen Träumen empfängt er von Gott Visionen. Sie drehen sich darum, wie es jetzt inmitten der Verwerfungen in der Welt mit dem kleinen Gottesvolk weitergeht. Die jüdische Hauptstadt Jerusalem und ihr Tempel sind zerstört, alles, worauf sie in der Theologie und in der Architektur einmal bauten, liegt in Trümmern. Ist da auch nur von ferne an einen Neuanfang zu hoffen?

Der heutige Predigttext enthält wie gesagt bizarre, aber auch großartige Bilder und Visionen. Es lohnt, sie zu meditieren und zu entschlüsseln, wie man das auch mit den unheimlichen Bildern machen muss, die die Johannesoffenbarung enthält. Das Meer in Daniels Traum steht für die Weite der Völkerwelt. Ihm entsteigen vier fürchterliche Raubtiere: ein Löwe, dann ein Bär, dann ein Panter und schließlich ein namenloses Tier, das die vorherigen an Bestialität übertrifft. Damit sind die Weltreiche der damaligen Zeit gemeint, die einander ablösen: die Babylonier, die Meder, die Perser und schließlich die Seleukiden. Sie sind gefährlich, unheimlich und teuflisch. Sie morden, fressen und treten alles nieder. Und sie entfalten drei große Themen, die nicht nur zeitlos wichtig sind, sondern gerade zur Jetztzeit aktuell wie lange nicht mehr: die Brutalisierung auf der Erde, einen Regierungswechsel im Himmel und schließlich eine Humanisierung im Himmel und auf Erden. Ein enormer Horizont, der da aufgemacht wird.

II.

Zunächst zur irdischen Brutalisierung. Was macht diese Tiere so gefährlich? Die Antwort ist auf den ersten Blick frappierend: dass sie Menschen sind, als Menschen dargestellt werden! Der Löwe wird „wie ein Mensch auf seine Füße gestellt, ihm wird Menschenverstand gegeben“. Das schaurige letzte Tier hat Augen wie Menschenaugen. Das will sagen: Menschen können zu schlimmeren Untieren werden als die Tiere in der Natur. Ein Löwe ist schon gefährlich genug. Aber ein Löwe mit der Intelligenz eines Menschen kann entsetzlich sein. Brutalität ist schlimm in sich. Aber Brutalität die intelligent geplant und technisch perfekt ins Werk gesetzt wird, ist teuflisch. Sicherlich haben manche von Ihnen vor einigen Monaten im Fernsehen den dokumentarischen Spielfilm über die sog. Wannseekonferenz gesehen. Genau das, die mit eiskalter technischer Intelligenz geplante sog. Endlösung der Judenfrage wurde da eindrucksvoll dargestellt.

Was macht diese Tiere so unheimlich? Zu Ihrer Brutalisierung gehört nicht nur Intelligenz, sondern auch Macht. Sie stehen zeichenhaft für die Macht der Imperien. Jener Weltreiche, die gewaltige Kriegsmaschinerien haben, mit denen sie kleineren, weniger starken Völkern brutal ihren Willen aufnötigen. Diese Macht, durch keinerlei rechtliche Rahmen begrenzt, brutalisiert unweigerlich. Hier ist dieser fremde ferne Text nun vollends in unserer Gegenwart angekommen.

Und was macht die Tiere so teuflisch? Die Tiere symbolisieren die alten Chaosmächte, die Gott bei der Schöpfung, jenem großen Gestaltwandel vom Chaos zum Kosmos, überwunden hatte. Die Weltmächte versprechen, Ordnung zu schaffen – „entnazifizieren“ heißt das aktuell –, aber in Wahrheit sind sie Teil des Chaos, das die Ordnung der Schöpfung zerstören will. So erscheinen die Weltmächte als ein großer Aufstand gegen Gott. Das ist das Schlimmste: wo Brutalität mit Intelligenz und politischer Macht auftritt und sich selbst absolut setzt, sich selbst zum Gott erklärt.

III.

Zweites Thema: der Regierungswechsel im Himmel. Daniel schaut Gott. Er sieht einen Greis, mit schlohweißen Haaren. Was für ein Kontrastprogramm zu den kraftstrotzenden Untieren. Man fragt sich sofort: Sind die Tage seiner Regierung gezählt? Wie lange wird er noch regieren? Dieser hochbetagte Alte überträgt nun seien Herrschaft einem, der wie ein Mensch aussieht, dessen Herrschaft aber unbegrenzt und ewig sein wird. Hinter solchen Visionen steht ein Mythos von der Ablösung eines alten Gottes durch einen jungen, durch einen, der wie ein Mensch aussieht. Es geht hier aber keineswegs darum, dass ein zu alt gewordener Herrscher die Amtsgeschäfte bei einem jungen Dynamiker besser aufgehoben sieht. Sondern das Problem sind die immer schrecklicheren Tiere. Ihre Bekämpfung und Ausschaltung überlässt der Alte nicht einem neuen Gott. Das wird noch unter ihm erledigt. Wenn der Menschenähnliche an die Macht kommt, soll das Problem der Macht gelöst sein. Er muss nicht erst noch einen schmutzigen Krieg führen. Er darf von Anfang an menschlich regieren. Ein himmlischer Regime Change, der anders als die meisten irdischen eine wirkliche Zeitenwende markiert.

IV.

Zum dritten Thema: die Humanisierung auf Erden und im Himmel. Beides geschieht zeitgleich. Im Himmel übernimmt ein Menschenähnlicher die Macht. Eine göttliche Gestalt wird mit einem Namen für Menschen bezeichnet. Er ist „der Menschensohn“. Auf der Erde wird die Schreckensherrschaft der Tiere abgelöst durch Menschen, die „Heilige des Höchsten“ genannt werden. So als bildeten sie auf Erden gewissermaßen die Filiale, den Hofstaat des höchsten Königs. Solche Parallelitäten sind aus der Alten Welt vertraut. Wenn die Völker Krieg gegeneinander führen, streiten sich auch die Götter. Hier aber, das ist das Aufregende, geht es nicht um die Parallelität von Kriegen in Himmel und auf Erden. Es geht um die Parallele zwischen einer Vermenschlichung in beiden Sphären und um ihre wechselseitige Durchdringung. Der göttliche Bereich wird menschlich, der menschliche zu einer Sphäre der Engel. Die Botschaft ist: die auf Kraftmeierei, Angst und Gewalt aufgebauten Weltreiche der Tiere werden abgelöst durch ein menschliches Reich. Menschlich in dem Sinne, dass der Mensch dort zu sich selbst kommt, zu der Bestimmung, die ihm Gott in seiner Schöpfung gegeben hat.

Faszinierend dabei ist: Daniel sagt hier in visionärer Form, dass der Mensch immer noch dabei ist, vom Tier zum Menschen zu werden. Das wirklich Menschliche, das dem Menschen und damit auch Gott Gemäße, das Gottes Idee über den Menschen Entsprechende: das muss sich erst noch durchsetzen. Als Christen glauben wir, dass dieser wirkliche Mensch in Jesus erschienen ist. In ihm wurde das Göttliche menschlich, und das Menschliche göttlich. Er offenbarte mitten in der Brutalität der Geschichte eine Gegenwirklichkeit: Es ist ein Leben möglich, in dem sich die Menschen nicht mit Intelligenz, Macht und Selbstüberschätzung gegenseitig kaputt machen und unterdrücken. Es ist es Leben möglich, in dem es menschlich zugeht. Statt dem evolutionsbiologischen Lehrsatz Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kann gelten: Homo homini frater, der Mensch ist dem Menschen ein Bruder, eine Schwester.

Naturwissenschaftlich wissen wir längst, dass der Mensch aus dem Tierreich stammt. Was indes immer noch nicht als überzeugend gelöst gilt, ist die berühmte Frage nach dem missing link, dem fehlenden Übergangsglied zwischen Tier und Mensch. Aber – nicht im naturwissenschaftlichen, aber in einem tieferen Sinn! – eigentlich sind wir selbst dieses missing link. Eigentlich sind wir selbst ein Übergang von tierischen Dasein zum wahren menschlichen Leben. In Jesus sind wir dieses wahren Lebens ansichtig geworden. In ihm ist erschienen, sichtbar geworden, was wir sein könnten. Was wir, Gott sei es geklagt, nicht sind – aber doch hoffen einmal zu sein. Erst wenn der Mensch wirklich menschlich ist, wird ihm Gott auch menschlich, neudeutsch gesagt: auf Augenhöhe begegnen. Solange Brutalität herrscht auf Erden – solange eine Großmacht, weil sie groß und mächtig ist, ein kleines, viel weniger mächtiges Land durch Krieg vernichten will; solange beim Missbrauch wehrloser Kinder der Ruf der Institution, aus der die Täter kommen, wichtiger ist als Gerechtigkeit und Hilfe für die Opfer; solange das und vieles andere zum Himmel schreit: solange leben wir noch im Zeichen der brutalen und bestialischen Tiere.

V.

Zum Schluss komme ich noch einmal auf die Traumfigur aus Daniels Nachtgesicht, jenen geheimnisvollen „Menschensohn“, den der alte Gott zum Herrscher der Welten einsetzt. Nach dem Wort aus seinem eigenen Mund ist Jesus der geheimnisvolle Menschensohn. Auf die Frage des Hohepriesters beim Prozess gegen ihn: „Bist du der Christus, der Sohn Gottes?“ gibt der Angeklagte ruhig und klar die Antwort: „Ich bin’s; und ihr werdet sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen mit den Wolken des Himmels“ (Mk 14,62). Wir wissen, was diese Selbstaussage zur Folge hatte. Ganz unmittelbar, aus menschlicher Konsequenz, und das zeigt an, dass der Mensch noch nicht bei sich selbst angekommen ist, sondern tierisch tickt: deshalb der Karfreitag. Aber dann eben auch aus Gottes Konsequenz, der den einen wahren Menschen nicht unter der tierischen Brutalität belassen hat: deshalb kam Ostern. Was durch diesen Menschensohn geschehen ist, was Gott mit Jesus gemacht hat, wovon zuallererst Daniel geträumt hatte: das ist geschehen, damit es uns heute noch erreicht und zur Gnade gereicht. So wird der alttestamentliche Prophet, ohne es schon zu wissen, zum frühen Propheten des Erlösers Jesus Christus.

Und dann die Schlussszene. Jesus begegnet als Auferstandener in Galiläa seinen Jüngern. Er ist zwar noch auf der Erde, aber er lebt nicht mehr in dieser dreidimensionalen Welt, sondern schon in der vielfachen Dimension Gottes. Seine letzten Worte klingen wie eine Regierungserklärung: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Der Menschensohn ist wieder oben angekommen, nachdem er erst zu uns herab musste. Mir ist sie gegeben, das heißt: der ewige Gott hat sie ihm verliehen. Jesus holt sie sich nicht wie eines der kleinen und großen Raubtiere in der Geschichte, die eine Spur der Verwüstung hinterlassen, wohin sie sich in ihrer Macht- und Zerstörungslust auch wenden, verbal oder militärisch. Ein anderes Licht ist nun in der Welt, das wir dorthin weitertragen sollen, wo es noch nicht scheint. Wir können das beherzt angehen, denn wir haben das Versprechen, das Christus, der Menschensohn im Himmel, jener Regierungserklärung unmittelbar angefügt hat: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20).


AMEN.

Das Leichte schwer – das Schwere leicht. W.A. Mozart und Karl Barth

Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik

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Liebe Gemeinde,

„Ein kurzes 'Bekenntnis zu Mozart' soll ich ablegen? Ein 'Bekenntnis' zu einem Menschen und seinem Werk ist eine persönliche Sache. So bin ich froh, persönlich reden zu dürfen. Musiker oder Musikwissenschaftler bin ich ja nicht. Aber zu Mozart bekennen kann und muss ich mich wohl.“ – Mit diesen Sätzen beginnt ein längerer Text mit dem Titel „Bekenntnis zu Mozart“. Geschrieben hat ihn 1956, zum 200. Geburtstag des großen Komponisten, der berühmte Schweizer Theologe Karl Barth, den man auch den protestantischen Kirchenvater des 20. Jahrhunderts nennt.

Karl Barths grenzenlose Mozart-Liebe ist fast noch bekannter als seine Theologie, die immerhin eine gewaltige Dogmatik hervorgebracht hat, die trotz 13 Bänden und mehr als 10.000 Seiten unvollendet geblieben ist. Bilder des Genfer Reformators Calvin und von Mozart hingen in seinem Arbeitszimmer nebeneinander, auf gleicher Höhe. Mozart gehörte zu Barths Alltag. Seine erste Begegnung mit großer Musik – vor allem mit Mozarts Zauberflöte – hatte er schon im Alter von fünf Jahren, da in der Familie viel musiziert wurde. „Ich habe zu bekennen, dass ich seit Jahren und Jahren jeden Morgen zunächst Mozart höre und mich dann erst (von der Tageszeitung nicht zu reden) der Dogmatik zuwende. Ich habe sogar zu bekennen, dass ich, wenn ich je in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart und dann erst nach Augustin und Thomas, nach Luther, Calvin und Schleiermacher erkundigen würde.“

Die Versuchung ist groß, diesem Punkt nachzugehen. Tatsächlich gibt es untergründige Beziehungen zwischen Mozarts Musik und Karl Barths Theologie, die man die sog. „Dialektische Theologie“ nennt. Diese war das Resultat der allgemeinen tiefen weltanschaulichen Erschütterung in den Wissenschaften und Künsten durch das Inferno des 1. Weltkriegs, und eines Aufbruchs, den dieses Empfinden einer Zeitenwende auslöste. Die dialektische Theologie brachte sowohl theologisch wie kirchlich eine starke Bewegung im deutschsprachigen Protestantismus zwischen 1920 und 1933 hervor.

Dialektik meint ein Erkennen der Wahrheit in Stufen. In einer These wird eine Behauptung auf-gestellt, in der Antithese wird diese in Frage gestellt, und in der Synthese der Gegensatz in eine neue und höhere Ebene gehoben, die dann wieder zur These wird, die eine neue Antithese herausfordert. So entsteht ein Wechselspiel zwischen Frage und Antwort, mit immer neuen Synthesen. Charakteristisch für das theologische Denken Karl Barths ist ein in der Theologie berühmt gewordener „Dreisatz“, den er 1922 aufgestellt hat. Er sagte in einem Vortrag: „Als Theologen sollen wir von Gott reden“ – das ist die These. Dann sagt er weiter: „Wir sind aber Menschen und können als solche gar nicht von Gott reden“ – das ist die Antithese. Und dann folgert er aus dieser Spannung: „Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben darin Gott die Ehre geben.“ – Das ist dann die Synthese. Etwas weniger formal und abstrakt formuliert: Der Mensch kann überhaupt nur deshalb von Gott reden, weil Gott selbst sich offenbart, und der Mensch nur deshalb überhaupt glauben kann.

In einem mit „Dankbrief an Mozart“ betitelten Text spricht Karl Barth von der Dialektik Mozarts: „Mit Ihrer musikalischen Dialektik im Ohr kann man jung sein und alt werden, arbeiten und ausruhen, vergnügt und traurig sein, kurz: leben.“ Auch in Mozarts musikalischer Dialektik sieht Karl Barth die Gegensätze nicht aufgehoben. „Er musizierte das wirkliche Leben in seiner Zwiespältigkeit, aber ihr zum Trotz auf dem Hintergrund der guten Schöpfung Gottes.“ Barth findet, dass bei Mozart „das Schwere schwebt und das Leichte unendlich schwer wiegt“.

Für Karl Barth ist Mozart der Musiker, der aus einer geheimnisvollen Mitte heraus musiziert. Er schreibt: „Mozart ist einer, der die Grenzen nach rechts und nach links, nach oben und nach unten kennt, wahrt und Maß hält. Da ist kein Licht, das nicht auch das Dunkel kennt, keine Freude, die nicht auch das Leid in sich schließt, aber auch umgekehrt.“ Barth fand in Mozarts Musik, was er auch selbst theologisch auszudrücken versuchte: dass alle Spannung, alles Schwere im Leben immer schon von ihrer Überwindung her gesehen werden kann. Für Barth lag diese in der bereits geschehenen Zuwendung Gottes zur Welt in Jesus Christus. Mozarts Musik war ihm dafür ein Gleichnis.

Und so sehr Karl Barth als reformierter Schweizer ein in der Wolle gefärbter Protestant war, mit der durch und durch katholischen Prägung Mozarts hatte er kein Problem. Er schreibt: „Wir Protestanten konnten Mozart darum nicht recht gefallen, weil wir unsere Religion nach seinem Geschmack zu sehr 'im Kopfe' hätten! (Zitat Mozart: „Kann etwas Wahres daran sein, das weiß ich nicht.“) Ich jedenfalls möchte Mozart einen jener besonderen, direkten Zugänge zum lieben Gott hin zubilligen, die es ja bei den erstaunlichsten Menschen geben soll. Mit einem besonderen, direkten Zugang des lieben Gottes zu diesem Menschen hin wird man auf alle Fälle rechnen müssen. Wer Ohren hat zu hören, der höre.“

AMEN.

Sich anders singen

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des MDR-Rundfunkgottesdienstes

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Liebe Gemeinde,

am Wochenende nach dem 24. Februar, als Putin die Ukraine überfiel, haben wir in der entschieden, die Displays unserer Schaukästen vor der Frauenkirche in den ukrainischen Farben blau-gelb zu unterlegen und ein Wort aus dem eben gehörten Predigttext aus dem 1. Kapitel des Lukasevangeliums daraufzusetzen: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“.

I.

Klingt ganz schön robust und kämpferisch. Aber wer sagt das denn: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“? Das sagt kein Revolutionsführer gegen Unterdrückung und Gewalt. Auch kein wortmächtiger Prediger am Jerusalemer Tempel. Das sagt eine blutjunge Frau aus tiefster Provinz. Es ist eine Aussage aus dem Magnificat, diesem wunderbaren Gesang der Christenheit, seit Jahrhunderten täglich im Stundengebet gesungen, von vielen Komponisten vertont. Gerade erst hat Maria durch den Engel die unglaubliche Mitteilung bekommen, dass sie gewürdigt ist, Gottesmutter zu werden, den Erlöser der Welt zu derselben zu bringen. Das kann sie nicht fassen. Wie sollte und könnte sie auch?! Aber sie tut intuitiv das Richtige. Gegen die innere Aufgewühltheit stimmt sie das Magnifikat an.

Maria gehört nicht zur Elite. Sie ist ein 15 oder 16 Jahre altes Mädchen aus Galiläa. Und nun singt sie, oder besser: Es singt aus ihr heraus. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Klingt mitreißend, ermutigend. Wie sehr wünschte man diese Erfahrung den gepeinigten Menschen in der Ukraine. Aber schnell ist die eigene Skepsis zur Stelle: So beschwingt kann doch nur singen, wer realitätsblind ist. Da herrscht Unterdrückung im jüdischen Land. Die römischen Besatzungstruppen halten mit eiserner Faust law and order aufrecht. Nichts zu sehen von Befreiung und Gerechtigkeit. Aber es gibt eine im Singen geweckte Wahrheit, die gilt, auch wenn für unser deprimiertes Erleben alles dagegen spricht. Wir erleben fast vor unserer Haustüre Ruchlosigkeit, Vernichtungswillen, brutale Gewalt, riesige Flüchtlingsnot. Ein nicht enden wollender Karfreitag. Ist diese Realität die letzte Wahrheit? Nach unserem menschlichem Ermessen spricht viel dafür. Eins aber spricht dagegen. Das ist die Tatsache, dass Menschen nicht aufhören zu singen, und wenn es noch so finster um sie herum ist. Töne, Melodien sind kraftvolle Licht- und Hoffnungssignale, dass das Leben am Ende stärker ist als der Tod - auch in seinen vielen elenden Spielarten, mit denen er sich immer wieder da einzuschleichen versucht, wo er nichts verloren hat.

Ich stelle mir das mit Marias Lied vor wie bei den Sklaven vor 200 Jahren in Amerika. Irgendwann fingen sie an, unter der gleißenden Sonne des amerikanischen Südens während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern sich gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage Glaubenslieder zuzusingen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern des Alten Testaments. Das war die Geburt der Gospels, deren Melodien und Texte uns das Herz anrühren. „When Israel was in Egypt’s Land, / let my people go…“ Und das zu einer Zeit, in der nicht einmal ein Fantast an Befreiung aus der Sklaverei gedacht hat. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“: Der Glaube, sagte Martin Luther King, ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. So wird Marias Magnificat zum Protestlied gegen die Dunkelheit, die Heillosigkeit ihrer und unserer Zeit. Wer singt, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. Weil er im Tiefsten weiß und darauf seine Hoffnung setzt, dass die Todesmächte und ihre menschlichen Handlanger am Ende doch den Kürzeren ziehen.

Einen bewegenden Beleg, dass das erfahrbare Wirklichkeit werden kann, habe ich, und sicherlich viele andere, noch vor Augen. Oder genauer gesagt, im Ohr. Das ist die Befreiung der drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen 1990 von fünf Jahrzehnten russischer Fremdherrschaft. Es ist ein erstaunliches Phänomen in diesen drei kleinen Ländern, dass das Singen dort seit Jahrhunderten ein so selbstverständliches Allgemeingut ist wie anderswo Dinge wie Skifahren oder Skatspielen. Überall im Baltikum gingen damals die Menschen mutig auf die Straßen, obwohl sie waffenstarrenden russischen Sicherheitskräften gegenüberstanden. Gegen die Panzer und Gewehrläufe setzten sie die Kraft ihrer Lieder - und sangen. Deshalb hat diese historische Umwälzung den Beinamen „singende Revolution“ bekommen. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“: Das haben die Menschen in den kleinen baltischen Davids-Ländern damals gegen den russischen Goliath erfahren. Wir freuen uns, dass die litauische Sängerin Aida Blum-Morkunaite heute in der Frauenkirche ist und jetzt ein Lied aus ihrer Heimat singen wird, das damals 1990 auch auf den litauischen Straßen erklungen ist, gegen die Macht der Waffen.

[Gesang: „Lietuva brangi“]

II.

Es ist sehr stimmig, dass wir am Sonntag Kantate in einem evangelischen Gottesdienst dieser eigenen, unvergleichlichen Kraft des Singens nachspüren. Denn das Singen gehört zur DNA der Reformation. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Ohne Martin Luther gäbe es keinen Gemeindegesang im Gottesdienst. „Das Lied ist die Predigt der Gemeinde“, hat Luther gerne gesagt. Man muss gar nicht besonders sangesfreudig sein, um zu spüren, dass wir, wenn wir singen, auf eine eigenartige Weise verwandelt werden. Lieder, Chorwerke berühren uns nicht nur durch ihre Melodien, sondern auch, weil in ihnen Grunderfahrungen des Lebens gebündelt sind, unsagbar schöne wie abgrundtief schmerzliche. Und indem wir vieles, was uns in der Tiefe bewegt, im Singen versammeln, sammelt das Singen auch uns und lässt uns selbst uns ein Stück weit vergessen. Das gilt für die alten Volkslieder ebenso wie für viele Choräle des Gesangbuchs. Selbstvergessenheit, Außer-mir-Sein: eine der schönsten, intensivsten Daseinsformen! Und besonders schön ist es, dass das quasi unmerklich geschieht. So bin ich im Singen immer beides: selbstvergessen, und doch ganz konzentriert, gesammelte Existenz. Das ist ja dieselbe Erfahrung, die wir in der Liebe machen. Lieben und Singen, das ist wie ein Zwillingspaar. Es ist kein Zufall, dass das Schönste und Tiefste über die Liebe in Liedern gesagt worden ist.

„Meine Seele erhebet den Herrn“, so beginnt Maria ihren Gesang. Das meint: Maria singt sich über sich selbst hinaus, sie macht Gott groß, und damit wird ihr auch das eigene Leben anders und groß. Manchmal geht der Dank langsam, und er kommt in der Sprache daher, die schon alle kennen. Das aber ist nicht seine eigentliche Sprache, denn dann wird der Dank formelhaft. Die Muttersprache des Dankes ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Deshalb sind Musik und Lieder wichtiger als alle Predigten und Lehren. Denken Sie an David: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel.

Dietrich Bonhoeffer hat das Lied der Maria das leidenschaftlichste, wildeste Adventslied genannt. Hier begegnet uns nicht die sanfte, andächtig versunkene Maria, wie sie in der Kunst so oft erscheint, sondern eine hingerissen-begeisterte, vitale junge Frau. Sie bleibt nicht bei der Frage hängen: Was macht das alles mit mir? Maria macht Gott groß, indem sie Gott nicht nur bei sich am Werke sieht, sondern überall dort, wo Ohnmächtige aufleben können. „Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen”. Kündigt Maria hier einfach einen Austausch der Machtverhältnisse an? Oft genug haben Revolutionen unter umgekehrtem Vorzeichen nur neue Unterdrückung hervorgebracht. So plump kann Maria es nicht meinen. Was es heißen kann, dass die Reichen leer ausgehen, haben viele aus der Nachkriegsgeneration erfahren. Meine Eltern haben uns, als wir Kinder waren, oft erzählt, wie das mit den sogenannten Care-Paketen war. Eines Tages brachte der Briefträger der Familie meines Vaters ein solches Care-Paket. Sie kannten den Absender nicht. Sie packten es aus und staunten: Schokolade, Kaffee und, für sie bis dahin ganz unbekannt, Erdnussbutter, Kaugummis. Das Care-Paket kam aus Amerika von entfernten Verwandten, zu denen es nie Kontakt gegeben hatte. Sie hatten über Jahre auf ein Auto gespart. Als es so weit war, ging der Krieg zu Ende. Sie hörten von den zerstörten Städten und vom Hunger in Deutschland. Da setzten sie ihr fürs Auto erspartes Geld in Care-Pakete um für unbekannte Verwandtschaft in Deutschland. Das Auto musste warten. Von solcher Qualität stelle ich mir die Umkehrung der Verhältnisse vor. Wer Gottes Erbarmen feiert wie Maria und sich davon staunend und dankbar bestimmen lässt, wird zum Handlanger einer stillen, aber nachhaltigen Weltverwandlung.


AMEN.

Den Sorgen den Vogel zeigen

Predigt im Abendgottesdienst gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

es gibt die nette Weisheit: „Wer ständig über seinen Sorgen brütet, dem schlüpfen sie auch aus“. Dieses Wort weist uns in die richtige Richtung, und zwar gerade auch zum Verstehen der Jesusworte aus dem eben gehörten Evangelium. Das Phänomen der Sorge an sich bewertet Jesus darin gar nicht. Dass es ein Grundzug des Menschen ist, sorgen zu müssen, erkennt Jesus natürlich an. Ihm geht es darum, wie wir damit umgehen. Da gibt es offenbar einen hilfreichen Umgang mit, aber eben auch einen fatalen. Vor dem will unser Abschnitt aus der Bergpredigt uns warnen.

I.

Was könnte Jesus nun mit seinem seltsamen Hinweis auf die Sorglosigkeit der Vögel und der Blumen gemeint haben? Sollen wir so werden wie Vögel und Blumen? Hier zeigt sich, wie schnell wir bekannte Bibelworte missverstehen, wenn wir nicht genau genug hinsehen. „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie sähen nicht, sie ernten nicht, und unser himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr wie sie?“ Nicht der berühmte Verweis auf die Vögel, der letzte Halbsatz ist entscheidend! Jesus fragt nicht: „Seid ihr denn nicht auch wie sie?“, sondern er stellt die rhetorische Frage: „Seid ihr denn nicht viel mehr wie sie?“ Dass die Vögel nicht sähen und ernten, die Lilien sich nicht abplagen und spinnen, wird uns also durchaus nicht als nachahmenswertes Vorbild empfohlen. „Seid ihr nicht noch viel mehr als sie?“, das will sagen: Wenn schon die nicht-arbeitende Kreatur von Gott am Leben erhalten wird, um wieviel mehr gilt dies dann erst für euch, die ihr arbeiten müsst! So hat es Jesus gemeint, und natürlich nicht als Anleitung zum Faulsein. Dass wir als Menschen arbeiten, tätig sein müssen, dass wir - eben aus der Sorge für das noch unbekannte Kommende - nicht aus dem Augenblick heraus leben können, das war für Jesus selbstverständlich. Sonst hätte er nicht so viele seiner Gleichnisse fürs Himmelreich aus dem Bereich der Arbeitswelt gewählt, mit Bauern, Weingärtnern, Hirten, Kaufleuten etc. Vögel und Blumen haben kein Bewusstsein von Zeit und Geschichte und darum auch kein Wissen von den Chancen und Gefahren der Zukunft. Jesus weiß, dass es mit uns anders ist. Arbeiten - ja, meint er. Sorge, oder jedenfalls falsche Sorge - nein.

Aber was heißt das? Sich einfach willentlich vorzunehmen, weniger sich zu sorgen, zumal wenn man von seiner Disposition ein eher ängstlicher Mensch ist, das funktioniert ja nicht. Die großen Philosophen haben zu Recht herausgestellt, dass die Sorge eine Grundbefindlichkeit des Daseins ist. Jeder versucht sich selbst zu erhalten und zu sichern. Man ist immer auf etwas aus, was man erreichen und gewinnen möchte. Von dem, was wir haben, befürchten wir, es könne uns verlorengehen. Wir wissen, dass unser Leben vergänglich ist und auf sein Ende zuläuft, und je älter je mehr spüren wir es am eigenen Leib. Der unbekannten Zukunft, von der wir nur wissen, dass sie uns dem Tod näher bringt, möchten wir das Unheimliche nehmen, indem wir sie planend versuchen in den Griff kriegen.

Aber was sollte dagegen einzuwenden sein? Es ist etwas tief Menschliches, dass wir an unserer Zukunft bauen. Sorge als Fürsorge und Vorsorge für andere und sich selbst - dagegen ist auch von unserem Glauben her nichts zu sagen. Jesus verweist in manchen Gleichnissen ja auf die vorausschauende Klugheit der Kaufleute und meint, dass wir in dieser Hinsicht von den „Kindern der Welt“ etwas lernen können. So gesehen könnte man sogar sagen dass die Sorge zu den schönsten und wichtigsten menschlichen Eigenheiten zählt. Wer sorgt, lebt nicht blind im Hier und Jetzt. Er weiß, dass auch morgen ein Tag ist, an dem seine Kinder oder Enkel essen wollen, sauberes Wasser zum Trinken und gute Luft zum Atmen brauchen. Große Zauberworte unserer Zeit kommen hier ins Spiel: Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Die Sorge kann uns Menschen nicht nur krank, sie kann uns auch schön machen - wie ein Mensch immer von innen heraus schön wird, der mehr bedenken kann als sich selber. Wer gar nicht sorgt, ist regelrecht zukunftsunfähig. Es gibt auch eine höchst sinnvolle, konstruktive Angst vor den Bedrohungen der Zukunft, weil sie uns die Augen öffnet und uns dazu bringt, mit unserer Gedankenlosigkeit zu brechen. Und es gibt eine menschenfeindliche Sorglosigkeit, einen dummen und feigen Optimismus, der uns unfähig macht, bedrohliche Wahrheiten zu sehen. Etwa von man von der „Klima-Lüge“ oder der „Impfdiktatur“ schwadroniert. Die Propheten nannten so etwas Verstockung, also die Augen penetrant vor den Zeichen der Zeit zu verschließen.

II.

Wer nicht sorgt, ist unfähig zur Zukunft. Aber es gibt auch eine Sorge, die gegenwartsunfähig macht. Um die geht es Jesus hier. Was die unvermeidliche menschliche Sorge zur falschen Sorge macht, ist, dass das alles in einer Haltung der Vertrauenslosigkeit, der Angst geschieht, als müsste ich mein eigener Schöpfer und Erhalter sein, als wäre das, was ich täglich tue, nicht umschlossen von der alles umgreifenden Fürsorge Gottes. „Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen“, heißt es im 127. Psalm. Das ist es, was Jesus eigentlich meint. Wir wollen ernsthafte Christen sein, und dass an Gottes Segen alles gelegen ist, wissen wir auch - jedenfalls solange wir es singen, und es Theorie bleibt. Aber wenn wir einmal in stillen Momenten ehrlich uns selber anschauen, dann könnte es sein, dass unser Körper, unsere Art eine ganz andere Sprache spricht. Dann könnten andere vielleicht einen fatalen Zug an Vertrauenslosigkeit an mir entdecken: daran, wie verbissen ich arbeite; wie humorlos ich bin, wenn es um finanzielle Dinge geht; wie misstrauisch ich bin, wenn jemand mir Hilfe anbietet; wie reizbar, wenn meine Erfolge von anderen angezweifelt werden; wie gelähmt und nur noch um mich selber kreisend, wenn ich krank bin und gleich an das Schlimmste denke.

All dieses muss Gott, menschlich ausgedrückt, als eine Art Kränkung empfinden, als wäre auf ihn kein Verlass, als würde nicht stimmen, was Paulus im Römerbrief in einem seiner schönsten Worte so sagt: „Wir aber wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen sollen“ (Röm 8,28). Sorge, so gesehen, ist Misstrauen gegen Gott. Diese Sorge ist falsche Sorge, denn sie macht uns, wie alles Misstrauen, kaputt. „Woran du dein Herz hängst, worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott“, schreibt Martin Luther in seiner Auslegung des Ersten Gebots, und das ist heute noch aktueller als vor 500 Jahren. Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung und das, was es zur Beschaffung dieser Dinge braucht, kann für uns die Bedeutung gewinnen, die Gott allein zukommt, von dem auch alle diese Dinge her sind. Gott gibt uns Freiheit: Wir werden frei, die letzte Sorge um uns selbst und die, die uns lieb sind, ihm zu überlassen. Die Götter geben keine Freiheit - sie binden uns, machen uns abhängig.

Als zwar besonders erschreckender, aber beispielhafter Fall für so ein falsches Sorgen, das den einen Gott durch mancherlei Götter ersetzt hat, steht mir immer noch das Schicksal des früheren Ministerpräsidenten Barschel aus Kiel vor Augen. Der hatte, es ist jetzt 35 Jahre her, seinem Leben einsam ein Ende gesetzt, weil ein Leben ohne Macht, öffentliches Ansehen ihm nicht mehr vorstellbar, nicht mehr lebenswert erschien. Er hatte wohl all sein Sorgen auf diese Dimensionen gesetzt. Und als er aus diesem Sorgen heraus sich unrechtmäßiger Mittel bediente, um zu behalten, was ihm das Leben sinnvoll machte, und in Folge dessen erst recht in die Defensive geriet, konnte er sich offenbar an keinem Gott festhalten, der ihn rechtfertigt, sondern musste sich mit allen Mitteln selber rechtfertigen - bis er das nicht mehr konnte. Dies ist ein Beispiel für ein Sorgen, das nicht bei den Vögeln und den Lilien in die Lehre gehen will.

III.

Ein Gegenbeispiel habe ich vor Jahren erlebt. Ein junges Paar saß bei mir, das sein Kind zur Taufe bringen wollte. Ein sehr junges, denn beide waren gerade 18 geworden, kannten sich auch noch nicht lange, als wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Schwangerschaft kam. Wir hatten ein dichtes, für mich eindrückliches Gespräch über diese Situation, für alle unmittelbar Betroffenen ja eine existentielle Herausforderung, um nicht zu sagen: gefühlte Katastrophe ist. Beide waren sie mitten in der Ausbildung, und zumindest die Mutter hätte für das Kind ihre Ausbildung erstmal abbrechen müssen. Aber der für viele naheliegende Gedanke an einen Schwangerschaftsabbruch sei ihnen keinen Augenblick gekommen, erzählten sie - weil sie mit einem Mal ganz intensiv das Gefühl überkommen habe, dass dieses Kind, gerade weil es nicht gewollt und geplant gewesen war, ihnen sozusagen von weit her zum Geschenk gemacht worden sei und wofür sie jetzt Verantwortung zu übernehmen hätten. Sie sagten das als zwei Menschen, die nach eigener Auskunft bis dahin kaum religiös gewesen seien. Und dann sagte die Mutter einen erstaunlichen Satz: „Der liebe Gott hat uns jetzt dieses Kind anvertraut, und ich vertraue darauf, dass wir vom ihm auch die Kraft bekommen, die wir brauchen, dass es in Liebe und Geborgenheit groß werden kann.“ Vielleicht hatten diese beiden Menschen unsere Jesusworte noch nie gehört. Aber sie haben sie gelebt. -

Also: „Sorget nicht um euer Leben!“, was heißt das nun? Es bedeutet wohl unterm Strich eine letzte Freiheit von der Lebensangst, nach der wir uns und unser Leben aus eigener Kraft meistern und zum Abschluss bringen müssten. Wer dem begegnet ist, der unser Leben auf sich nimmt und es damit verantwortet und meistert, Jesus Christus, der wird – nein, nicht einfach frei von Sorge und Angst -, aber er wird lernen, sich von ihr nicht beherrschen zu lassen, sondern mit ihr zu leben. Und das heißt: trotz aller Sorgen mit aufrechtem Gang das Leben nach vorne hin zu gestalten. Leistung, Erfolg, Glück, Gesundheit sollen durchaus den ihnen gemäßen Platz haben, denn wir brauchen all dies für ein gutes Leben und für ein intaktes Selbstwertgefühl. Aber sie sind nicht das Letzte, nicht Mitte und Ziel. Das steckt in dem drin, was Dietrich Bonhoeffer in einem berühmten Text so ausgedrückt hat: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“

Und darum kann Jesus, auch wenn wir keine Vögel und keine Lilien sind, unseren Sorgen mit gutem Grund den Vogel zeigen.

AMEN.

Friedensstifter sind Realisten

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder!

Das passt: 8. Mai, 77. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Wir verabschieden heute die Peace Bell aus der Frauenkirche. Michael Patrick Kelly hat sie vor vier Jahren, 100 Jahre nach Ende des 1. Weltkriegs, geschaffen, aus Waffenschrott, den er auf dem Schlachtfeld von Verdun gesammelt hat. Schwerter nicht nur zu Pflugscharen, Schwerter auch zu Glocken! Zwei Wochen stand die PeaceBell hier in dieser Kirche. Die aktuelle Zeit mischt diesem Tag und dem Anlass einen schrecklichen und doch irgendwie passenden Unterton bei: Sinn und Klang dieser Glocke werden durch Wladimir Putin verhöhnt. Das legt sich bleiern auf diesen Tag.

Zugleich machen die Schreckensbilder aus der Ukraine für uns Nachgeborene nachvollziehbarer, wie es vor 77 Jahren in unserem Land und in dieser Stadt aussah. Die alten Dresdner, die noch da sind, wissen es noch. Als Willy Brandt 1945 aus der schwedischen Emigration nach Lübeck zurückkehrt, notiert er: „Eine Stadt am Rande des Lebens.“ Am Rande des Lebens! Das war ein Grundgefühl in jener Zeit. Gibt es ein Überleben, gar einen Neubeginn in ein anderes, besseres Leben? So haben damals viele gefragt. Ob wohl irgendwo in Deutschland damals am 8. Mai 1945 Gottesdienst gehalten wurde? Ich kann es mir kaum vorstellen. Das Empfinden in jenen Tagen war wohl zu erschöpft, und von Dankbarkeit, dass der Krieg vorbei ist, weit entfernt. Im westlichen Teil Deutschlands, wo ich großgeworden bin, hat es 40 Jahre gebraucht, bis dort ein Bundespräsident offiziell sagen konnte, was der 8. Mai 1945 zuallererst war: ein Tag der Befreiung. In der früheren DDR war das von Anfang an der Blick auf dieses Datum – aber eben mit entsprechender ideologischer Schlagseite.

I.

Ich versuche mir vorzustellen, es wäre an jenem 8. Mai 1945 Gottesdienst gefeiert worden. Was für eine Gemeinde wäre da wohl zusammengekommen? Frauen und Männer, junge Leute wären dabei gewesen, die sich jahrelang verstecken mussten, Tag für Tag in Angst. Jubelnd wären sie sicher nicht gekommen, aber tief aufatmend. Anderen hätte man die Schrecken über die Bombennächte angesehen, oder die namenlose Trauer über die im Krieg gebliebenen Männer oder Söhne. Andere wären wie versteinert in den Kirchenbänken gesessen; ihre Hoffnungen und Lebenspläne waren zerstört, aus der Heimat waren sie vertrieben, mit nichts standen sie da. Vor sie alle, die Trauernden, Erleichterten und Ausgebrannten, wäre Jesus Christus getreten, um ihnen zu sagen, was auch uns gilt: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Diese Aussage zu Beginn der Bergpredigt ist kein Appell. Gottseidank. Denn Appelle machen nicht selig, sie machen eher fertig. Ratschläge sind eben auch Schläge - sie legen uns auf das fest, was noch nicht ist und was wir gefälligst machen sollen. Jesus weiß das. Deshalb gibt er mehr als Appelle. Wo wir am Ende sind mit unseren Friedensbemühungen, wo wir über den Nachrichten aus der Ukraine, aber auch aus dem Jemen, aus Syrien und Mali desillusioniert geworden sind, was den allweihnachtlich beschworenen Frieden auf Erden angeht, da rechnet Jesus damit, dass es Friedensstifter gibt, die das Träumen und die realistische Hoffnung nicht unter lauter Resignation begraben haben.

Friede ist für Jesus nicht erst dann ein Thema, wenn es um den Schalom, den himmlischen Frieden seines Reiches geht. In seiner Bergpredigt, das ist das Unvergleichliche an ihr, bringt er das bruchstückhaft Alltägliche und das Große, Messianische zusammen. Es gibt sie, sagt Jesus, die Friedensmenschen, die Spuren ziehen, die nicht wieder zu planieren sind. Ihr lebt von ihrem heilenden Tun. Die innerlich einsam gewordenen jungen Frauen gehören dazu, die viel zu früh Kriegerwitwen geworden waren und dennoch alles getan haben, ihren Kindern ein gutes, lebenswertes Aufwachsen zu ermöglichen. Die wenigen jüdischen Menschen gehören dazu, die das Grauen überlebt hatten und dennoch in Deutschland geblieben oder später hierher zurückgekehrt sind. Die aus den ehemaligen Ostgebieten Vertriebenen mit ihrem Gewaltverzicht gehören dazu. Die früheren Feinde gehören dazu, die 1945 kein zweites Versailles dekretierten, sondern in Westdeutschland mit Marshall-Plan und Care-Paketen halfen, dass die Menschen wieder nach vorn blicken konnten. Frauen und Männer gehören dazu, die damals in der Stunde Null sich nicht in die innere Emigration zurückgezogen, sondern politische Verantwortung übernommen haben. Weil sie wussten: die letzte Rechnung der Naziverbrecher darf nicht aufgehen, dass Deutschland in verbrannter Erde untergeht. Sondern in der von ihnen geschaffenen Wüste an Kultur- und Rechtlosigkeit braucht es allen Einsatz, den Boden wieder urbar zu machen für Recht, Frieden und eine soziale Ordnung. „Selig sind die Friedensstifter“, sagt Jesus. So gab es Spuren des Friedens mitten in einem zerrissenen Land! Die Seligpreisungen gelten denen, die sich nicht mit harmlosen optimistischen Parolen zufrieden geben, sondern die ein Gespür für die Brüchigkeit der Welt haben und sich davon anrühren lassen. Sie gelten denen, die den Panzer des Erfolgs nach der Melodie „Wir sind noch einmal davongekommen! Wir sind wieder wer!“ ablegen. „Söhne, Töchter Gottes werden sie genannt werden“, sagt Jesus von ihnen.

II.

Von Bismarck bis Helmut Schmidt reicht die Tradition der sog. Realpolitiker, die die biblischen Friedensverheißung dem Sperrbezirk der frommen Seele zugewiesen haben mit der Behauptung, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen. Das ist ja auch nicht einfach nur falsch. Dem Vernichtungskrieg vor unserer östlichen Haustür gegen ein ganzes Volk lässt sich nach allem menschlichen und wohl auch biblischen Ermessen mit der Bergpredigt kein Ende machen. Ich habe Achtung vor denen, die auch jetzt noch eine konsequent pazifistische Haltung haben. Es gibt etliche von ihnen in unserer Kirche. Sie müssen ihren Raum in ihr behalten können. Aber Fragen hätte ich schon an sie. Schillers berühmtes Wort aus seinem „Wilhelm Tell“: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ wird ja zurzeit auf die bitterste Weise bestätigt. Aber heißt das nun im Blick auf die Bergpredigt, dass sie abgeräumt werden muss, wenn es um das soziale Miteinander der Menschen geht, dass sie wirklich nur etwas taugt für eine vielleicht moralisch ehrenhafte, aber einfältige inwendige Gesinnung? Dazu ein Wort eines anderen Politikers, unseres früheren Bundespräsidenten Johannes Rau. Der hat zur populären These, mit der Bergpredigt könne man nicht Politik machen, einmal lakonisch bemerkt: „Mag sein. Aber ohne die Bergpredigt könnte ich noch weniger Politik machen“.

III.

Wenn Jesus Christus von Frieden spricht, meint er mehr als das Befrieden nach Krieg und Zusammenbruch. Wie bei den messianischen Verheißungen der Propheten ist für ihn der Friede nicht nur ein Zustand, der auf den Krieg folgt, sondern der dem Krieg zuvorkommt. Ihn überflüssig macht. Jesus kennt uns besser als wir uns selbst kennen. Wir sind, was das Kippen von Frieden in Unfrieden angeht, gefährdeter als wir ahnten. Auch das wissen wir seit dem 24. Februar wahrscheinlich besser als lange Zeit. Ich erinnere noch gut, wie die Grundstimmung war vor 30 Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs. Manche waren nahe daran, eine Epoche des ewigen Friedens auszurufen. „Das Ende der Geschichte“ lautete triumphal ein viel gelesenes Buch eines amerikanischen Historikers. Und was ist daraus geworden! War uns nach 77 Friedensjahren in Mitteleuropa die Abwesenheit von Krieg zur routinierten Selbstverständlichkeit geworden? Mir kam in den letzten Wochen manchmal Helmut Kohl, in den Sinn. Der war ja wirklich ein leidenschaftlicher, überzeugter Europäer. Und eigentlich von seiner Wesensart ein durch und durch optimistischer Mensch. Aber wenn es um das Europa ging, dann wurde er immer sehr ernst. Bis ans Ende seiner Tage hat er oft gewarnt, dass wir auf dünnerem Eis unterwegs sind als wir meinen, dass die alten Gespenster von Nationalismus und Krieg noch längst nicht gebannt sind, dass die Einigung Europas eine Frage von Krieg oder Frieden ist. Wie Recht er hatte, erleben wir ja jetzt. Die Ukrainer kämpfen um ihre Freiheit und Unabhängigkeit, viele um ihr nacktes Leben. Und die Menschen in den Staaten Mittelosteuropas, den ehemaligen sog. „Bruderländern“, haben Angst um ihre nach 1989 wiedergewonnene Unabhängigkeit. Weil in Moskau einer an der Macht ist, getrieben von der Überzeugung, der Zusammenbruch des sowjetischen Mega-Reiches sei die Katastrophe schlechthin gewesen. Und der alles unternimmt, das wieder zu reparieren. Völkerrecht hin oder her. Es ist unheimlich, wie wir im 21. Jahrhundert wieder im 19. Jahrhundert angekommen sind, mit dem Denken in Großmächten, Hegemonien, territorialen Ansprüchen. Und mit einer Macht, die als Weltmacht respektiert und gefürchtet sein will, und die ihren eigenen Bürgern eintrichtert: Du bist nichts, dein Staat ist alles!

IV.

Dabei ist die große und großartige Idee eines vereinten Europas doch die moralische Konsequenz aus dem gewesen, was vor 77 Jahren sein verdientes Ende genommen hat. Und die immer noch ein einzigartiges Friedensprojekt ist. Wir können doch nur dankbar sein für die seit 1945 anhaltende stabile Friedenszeit in unserem Land. Beendigung der Erbfeindschaft mit Frankreich, Aussöhnung mit den Nachbarländern im Osten, denen von Deutschen Entsetzliches zugefügt wurde! Jetzt wissen wir wieder, wie wenig selbstverständlich das war und immer noch ist.

„Selig sind die Friedensstifter“: Friede, der dem Krieg zuvorkommt, hält Gewissen wach. Da sind die Bilder, die wir nicht loswerden und auch nicht vergessen dürfen: aus den KZ’s, mit den zusammengekarrten Leichen, Massengräbern, ausgemergelten Menschen. Einer, der die Exekutionen miterlebt hat, schildert, wie die Opfer nackt in die ausgehobene Grube steigen mussten, um erschossen zu werden. Er sieht einen Vater mit einem kleinen Jungen. Der Junge weint, der Vater zeigt mit dem Finger zum Himmel, erklärt ihm etwas, streichelt ihm den Kopf. Eine Szene, die sich in die Seele eingräbt. Können wir vor dem zum Himmel gehobenen Finger bestehen?

Wir können es nur dann, wenn wir alle Gedankenlosigkeit und Selbstgerechtigkeit fahren lassen. Wenn wir uns Gott zuwenden und seine Gebote nicht überfahren, wenn wir dankbar bleiben für erfahrene Hilfe in unvorstellbarer Not. Und wenn wir zuerst und zuletzt an dem Maß nehmen, der uns nicht nur friedensfähig macht, sondern der unser Friede ist: Jesus Christus. Denn er ist in diese friedlose Welt gekommen und hat sich Leid, Gewalt und Tod ausgesetzt, damit wir aufhören, weiterhin Gewalt, Kraftmeierei und das Recht des Stärkeren zum Daseinsgesetz des Menschen zu machen. „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“


AMEN.

Osterweinen

Geistlicher Impuls im Rahmen der Morgenandacht auf der Aussichtsplattform gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Ostern ist nicht nur das, was wir so unmittelbar mit ihm verbinden: das unwiderstehliche Hervorbrechen der blühenden Natur, Wärme, Farben, Osterspaziergang, Leichtigkeit. Nein, auch Trauer, Ohnmacht und Angst sind ein Teil von Ostern. Denn Ostern, die Auferstehung Jesu hat sich nicht jenseits der real existierenden Welt in einer Blase der Seligkeit ereignet, sondern mitten in ihr. Das erzählen uns die biblischen Osterberichte. Jedes Mal, wenn ich in ihnen lese, berührt es mich, dass die Evangelisten so ungeschminkt notiert haben, dass die erste Reaktion auf das Osterwunder alles andere als Jubel, sondern tiefstes Entsetzen und Angst ist, dass sie das nicht fromm wegretuschiert haben. Denn Ostern wäre nur ein schönes Märchen, wenn es nicht alle unsere Vorstellungskraft sprengen würde. Da bleibt bei allem Osterjubel ein letztes Erschüttertsein, ein Nichtverstehenkönnen.

Wie gesagt, in den Osterberichten geht es nicht um Friede, Freude, Ostereier. Sondern vorrangig um Fassungslosigkeit, abgrundtiefes Erschrecken und Tränen. Maria Magdalena, die Hauptperson des Osterberichtes bei Johannes, steht am leeren Grab Jesu - und weint und weint. Sie war die allererste gewesen, die noch halb in der Nacht zum ersten Tag der neuen Woche entdeckt hatte, dass der Leichnam Jesu, dem sie die letzte Ehre erweisen wollte, nicht mehr da ist, wo er nach der ehernen Ordnung des Todes hätte sein müssen. Das Grab ist leer. Weinend sieht sie hinein und sieht zwei Engel dort sitzen. Weinend wendet sie sich um und sieht den Auferstandenen - den sie aber gar nicht als den geliebten Jesus identifizieren kann. Sie hält ihn für den Friedhofsgärtner.

Maria Magdalena weint. Das Weinen der Liebe um das unwiederbringlich Verlorene. „Tränen sind der kleinste Fluss, / auf dem der größte Kummer schwimmt“, heißt es in einem Gedicht von Gabriela Mistral. Manche unter uns werden etwas davon wissen: von der tiefen Traurigkeit um das unwiderrufliche Ende einer Liebe, einer das Leben erfüllenden Beziehung. Manche werden auch die Erschütterung kennen, die einen überfallen kann: über sich selber, und was man alles versäumt oder, ohne es zu wollen, kaputt gemacht hat. Über das ganze Elend der Welt, und dass ich da so wenig tun kann. - Von all dem ist etwas in dem Weinen der Maria. Sie weint ja nicht nur um einen lieben Menschen. Sie weint um den, durch den ihr Leben heil geworden war, der sie frei gemacht hatte von Verstrickungen, die ihr nicht gut getan hatten. Sie hatte bei Jesus eine ganz neue Gemeinschaft erlebt: mit Menschen, die sich nicht damit abgefunden hatten, dass alles immer so weitergehen soll. Maria spürt: Wer Jesus verliert, hat alles verloren.

Tränen sind der Grundwasserspiegel unserer Seele. Es tut uns nicht gut, wenn er austrocknet. Wenn Tränen fließen, kann das der erste winzige, und doch wichtige Schritt aus der lähmenden Trauer sein. Tränen sind der Grundwasserspiegel unserer Seele. Es tut uns nicht gut, wenn er austrocknet. Wenn Tränen fließen, kann das der erste winzige, und doch wichtige Schritt aus der lähmenden Trauer sein. Vor vielen Jahren war mir aus ganz persönlichem Grund sehr zum Heulen. Aber ich konnte nicht weinen, wochenlang nicht. Das war schrecklich. Bis irgendwann, nicht durch Selbstbeschäftigung, sondern durch etwas von außen, nämlich ein nachdenkliches, gescheites Wort eines anderen Menschen, plötzlich die Dämme brachen und die Tränen endlich fließen konnten. Das war befreiend.

Bei Johannes sieht es so aus, als ob Maria Magdalena gerade deshalb die Engel im Grab sehen kann, weil ihre Augen voll Tränen sind. Zwei Jünger, die nach Auskunft des Evangelisten kurz vorher im Grab waren, haben gar nichts gesehen. Maria sieht, weil sie die Trauer zulässt. Weil ihre Trauer ihr bewusst macht, dass sie selbst nichts mehr tun kann. Dass sie ganz ohnmächtig, angewiesen ist. In ihrer bodenlosen Traurigkeit wird sie nun angesprochen. Wenn jemand meine Traurigkeit wahrnimmt und behutsam nach dem Grund fragt, dann macht das die Trauerarbeit einfacher. Gleich zweimal wird Maria Magdalena Bei Johannes gefragt, zuerst von den Engeln, dann von Jesus selbst: „Frau, was weinst du?“

Natürlich, damit wird es noch nicht Ostern. Aber es könnte ein leiser Anfang sein. Es gibt nicht nur das berühmte „Osterlachen“. Es gibt auch ein Osterweinen, das dem Ostergeheimnis vielleicht noch näher ist. Auch für Ostern gilt, und Maria erfährt das in einem sehr wörtlichen Sinn: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer“. Denn erst, als sie der Unbekannte dann bei ihrem Namen nennt, öffnen sich die tränenverschleierten Augen, und sie erkennt den, den sie sucht. Das hatte er ihnen ja gesagt, unvergesslich für sie: „Ich bin der gute Hirte, meine Schafe hören meine Stimme und ich kenne sie“ (Joh 10,27). Durch die Namensanrede gibt er ihr zu verstehen: Ich kenne dich mit deiner ganzen Geschichte, mit deiner Art und deinen Unarten. Ich lasse dich nie mehr los. Ich werde weiter mit dir reden, du wirst meine Stimme heraushören aus den vielen Stimmen, die auf dich einreden. Und das gilt nicht nur für Maria, sondern für uns alle, denen er in unserer Taufe gesagt hat: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jes 43,1). Dein Name ist im Himmel eingeschrieben.


AMEN.

Das Ende der Erstarrung

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Seltsame Verkehrung der Dinge: Das Karfreitagsevangelium, die bittere Passionsgeschichte nach Johannes, endet einem abgeklärten, fast sieghaften Wort des sterbenden Jesus: „Es ist vollbracht“. Das gerade gehörte sieghafte Osterevangelium dagegen schließt mit der bitteren Feststellung: „Sie fürchteten sich“. Jedes Mal, wenn ich die biblischen Osterberichte lese, berührt es mich, dass die Evangelisten das so ungeschminkt notiert und nicht fromm retuschiert haben. Denn Ostern wäre nur ein ergreifendes Märchen, wenn es nicht alle unsere Vorstellungskraft sprengen würde. Da bleibt bei allem Osterjubel ein letztes Erschüttertsein, ein Nichtverstehenkönnen.

I.

Was wollen die beiden Marias und Salome eigentlich am Grab, in der Herrgottsfrühe eines Werktages? Markus berichtet, dass sie kostbare Einbalsamierungsmittel dabei haben. Wollen sie eine Art Jesus-Mausoleum einrichten, wie vor 100 Jahren in Moskau an der Kremlmauer für den „ruhmreichen Lenin“, dessen seltsame Ruhestätte in diesen Tagen wohl besonders viel Zulauf hat? So furchtbar dieses Ende auf dem Berg mit dem schaurigen Namen „Schädelstätte“ auch war - der Tod muss organisiert werden, er muss seine Ordnung haben. Der Tote ist tot, da ist nichts mehr zu machen. Aber ihn ehren, ihm posthum Respekt erweisen - da geht immer noch was. So geht es bis heute. Nur: an der unangreifbaren Macht des Todes ändert das nichts. Irgendwie hat dieser Gang der Frauen zum Grab etwas trostlos Beruhigendes. Ein geliebter Mensch ist nicht mehr. Wir ordnen das mit Nachruf, Kränzen und Grabstein und bringen so unsere Trauer in ein hilfreiches Gerüst. „Tot ist nur, wer vergessen ist“: diese beschwörende Aussage steht manchmal über Traueranzeigen. Nein, wir werden ihn nicht vergessen. Mehr können wir nicht tun.

Aber zugleich, vom Evangelisten fast beiläufig erwähnt, geht die morgendliche Sonne auf. Die österliche Sonne. „Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging“. Da ist jedes Wort mit Bedacht aufgeschrieben. Ein neuer Schöpfungstag beginnt. Es war eine revolutionäre Wende, dass die Christen nicht mehr den letzten, sondern den ersten Tag der Woche zu ihrem Sabbat gemacht haben. Den Auferstehungstag, den Tag der neuen Schöpfung, der überglänzt ist von Gottes neuer Sonne, also den Sonntag. Vielen ist das gar nicht mehr klar. Für sie ist der Sonntag „das Wochenende“, bevor mit dem Mühen des Alltags am Montag die neue Woche beginnt. Dabei ist es etwas anderes, wenn das Neue nicht mit Arbeit und Seufzen anhebt, sondern mit Aufatmen und Beschenktwerden. Der von Ostern bestimmte Sonntag ist der Freudentag, von dem her ganz neues Leben in eine Welt kommt, die vom Tod gezeichnet ist. Angesichts des Todes können wir, wie gesagt, nichts mehr machen. Aber für Gott ist etwas zu machen. Ostern, das heißt: wo uns alles aus der Hand genommen ist, hat ein anderer alle Initiative an sich gerissen. Deshalb sollen wir an dem Tag, der an diese unvergleichliche Initiative erinnert, aus Machenden, Produzierenden, Angestrengten einfach Beschenkte, Aufatmende werden. Am Anfang aller Lebensvollzüge steht nicht das Tun, sondern das Empfangen. So gesehen ist der Sonntag als erster Tag der Woche die zeitliche Gestalt der Rechtfertigungsbotschaft.

II.

Aber jetzt habe ich weit voraus gegriffen. Die Frauen wissen ja noch nichts von alldem. Sie sind noch mitten auf dem Weg zum Friedhof. Sie haben einen schweren Gang. Mit Jesu Tod sind auch alle ihre Hoffnungen zerbrochen. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt. Wenn Lebensperspektiven endgültig zerstört sind, dann stürzen Welten ein. Die Füße sind jetzt schwer wie Stein, und jeder Schritt tut weh. So gehen Verlierer. Wenn sie schon nichts ausrichten können gegen den Tod, dann wollen sie ihn wenigstens einkapseln. Da ist dieser Stein vor der Grabeshöhle. Wie kann man den wegkriegen? Doch siehe da: Der Stein ist weg. Und im Grab liegt kein Leichnam, sondern da sitzt ein Engel. Wie kräftige Hammerschläge sind seine Worte: Jesus sucht ihr, den Gekreuzigten? Der ist nicht hier, der ist auferstanden! Den kriegt ihr nicht einbalsamiert, den bringt ihr nicht durch die Rituale eurer Pietät zum Erstarren. Geht zurück in euer Leben und vergesst das mit dem Jesus-Mausoleum! Er bleibt nämlich der Lebendige. Er wird euch immer vorangehen, wo ihr auch seid. Aus der dunklen, muffigen Grabeshöhle geht es hinaus in den neuen, sonnendurchfluteten Tag.

So wird Ostern unerwartet zur Stunde der Frauen. Aber merkwürdig: „Sie gingen hinaus und flohen von dem Grab, denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen“. Etwas anderes hat Markus nicht zu erzählen über die Reaktion der Frauen. Nichts als Angst und Schock. Wie kann das nur sein, dass diese unerschütterlichste aller Ordnungen, die Abfolge von Leben und Tod, so einschneidend durchbrochen und auf den Kopf gestellt wird? Wenn Gottes Macht die vertrauten Abläufe durchbricht, wanken die Grundfesten. Das provoziert unseren gesunden Menschenverstand, unseren Ordnungssinn. Da hat ja nicht der Tod das erste Wort und das Leben das zweite, sondern umgekehrt. Die Frauen sind noch weit entfernt das zu begreifen. Innerlich sind sie immer noch auf dem Weg zum Grab. Das hilft mir bei den Zweifeln, die wir ja nicht so einfach wegkriegen. Nach jedem Sonntag geht ja montags weiter mit unseren elenden Halbheiten, unserer Routine. Die österliche Botschaft, dass am Ende nicht der Tod steht, sondern das Leben, ist eine erschütternde Überraschung. Da wird es nachvollziehbar, dass Schrecken die erste Reaktion ist.

III.

Aller Glaube, auch der österliche, steht zwischen Gewissheit und Zweifel. Das kann auch gar nicht anders sein - denn Jesus war dem ja selber ausgesetzt. Das Kreuz, der Schrei der Gottverlassenheit war eben kein Schattenspiel. Der Karfreitag bringt zutage, was an Gottes- und Selbsthass sich in unsere verborgenen Abgründe eingenistet hat. Er bringt zutage, warum es das gibt, Auschwitz und Hiroshima, Islamischer Staat und Wladimir Putin. Aber Jesus hält das an unserer Stelle aus. So wird er, in dieser Solidarität zu unseren Abgründen, selber zum Verworfenen. Manchmal, wenn mir elend ist, versuche ich mich in die Atmosphäre des Karsamstags hineinzuversetzen. Das muss ein fürchterlicher Tag für Jesu Freunde gewesen sein. Die ganze Welt wie zugefroren. Eine Welt, in der die Stimme dessen, der ihnen Gott gebracht hatte, verstummt ist. Grabesstille. An dieser hoffnungslosen Situation kann das Salböl der Frauen nichts ändern.

Da braucht es schon etwas anderes. Da braucht es einen Engel. Der teilt den konsternierten Frauen mit: „Er wird vor euch hergehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen“. Warum Galiläa? Das ist mehr als nur eine geographische Angabe. Galiläa steht für die Rückkehr an die Arbeit, in den Alltag des Fischerdaseins. Es steht für die sauren Wochen, die noch auf jedes frohe Fest folgten. Die hohe Zeit mit Jesus von Nazareth ist vorbei, die Welt ist wieder durchwachsen und temperiert. Aber die helle Nachricht heißt: Er wird vor euch hergehen nach Galiläa, zurück in die Alltagsroutine. Vor allem aber: Galiläa, das steht schon bei Jesaja, ist das Gebiet, in dem die Heiden Zuhause sind. Die, von denen es heißt, mit ihnen könne Gott nichts anfangen. Gerade da will sich der Auferstandene seinen Leuten zeigen, um aller Welt bekannt zu werden. Also: Wenn ihr all das begreift, dann werdet ihr nie mehr ohne ihn sein. Ihr werdet nie mehr allein sein mit eurer Arbeit, mit euch selbst, mit den ungelösten Fragen eures Lebens und mit dem schwersten aller Probleme, dem Tod. Der Auferstandene wird dabei sein, weil er selbst all das durch hat. Das ist die große österliche Nachricht. Etwas davon haben wir alle in den letzten sieben Wochen gespürt. Im Schrecken und der Ohnmacht über den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine gibt es eine überwältigende Solidarität und Hilfsbereitschaft in so vielen Ländern für die Millionen Geflüchteten. Eindrucksvolle Zeugnisse, was Menschlichkeit sein kann - und was Europa sein kann, wenn es zusammensteht. Ein Stück Osterlicht, das in den Karfreitag hineinleuchtet, in den die Ukrainer gestürzt wurden.

IV.

Eine Erinnerung noch, die auch beides ist, schrecklich und österlich. 8. April 1945, Palmsonntag. Wenige Wochen vor der Kapitulation. Im Bayerischen Wald ist eine Gruppe von besonderen Häftlingen einquartiert, die man nach dem gescheiterten Putsch vom 20. Juli festgenommen hatte. Einer von ihnen ist Dietrich Bonhoeffer. Auf Wunsch der anderen Gefangenen, unter ihnen auch ein russischer Kommunist, hält er eine Morgenandacht. Sie geht über den Lehrtext jenes Sonntages. Der war das österliche Wort: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1. Petr 1,3). Kurz nach der Andacht erscheinen zwei Männer in den berüchtigten schwarzen Ledermänteln: „Gefangener Bonhoeffer, mitkommen!“ Ein SS-Kommando hat ihn noch aufgespürt und verbringt ihn auf persönlichen Befehl Hitlers ins nahe KZ Flossenbürg. Bonhoeffer kann sich nur noch von den Mitgefangenen verabschieden mit den Worten: „Das ist das Ende - für mich der Beginn des Lebens“. Das ist das letzte Wort, das von ihm überliefert ist. Am nächsten Morgen wird er nach kurzem Schnellgericht in Flossenbürg gehenkt. Der Lagerarzt hat dazu später notiert: „Ich habe in meiner langen Tätigkeit nie einen Menschen so gefasst und gottergeben sterben sehen wie Pastor Bonhoeffer.“ Mir kommt dazu in den Sinn, wie in der Apostelgeschichte über den ersten Märtyrer der Christenheit, den Diakon Stephanus, vor seiner Steinigung berichtet wird: „Er aber, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.”

Christus victor quia victima, so lautet ein uralter Osterruf der Kirche. Christus ist Sieger: weil er sich besiegen ließ. Denn der Tote lebt, für immer, und im Grab liegt nur noch der Tod selbst.


AMEN.

"Er wechselt mit uns wunderlich..."

Ansprache gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu an Karfreitag

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Liebe Gemeinde!

„Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn / muss uns die Freiheit kommen. / Dein Kerker ist der Gna-denthron; / die Heimstatt aller Frommen. / Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein, / musst‘ uns-re Knechtschaft ewig sein.“ Dieser Choral ist nicht nur der vielleicht schönste unter all den wun-derbaren Chorälen aus Bachs Johannespassion, die diesem Gottesdienst zur Sterbestunde Jesu sein eigenes Kolorit geben. Ich gestehe, dass mir jedes Mal, wenn ich ihn höre, die Augen feucht werden. Dieser Choral - übrigens der einzige aus der Johannespassion, der nicht im Gesangbuch enthalten ist - ist auch der geistlich zentralste. Er bildet inhaltlich, theologisch die Mitte, das Herz von Bachs großem Werk. In ihm wird in einer sprachlichen und Verdichtung, die man nur genial nennen kann, der innerste Kern des Passionsgeschehens und überhaupt unseres evangelischen Glaubens ins Wort gebracht.

In diesen fast paradoxen Wendungen: Sein Gefängnis ist unsere Freiheit - Sein Kerker ist unser Gnadenthron - Seine Knechtschaft ist unsere Freiheit, ist das sprachlich verdichtet, was die Theo-logen der frühen Christenheit das commercium mirabile genannt haben, zu Deutsch: den „seligen Tausch“. Oder wie Martin Luther es nannte: den „fröhlichen Wechsel“. Der vielen von uns ver-traute Weihnachtchoral „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“ buchstabiert diesen Wechsel in sei-nen sechs Strophen wunderbar durch, etwa wenn es dort heißt: „Er wechselt mit uns wunderlich, / Fleisch und Blut nimmt er an, / und gibt uns in seins Vaters Reich / die klare Gottheit dran“, oder auch: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein“ (EG 27,4+5) Damit ist präzise dasselbe ausgesagt wie in dem jenem Choral aus der Johannespassion.

I.

Karfreitag, das ist: Ein Unschuldiger muss schuldig sterben, damit wir, die Schuldigen, vor Gott unschuldig dastehen. Aber was für ein dunkler, rätselhafter Rollenwechsel ist das! Wie lässt sich das, wenigstens von ferne, verstehen? Im Alten Testament findet sich beim Propheten Jesaja die dunkle Aussage: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit, er ist um unserer Missetat willen und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Die frühe Christenheit hat in diesen Sätzen des Alten Testaments das Rätsel des Sterbens Jesu vorweggenommen und auch gedeutet gesehen. Die neutestamentli-chen Zeugen verdichteten das in den beiden einfachen Wörtchen „für dich“, die uns aus der Li-turgie des Abendmahls vertraut sind. Mein Leib - für dich gegeben! Mein Blut - für dich vergos-sen! Die beiden Worte wollen den Glauben der Christenheit ausdrücken, dass Jesus seinen Weg durch diese Welt, vom Holz des Stalls zu Bethlehem bis zu den beiden Holzbalken auf Golgatha, als Platzhalter, als Stellvertreter gegangen ist. Stellvertretend für uns alle, die wir aus unseren Kräften niemals unsere Altlasten abwerfen, unser persönliches Konto auf eine schwarze Null bringen könnten. Diese Deutung des Todes Jesu ist in tiefsinnigen, hochkomplexen Lehrgebäu-den entfaltet worden. Das hat sein Recht - im Hörsaal. Auf der Kanzel taugt nur, was uns im Herzen erreicht. Ich möchte zwei Begebenheiten zur Hilfe nehmen, um diesem tiefen Geheimnis zumindest ein wenig auf die Spur zu kommen.

II.

Der Polizist hatte ihr gesagt, dass ihr Junge nach dem Autounfall noch einmal kurz zu Bewusst-sein gekommen war und geschrien hatte. Wohl vor Schmerz, und weil er spürte, wie es um ihn stand. Noch auf der Fahrt ins Krankenhaus war er gestorben. Immer wieder hörte sie innerlich diesen Schrei. Sie kam gar nicht mehr los davon. Dann, nach über einem Jahr, eine Freundin hatte sie an Karfreitag in den Gottesdienst mitgenommen, hörte sie in der Lesung, dass jener Mann am Holzpfahl mit einem lauten Schrei gestorben war. Sie fasst es nicht. Jesus, der Sohn Gottes, der hatte auch geschrien? Hatte er geschrieben wegen der Schmerzen, die die Peiniger ihm zugefügt hatten? Oder mehr aus tiefer Verzweiflung, weil ihn alle im Stich gelassen hatten? Lange trug sie das mit sich herum. Er hatte auch geschrien. Nun waren es zwei Schreie, die sich seltsam überla-gerten. Viele Jahre war sie ganz selten nur zur Kirche gegangen, und nie zum Abendmahl. Dies-mal, an Karfreitag, ging sie, ohne genau zu wissen warum eigentlich. Als der Pastor ihr das Brot reichte und sagte: „Christi Leib, für dich gegeben“, da brach sie in Tränen aus. Zum ersten Mal seit langem konnte sie wieder weinen. - Das an diesem Karfreitag, ein Jahr nach dem Tod des Kindes, in der Kirche Erlebte ließ sie nicht mehr los. Es arbeitete weiter in ihr. Sie ging wieder zum Gottesdienst, und wieder, immer öfter. Sie fing an sich in der Kirchengemeinde zu engagie-ren. Irgendwann wurde sie in den Kirchenvorstand gewählt. Die unerwartete Erfahrung, dass der Glaube an den für uns Getöteten ihr ein Halt war, am Tod des Kinder nicht irre zu werden, und dass sie diesen Glauben in der Gemeinde mit anderen teilen, vertiefen konnte, gab ihrem Leben einen neuen Boden.

III.

Viele Ältere unter uns werden das Bild noch immer Augen haben. 7. Dezember 1970. Erstmals besucht ein westdeutscher Regierungschef ein Land des sog. Ostblocks, dem 40 Jahre zuvor von Deutschland Entsetzliches angetan worden war. Willy Brand ist in Warschau, um den deutsch-polnischen Vertrag abzuschließen, ein wichtiges Mosaik seiner neuen Ostpolitik. Er macht den Gang zum Mahnmal des von den Nazis dem Erdboden gleichgemachten Warschauer Ghettos. Aus dem protokollarischen Ritual wird eine Sensation, etwas nie Dagewesenes. Vor dem Mahn-mal sinkt Willy Brandt in die Knie. In der BRD damals heftig umstritten, hat dieses Bild in der Welt, vor allem in den Staaten östlich des Eisernen Vorhangs, eine enorme Wirkung entfaltet und viel dazu beigetragen, dass man in der Welt wieder das Gefühl bekam, Deutschen vertrauen zu können. Hermann Schreiber, ein Journalist des „Spiegel“, der in Warschau dabei war, fand da-mals Worte dafür, die in ihrer Präzision unübertrefflich sind: „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht kön-nen oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selbst nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“ Hier wurde in einem ganz kirchenfernen Blatt in Sprache gebracht, was das große schwere theologische Wort Stellvertretung meint, und warum von ihr etwas Befreiendes für ganz viele hervorgehen kann.

IV.

Man soll solche Gesten aus dem politischen Bereich nicht über Gebühr ins Geistliche, Theologi-sche ziehen. Das stellvertretende Leiden und Sterben, dessen wir heute gedenken, bleibt am En-de ohne Analogie. Aber gerade deshalb brauchen wir Bilder, Gleichnisse dafür aus unserer Sphä-re. Im Kreuz Christi stößt Gottes Heiligkeit mit dem ganzen Schmutz der Welt zusammen und geht eine unauflösbare Verbindung damit ein. Das ist das Alleinstellungsmerkmal des Christli-chen, das gibt es in keiner anderen Religion. Aus Sicht der Bibel haben wir alle durch tiefsitzen-de Schuld unser Leben im Grunde verwirkt. Das ist der Sinn der alten Geschichte von der Ver-treibung von „Adam und Eva“ aus dem Paradies. In ihnen finden wir uns alle wieder. Aber seit Karfreitag gilt: erst recht können wir uns in Jesus Christus entdecken, der uns so sehr geliebt hat, dass er dieses Urteil über uns an sich selbst hat vollstrecken lassen.

Liebe Gemeinde, am Ende bleibt das alles, wie wir in der Liturgie zum Abendmahl bekennen, ein tiefes Geheimnis. Wir können es nicht fassen. Wir können es uns nur wahr sein lassen:

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn
muss uns die Freiheit kommen.
Dein Kerker ist der Gnadenthron,
die Heimstatt aller Frommen.
Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein,
musst‘ unsre Knechtschaft ewig sein.


AMEN.

Blut ist dicker als Wasser

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Gründonnerstag, der Feier- und Gedächtnistag der Einsetzung des Herrnmahls, wie die frühen Christen das Hl. Abendmahl nannten. In vielen Gemeinden wird das Sakrament in Erinnerung an das „letzte Abendmahl“ an diesem Tag an einem Tisch gefeiert. Die Pandemie wie auch die räumlichen Umstände dieser Kirche machen das leider unmöglich. Aber das Bild des Tisches hat mich doch sehr begleitet bei der Arbeit an der Predigt für diesen Gründonnerstag.

I.

Dieser Tisch! Der geht mir, und sicher nicht nur mir, nicht mehr aus dem Sinn. Sechs Meter lang, 2,60 Meter breit. Dieser Tisch, an den Wladimir Putin, es ist schon eine gefühlte halbe Ewigkeit her, Emmanuel Macron und Olaf Scholz zum Gespräch empfing. Oder besser gesagt: an dem er Hof hielt und die beiden wie Schuljungen aussehen lassen und demütigen wollte. Und in Wirklichkeit gar nicht bereit war zum Gespräch.

Inmitten all der Bilder brutaler militärischer Gewalt und Verwüstung, die uns seit sieben Wochen durchschütteln, blitzt immer wieder dieser absurde Tisch vor meinem Auge auf. Vielleicht wird er einmal abgebildet sein in den Geschichtsbüchern, wo künftige Generationen nachlesen können, wie Wladimir Putin Anfang 2022 die Zukunft verspielt hat. Seine ganz bestimmt, aber vielleicht auch die seines großen stolzen Landes. Und jedes Kind wird, wenn es dieses Bild sieht, intuitiv verstehen, warum: Da sitzt einer nicht mit anderen zusammen. Einsam, völlig isoliert, sitzt er da in seinem Größenwahn. An so einem Tisch nimmt die Zukunft nicht Platz.

Vor dem 24. Februar bot er noch reichlich Stoff für Comedians und Kabarettisten. Es gab Fotomontagen, die allerlei an diesen verstörend leeren Tisch platzierten. Eine davon setzt die Szene des Gründonnerstags ins Bild: Zwischen Putin und Macron sind keine sechs Meter Leere mehr, sondern da sitzen Jesus und seine Jünger beim letzten Abendmahl. Dieses provokativ verfremdete Abendmahlsbild hat mich bewegt. Es zeigt, was in Zeiten der Angst und der Verzweiflung wirklich tröstet und stark macht: wenn Menschen zusammenrücken, Gemeinschaft suchen, miteinander teilen. Das erlebt Europa ja seit sieben Wochen auf eine kaum mehr für möglich gehaltene Weise. In der Ukraine zuerst, wo ironischerweise Putin bewirkt hat, dass dieses bis dahin komplizierte Land unumkehrbar zu einer Nation geworden ist. Die Kraft, die den Angegriffenen aus ihrem gemeinsamen Leid zuwächst, ist eine andere und so viel größer als die Kampfkraft der Angreifer.

Mit dem sog. Triduum sacrum, den heiligsten drei Tagen des Kirchenjahrs von Gründonnerstag bis Ostersonntag, beschließen wir die Passionszeit. Was für ein Segen, dass es diese sieben Wochen gibt. Die Christenheit hat sie in ihren Kalender genommen, damit wir das Leid nicht triumphalistisch ausklammern und wegschieben, sondern es an uns heranlassen. Das Leiden Gottes an seiner Welt. Das Leiden von Menschen, denen Gewalt und Unrecht geschieht. In diesem Jahr hat die Passionszeit nicht am Aschermittwoch begonnen, sondern schon eine Woche früher, eben am 24. Februar. Der Abendmahlstisch, der am heutigen Tag für uns eine zentrale Bedeutung hat, ist mein Hoffnungsbild. Mein Gegenbild zu diesem gigantischen Tisch im Kreml. Er erinnert an überforderte, verängstigte, verstörte Menschen, die in jener Nacht, da unser Herr Jesus Christus verraten wurde, beieinander sind, die das Brot teilen und gemeinsam fest daran glauben: Es wird der Tag kommen, an dem wir es in Frieden miteinander essen werden.

II.

Das hat der Apostel Paulus vor Augen, wenn er die schwierige, alles andere als geeinte Gemeinde in Korinth erinnert: „Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s: so sind wir vielen ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben.“ Es gibt die Redewendung: Blut ist dicker als Wasser! Sie will ausdrücken, dass normalerweise, bei aller tiefen Nähe, die zwischen Menschen, die sich kennen und mögen lernen, erwachsen kann, am Ende des Tages doch die Nähe und der Zusammenhalt einer Familie immer das Größere und Stärkere ist, Die „Blutsbande“ eben. Deshalb überleben in Zeiten großer äußerer Not am ehesten Familien, und dies zumeist durch den unermüdlichen Einsatz des Frauen, der Mütter und Schwestern.

Blut ist dicker als Wasser. Unter den 12 Jüngern, die sich am Abend des Gründonnerstags im „Abendmahlssaal“ zu Jerusalem versammeln, gibt es auch verwandtschaftliche Beziehungen. Der spätere Apostelfürst Petrus und der Jünger Andreas sind Brüder. Dito die beiden „Zebedaiden“, die sog. „Donnersöhne“ Jakobus und Johannes, von denen am vorletzten Sonntag die Rede war. Und sogar ein direkter Bruder Jesu ist unter den Zwölf, Jakobus, der später als Chef der Urgemeinde in Jerusalem eine herausragende Figur sein wird. Zugleich erinnern uns diese familiären Verbindungen aber auch daran, dass - auch wenn Blut dicker als Wasser ist - durch Familien auch tiefe Risse gehen können. Was ist denn mit den weiteren Geschwistern Jesu? Was ist mit all den Familien, den Frauen und Kindern der Jünger, die diese nach ihrer Berufung durch Jesus einfach hinter sich, sich selbst überlassen haben? Nicht zufällig gibt es auch Aussagen von Jesus wie: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Mt 12,50). Mit Blick auf die natürliche Familie klingt das ganz und gar nicht warmherzig, sondern schroff und verstörend. Im Blick auf das Reich Gottes, dessen Nähe Jesus ankündigt, werden Blutsbande radikal abgeräumt.

Ja, und nicht selten gibt es ganz andere, manchmal viel geringere Anlässe als Konflikte in Glaubensfragen, die Familien entzweien können. Es ist manchmal schwer zu glauben, aber leider wahr, was die Dinge rund um Corona, das Impfen, die Maßnahmen gegen die Pandemie mit Familien gemacht haben. Aber selbst in solchen Gemengelagen kann Blut noch dicker sein als Wasser. So dick, dass es klumpt, anstatt zu fließen. Dann bleibt jede noch so läppische Bemerkung als schwere Beleidigung unvergessen. Blutsbande können lähmen, einengen, ja krank machen.

III.

Ist das Blut Christi, das für das Verständnis des Sakraments, um das es heute geht, so wichtig ist, eine Alternative zu unserem Familienblut? Kappen wir damit unsere natürlichen Verbindungen, die guten wie die heillosen? Mit den kurzen Versen unseres Textes, die ja sehr feierlich und liturgisch klingen und die Paulus in ihrer Substanz sicherlich bereits vorgefunden hat, erinnert er daran, dass Jesus bei jenem Mahl am Gründonnerstag einen jüdischen Kelchritus aus dem Familienleben übernommen hat. Beim Festmahl, besonders natürlich am Pessach-Fest, das an den Exodus, die glückliche Befreiung aus Ägypten erinnert, spricht der Familienvater einen Lobpreis über einen mit Wein gefüllten Kelch, bevor alle daraus trinken. Jesus hat sich an diese Ordnung seines Volkes gehalten. Und zugleich hat er doch bereits die Tradition gesprengt, denn anwesend war eben nicht die Familie, sondern lauter Männer - und, wie man heute einigermaßen verlässlich vermuten kann, auch einige Frauen -, die ihre Familien ja um Jesu willen zurückgelassen hatten. Und nun, daran erinnert Paulus ein Kapitel weiter, sagt Jesus nach dem Lobpreis zusätzliche Worte, die sie auf einen Schlag noch zu mehr machen als einem verschworenen Haufen von Gefolgsleuten: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird“ (1. Kor 11,25). Was an verwandtschaftlichen Banden zwischen dieser Gemeinschaft fehlt, soll dieser Becher bewirken. Und weil Blut eben dicker ist als Wasser, und auch Wein, weist Jesus damit schon geheimnisvoll auf das hin, was dieser Nacht unmittelbar folgen wird: dass sein Blut fließen wird. Alle, die sich davon berühren lassen, gehören zu dieser geistlichen Familie. Deshalb: „Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi?“ Ja, das ist er. Und wann immer wieder sein Mahl feiern, sind wir mitten drin, ein Teil dieser Gemeinschaft. Sind wir gewissermaßen ganz dabei in dem Saal vor fast 2.000 Jahren, in dem Jesus mit den Seinen das Pessach-Mahl feierte. Und weil das Blut, das Paulus hier als Kennzeichen dieser geheimnisvollen Gemeinschaft ausmacht, eben dasselbe Blut ist, das dann von Jesu Leib um unseretwillen, für uns geflossen ist, sind wir auch dabei bei dem, was dann kam, als es aus dem Abendmahlssaal hinaus an den Ölberg ging. Bei all dem, was dort dramatisch geschah, und was in der Szene unseres Altars, dem inhaltlichen Zentrum dieser Kirche, so eindringlich und facettenreich dargestellt ist.

Dasselbe gilt dann auch für das Brot des Abendmahls. „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?“ Auch mit dieser Frage bezieht sich Paulus auf die Festmahlpraxis der Juden. Dort nimmt der Gastgeber das Brot, legt beide Hände darauf, um daran zu erinnern, dass es Gott war, der uns das Brot als Frucht seiner Erde geschenkt hat, er spricht den Lobpreis, die anderen antworten „Amen“, und dann bricht er das Brot und teilt es aus. Jesus hält sich auch hier an die Praxis seines Volkes: „Er nahm das Brot, dankte, brachs, und gabs den Jüngern und sprach: Nehmt, esst, das ist mein Leib“ (1. Kor 11,25). Und mit einem Mal sind die Anwesenden, und mit ihnen jetzt auch wir Teil der Geschichte von Gottes Schöpfung, hineingenommen in das unendliche Wachsen, Vergehen und Neuentstehen. Jesus erinnert im Vorgriff daran, was das Geheimnis Gottes und unseres Glaubens ist: Leben, Tod und Auferstehung, untrennbar und geheimnisvoll ineinander verschlungen. Im Brot, das wir brechen, in der Hostie, die wir empfangen, schmecken und sehen wir, dass wir Anteil haben an dieser Neu-Schöpfung und damit am ewigen Leben, das Jesus den Seinen versprochen hat.

IV.

„Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet, / und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins“ - heißt es in einer der denkwürdigsten Elegien deutscher Sprache (F. Hölderlin, Brod und Wein). Ja, seit Jesu Tod, den er mit dem schweren Wort von der Gemeinschaft seines Blutes ankündigte, freut sich die Abendmahlsgemeinde darüber, dass der in dieser Welt Abwesende mit seinen Gaben von Brot und Wein selber anwesend ist. Er ist so anwesend, dass der dieser Welt durch seinen Tod, seine Auferstehung und seinen Heimgang zum Vater Entzogene sich uns in diesem Mahl auf neue Weise zugänglich macht: Er ist da, er ist für uns da. Die christliche Kirche jubelt darüber, dass Jesus Christus zum Festmahl einlädt, um die Mühseligen und Beladenen zu erquicken. Dass da eine Gemeinschaft entsteht zwischen solchen, die sonst wenig bis gar nicht miteinander zu tun haben. Sie kommen zusammen, weil sie trotz allem, was sie in ihrem Leben, ihrem sozialen Status, ihren Weltanschauungen unterscheidet oder gar trennt, überzeugt sind, dass sie auf eine tiefe Weise zusammengehören.

Sie gehören zusammen, weil sie daran glauben, dass ihrem Zusammenkommen noch ein ganz anderes Zusammenkommen vorausgegangen ist und zugrunde liegt: nämlich das zwischen Gottes Himmel und unserer Erde, in der Person Jesu. Sein Blut ist nicht nur dicker als Wasser, es ist auch allemal dicker als unsere Blutsbande. Weil es niemals klumpt, sondern geflossen ist - für uns. So verspricht Jesus jedem, der nach der Gemeinschaft mit Gott hungert und den nach menschlichem Miteinander dürstet, zu sättigen: Nimm hin und iss, nimm hin und trink. Und deshalb gilt für uns im Heiligen Abendmahl, und nur dort: Nehmen ist seliger denn Geben!


AMEN.

Predigt gehalten von
Landesbischof Tobias Bilz

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Liebe Gemeinde,

als ob ich jemanden beim Gebet belausche, so komme ich mir vor, wenn ich diesen Text lese. Macht man das? Es ist so persönlich, wie Jesus betet, so intim. Wer hat es gewagt, das mitzuhören und aufzuschreiben?

Lassen Sie mich mit einer Anekdote beginnen. Ich habe sie vor Jahren gelesen und muss sie aus dem Gedächtnis erzählen:
Auf einer christlichen Konferenz ist ein Redner eingeladen, der seiner Frömmigkeit ja Heiligkeit wegen hoch verehrt wird. Ein einfacher Landpfarrer hat im Hotel das Zimmer direkt neben ihm gebucht. Am Abend, als er sich zur Ruhe begeben will, kommt ihm der Gedanke: Ich könnte versuchen herauszufinden, wie mein Zimmernachbar betet. Wie spricht er mit Gott? Was ist das Geheimnis seiner Frömmigkeit? Hat er eine Gebetsgewohnheit, die ich mit abgucken könnte? Mit diesen Gedanken legt er sein Ohr an die Wand. Direkt dahinter steht das Bett des Anderen. Er muss geduldig sein. Irgendwann aber hört er wie nebenan die Bettfedern quietschen und dann kommt der Moment, in dem das hochverehrte Glaubensvorbild sein Nachtgebet spricht: „Herr, zwischen dir und mir bleibt alles beim Alten. Amen.“
So klingt es also, dass Gebet eines Heiligen…

Liebe Gemeinde,

vermutlich hatte Jesus beim Beten nicht immer eine Rückzugsmöglichkeit. Er hat mit seinen Schülern vierundzwanzig Stunden am Tag beinahe alles geteilt. Vielleicht hatte er auch nichts zu verbergen und „Beten lernen“ vom Meister, war Teil der Lebensschule. Jedenfalls schließt dieses Gebet direkt an eine Unterweisung an.

Lassen Sie uns heute anhand dieses Textes ein wenig über die Art des Betens von Jesus nachdenken.
Ich beginne mit einer scheinbaren Äußerlichkeit:

Jesus hob seine Augen auf zum Himmel.
Damit beginnt das Gebet. Über uns würde man wohl schreiben: Und sie senkten die Köpfe, schlossen die Augen und falteten die Hände. Ist es bedeutsam, in welcher Haltung gebetet wird? Sitzend, stehend oder kniend – nach oben hin geöffnet oder nach innen gewendet versunken… Wie halten wir die Hände, ausgestreckt oder empfangend oder eben doch gefaltet, damit sie wenigstens für einen Moment nichts zu schaffen haben. Mit unserer Gebetshaltung entsprechen wir dem, wie wir zu Beten gelernt haben. Sie ist aber auch ein Ausdruck unserer Beziehung zu Gott und entspricht manchmal ganz einfach dem, wie uns gerade zumute ist.

Jesus betet also nach oben zum Himmel hin ausgerichtet, ausgestreckt, mit suchendem Blick. Genauso lese ich auch seine Worte: Sie suchen nach Gott, den Jesus Vater nennt und den wir auch Vater nennen sollen. Sie meditieren den Vaterbegriff. Jesus bewegt sich betend zwischen den Welten, zwischen irdischem Schicksal und himmlischer Herrlichkeit. Er reflektiert, was ihm wichtig ist und fragt, ob sein Wirken dem Willen Gottes entspricht. Er ist bei seinen Grenzen und Gottes Möglichkeiten und er hat natürlich Bitten, die er ausspricht.

Liebe Gemeinde,

wie betet man „richtig“? Welche Formulierungen passen zu mir und vor allem zu unserem Gott, der doch sowieso alles weiß und das große Weltgeschehen wie mein kleines Leben lenkt?
Das Gebet ist so vielgestaltig wie unser Reden auch sonst. Es folgt vorgegebene Texten und den Regungen des Herzens. Es kann kurz oder lang sein (hier: 24 Verse). Lob und Dank, Bitten und Flehen, Klagen und eben Suchen! Jesus betet suchend!
Er sucht Orientierung und sucht Gott selbst. Sein Blick geht suchend zum Himmel und seine Worte erforschen das Geheimnis, wie Gott wirkt.
Wie beten wir jetzt in Zeiten des Krieges? Gibt es da nicht unendlich viele Fragen?

  • Wo Gott ist, wenn geschossen wird…?
  • Wie kann der Weg zum Frieden gefunden werden, wenn Waffen jede Brücke zerstören…?
  • Sollen wir um die Niederlage oder gar den Tod von Putin beten?
  • Oder beten wir doch das, was andere für uns formuliert haben (VELKD-Gebet zu Palmarum):
    Jesus Christus,
    du Friedenskönig,
    du bist auf dem Weg in deine Stadt.
    Auf dich warten Schmerz und Tod.
    Du kommst zu uns.
    Dir rufen wir zu.
    Hosianna – Erbarme dich.


Ich lass mich heute zuerst von den geöffneten Augen Jesu inspirieren! Sie sind zum Himmel gerichtet! Sie halten Ausschau nach dem unsichtbaren Gott. Sie suchen Kontakt, fragen nach den Absichten Gottes und bringen die Sehnsucht danach zum Ausdruck!

Meine nächste Beobachtung möchte ich mit einer gängigen Floskel oder positiver „Redewendung“ verbinden, die Christen gern benutzen, wenn sie zum Beten auffordern oder selbst ansetzen: „Alles in Gottes Hand legen!“

Auf diese Weise wird zum Beispiel am Ende eines seelsorgerlichen Gespräches zum Gebet übergeleitet: „Legen wir Ihr Anliegen doch in Gottes Hand!“ Für den Moment mag das eigentümlich klingen, es steckt aber eine starke Vorstellung dahinter:
Ich übergebe die Verantwortung Gott: Er soll handeln! Ich habe mein Möglichstes gegeben! Ich weiß jetzt auch nicht weiter. Du Gott musst jetzt aktiv werden!

Bei Jesus ist ziemlich eindeutig, was er meint. Da fallen Sätze wie: „Ich habe das Werk vollendet … Ich habe weitergegeben, was ich von Dir (Gott) wusste … Du hast mir Menschen anvertraut, um die ich mich jetzt nicht mehr kümmern kann…“

Alles In Gottes Hand legen: Du, Gott, bist jetzt am Zuge! Ich lasse los!

Liebe Schwestern und Brüder,

ich schaue an dieser Stelle zu Euch und Ihnen hin, die mit mir gemeinsam unsere Kirche leiten. Wir sind an diesem Wochenende im Rahmen der Landessynode zusammen. Wir beraten über Gesetze und über unseren Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Wir befassen uns mit den schlimmen Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kirche und mit Eingaben, die wir von unseren Gemeindegliedern erhalten. Wir ordnen die Finanzen und verbinden uns mit den Christen in Osteuropa und Russland. Unsere Frühjahrssynode ist nicht überfüllt, die Themen aber haben Gewicht.

Was können wir tun und was ist Gottes Sache? „In Gottes Hand legen“ – das kann Ausdruck von Nachlässigkeit sein. Alles in den eigenen Händen zu behalten kann zur schweren Last werden. Wie finden wir das richtige Maß?

Der erste Satz im Gebet von Jesus lautet: „Vater, die Stunde ist da…“ Jesus wusste, was jetzt dran ist. Für ihn war der Moment des Loslassens gekommen. Es war alles getan, was er hatte tun können.
Ich wünsche mir für unsere Kirche, dass wir ein Gespür dafür entwickeln, was wann dran ist. Es geht nicht darum, prinzipiell mehr oder weniger zu tun, sondern darum herauszufinden, was jetzt dran ist. Wo geht gerade die Energie hin? Was tun wir jetzt?
Manchmal empfinde ich, dass etwas zwar richtig aber noch nicht dran ist. Da gibt es noch keinen Weg … Andermal wünsche ich uns, dass wir endlich in die Gänge kommen: Notwendige Veränderungen mutig anpacken! Dem Unangenehmen nicht ausweichen. Dann wieder gilt es auch loszulassen: Wir können Glauben nicht „machen“! Gott hat alles in der Hand – deshalb legen wir es auch bewusst dorthin!

Dieses Geheimnis – wann was dran ist – zu entschlüsseln, das ist auch eine Sache des Gebetes! Lasst uns darin stärker werden, im Kontakt zu ihm und Gespräch miteinander herauszufinden, was dran ist!
Es geht nicht nur darum, was richtig und gut ist, sondern auch darum, was jetzt unser Auftrag ist!

Am Ende meiner Predigt komme ich auf einen Punkt im Gebet von Jesus, den ich ansprechen muss, ohne ihn zu Ende gedacht zu haben. Ich werde nicht fertig damit. Wahrscheinlich ist es auch ein Geheimnis. Und möchte doch nicht dazu schweigen. Es geht um das, was mit den Worten „Verherrlichen“ beschrieben wird: „Vater, ich habe dich verherrlicht … verherrliche du nun mich … damit ich wiederum dich verherrlichen kann… „. - „Doxa“ – Fünfmal kommt es in den ersten Versen vor.

Menschlich gesprochen: Es geht um den ganz großen Glanz - auf wen fällt er? Was hat Ausstrahlung? Wie wird Wirkung erzielt? Worin zeigt sich die Herrlichkeit Gottes und des Glaubens?
In dieser wunderbaren Kirche scheint das gar keine echte Frage zu sein. Hier ist die Herrlichkeit Gottes eingefangen, oder? – Wir sehen vorn die Strahlen um das Auge Gottes. Sie setzen sich im ganzen Raum fort. Ein Himmel aus Stein – so heißt ein Buch über die wunderbare Frauenkirche. Was für ein Strahlen!!!

Mitten drin aber sehen wir vorn im Altar den knienden betenden Jesus im Garten Gethsemane. Da gibt es keine Vergoldung. Nur grauer Stein. Da ringt einer mit der Herausforderung, die er auf sich zukommen sieht. Er ringt mit dem Tod. Das treibt ihm den „Blutschweiß“ auf die Stirn und um dieses Ringen geht es auch im Predigttext. Dieses Gebet von Jesus gehört zum Leiden, welches bereits einen breiten Schatten auf sein Leben wirft.

Es gibt Zeiten, da strahlt es und andermal wird alles eingerissen und zerstört, was Strahlkraft hat. Und über den charismatisch-ausstrahlenden Jesus wird man (nachdem er ausgepeitscht wurde) wenig später sagen: „Seht, was für ein Mensch!“ Er wird verlieren, was an Wirkung von ihm ausgegangen ist. Jesus betet also: Ich bitte darum, dass du mir Würde gibst, wenn ich leide und sterbe! Wenn keiner mehr hinschauen möchte, weil ich zerstört worden bin. Schaue Du weiter auf mich! Kümmere Du dich um mein Ansehen.

Liebe Schwestern und Brüder,

es geht um eine zentrale Frage unseres Menschseins. Wir stellen sie beinahe nie laut und sie ist doch ständig in uns präsent. Ich höre sie hier überlaut heraus und bin erleichtert, dass Jesus sie sich auch gestellt hat. Ganz schlicht und einfach lautet sie: Wie stehe ich dann da?

  • Wenn ich sage, was ich wirklich denke …
  • Wenn herauskommt, dass ich …
  • Wenn alle merken, dass ich eine bestimmte Schwäche habe …
  • Wenn ich zugeben muss, dass ich mit etwas nicht fertig werde …
  • Aber auch: Wenn ich dem folge, was in meinem Herzen ist! Wenn ich nicht mehr mitspiele! Wenn ich umsetze, wovon ich überzeugt bin ...

Jesus betet ein Gebet, was ich mir zu Eigen mache! Er sagt: Gott, ich mache dich für meinen guten Ruf verantwortlich! Es geht (spätestens) von jetzt an nicht mehr um mich. Ich will um Deinen guten Ruf besorgt sein.

Wie gesagt: Ich bin damit noch nicht zu Ende!
Ich weiß und spüre aber, dass der Kampf um Glanz und Ansehen, gut Dastehen und Strahlkraft haben, nicht nur furchtbar anstrengend ist, sondern kaum gewonnen werden kann. Wird nicht gerade dem die Anerkennung verweigert, der sie am meisten haben will?

Wie stehen wir als Kirche da? Worin liegt unsere Anziehungskraft? Was macht unseren Glanz aus?
Wir stehen oftmals nicht gut da, verlieren an Vertrauen und haben mit Bedeutungsverlust zu kämpfen. Manchmal möchten wir uns darüber beklagen, dass keiner sieht, was wir alles Gutes tun. Andermal wissen wir ganz genau, dass wir zu Recht kritisiert werden.

Vor diesem Hintergrund kann es ein Schritt nach vorn sein, wenn wir nicht länger um unser Ansehen bemüht sind, sondern um die Ehre Gottes und darum, dass wir anderen Menschen dienlich sind! Jesus befreit sich mit seinem Gebet von der Sorge darüber, was Menschen denken könnten und denken werden. Er lässt das los! Damit macht er sich für das Leiden bereit und wird frei, Gott und sich selbst treu bleiben zu können.

Liebe Gemeinde,

wie beten man „richtig“? Die Jünger haben das Jesus gefragt und das Vaterunser gelehrt bekommen.
Heute haben wir Jesus beim Beten über die Schulter geschaut.
Wir haben etwas über seine Gebetshaltung erfahren und die Hingabe gespürt, die er betend vollzieht. Das wird uns für unsere eigene Gebetspraxis und Glaubenshaltung inspirieren.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.


AMEN.

Ohne Kelch geht es nicht

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

dieser Textabschnitt macht eine heikle Frage auf: Was macht die Kirche mit der Macht? Um Ansehen geht es hier, und um Prestige. Also um Dinge, die nach offizieller Lesart und in unseren Sonntagsreden in der Kirche von nachgeordneter Bedeutung sind. Angeblich. Bevor ich letztes Jahr hierherkam, war ich in Freiburg Dekan gewesen. Ein Leitungsamt auf der sog. mittleren Ebene. Immer wieder war zu erleben, wie schwierig es ist, psychologisch, aber auch in der Sache, wenn die Amtszeit eines/einer Dekan*in endete. Die Kirchenleitung hatte dann größte Mühe, für den/die betr. Kolleg*in eine Aufgabe zu finden, die diese als für sich angemessen empfand. Im Klartext: Wenn schon kein weiterer „Aufstieg“ möglich war, als Mitglied der Kirchenleitung etwa, musste es doch wenigstens etwas sein, das zum Dekansamt „auf Augenhöhe“ war, also hierarchisch auf keinen Fall wie ein „Abstieg“ aussehen könnte. Eine Rückkehr in ein normales Pfarramt war für die meisten unvorstellbar, es wurde irgendwie als unehrenhaft empfunden. Diese Befindlichkeiten dürften nicht nur in meiner badischen Heimatkirche verbreitet sein. In ganz seltenen Fällen ist ein evangelischer Bischof nach seiner Amtszeit ins Pfarramt zurückgekehrt, zuletzt gab es das vor wenigen Jahren einmal. Vor so etwas habe ich größten Respekt. Es zeugt davon, dass da jemand verstanden hat und ernst nimmt, wie Jesus es gemeint hat mit der Macht und dem Herrschen, und wie es in der Kirche eigentlich sein sollte. Aber meistens ist es eben anders – weil die Kirche nicht nur die Gemeinschaft der Heiligen, und damit ein herrschaftsfreier Raum ist, sondern auch eine Organisation, mit ihren sehr irdischen Strukturen. Weshalb ihre Vertreter, wenn es ums Herrschen und Dienen geht, auch nicht viel anders ticken als Politiker, Wirtschafts- und Verwaltungsleute. Aber die klare Ansage Jesu in unserem Text, die bleibt doch als ein Stachel im Fleisch des kirchlichen Prestigedenkens: „Aber so soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein.“

I.

Jesus weiß, warum er das hier sagt und vor allem, wem er das sagt. Nämlich zwei charakteristischen Repräsentanten jenes kirchlichen Macht- und Prestigedenkens, in denen ich mich, und wahrscheinlich viele Pfarrer*innen, sich ganz gut wiedererkennen, wenn wir ehrlich in den Spiegel gucken. Jakobus und Johannes. Die beiden Brüder sind die Söhne des Zebedäus, dessen Frau Salome die Schwester von Maria ist. Sie sind also Jesu Vettern. Jesus hat sie nicht zufällig als Jünger ausgewählt. Neben dem selbsternannten Klassensprecher Petrus sind sie die stärksten Persönlichkeiten unter den 12. Zwei Alphatiere. Die beiden Brüder sind hochengagiert, mit Leidenschaft dabei, manchmal etwas aufbrausend. Wegen ihres Feuereifers und weil sie so eloquent sind, hat Jesus ihnen den eigenartigen Beinamen „Donnersöhne“ gegeben (Mk 3,17). Wohl weil ihre Rede wie ein Donner bei den Hörenden nachhallt. Mehr als einmal haben sie Jesus klargemacht: Sie sind bereit, für seine Sache zu sterben. Bei Jakobus wird sich das dereinst auch erfüllen. Er wird ein früher Märtyrer der Christenheit. Aber so weit ist es jetzt noch lange nicht. Jetzt geht es erstmal nach Jerusalem. Endlich. Offenbar sind die Donnerbrüder ganz high von der Vorstellung, dass Jesus dort in der Metropole Klartext reden, mit eisernem Besen seine Herrschaft durchsetzen und sich so als der verheißene Messias erweisen wird. Da wollen sie in der ersten Reihe dabei sein. Mitmischen, wo die großen Räder gedreht, die strategischen Weichen gestellt werden. Zeit also, Kabinettsliste und Ressortverteilung zu klären. Vielleicht beanspruchen die beiden wegen ihrer Verwandtschaft zu Jesus auch ein familiäres Vorrecht, als Mitglieder der königlichen Familie sozusagen. Ihr Heldenmut ist ihnen offenbar zu Kopf gestiegen. Johannes und Jakobus wollen Macht. Anerkennung. Prestige. Sie wollen ihre Namen in den Geschichtsbüchern lesen. Dabei sollten sie es besser wissen. Sie sind lange genug mit Jesus unterwegs gewesen, haben so viel von ihm gehört und gelernt, dass sie wissen müssten, dass ihre Bedürfnisse völlig quer stehen zu dem, was Jesus über Herrschen und Dienen predigt und vorlebt. Sehr verständlich, dass die anderen Jünger not amused sind, als sie Wind davon kriegen.

Eindrücklich, wie nun Jesus damit umgeht. Natürlich wehrt er ab - aber nicht frontal und schroff, sondern umsichtig und nur indirekt. Er hält nicht dagegen, nach dem Motto: Aufwachen, nichts da mit Königtum und Ministersesseln, Ämtern und Ehren! Schon wahr, es geht jetzt nach Jerusalem. Aber es wird dort ganz anders sein. Deshalb Jesu Entgegnung: „Ihr wisst nicht, was ihr bittet“. Denn in Jerusalem wird ganz anderes geschehen, als die beiden Übereifrigen sich das ausgemalt haben. Da wird ein „Kelch“ auszutrinken sein, da wird eine „Taufe“ vollzogen. Der Kelch ist ein Bild dafür, dass ein Leiden wartet, das von Gott kommt und auf sich genommen werden muss. Die Taufe ist ein Bild für eine riesige Überflutung, in der das irdische Leben untergehen wird. Mit diesen Bildern bricht Jesus radikal mit den überkommenen Vorstellungen vom Messias. Sein Reich kommt nicht durch einen Staatsstreich, nicht durch militärische Unternehmungen und Machtergreifung zustande, wie das das Gesetz der Welt ist. Hier löst nicht ein Regime das andere ab. Wie aber kann Jesus dann König sein? Nur so, indem Gott ihn von dem bevorstehenden Gericht, also vom Tod auferwecken wird. Dann aber wird, so wahr die Auferstehung der Anfang von etwas völlig Neuem ist, mit seinem Reich keines von dieser Welt entstehen. Jesus ist der Messias, der die Dimensionen von Raum und Zeit, also den Rahmen dieser irdischen Welt, durchbricht und überwindet. Für uns steckt darin auch die zeitlos gültige, und doch zu jeder Zeit anstößige Einsicht: Es ist uns nicht versprochen, dass sich im kontinuierlichen Lauf der Weltgeschichte Jesus Christus immer mehr durchsetzen wird und in einem alles mit sich reißenden Prozess der Durchchristlichung die Welt mehr und mehr in sein Reich verwandeln wird.

II.

So weist Jesus in dieser indirekten Art der Bilder vom Kelch und von der Taufe auf das kommende Gericht Gottes hin, das nicht ihm, sondern den Menschen gilt – das er aber freiwillig auf sich nehmen wird, und in dessen Geschehen seine engsten Gefolgsleute aber mit einbezogen sein werden. In Klartext übersetzt: Ihr seid aufs Regieren, auf Macht und Ehre aus. Zunächst aber seid ihr gefragt, ob ihr bereit seid mit mir zu leiden. Könnt ihr das? Mit Jesus leiden? Die Antwort der Brüder kommt wie aus der Pistole geschossen und sie macht ihrem Label „Donnersöhne“ alle Ehre: Ja, wir können! Ist man da eher peinlich berührt, weil es einem als Maulheldentum erscheint? Oder ist man beeindruckt von solcher Tapferkeit? Mir geht es durchaus so. Wer würde solchen Mut schon aufbringen? So oder so, jedenfalls wird den beiden kein Weg zugemutet, den ihr Herr ihnen nicht vorausginge. Und das gilt nun für alle Nachfolger Jesu zu allen Zeiten. Und das finde ich sehr tröstlich, wenn ich an die noch unbekannten Kelche denke, die vielleicht von mir getrunken sein wollen: wie immer der Kelch aussehen wird, es wird immer sein, Jesu Kelch sein. Es gibt nichts, wo er nicht selbst auch durch ist.

Nun könnte man meinen, dass Jesus den beiden Brüdern die Erfüllung ihrer Bitte zusagt, wenn sie so unumwunden bereit sind, den schweren Weg mitzugehen. Aber nein - die beiden können auch jetzt nicht sicher sein, dass sie die ersehnten Ministersessel bekommen. „Zu sitzen zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu“ - Jesus sagt also nicht: Was ihr wollt, das gibt es gar nicht! Sondern: Über das, was ihr wollt, verfügt Gott allein. Ob Jesus hier vielleicht mit einem leisen Lächeln auf seine Nichtzuständigkeit hinweist, um den Donnersöhnen klar zu machen, dass ihnen solche hochfliegenden Träume nicht zustehen? Als hätte er sogar etwas Mitleid mit den beiden. Das wäre eine behutsame Weise, dem frommen Rigorismus die rote Karte zu zeigen, der zwar bereit ist, Jesu Leidensweg mitzugehen, aber dabei auch im Blick hat, dass sich das am Ende doch wohl auszahlen wird, also auf eine Art Leidensdividende abzielt. Im Leiden an Jesu Seite stehen, aber dabei doch immer an sich selbst denken? Nein, ihr Beiden, sagt Jesus, darüber, ob und wenn ja, wie es sich lohnt, reden wir jetzt nicht. Das gehört allein in die Zuständigkeit des Vaters, der hat sich in dieser Hinsicht alles vorbehalten. Martin Luther hat einmal sinngemäß gesagt: Wo es um Christus geht, oder um das Beste für den Mitmenschen, da kommen alle eigenen Ambitionen an ihr Ende. Da gilt es Gott lieben um Gottes willen, die Menschen um Gottes und der Menschen Willen. Aber weder Gott noch die Menschen um meinetwillen. Etwas steil und für uns sicherlich streng klingend kann man es auch so sagen: Als Christen sollen wir den Weg des Glaubensgehorsams gehen, ohne zu fragen, was es uns bringt. Sondern uns einfach darauf stellen, was Paulus im Römerbrief so ausdrückt: „Wir aber wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zu Besten dienen“ (Röm 8,28). Alle Dinge! Also auch die, die uns erst einmal gar nicht gut, sondern schlecht erscheinen.

III.

Wie das im ganz echten Leben existenziell werden kann, dazu abschließend eine Erinnerung. Zwei Theologiestudierende hatte sich vor 40 Jahren ineinander verliebt. Nach ihren Examina wollten sie heiraten. So weit, so schön. Aber da war ein schier unlösbares Problem: er lebte in der damaligen DDR, sie in der BRD. Was tun? Für die westdeutschen Eltern der Freundin war es unvorstellbar, dass ihre Tochter „nach drüben“ in die DDR gehen könnte. Dort könne sie nicht leben. Wenn ihr Freund es ernst mit ihr meine, dann könne er doch einen Ausreiseantrag stellen und Pfarrer im Westen werden. Gottes Wort werde doch überall gleich verkündigt. In seiner Not vertraute sich der junge angehende Pfarrer seinem Bischof an. Der Bischof, ein sehr seelsorgerlicher Mann, sagte ihm ruhig, aber entschieden: „Bleiben Sie bei uns. Gott hat Sie hierher gestellt, er braucht Sie genau hier! Und wir brauchen Sie auch nötiger als die Kirche im Westen“. Es war schwer für ihn, aber jener Theologiestudent hat damals sehr unmittelbar für sich als Gottes Ruf gehört und so angenommen. Er ist heute noch in Ostdeutschland Pfarrer, und ist es gern. Aber es sei, so sagte er manchmal, schon ein ganz tiefer Einschnitt gewesen damals. Für ihn war es eine Sache des Glaubensgehorsams, seine Liebe seiner Berufung gewissermaßen zu opfern.

Ich bin froh, dass ich nie in eine so existentielle Entscheidungslage geraten bin. Denn man kommt wohl nicht um die Feststellung herum: Das Evangelium von Jesus Christus ist nicht einfach ein schönes, wohliges Versprechen. Es ist anspruchsvoll, es kann auch wehtun und zurechtstutzen. Es ist kein kurzes Schillern im Rampenlicht. Jesus bietet Liebe an, die unbedingte Hingabe ist. „Wer unter euch der Erste sein will, der soll euer aller Diener sein“. Er bietet den Jüngern und uns einen Platz im Himmel: Es ist der Platz neben dem Nächsten, der Not leidet. Wem es gelingt, ohne inneres Hadern diesen Platz zu suchen, der sitzt hier wie dort neben Jesus, zu seiner Rechten oder zu seiner Linken, ganz in seiner Nähe – neben dem, der sein Leben als Lösegeld gab für uns.


AMEN.

Gott ist der erste Seelsorger

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

In den fünf Versen dieses Textes gebraucht Paulus gleich zehn Mal die Worte „Trost“ oder „trösten“. Das Wortfeld „Trost“ in unserer Sprache zeigt an, wie fern dieses Thema uns gerückt ist. Es sind überwiegend negativ besetzte Worte: trostlos, nicht bei Trost sein, vertrösten, Trostpflaster, Seelentröster, billiger Trost etc. Aber ist nicht gerade die Fülle solcher Wörter auf ironische Weise ein Indiz, wie sehr wir Menschen der Moderne, die wir unsere Probleme aus eigener Kraft bewältigen wollen und unsere Autonomie hüten wie einen Augapfel, wie sehr wir trostbedürftig sind? Nur: Wer gesteht schon gerne ein, dass er Trost braucht? Können Sie sich erinnern, wann Sie das zum letzten Mal jemand signalisiert haben? Können wir zugeben, nicht bei Trost zu sein?

I.

Wie oft habe ich das schon gedacht: jemanden trösten ist schwer. Jeder von uns kennt das: ich sitze neben einem tieftraurigen Menschen und überlege angestrengt, was ich jetzt sagen oder tun könnte. Etwas, was einfach tröstet. Und dann geht mir ein verlegenes „Es wird schon wieder gut“ über die Lippen. Und schon während ich das sage, spüre ich, dass das nicht nur verlegen, sondern auch verlogen klingt. Denn Mensch neben mir will nicht mit Floskeln abgespeist werden. Er hat kein Beschwichtigen oder Kleinreden verdient, sondern eben Trost. Und der geht anders.

Oder ich sage: „Jetzt iss doch erstmal was, komm, wir kochen uns Tee“. Und auch das hört sich falsch an, weil ich merke, dass ich ausweiche, weil mir nichts einfällt, was wirklich tröstet.
Oder, wenn neben mir jemand sitzt, der um einen geliebten Menschen trauert, nehme ich Zuflucht bei einer unter Christen beliebten Aussage und sage: „In Gottes Ewigkeit seht ihr euch doch wieder!“ Aber woher weiß ich das denn so genau? In der Bibel wird das so jedenfalls nicht gesagt. Und es hat sich leider noch niemand aus der Ewigkeit bei uns rückgemeldet und Andeutungen gemacht, wie es dort eigentlich ist. Ist solcher Trost nicht eher Frömmelei?

Oder ich nehme den Klassiker unter den Aufmunterungen und sage: „Die Zeit heilt alle Wunden“. Aber woher weiß ich das eigentlich? Gibt es nicht Wunden, die immer offen bleiben? Trauer, die bleibt, ein Leben lang? Der „13. Februar“ scheint mir für manche Dresdner so ein Geschehnis zu sein, das den Satz von der Zeit und den Wunden einfach widerlegt. Also: Wie macht man das, trösten? Trost geben, ohne Lüge, ohne Beschwichtigung? Trost ohne: „Das geht vorbei“ oder „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“, und was wir so von uns geben in unserer Hilflosigkeit.

Paulus verwendet für „trösten“ das Wort parakalein. Es gehört zu den großen, wichtigen Worten im Neuen Testament. Jesus gebraucht es, als er sich von den Jüngern verabschiedet und verspricht, ihnen an seiner Stelle einen Beistand und Tröster zu schicken für den Weg, den sie nun ohne ihn gehen müssen. Parakalein, das Wort bedeutet eigentlich: Hilfe herbeirufen. Zusprechen und stärken stecken auch darin. Es kann aber auch mahnen bedeuten. Luther hat genau richtig übersetzt. Das deutsche Wort „Trost“ bildet die Wortfülle seiner griechischen Schwester ab. In ihm stecken auch „Treue“ und „Trauen“. Das englische Wort tree (Baum) gehört auch zur Verwandtschaft.

Das ist also Trost: Hilfe herbeirufen für einen Menschen. Zusprechen, aufrichten und beistehen. Treu zu einem Menschen stehen, trotz der eigenen Hilflosigkeit. Wer getröstet wird, wird neu aufgerichtet, dass er wieder baumstark wird. Paulus findet das richtige Wort, das weit ist und vieles aussagt, und formbar ist für die Situation der Menschen, die nach Trost fragen. Und wie das Wort, so der Trost, den Paulus gibt. Er redet das Schwere nicht weg, er macht die Leiden nicht klein. Er sagt nicht: So schlimm ist es doch gar nicht! Er lässt das Leiden stehen. Das Leid der Menschen in Korinth an, der kleinen Gemeinde, die bedrängt wird von außen und im Innern deprimierenden Streit erlebt. Er erkennt das Leid der Menschen an, die sich mit Zweifeln plagen, um das Heil ihrer Toten sorgen und innere Zerwürfnisse erleben. Aber auch seine eigene Not redet Paulus nicht klein. Er kann auch „Ich“ sagen. Gerade im 2. Korintherbrief tut er das viel, er spricht offen von seiner Müdigkeit, seiner Todesangst, von einer Krankheit, die ihm zusetzt.

II.

Und noch einen Trost weiß Paulus, und der ist für ihn der Entscheidende: die Leiden der Menschen sind die Leiden Christi. Gott hält sich nicht fern. Gott hat sich dem Leiden von Menschen preisgegeben. Er kommt auch in unser Leid. Paulus ist sicher: Gott hilft im Leid, er richtet auf in der Not. Gott ist der Gott allen Trostes. Was jetzt ist, die Not, die Angst, die gefühlt unendliche Leere, ist nicht alles. Gott hält noch besseres für uns bereit. Gott kommt zur Hilfe. Ich sage es jetzt mal eher untheologisch, sozusagen nach menschlicher Art: Gott ist für uns gerade auch deshalb ein so glaubwürdiger Tröster, weil er all das, was uns den Boden unter den Füßen wegziehen kann, selber durch hat. Die Passionszeit, in deren Mitte wir heute sind, führt uns vor Augen, dass er im Weg Jesu durch eine Welt, die ihn nicht akzeptieren wollte, am eigenen Leib alles erlitten hat, was das Leben an Ohnmacht und grenzenloser Einsamkeit bereithalten kann.

Menschen, die selbst Schwerstes haben aushalten müssen, sind ja oft wirklich gute Tröster und Seelsorger. Rebekka zum Beispiel. Sie war vor Jahren an Brustkrebs erkrankt. Mehrere Operationen und Chemos musste sie durchstehen, bis sie irgendwann als geheilt galt. Sie sagt: „Geholfen hat mir, dass jemand einfach nur bei mir war und es ausgehalten hat, wenn ich nur noch heulen konnte. Das hat mir mehr geholfen, als wenn jemand mich vielen ‚tröstlichen‘ Worten erdrückt hat. Oder in Watte gepackt.“ Man spürt, dass Rebekka dadurch selbst zu einer Trostexpertin geworden ist. - Ich sehe Paulus nicken. Es miteinander aushalten, dass die Not groß ist und der Schmerz auch, das macht er in seinem 2. Korintherbrief auch. Er entzieht sich nicht, sondern stellt sich mitten hinein in dieses Leid.

Die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen verlor nur ein halbes Jahr nach der Hochzeit ihren Mann. Über das Jahr danach hat sie ein bewegendes Buch geschrieben. Sie sagt: „In den ersten Monaten nach Hans Tod wollte ich nicht getröstet werden. Die Trauer war das einzige, was ich noch hatte. Sie war meine Verbindung zu ihm. Die Trauer ließ mich ihn spüren, und auch mich selbst. Trotzdem fand ich es wichtig, nicht allein zu sein. Man kann nicht für sich sorgen, das müssen andere tun. Am besten hält man Menschen aus, die einfach tun und nichts fragen. Wenn ich jetzt jemanden trösten will, dann weiß ich, was ich tue. Ich mache einen großen Topf Suppe, packe ein paar Sachen ein, fahre hin und sage fast nichts. Ich mache Kaffee, hole Wein, all die einfachen Dinge.“

Wieder sehe ich Paulus nicken. Für ihn ist Trost das Herbeirufen von Hilfe. Das kann auch eine ganz zupackende, tatkräftige Hilfe sein, ohne viele Worte. Er schreibt, dass Getröstete andere zu trösten vermögen. Der Trost geht ein in ihr eigenes Tun. Wie vorhin gesagt, das griechische Wort parakalein heißt auch mahnen. Wer Trost erfahren hat, wird ermahnt und kann andere Traurige ermahnen, sich mit der Trostlosigkeit nicht abzufinden. Die aktuelle tiefe Dunkelheit, und sich in ihr, nicht ein für alle Mal auf die Zukunft hin zu projizieren. Ein getrösteter Mensch bleibt dünnhäutig und wach für Menschen, die diese Art von Mahnung brauchen.

Arnd, ein Schlossermeister, ging mit seinem Betrieb insolvent. Er erzählt: „Am liebsten wäre ich in einem Mauseloch verschwunden und nie mehr rausgekommen. Ich fühlte mich als Versager, hatte keine Perspektive mehr. Dann habe ich mich an eine Therapeutin erinnert, die ich mal kennengelernt hatte. Ich bin zu ihr gegangen, zum Ausheulen. Sie hat mir geholfen zu erkennen, dass das, was mich ausmacht, nicht das ist, was ich habe oder im Beruf leiste, sondern das, was und wer ich bin. Mein Menschsein an sich. Es waren einfache Worte, aber sie waren entscheidend.“

Da ist er ganz bei Paulus. Wir werden getröstet durch Christus, schreibt er. Christus ist mitten hinein in das Leid gegangen. So wertvoll sind wir unserem Gott. Dieser Wert liegt nicht in unserem Tun und wie hoch wir hinaus kommen in unseren Dasein. Er ist ganz von selbst da. Und auch Paulus hat nach Worten gesucht, die etwas bewirken, die für die, die sie lesen oder hören, einen Unterschied machen. Wenn es so etwas gibt wie das „Trostamt der Kirche“, wie man früher sagte, dann hat es seinen Kern in Gottes Zusage, dass ich und mein Leben mehr sind als ich daraus mache. Das kann ich mir nicht selbst sagen, das muss mir von außen gesagt werden. Das können wir bei Paulus lernen: wechselseitiges Begleiten, Trösten, Ermutigen gehört zum Kern des Christlichen. Martin Luther hat gesagt: „Daran erkennt man die Kirche, dass einer dem anderen zum Christus werde“. Eine steile, aber großartige Aussage.

III.

Paulus spricht unserem Text vom „Gott allen Trostes“. Wie meint er das? Bei schwierigen Konflikten ist man gut beraten, das Vorgefallene nicht zu schnell beiseite zu wälzen, sondern erst einmal ungeschminkt anzuschauen, auch wenn es weh tut. Viele Konflikte, damit sie sich nicht subkutan immer tiefer fressen, können nur über diesen schmerzhaften Weg gelöst werden. Menschlich gesehen ist das richtig so. Gottes Klugheit aber geht anders. Bei Gott sollen wir das, was uns nach unten drückt, von uns wegwälzen, weil er in Jesus Christus uns versprochen hat, das zu seiner Last zu machen. Was zwischen uns nur in anstrengenden Prozessen möglich ist - nicht umsonst gibt es das Wort „Trauerarbeit“ - und was immer gegenseitig ist, das ist bei Gott etwas ganz Einseitiges. Gott gegenüber wird, was zwischen Menschen verheerend sein kann, zur Wohltat: einfach von sich wegschieben, es bei ihm liegen lassen und ohne diese Last weitergehen! Gott weiß, wie er damit fertig wird. Dafür ist der weggewälzte Stein von Ostermorgen ein Zeichen von großer Aussagekraft. Wie damals der Stein als Symbol der Unüberwindbarkeit des Todes nicht mehr da war, wo er nach menschlicher Ordnung hingehörte, so soll der Glaube an den, der für unsere Steine gestorben ist, diese Steine uns vom Herzen fallen lassen. Zeichenhaft geschieht das in der Lossprechung in der Beichte. Es ist ein Verlust, dass dieses Ritual so ein Schattendasein fristet in unserer Kirche.

„Wie ihr am Leiden teilhabt, so werdet ihr auch am Trost teilhaben“, schreibt Paulus. Bei Gott, liebe Gemeinde, gilt das erst recht. Wäre er in Jesus nicht durch Leid und Dunkelheit gegangen, dann wäre er nicht zum Helfer, zum Seelsorger für uns geworden. Am Kreuz finden wir Gottes Sorge um uns in Aktion, sehen wir den unermüdlichen Seelsorger an der Arbeit gerade in al seiner Ohnmacht dort. Weil er im Blick auf seine Peiniger, auf uns alle nicht ruft: „Herr, gib’s ihnen“; sondern bittet: „Herr vergib ihnen!“ Das Kreuz ist das therapeutische Ereignis schlechthin. Wo Jesu Weg durch diese Welt sein nach menschlichem Ermessen elendes Ende nahm, da soll unser Weg nach Gottes Ermessen neu beginnen. Auch wenn es, zum Glück, immer wieder wunderbare, tröstende menschliche Seelsorger gibt: der erste und letzte Seelsorger ist ein anderer.

AMEN.

Glauben ist: In Paradoxien leben

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Seit alters her ist die vorhin gehörte Versuchungsgeschichte das Evangelium dieses ersten Passionssonntages. Jesus verzichtet auf spektakuläre Beweisführungen seiner Macht gegenüber dem verschlagenen Einflüsterer in der Wüste. Er entscheidet sich für den gegenteiligen Weg. Keine Frage: Hätte er gewollt, dann hätte er Triumphe feiern können. Aus Steinen Brot, Brot für die Welt machen. Seine körperliche Unverletzlichkeit demonstrieren. Die römischen Besatzer wegräumen und selbst den Thron besteigen. All das konnte man von einem Messias mit Fug und Recht erwarten. Aber zur Versöhnung einer tief mit sich selbst und mit Gott zerspaltenen Menschheit wäre es durch solche Kraftmeierei nicht gekommen. Es wäre das Spiel gewesen, das bis heute immer gespielt wird, seit 10 Tagen durch den Diktator in Moskau in aller Brutalität: Eine Macht wird durch eine andere Macht ersetzt, und es gilt das Recht des Stärkeren. Wenn Gott seine Welt zurückgewinnen will, dann muss das anders vor sich gehen. Zum Beispiel durch das tiefe Paradox, das die ersten Christen victor quia victima genannt haben, zu Deutsch: Sieger, weil Besiegter! Das meint: Gott ist in Christus gerade darum Sieger über das Böse und dessen stärkstes Bataillon, den Tod, weil er sich dem Bösen und dem Tod rückhaltlos ausgeliefert hat. Weil er dem, was in dieser Welt Macht hat, nichts entgegengesetzt hat als - Ohnmacht und Liebe.

I.

Für unser menschliches Denken ist das eigentlich ein unerträgliches Paradox. Und angesichts der augenblicklichen Lage klingt diese theologisch wahre Aussage fast schon unüberbietbar zynisch. Wer würde es wagen, dem gepeinigten Volk der Ukraine zu raten, sich nicht aktiv zu wehren, sondern Putin Invasoren Ohnmacht und Liebe entgegenzusetzen? Ich nicht. Aber eben, zum tiefen Geheimnis des Kreuzes gehört, dass da etwas ausgefochten und definitiv entschieden wurde - zu unserem Heil. Nicht zu unserem Wohl. Jesu Kreuzestod bewahrt uns nicht vor Leid und Ungerechtigkeit. Dessen sich bewusst zu bleiben ist wichtig. Paulus jedenfalls, der erste Theologe der Christenheit und ein tiefschürfender Interpret des Kreuzes, ist einer, der das Paradoxe liebt. Unser Text ist eine einzige Aneinanderreihung von Paradoxen. Das provokanteste davon: „Als die Sterbenden, und siehe, wir leben“. Wie kann Paulus das gemeint haben? Dazu nachher. Im Grund beginnt unser Text schon mit so einem harten Paradox: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“ Das war schon in der alles andere als heilvollen Zeit der Adressaten des Paulus eine ziemlich steile Ansage. Und heute erst?! Unsere aktuelle umdunkelte Zeit - eine Zeit der Gnade und des Heils??

Ich versuche mal einen Schritt zurück zu treten, mit der Schriftstellerin Juli Zeh und ihrem letzten Roman. Er trägt den hintersinnigen Titel „Über Menschen“. Seine Hauptfigur ist Dora, eine erfolgreiche Werbetexterin. Sie hat das dauerflirrende Hauptstadtleben in Berlin satt und zieht aufs Land nach Bracken, ein winziges Dorf in der tiefsten Brandenburgischen Provinz. Vor dort aus kann sie in Coronazeiten bequem für ihre Berliner Agentur im Homeoffice arbeiten. Sie hat sich auf Kredit ein altes Haus gekauft. Ihr direkter Nachbar lebt hinter einer Mauer in einem Bauwagen. Er ist ein Glatzentyp und stellt sich ihr als „Dorf-Nazi“ vor. Eigentlich heiße er Gottfried, er nenne sich aber Gote. Der junge Dorf-Nazi gibt ihr Rätsel auf. Ihr gegenüber gibt er sich schroff und abstoßend, zu seiner kleinen Tochter ist er aber sehr liebevoll. Dann stellt sich heraus, dass er unheilbar krank ist. Ein inoperabler Gehirntumor. Die Prognose ist schlecht, er wird bald sterben. Aber vor seinem Tod feiern seine Freunde noch ein Fest mit ihm. Jetzt zitiere ich eine Passage aus dem Roman: „Dora denkt, wie wenig Polarisierung es in Wahrheit gibt. Kein Ost und West, oben und unten, links und rechts. Weder Paradies noch Apokalypse, wie es Medien und Politik oft schildern. Stattdessen Menschen, die einfach beieinanderstehen. Die sich mehr oder weniger mögen. Die aufeinandertreffen und sich wieder trennen. Dora gehört dazu und Gote gehört dazu. Auch wenn sich beide wenig bewegen und kaum etwas sagen. Auch wenn bestimmt alle wissen, dass Gote im Gefängnis war und denken, dass Dora seine neue Freundin ist. Sie machen eine Party, um die einzige Wahrheit zu feiern, die es gibt: dass sie alle hier und jetzt gemeinsam auf diesem Planeten sind. Als Existenzgemeinschaft. Was für ein verdammtes Wunder!“ (Juli Zeh, Über Menschen, S. 355f)

Ob so eine Szene in unserer so überhitzten Zeit noch vorstellbar wäre? Jedenfalls kam sie mir in den Sinn, als ich über das gefühlte Paradox nachdachte, das in der Behauptung des Apostels steckt: „Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“ Ja, wenn wir uns inmitten all dessen, was uns trennt, als Gleiche sehen könnten in der tiefen Gemeinsamkeit, dass wir alle „gemeinsam auf diesem Planeten“, also Erdenbürger sind, unter demselben Himmel, der sich über alle wölbt, unter derselben Sonne, die Gott jeden Morgen neu aufgehen lässt über Gute und Böse: dann könnten wir uns in dieser Gemeinsamkeit auch entdecken und gegenseitig wahrnehmen. Als solche, die auf der Erde sind und bleiben, sterblich, verletzlich, fehlbar. Und das könnte unser Miteinander vielleicht doch etwas anders machen. Barmherziger, vielleicht auch demütiger.

II.

Paulus hat jedenfalls seine Leute in Korinth so ansehen wollen. Obwohl viele von ihnen ihm hart zugesetzt haben. Manche haben sich auf ihren Gemeindegründer richtig eingeschossen. Das ist nicht einfach menschliche Bosheit. Es ist tragischer: nämlich Ausdruck einer tiefen religiösen Enttäuschung über den Mann, der bisher die theologische Autorität gewesen war, aber jetzt im Vergleich mit neuen Autoritäten, die nach Korinth gekommen sind, ziemlich alt aussieht. Die Korinther fangen an zu fragen: Was hat Paulus eigentlich zu bieten? Keine Legitimation - außer einer Offenbarung vom Himmel herab, die außer ihm selbst keiner bestätigen kann. Und dann dieses monotone, anstrengende „Christus allein“, „Allein der Gekreuzigte“. Geht das nicht an den wirklichen Fragen und Bedürfnissen der Gemeinde vorbei? Wir kommen in deiner kopflastigen Predigt nicht vor - sagen die Korinther.
Paulus regiert darauf in unserem Abschnitt mit der Aussage: „Wir sind darauf bedacht, in unserem Amt niemandem Anstoß zu geben“. M.a.W.: ich weiß schon, dass meine Predigt vielen von euch den Christusglauben nicht gerade attraktiv macht. Ich weiß, was ich euch damit zumute. Und klar, ich bin ein Mensch, mit meiner Art und meinen Unarten. Aber das hoffe ich doch, dass ihr sehen könnt: Wo ihr euch an mir reibt, das liegt nicht an mir. Das ist eine unweigerliche Folge aus dem Evangelium. Ich wäre ein unglaubwürdiger Botschafter des gekreuzigten Gottes, hätte ich die Aura des strahlenden Erfolgsmenschen. Und eben darum sieht Paulus für die Korinther so alt aus. Und nicht nur für sie. So richtig populär in der Kirche, wie Petrus oder Franz von Assisi oder Mutter Teresa, ist Paulus nie gewesen. Ihm fehlt einfach das gewisse religiöse Etwas, um zu faszinieren. Würde er sich in den USA als TV-Prediger versuchen, das wäre vermutlich ein Quotenkiller.

III.

Stattdessen solche schwer zu fassenden Paradoxien: „Als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gequälten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich“: so sieht es aus, das apostolische Leben. In vieler Hinsicht bedrängt, aber nicht völlig erdrückt. Zwar nicht gänzlich ausweglos, aber doch ratlos. Zwar nicht total verlassen, aber doch immer wieder verfolgt und angefeindet. Zwar nicht am Boden zerstört, aber immer wieder unten. Und das ist kein Zufall. Denn es ist nun einmal Gottes Art, sich im Schwachen, Unansehnlichen, Menschlich-Allzumenschlichen erkennen zu geben „Wir haben den Schatz Christi in irdenen, tönernen Gefäßen“ (2. Kor 4,7), sagt Paulus zwei Kapitel vorher. Ein starkes Bild. Jesus selbst: sein Gottsein ganz im Menschlichen verborgen, wie die Goldmünzen in den Tonkrug. Jesu Wort: ganz menschlich, durch kein äußeres Merkmal als Gottes Wort selbst zu erkennen. Die Sakramente: Wasser, Brot und Wein sieht an nicht an, was Gott da hineingibt und mit ihnen bewirkt. Die Bibel: auf sehr menschliche Weise zustande gekommen, mit einer komplizierten Entstehungsgeschichte, jedem Zugriff der Kritik ausgesetzt - und doch den Schatz enthaltend. Die Kirche: oft kraftlos, ausstrahlungsarm, deprimierend mittelmäßig, Dinge mehr politisch als geistlich entscheidend, auf (wichtige) Menschen mehr hörend als auf Gott - und doch Gemeinschaft der Heiligen. Wir Pfarrer*innen: immer wieder enttäuschend, ängstlich, gehetzt, ehrgeizig - und doch von Gott mit einer Sendung versehen, die größer ist als wir selbst und die durch unsere Unzulänglichkeiten nicht ungültig wird. - Die Korinther irren sich in ihrer Meinung über Paulus, weil sie sich über Gott überhaupt irren. In der Schwachheit zeigt er sich uns.

III.

Und eben damit macht es Paulus seiner Konkurrenz erst einmal einfach. Die hat mehr zu bieten. Die Korinther sprechen das offen aus. Und Paulus, auch wenn ihm das, er ist ja auch nur ein Mensch, ganz schön zusetzt, stimmt ihnen zu. Der Apostel hält nicht nur dem religiösen Vergleich nicht stand, mehr noch: in Wahrheit ist er ohne Konkurrenz. Und genau das, liebe Gemeinde, gilt auch für jeden von uns. Im Grunde vertragen wir alle keinen Vergleich. Nämlich dann, wenn es nicht um unsere Leistungen, sondern um uns selbst geht. Unsere Leistungen, die Werke, die kann man vergleichen. Es gibt nun mal bessere und schlechtere Handwerker, bessere und schlechtere Pfarrer. Man darf und soll sie vergleichen. Aber wenn es um die Person geht, erst recht wenn es um die geliebte Person geht, dann hört jeder Vergleich auf. Stellen sie sich eine Liebeserklärung dieser Art vor: Vergleichsweise liebe ich dich! Doch, echt, wenn ich dich so mit der oder der vergleiche, dann muss ich sagen, ich liebe dich! Diese Liebesgeschichte ist vorbei, bevor sie wirklich angefangen hat. Unsere Person verträgt das Vergleichen nicht. Vergleichen heißt immer werten, auf- und abwerten. Bei Produkten, Währungen, Parteiprogrammen, bei Leistungen muss das sein. Aber sobald wir anfangen, Menschen zu vergleichen, hören wir auf, jemand um seiner selbst willen anzusehen. Indem wir ihm einen Wert geben, nehmen wir ihm seine Würde. Damit beginnt der würdelose Umgang des Menschen mit dem Menschen: man fängt an zu fragen, wann das Leben wert ist gelebt zu werden und wann nicht mehr. Das ist ja inzwischen Realität.

Was aber von uns Menschen gilt, gilt erst recht von Gott. Gott ist in jeder Hinsicht unvergleichlich! Denn Gott vergleichen, das hieße ja: andere Götter neben ihm haben. „Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils“: Jesus bittet durch seinen Botschafter Paulus, uns auf den Friedensschluss mit Gott einzulassen und die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Unter Druck werden wir dabei nicht gesetzt - so wie der Verführer in die Wüste Jesus unter Druck setzen wollte. Wir sind ganz frei. Aber das sollten wir in dieser Passionszeit in uns bewegen, dass dieser angebotene Friede mit Gott und mit uns selbst eine unvergleichliche Chance ist. Zeit des Willkommens: der verlorene Sohn kehrt zurück und erlebt, dass der Vater nicht mit ihm abrechnet, sondern ihm jubelnd entgegenläuft. Auch wir sollen es erfahren: als die Traurigen, und doch allezeit fröhlich.


AMEN.

Es wird regiert

Impuls gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Musikalischen Friedensandacht mit Daniel Hope und Alexey Botvinov aus Anlass des russischen Angriffs auf die Ukraine

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Liebe Gemeinde,

seit dem Wochenende haben wir die Displays unserer Schaukästen draußen vor der Kirche blau-gelb unterlegt und ein Wort aus dem 1. Kapitel des Lukasevangeliums daraufgesetzt: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Manch einen, der da vorübergeht, mag das irritieren. Klingt das nicht etwas arg robust? Wäre ein Wort wie das, was wir auf unserem Banner stehen haben: „Selig sind die Friedensstifter“ nicht angemessener für ein Gotteshaus?

I.

Aber wer sagt das denn in der Bibel: „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“? Das sagt kein revolutionärer Kämpfer gegen Unterdrückung und Gewalt. Auch kein wortmächtiger Prediger am Jerusalemer Tempel. Das sagt eine blutjunge Frau aus der tiefen Provinz. Es ist eine Aussage aus dem Magnificat, diesem wunderbaren Gesang der gesamten Christenheit, seit Jahrhunderten täglich im Stundengebet gesungen, von vielen Komponisten vertont. Maria kann es nicht fassen, dass sie gewürdigt ist, die Gottesmutter zu werden, den Erlöser der Welt zu derselben zu bringen. Das überfordert sie erst einmal, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Aber sie tut genau das Richtige. Gegen das eigene Aufgewühltsein stimmt sie das Magnifikat an.

Maria singt. Wir erfahren es in dieser Stunde vielleicht, hoffentlich, ein bisschen: manchmal bringt die Musik Licht, einen hellen Schimmer der Hoffnung ins Leben, wo vieles umdunkelt und erloschen erscheint. Ich habe das als Pfarrer gelegentlich an Sterbebetten erlebt, wenn die Sterbende, die schon ganz weit weg erscheint, durch Worte nicht mehr erreichbar, beim Anstimmen eines Liedes mit einem Mal doch noch die Lippen mitbewegt, und manchmal ein verhaltenes Leuchten über das Gesicht ging. Töne sind so kraftvolle Licht- und Hoffnungssignale, dass das Leben am Ende stärker ist als der Tod - auch in seinen vielen elenden Spielarten, mit denen er sich immer wieder da einzuschleichen versucht, wo er nichts verloren hat.

II.

Maria gehört nicht zur Elite. Sie ist ein 15 oder 16 Jahre altes namenloses Mädchen. Und nun singt sie, oder besser: es singt aus ihr heraus. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Klingt mitreißend, ermutigend. Aber wir halten dagegen: So kann doch nur singen, wer realitätsblind ist. Da herrscht schlimme Unterdrückung im jüdischen Land. Die römischen Besatzungstruppen halten mit eiserner Faust law and order, ihre „pax romana“ aufrecht. Nichts zu sehen von Befreiung und Gerechtigkeit für die Unterdrückten. Aber es gibt eine im Singen, im Musizieren geweckte Wahrheit, die gilt, auch wenn für unser deprimiertes Erleben alles dagegen spricht. Wir erleben fast vor unserer Haustüre Ruchlosigkeit, Rechtsbruch, brutale Gewalt, wachsende Flüchtlingsnot. Ist diese Realität die letzte Wahrheit? Zur Zeit scheint nach unserem menschlichem Ermessen viel, allzu viel dafür zu sprechen. Aber eines spricht dagegen. Es ist die in einem Adventslied gesungene Hoffnung: „Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, / nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! / Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, / weil Stiefel auf das Pflaster schlagen“ (EG 20,3). Er, der da kommen wird, Jesus Christus, ist unser Friede.

Ich stelle mir das mit Marias Lied vor wie bei den Sklaven vor 200 Jahren in Amerika. Die fingen an, während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern ihrer weißen Herren gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage sich Glaubenslieder zuzusingen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern des Alten Testaments. Das war die Geburt der Gospels, die wir heute so gerne hören. Der Glaube, sagte M.L. King, ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. So wird Marias Magnificat zum Protestlied gegen die Dunkelheit, die Heillosigkeit ihrer und unserer Zeit. „Böse Menschen haben keine Lieder“, sagt das Sprichwort. Wer singt, wer Musik macht, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. Weil er im Tiefsten weiß und darauf seine Hoffnung setzt, dass die Todesmächte und ihre menschlichen Handlanger am Ende doch den Kürzeren ziehen. Denn am Ende wird die Stärke des Rechts die Menschen anziehen und mobil machen. Auch dort, wo die Führung grade brutal auf das Recht des Stärkeren setzt.

III.

Der berühmte Theologe Karl Barth, den man den evangelischen Kirchenvater des 20. Jahrhunderts nennt, telefonierte am Abend vor seinem unerwarteten Tod im Advent 1968 mit einem engen Freund. Sie sprachen über die damals auch sehr düstere Weltlage: Vietnam, Tschechoslowakei Biafra, Memphis. Zum Schluss, so hat der Freund später berichtet, sagte Barth, bevor er den Hörer auflegte, fast beschwörend: „Aber ja nicht den Kopf hängen lassen! Denn es wird regiert!“ In der Nacht starb er, vermutlich waren das seine letzte Worte. „Es wird regiert“: wenn wir darauf doch vertrauen und Kraft schöpfen könnten gegen alle Ohnmacht und Ratlosigkeit. Und weitermachen für eine Welt, in der der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf, sondern sein Bruder ist.

Oder dasselbe mit einem Wort eines Ihrer Vorgänger, Herr Bundespräsident, gesagt: Die Herren dieser Welt gehen. Unser Herr kommt. (Gustav Heinemann).


AMEN.

Predigt gehalten von
Pfarrer i. R. Joachim Zirkler
im Friedensgottesdienst aufgrund der aktuellen Situation in der Ukraine (18 Uhr)

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2 HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? 4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, 5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. 6 Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; / mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.

 

Liebe Gemeinde,

vor 7 Jahren, Ende Februar 2015 wurde im hiesigen Panometer das Panorama des zerstörten Dresdens, geschaffen vom Künstler Yadegar Asisi, eröffnet. Der Rundumblick über die Ruinen der Stadt ließ die Anwesenden still werden. Allen wurde durch die monumentale Dimension deutlich, was Krieg bedeutet. Der Kameramann und Dokumentarfilmer Ernst Hirsch war unter den Gästen. Vom Besichtigungsturm zeigte er auf die rauchenden Trümmer der Straßen beim Hygienemuseum und sagte: „Da haben wir gewohnt. Achteinhab Jahre alt war ich an jenem 13. Februar 1945. Die Erinnerung an diese Nacht hat sich eingebrannt.“

Ich stelle mir einen ähnlich alten Einwohner von Kiew vor. Er erlebte 1941 im Alter von 6 Jahren den Einmarsch der Deutschen. Die Wohnung seiner Eltern in der Nähe des Maidan wurde zerstört. Nun erlebt er, im Alter von 87 Jahren, das zweite Mal Krieg in seiner Stadt. Und vielleicht muss er sehr bald wieder, mit Blick auf seine jetzige Wohngegend sagen: „Da haben wir gewohnt.“

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

Wenn wir uns ausmalen, dass Bomben wieder auf Dresden fallen und die noch lebenden Zeitzeugen von damals die Zerstörung ihrer Stadt das zweite Mal erleben müssen. Wenn wir uns das vorstellen, begreifen wir, was momentan 1400 km östlich von uns geschieht.

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Wie lange, Herr, wie lange...wird Krieg Teil unseres Lebens bleiben?

Das Unvorstellbare ist Realität geworden. Meine Generation ist mit den Erzählungen vom Krieg groß geworden und wir haben uns daran gewöhnt, dass Krieg etwas ist, das nichts mit uns zu tun hat – weil es in ferner Vergangenheit stattfand oder in fernen Weltgegenden geschieht. Das ist seit dem vergangenen Donnerstag, seit dem 24. Februar 2022, anders. Es gibt, das erste Mal seit 1939, in Europa wieder den Angriffskrieg eines großen Landes auf seinen Nachbarn. Ich muss mir immer noch klarmachen, dass es kein böser Traum ist, aus dem ich nur aufwachen muss, sondern bittere, schmerzvolle Wirklichkeit.

Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich?

Das Volk Israel hat viele Kriege erlebt, es ist in die Welt zerstreut worden, es sollte in eigens dafür errichteten Lagern vernichtet werden. Es hat die Kraft zum Leben und Überleben gefunden, weil es die Psalmen, die alten Gebete des Volkes immer wieder gebetet, in allen Situationen durchdekliniert hat.

Krieg und Frieden, Leid und Freude – alles wurde vor Gott und in Verbindung zu ihm gebracht. Wenn nichts mehr zu helfen schien, dann half dieses „Ich habe Gott mein Leid geklagt“. Das hat dem Volk trotz allem und in allem immer wieder Kraft gegeben.

Die Psalmen sind Übungen zum Leben und Überleben. Sie wollen geübt sein wie ein Musikinstrument. Mit der Zeit entfalten sie einen eigenen Klang. Einen Klang, der mit unserer Lebensmelodie zusammenpasst. Die Klage führt zum Nachdenken, das Nachdenken zur Umkehr und die Umkehr zum Handeln (zum Beschreiten neuer Wege).

Es ist eine Zeit der Wut und der Ohnmacht, der Enttäuschung und der Klage:

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele / und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?

Es ist eine Zeit des Nachdenkens. Was haben wir unterlassen, was haben wir nicht sehen wollen, was haben wir zugelassen?

Das Nachdenken setzt bei den Politikern ein. Der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzek, der sich seit langem um das deutsch-russische Verständnis bemüht, sagt ehrlich: „Ich habe mich getäuscht. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass der russische Präsident eine solche rote Linie überschreiten würde. Unser Verhältnis ist an einem Tag um Jahrzehnte zurückgeworfen worden.“

Das Nachdenken setzt bei uns allen ein. Wir müssen uns  fragen: Haben wir unser Leben in Frieden und Freiheit für zu selbstverständlich gehalten? Wie konnte es geschehen, dass sich die Verachtung der Demokratie immer mehr ausbreitet? Welchen Leuten haben wir in den letzten Jahren die Straße überlassen?

Sind wir, eingepackt in einem sicher geglaubten Wohlstand, mehr und mehr eingeschlafen?

4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht bis zum Tode entschlafe, 5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke.

Es ist eine Zeit der Umkehr. Uns wird bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, im Frieden zu leben und das bereits seit 77 Jahren. Und wird bewusst, dass wir uns nicht einfach ausruhen können, dass wir uns von den Diktatoren dieser Welt keinen Sand in die Augen streuen lassen dürfen. In unserer Stadt wird uns mit einem Mal wieder bewusst, dass in einer Nacht zerstört werden kann, was Jahrzehnte zum Wiederaufbau braucht.

Was können wir tun? Das gleiche, was der Psalm uns sagt: Beten. Nachdenken und Wachen. Umkehren und Handeln.

Beten: Es tut gut, dass Sie alle hier in der Kirche sind. Von unserem Gebet für den Frieden in dieser Kirche, in allen Kirchen unseres Landes, in allen Häusern, in denen Menschen die Hände falten, geht eine Kraft aus, die größer ist als wir ahnen. Beten heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen, sondern alles, was uns bewegt, mit gefalteten Händen vor Gott zu bringen und dadurch Mut zum Handeln zu erhalten. Nutzen wir die offenen Kirchen, nutzen wir die stillen Minuten zu Hause. Beten ist Überlebenstraining.

Nachdenken und Wachen: Dass wir uns nicht einlullen lassen von Phrasen. Von Leuten, die meinen, die Autokraten dieser Welt bringen neues Heil indem sie altes Unheil wie Krieg herauf beschwören. Das Geschenk des friedlichen Lebens der letzten Jahrzehnte neu schätzen lernen. Nicht mehr schläfrig werden und damit den Feinden der Freiheit und Demokratie das Feld überlassen!

Umkehren und Handeln: Wir können auf die Straße gehen und zeigen: Wir leben zusammen in einer Stadt, in einem Land. Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit verschiedenem Glauben und eigener Tradition. Genau so gehören wir zusammen. Das verstehen wir als Bereicherung. Wir wollen keinen Krieg, wir wollen in Frieden leben.

Es erfüllt mich mit Hoffnung, dass heute in Dresden und Berlin, in vielen deutschen Städten, tausende Menschen genau das zeigen. Und es ist ein wunderbares Zeichen, dass sich junge Deutsche an die polnische Grenze begeben, um ukrainischen Flüchtlingen zu helfen.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das lautet:

„Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“

Darum geht es. Wir sind viele und können viel tun, damit es endlich aufhört, dass Menschen sagen müssen: „Da haben wir  gewohnt. Damals vor dem Krieg.“ Brechen wir auf und gehen diesen Weg – mit Gottvertrauen, Nächstenliebe und der Hoffnung, die unser Denken übersteigt. Dann wird unser Leben einen neuen Klang bekommen.

Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; / mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.


AMEN.

Suche den Frieden

Impuls gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des Ökumenischen Friedensgebets aus Anlass des russischen Angriffs auf die Ukraine

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Liebe Gemeinde,

es ist ein berührendes Bild. Eine Kollegin aus der Stiftung Frauenkirche hat es mir heute gesendet. Ein Schnappschuss, der vor acht Jahren bei der Peace Academy 2014 entstanden war. Es nahmen damals auch junge Leute aus der Ukraine und aus Russland teil. Nur wenige Wochen vor der Peace Academy hatte Russland damals die Krim annektiert. Nach der gegenseitigen Vorstellung vor dem Mittagessen nahm ein ukrainischer Jugendlicher, der ganz woanders saß, sein Essenstablett und ging demonstrativ zur russischen Gruppe. Er sagte, er wolle damit zeigen, dass an diesem Pfingstwochenende der tiefe Konflikt zwischen ihren Ländern nicht trennend zwischen ihnen stehen solle. Als ich das Foto des mit den Russen lächelnd zusammensitzenden jungen Ukrainers heute sah, überfiel mich sofort die Vorstellung, dieselben Menschen könnten jetzt gezwungen sein, gegeneinander zu kämpfen. Das schneidet ins Herz.

II.

„Suche den Frieden und jage ihm nach“: unter diese Aufforderung aus Psalm 34 haben wir diese Gebetsandacht gestellt. Haben wir ernsthaft den Frieden gesucht, ihn aktiv versucht zu sichern? Oder war er uns nach 77 Friedensjahren in Mitteleuropa zur routinierten Selbstverständlichkeit geworden? Ich denke an Personen wie den großen Europäer Helmut Kohl, der bis ans Ende seiner Tage oft gewarnt habt, dass wir auf dünnerem Eis unterwegs sind als wir ahnen, dass das vereinte Europa eine Frage von Krieg oder Frieden ist. Haben wir das ernst genug genommen? Seit heute früh durchpflügen Raketen den ukrainischen Himmel, reißen die Bomben tiefe Wunden in den Städten. Alles direkt vor der Haustür der EU.

„Suche den Frieden und jage ihm nach“. Diese Aufforderung ist ein Antidot gegen Verzweiflung oder Resignation, die mich an einem Tag wie heute überkommen. Sie hilft mir, die Sehnsucht wach zu halten, dass der Kampf der einen gegen die anderen, die Geißel des Krieges doch nicht das letzte Wort behält, weil sie am Ende nur Verlierer produziert: Getötete, Vergewaltigte, Verschleppte, Geflüchtete in riesiger Zahl. In den Kirchen wurden früher in Kriegszeiten oft genug Waffen gesegnet und „Gott mit uns!“ gepredigt. Inzwischen haben wir gelernt, wacher auf die Bibel zu hören. Die Anwendung von militärischer Gewalt ist immer eine schreckliche Niederlage, und bringt Schuld mit sich. Da ist alle leidenschaftliche Klarheit gefordert: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. Wer einen Krieg zu verantworten hat, ihn vom Zaun bricht, lästert Gott und bestreitet seinen Frieden.

III.

Suche den Frieden – das heißt für Christen letztlich den suchen, der, so sagt die Bibel, unser Friede ist: Jesus Christus. In dem großen Friedensmanifest, das er der Welt geschenkt hat, in der Bergpredigt, sagt er den unglaublichen Satz: „Gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Und betet für eure Verfolger!“ Abgebrühte mögen abwinken: Euer Jesus ist ein Phantast, weltfremder Gutmensch! Jesus sagt aber direkt nach diesem Satz noch etwas anderes: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. Das meint doch: Gott selbst geht in Sachen Feindesliebe voran! Er gewährt der ganzen Welt, nicht nur seinen Freunden, die nötigen Mittel zum Leben. So gibt er uns unaufdringlich zu verstehen, dass er nicht unser Vater sein will, ohne zugleich der Vater aller Menschen zu sein - auch derer, die nicht seine Kinder sein wollen, weil sie ihn durch ihr Tun verhöhnen. Was uns unmöglich erscheint, Gott leistet sich das: Mit übermenschlicher, eben göttlicher Geduld bleibt er denen nahe, die meinen, es gehe ohne ihn.

Aber das demonstriert er uns nicht nur natürlich, durch Sonnenschein und Regen, sondern erst recht höchst persönlich! An uns selber nämlich hat Gott anschaulich gemacht, was es heißt, seinen Feind zu lieben, ein Freund-Feind-Verhältnis einseitig für beendet zu erklären. Das hat er nicht mit großen Worten proklamiert. Sondern er hat es an sich selbst erlitten, was das heißt: seine Feinde lieben und für seine Peiniger beten. Nicht das menschlich verständliche: Vater, gib’s ihnen! Sondern: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Am Kreuz wird Feindesliebe konkret. Da sieht man, was einseitige Abrüstung ist. Und deshalb, bei aller Solidarität mit den Menschen in der Ukraine, die jetzt Schreckliches erleben müssen, bleiben auch die, die das jetzt anrichten, im Licht Gottes unsere Menschenbrüder und -schwestern.


AMEN.

Nein zur Vergeltung, Ja zur Vergebung.

Impuls von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
am 13. Februar, dem 77. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik (16 Uhr)

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Liebe Gemeinde,

in der Bergpredigt Jesu, die der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker „den humanistischsten Text der Weltliteratur“ genannt hat, begegnen wir der unglaublichen Aufforderung: „Liebet eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen“. Auf den ersten Blick spricht das allem gesunden Menschenverstand Hohn. Und doch ist der Gedanke der Feindesliebe ein ganz großes Geschenk Jesu an diese Welt. Er ist, so denke ich, der Schlüssel zu der neuen Welt, die Jesus das Himmelreich nennt. Diese Form der Liebe ist auch eine radikale Absage an den Zeitgeist der Christenheit seit der frühen Zeit des römischen Kaisers Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion machte. Kirchen aller Konfessionen, mit Ausnahme kleiner Minderheiten, haben die Feindesliebe zur irdischen Unmöglichkeit erklärt. Sie gelte nur fürs eigene fromme Herz, aber nicht für das organisierte Miteinander, also die Politik. Gute Protestanten von Bismarck bis Helmut Schmidt haben das ihrer Kirche entsprechend ins Stammbuch geschrieben. „Heilige Kriege“ gibt es nicht erst heute, im Zeichen des Islams. Mit religiösem Pathos haben auch die christlichen Ritter im Mittelalter im Namen Gottes tausendfach Muslime getötet, später haben Christen verschiedener Konfessionen mit ihren Religionskriegen Deutschland in Schutt und Asche gelegt. Bittere Ironie, dass all dies im Namen des Bergpredigers geschah.

Aber das muss nicht so sein. Sechs Wochen, nachdem deutsche Bomber die englische Stadt Coventry dem Erdboden gleich gemacht hatten, predigte zu Weihnachten 1940 der dortige Domprobst in der Ruine seiner Kathedrale: „Obwohl es uns schwer fällt, sagen wir Nein zur Vergeltung und Ja zur Vergebung“. Diese Aussage war eine radikale Abkehr von geltenden Vorstellungen. Keine Vergeltung? England und Amerika, die sich schon immer für christliche Nationen gehalten haben, antworteten darauf, indem sie deutsche Städte zu Trümmerwüsten machten. Heute vor 77 Jahren war unser Dresden an der Reihe. Die Ursachen dafür freilich haben wir nicht in der englischen oder amerikanischen Geschichte zu suchen, sondern in unserer.

Fast acht Jahrzehnte sind eine lange Zeit. Die es noch erlebt haben und nie werden vergessen können, werden immer weniger. Je länger das alles zurückliegt, desto abstrakter, ungreifbarer erscheint es. Und desto leichter verbreitet sich die Haltung: Was geht mich das noch an? Müssen wir etwa auf ewig in Sack und Asche laufen? Man wird ja wohl noch sagen dürfen… Vielleicht ist es das Beste, was wir überhaupt können, nichts anderes als die Fragen lebendig zu halten. Antworten, und seien sie noch so klug, die diese Vergangenheit „bewältigen“ könnten, die gibt es nicht. Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Was wir brauchen, ist nach wie vor solides historisches Wissen über die Vergangenheit. Wissen, das Fragen nicht glatt beantwortet, sondern überhaupt erst weckt und wach hält. Das ist weiß Gott nötig in einer Zeit, einflussreiche Politiker offen von einer Entsorgung der Schatten der deutschen Vergangenheit reden und Tage wie den heutigen missbrauchen, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen.

Feindesliebe: Der Feind ist nie nur der andere, sondern als Menschen Gottes Ebenbild und damit immer auch mein Ebenbild. Wir haben nicht nur Feinde, sondern wir sind auch selbst Feinde, manchmal auch Feinde Gottes, die immer wieder Vergebung brauchen - und Gottseidank auch erfahren. Wir kennen alle das sehr lebenskluge Jesuswort: „Wer ohne Schuld ist unter euch, der werfe den ersten Stein.“ Am heutigen Tag könnte das so gemeint sein: Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen vor dem Kreuz Jesu Christi für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig! Denn dieses Kreuz steht dafür, dass Jesus Christus nicht gegen Deutsche oder gegen Engländer und Amerikaner gestorben ist, sondern für uns alle.

AMEN.

Gott, sei uns Sündern gnädig!

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
am 13. Februar, dem 77. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Hauptgottesdienst (11 Uhr)

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Liebe Gemeinde,

ich erinnere noch, wie ich als Kind meinen Großvater einmal gefragt habe: „Großvater, hast du im Krieg einen Menschen erschossen?“ Ich spürte, er wollte darüber nicht reden. Es kam nicht mehr als die knappe Antwort: „Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht, mein Junge.“

Was für die New Yorker „9/11“ ist, ist für die Dresdner der 13. Februar. Ein Datum, das ohne Jahreszahl auskommt. Es gibt ein Davor und ein Danach. Jeder Dresdner weiß, dass heute vor 77 Jahren um 21:45 Uhr unter dem Codenamen „Operation Chevin“ die erste von mehreren fürchterlichen Angriffswellen über der Stadt zusammenschlug. Apokalyptische Reiter aus der Luft, die in wenigen Stunden eine apokalyptische Wirklichkeit schufen. Wie in so vielen Städten in jenen Monaten, die es ebenso verheerend traf: Hamburg, Köln, Stuttgart, Pforzheim u.v.a. Diese Unternehmungen hatten keine kriegsentscheidende Bedeutung im strategischen Sinn. Ihr Motiv war die Demoralisierung der Bevölkerung. Wie viele Dresdner am 13. Februar und in den Tagen danach ihr Leben verloren, ist seit Jahrzehnten Gegenstand erbitterter, ideologisch hocherhitzter Debatten, hinter denen oft fragwürdige Motiven stehen. Als Christen können wir nur sagen: Es macht den Schrecken und die Trauer über das, was damals geschah, nicht größer und nicht kleiner, wenn die Zahl der Opfer mehr oder weniger hoch veranschlagt wird. Schrecken und Trauer machen sich doch daran fest, was Menschen, als Ebenbilder Gottes geschaffen und wunderbar von ihm begabt, Böses ersinnen und einander antun können.

I.

„Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, dass nur diese Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen aber nicht?“ Eine eindringliche Frage Jesu in dem eben gehörten Text. Sie spricht eine bleibende Wahrheit über das aus, was der Krieg ist. Es hat nicht nur in Deutschland, genauso auch in England, den USA, Russland Kinder gegeben, die ihren Großvätern gegenübersaßen und sie gefragt haben: „Opa, hast du im Krieg einen Menschen getötet?“

Wir Christen glauben: Jeder Mensch ist in einem letzten Sinn anderen, aber auch sich selbst entzogen. Denn er ist ein Geschöpf Gottes. Jedem Menschen hat Gott seine Würde verliehen. Unverlierbar und unantastbar. Deshalb hat jeder Mensch ein Recht, dass am Ende seines Lebens in einem Gottesdienst seine eigene Lebensgeschichte Gott anvertraut wird: mit dem, was sein Leben für uns erkennbar gewesen ist, was gelungen ist darin, was sich sehen lassen kann, aber eben auch mit seinen Brüchen. Das ist der erste ganz wichtige Schritt zu einer gelingenden Trauerarbeit. - Wenn aber Leichnam an Leichnam liegt, wenn Tote für immer unter meterhohen Trümmern geblieben sind, dann sind sie dieses Rechts, unverwechselbar zu sein, und damit auch eines Teils ihrer Würde beraubt. Bei jedem Sterben schmerzt das Unwiderrufliche, Endgültige. Beim Sterben junger Menschen kommt der fast unerträgliche Schmerz hinzu, dass Leben, das sich erst entfalten möchte, abgebrochen, verstümmelt wird. - Zu den großen Errungenschaften unseres demokratischen Gemeinwesens gehört der einfache Satz, mit dem unsere Verfassung beginnt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das gilt den Lebenden. Aber es hat auch eine Geltung gegenüber den Toten. Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Toten wirkt zurück auf ihren Umgang mit den Lebenden. Auch jenseits des irdischen Lebens sind Ehre und Würde des Menschen zu schützen. Das ist ein Grundrecht schon in alten Kulturen. Auch deshalb begehen wir den 13. Februar, um die Toten jener Tage um ihrer Würde willen dem kollektiven Vergessen zu entreißen. Damit die Bitte des Dichters nicht ins Leere gesprochen bleibt: „Oh Herr, gib jedem seinen eignen Tod. / Das Sterben, das aus jenem Leben geht, / darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ (R.M. Rilke)

II.

Quälend ist die Frage nach dem Warum. Und zugleich unvermeidlich, ja verzweifelt notwendig. Auch wenn sie niemals abschließend und überzeugend beantwortbar sein wird. Klar und für denkende Menschen einsichtig ist: der Schrecken des 13. Februar hat seinen Ausgang nicht mit dem Start der britischen und amerikanischen Jagdflieger genommen. Auch nicht mit dem Beginn des 2. Weltkriegs. Ja, auch der 30. Januar 1933, der Tag der „Machtergreifung“ ist nicht als der historische Wurzelgrund anzusehen dafür, dass aus deutschen Städten Trümmerwüsten wurden. Man muss noch tiefer hinsehen.

Ich bin Theologe und will den vielen Deutungen der Historiker, wie es zu all dem kommen konnte, keine weitere hinzufügen. Ein - scheinbar – beiläufiger Aspekt ist mir aber wichtig geworden. Es gibt eine geradezu unheimliche Sukzession des Brennens. In einer sich abgründig steigernden Intensität. Am Anfang, schon lange vor 1933, im Kaiserreich, brannten die Herzen. Für den Kaiser und den preußischen Militarismus. Gegen die angeblich privilegierten und erfolgreichen Juden. Dann gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, die, so hieß es damals, der tapferen, „im Felde unbesiegt“ gebliebenen kaiserlichen Armee 1918 an der Heimatfront hinterrücks den Dolchstoß versetzt hatten. Dann brannten die Herzen gegen den Versailler Vertrag und die sog. „Verzichtspolitiker“, die ihn unterschrieben hatten. Und gegen die erste deutsche Demokratie, die eine Mehrheit des Volkes ablehnte, ja verachtete. Leider vor allem die Protestanten. Dann, am 30. Januar 1933, wurden aus den vielen brennenden Herzen die brennenden Fackeln der Tausende, die durchs Brandenburger Tor zogen, um dem Machtergreifer zu huldigen. Bald darauf brannten viele Bücher. Am 9. November 1938 brannten im ganzen Land die Synagogen. Das führte dann zu den brennenden Öfen in Auschwitz. Und wegen all dem brannten am Ende deutsche Städte.

Kürzlich kam in einer Fernsehsendung zum Wiederaufbau der Semperoper Gunter Emmerlich zu Wort, mit der Aussage, er habe von Erich Honecker ein einziges Mal einen klugen Satz gehört. Bei der feierlichen Wiedereinweihung Semperoper zum symbolträchtigen Datum des 13. Februar 1985, 40 Jahre nach dem Inferno habe er, Honecker, gesagt: „Die Fackeln, die von Deutschland ausgegangen waren, kamen am Ende auf uns zurück.“ Das war wohl wirklich ein bemerkenswerter Satz, weil die ideologische Position der DDR-Führung zur Zerstörung Dresdens über 40 Jahre ja in eine ganz andere Richtung gegangen war.

So war das damals natürlich nicht nur, aber auch eine Langzeitfolge der vielen brennenden Herzen. Schillers Wort „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären“ ist noch tiefer auszulegen: Das ist der Fluch des bösen Gedankens, des bösen Wortes, dass sie früher oder später böse Taten hervorbringen. Die Zeit, die wir aktuell durchleben, macht uns dafür wieder sensibel. Vielleicht ist es das Beste, was wir überhaupt tun können, nichts anderes als einfach die Fragen nach dem Warum lebendig zu halten. Antworten, und seien sie noch so klug, die diese Vergangenheit „bewältigen“ könnten, die gibt es nicht. Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Was wir brauchen, ist mehr denn je solides Wissen über die Vergangenheit. Wissen, das Fragen nicht glatt beantwortet und abräumt, sondern überhaupt erst weckt und wach hält. Das ist dringend nötig. Wie groß müssen Vergessen und Verdrängen sein, wenn bei vielen Leuten trotz gut informierender Schulbücher elementare Fakten aus unserer Vergangenheit kaum bekannt sind? Wenn Straßenzüge oder ganze Quartiere zu „ausländerfreien Zonen“ ausgerufen werden, in denen Migranten, sofern es dort überhaupt welche gibt, sich besser nicht mehr auf die Straße begeben?

III.

„Großvater, hast du einen Menschen erschossen?“ Das heißt: Bist du schuldig geworden? Du, mein Großvater, zu dem ich aufschaue und den ich lieb habe, hast du persönlich Schuld auf dich geladen? - Als Pontius Pilatus ohne ersichtlichen Grund Menschen hatte umbringen lassen, kommen die Leute zu Jesus und wollen wissen, was die Schuld der Ermordeten war. Anders konnten sie sich nicht erklären, dass Gott sie diesen grausamen Tod erleiden ließ. Jesus lässt sich auf eine solche Sicht aber gar nicht ein. Er sagt ihnen: „Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Im Gegenteil: Ihr werdet genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt.“ Meine Generation ist nicht mehr dazu angehalten worden, auf Feinde zu schießen. Wir konnten aus der Gnade der späten Geburt leben. Aber unsere Enkel könnten uns eines Tages die Frage nach unserer Schuld stellen: Warum habt ihr so lange gezögert, als eine Volksgruppe die andere zu eliminieren versuchte, vor den Augen der Welt - in Ruanda damals, dann in Darfur, aktuell in China an den Uiguren? Warum hatte eure Weltgemeinschaft so wenig Interesse am Schicksal dieser Menschen? Und wie steht es gerade jetzt um das Land unweit von unserer Haustüre? Wie ist den Menschen der Ukraine in deren aktueller Bedrohung zu helfen? Ich habe großes Verständnis für die Zurückhaltung unserer Regierung, Waffen dorthin zu liefern. Wenn es um Waffen geht, zumal in Richtung der früheren Sowjetunion, muss äußerste Zurückhaltung geradezu ein Teil unserer Staatsräson sein und bleiben. Aber - ich frage das nur, ohne selbst eine Antwort zu haben - kann es manchmal auch Situationen geben, die eine Ausnahme von dieser Regel rechtfertigen? Es gibt mir jedenfalls zu denken, wenn namhafte Schriftsteller*innen, die von ihrem Selbstverständnis her alles andere als kriegsaffin sind, diese Zurückhaltung jetzt im Blick auf die Ukraine deutlich kritisieren.

Mein Großvater hatte blutjung noch im 1. Weltkrieg gekämpft. Wir wussten, dass er, wie so viele seiner Generation, mit Begeisterung für Kaiser und Vaterland damals an die Front gezogen war. Aber darüber gesprochen hatte er mit der Familie nie. Nach seinem Tod sichteten meine Eltern die Schubladen seines Schreibtisches. Zwischen Zeugnissen, Urkunden und Photographien stießen sie auf ein Eisernes Kreuz zweiter Klasse. Seine vier Kinder, sie wussten alle nichts von dieser Auszeichnung für besondere „Tapferkeit vot dem Feind“. Die Frage: „Opa, hast du im Krieg einen Menschen erschossen?“ - er hätte sie mir wohl mit Ja beantworten müssen.

IV.

„Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Im Gegenteil: Ihr werdet genauso umkommen, wenn ihr nicht umkehrt“. Die Zahl aller Toten aus dem letzten Weltkrieg wird auf über 60 Millionen Menschen geschätzt. Eine Zahl, so unvorstellbar, dass sie furchtbar abstrakt bleibt. Gar nicht abstrakt, sondern anschaulich und tief schmerzhaft sind die Erinnerungen, die sich in unserer Stadt mit heute vor 77 Jahren verbinden. Wir trauern heute um sie, um Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer. Noch sind Menschen unter uns, die damals Geschwister, Eltern, Großeltern, Klassenkameraden oder Freunde verloren haben. Die Bilder der brennenden Stadt, auch dieser niederbrennenden Kirche, der Anblick der Toten haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

In den Monaten und Jahren nach Kriegsende kamen die überlebenden Soldaten nach Hause. Auch sie hatten vor ihrem inneren Auge die Bilder der Zerstörung und Verwüstung. Auch sie mussten damit weiterleben. Was sie in diesem Krieg erlebt hatten, schob sich auf immer zwischen sie und ihre Familien. Das war ihre Last. Damit waren auch sie für ihr Leben gezeichnet. Sie fühlten sich auf ihre Weise als die „Draußen vor der Tür“, wie das berühmte Stück von Wolfgang Borchert heißt, das ihr Schicksal zum Inhalt hat.

Zum Schluss noch einmal unser Jesuswort: „Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten? Nein, im Gegenteil!“ - Eines Tages werden die Soldaten aller Völker vor Gott stehen. Gott wird jeden einzelnen von ihnen fragen: „Hast du einen Menschen getötet?“ Zum Zeichen der Versöhnung können wir dann zu ihnen hinzutreten und gemeinsam mit ihnen - vor dem Kreuz Jesu Christi - für sie und für uns bitten: Gott, sei uns Sündern gnädig!

AMEN.

Gottes Herrlichkeit

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

uns ist das von vielen Darstellungen der Weihnachtskrippe vertraut: Vom göttlichen Kind geht ein Licht aus, das sich in den Gesichtern derer um die Krippe herum spiegelt. Bei Rembrandts berühmter „Anbetung der Hirten“ etwa. Und unsere Sprache kennt die Wendung vom „Strahlen über das ganze Gesicht“. Etwa wenn man frisch verliebt ist. „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“, trällerte vor 50 Jahren ein Schlager. Trivial, und doch einfach wahr. „Du bist verliebt.“ - „Wie kommst du darauf?“ - Man sieht es dir an, 10 Meter gegen den Wind! Du strahlst so. Bist sogar nachmittags noch gut drauf. Hast du jemand kennengelernt?“

Auch Mose glänzt. Er strahlt über das ganze Gesicht. Zum zweiten Mal kommt er vom Berg Sinai herab. Diesmal nicht einem hochglänzenden Goldenen Kalb entgegen, das ihn verstört und verdüstert. Sondern mit einem überirdisch strahlenden Gesicht, das nach seiner erneuten Gottesbegegnung den Glanz der Herrlichkeit und Nähe Gottes spiegelt. Heute, am letzten Sonntag des weihnachtlichen Festkreises, zwei Tage vor „Mariae Lichtmess“, ist der Glanz von Weihnachten verblasst und fast nur noch Erinnerung. Ein Christbaum strahlt anders an Heiligabend als Ende Januar (wo die allermeisten Christbäume eh längst entsorgt sind). Aber eigentlich ist das gut so, und soll auch so sein. Nur so kann es in 11 Monaten wieder diesen kostbaren Moment geben, wenn wir die verborgenen Schachteln mit den Sternen, Kugeln und Räuchermännchen wieder herholen und öffnen. Denn das Kostbare ist auch das Besondere, das sich nicht zu sehr in die Länge ziehen lässt. Davon erzählt auch dieser verrätselte Predigttext.

I.

40 Tage und Nächte war Mose weg gewesen von seinen Leuten, allein da oben auf dem Sina-Berg. Ganz nah bei Gott. Im Kapitel davor hatte er Gott angefleht: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“. Da hatte Gott ihm diese Bitte verwehrt und ihn in eine dunkle Felsspalte verwiesen, an der er dann nicht sichtbar vorüberzog. Jetzt zeigt sich Gott zugänglicher. Und Mose wird damit zu einem anderen Menschen. Stolz trägt er die neuen Tafeln mit den Zehn Geboten vor sich her, deren Originale er damals aus Zorn über das Goldene Kalb zertrümmert hatte. Ein sichtbares Zeichen, dass Gott diesen Treuebruch nicht seinerseits mit einem Bruch quittiert, sondern den gebrochenen Bund mit Israel erneuert hat. Was wird Mose ihnen nach ihrer Untreue gegenüber ihrem Befreier von Gott ausrichten? Nach dem Text sind es zuerst Aaron und die Fürsten Israels, die sich Mose in seinem Strahlenglanz zu nähern wagen. Auch sie hatten in der Krise kläglich versagt. Aaron hatte dem Verlangen des Volkes nach einer sichtbaren, glänzenden Darstellung der Gottheit nachgegeben und das Goldene Kalb entworfen. Die Befriedigung von erhitzten religiösen Bedürfnissen war ihm wichtiger als die Frage nach der Wahrheit Gottes. Würde er jetzt sein Strafurteil erhalten? Als nichts dergleichen geschieht, wagt auch das Volk, dem himmlischen Abgesandten näherzutreten. Und der hält keine Strafpredigt, sondern richtet ihm freundlich aus, was Gott ihm auf dem Berg Sinai gesagt hatte. Und auch zukünftig, wenn Mose dem Volk Botschaften von Gott überbringt, wird sein Gesicht von der göttlichen Begegnung widerstrahlen - während er sonst eine Decke, einen Schleier über dem Gesicht tragen wird, damit die Gotteserscheinung, die er erlebt, nicht banal wird. Sie soll nicht popularisiert werden - und vielleicht spielt auch mit, dass die Israeliten vor diesem überirdischen Glanz geschützt werden müssen, weil sie ihn nicht ertragen können. Wenn der große unendliche Gott allzu direkt kleinen endlichen Menschen erscheint, kann es auch ein Zuviel an Gott und seiner Herrlichkeit geben.

Liebe Gemeinde, was diese erneute Gottesbegegnung auf dem Sinai mit dem Mose macht, versteht man erst dann wirklich, wenn man sich seine Rollen in der bisherigen Geschichte vor Augen hält. Im Auftrag Gottes hatte er Israel aus der Sklaverei in Ägypten rausgeführt. Als Vermittler der Gebote Gottes hatte er das Volk in einen Bund mit seinem göttlichen Befreier hineingeführt. Doch schon als Mose auf dem Berg die beiden Gesetzestafeln zur Beurkundung dieses Bundes in Empfang nahm, fühlte sich das Volk unten in der trostlosen Wüste von Gott und der Welt verlassen. Es schuf sich ein Substitut, jenes Goldene Kalb, betete es an und ließ so seinen göttlichen Befreier einen guten Mann sein. Damit übertrat es das erste und das zweite Gebot. Genauso wie Gott, war Mose über den Götzendienst des Volkes empört; er zerschlug die Gebotstafeln zur Demonstration des zerbrochenen Bundes. Aber je länger je mehr stellte er sich doch solidarisch auf die Seite des Volkes, legte beherzt Fürbitte für es ein und rang mit Gott, dass er dieses flattrige Volk nicht ein für alle Mal abschreibt. Nach einigem Zögern erklärte sich Gott bereit, den gebrochenen Bund mit seinem Volk Israel zu erneuern. Er rief Mose zu sich auf den Berg und offenbarte ihm sein barmherziges Wesen, nachdem der ihn so leidenschaftlich bedrängt hatte, Gnade vor Recht walten zu lassen. Es war diese intensive Begegnung mit dem von Herzen gütigen Gott, die Moses Gesicht, ohne dass er selbst es merkte, so zum Strahlen brachte. Wenn er darauf mit diesem strahlenden Antlitz vom Berg hinabsteigt, dann spiegelt er in seiner Person die Barmherzigkeit Gottes wider, die die Erneuerung des Bundes ermöglichte. Ihn, der sich so selbstlos für das Überleben des Volkes eingesetzt hatte, ihn hat Gott zu seinem Heilsmittler bestimmt. Mose soll von nun an mit seinem verklärten Antlitz eine gütige, eine schonende Form der Gottesnähe verkörpern, in der jeder, auch der an schwerer Schuld tragende, auf Vergebung hoffen darf. Und solange sich das Volk an Mose und seine Botschaft erinnert, kann es der Treue Gottes zu seinem erneuerten Bund gewiss sein.

II.

„Weißt Du noch, wie, als wir von Gott sprachen in unserem Haus, der goldene Schimmer auf der Wand stand?“ So hat es Paul Celan als junger Mann in einem Brief an seine damalige Freundin Ingeborg Bachmann geschrieben. So von Gott reden können, dass goldener Schimmer aufglänzt: wenn wir das doch in diesem Jahr manchmal erleben könnten! Manchmal nur, denn wie gesagt, das Kostbare muss das Besondere, Seltene bleiben. Wie bekommen wir Zugang zu diesem Glanz der Nähe Gottes? In dieser Unmittelbarkeit, wie Mose es hier erlebt, ist uns das nicht verheißen. Da blieb Mose ein Solitär - auch davon zeugt jene seltsame Decke, von der unser Text berichtet. Wir begegnen Gott nur indirekt, gebrochen sozusagen, und gewissermaßen nur einem Abglanz seines Glanzes. In so einem „Schimmer, der an der Wand aufglänzt“. Durch menschliche Begegnungen manchmal, die uns unendlich gut tun. Und durch sein Wort, wie es uns in der Bibel geschenkt ist. Wie zum Beispiel durch das Evangelium dieses Sonntages, diesem auch sehr geheimnisvollen Bericht von der „Verklärung“ Jesu, der wie ein neutestamentliches Echo auf unseren Predigttext anmutet. Wir haben es vorhin gehört: Drei Jüngern Jesu wird auf einem hohen Berg ein kurzer Blick in die himmlische Welt gewährt, aus der Jesus stammt. Sein Gesicht strahlt plötzlich in einem blendenden Glanz, und seine Kleider gleißen in einem überirdischen Licht. Und aus einer Wolke tönt eine Stimme, mit der sich Gott, wie schon bei der Taufe Jesu, ganz und gar mit diesem einen Menschen, der bereit ist, sich für die Seinen aufzuopfern, identifiziert: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“.

Seltsamerweise ist Jesus in diesem besonderen Augenblick nicht allein. Denn die drei Jünger erblicken zwei weitere wichtige Mittlergestalten aus der Geschichte Gottes mit seinem Volk: Elia, der wie kein anderer Prophet Israel zu Gott zurückgerufen hatte und der darum zu Gott in den Himmel auffuhr - und eben Mose. Die Jünger sehen den verklärten Jesus mit Mose und Elia im trauten Gespräch, so als kennten sie sich lange. Das Bild der drei Gottesmänner wirkt so harmonisch, dass Petrus, wie immer initiativ und vornedran, spontan vorschlägt: „Hier ist gut sein, lasst uns drei Hütten bauen!“ Er will diesen einzigartigen Moment auf Dauer stellen. Sich da oben, wo alles schön und leicht erscheint und die Mühen der Ebene weit weg sind, häuslich einrichten, aus drei Hütten quasi ein kleines Tagungszentrum errichten, in dem die drei in aller nicht enden wollender Beschaulichkeit ihre religiösen Erfahrungen austauschen könnten. Aber das bleibt ein frommer Wunsch. Gott lässt sich, solange wir in dieser Welt sind, nicht einfach nur genießen. Es gibt ein Zuviel an göttlicher Herrlichkeit. Der Glaube an ihn ist kein religiöser Wellness-Event. Es geht wieder runter ins Tal, in den Alltag. Auf die frohen Feste folgen immer wieder die sauren Wochen.

III.

Liebe Gemeinde, wir sind gewohnt, Mose und Jesus zueinander in Kontrast zu stellen und wir können uns dabei durchaus auf Sätze aus dem Neuen Testament berufen, etwa den aus dem Johannesevangelium: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ (Joh 1,17). Aber Moses Rolle beschränkt sich nicht auf die des strengen Gesetzgebers. Er vermittelt in seiner Person auch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. So ist er zumindest ein Vorläufer von Jesus Christus, so wie das die Verklärungsgeschichte im Matthäusevangelium darstellt. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Rollen der beiden ähneln: Noch viel mehr als Mose steht Jesus einerseits auf der Seite Gottes, er ist ja Gottes Sohn. Zugleich solidarisiert er sich wie Mose mit den Menschen. Zuerst mit den schwachen, kranken, ausgestoßenen und sündigen Menschen in Israel, die er heilt, dann aber auch mit allen Menschen darüber hinaus, die ihn um Hilfe oder um Vergebung angehen. Noch viel konsequenter als Mose opfert sich Jesus für uns Menschen auf, nimmt stellvertretend in seinem Tod unsere Schuld auf sich, damit wir überleben, ja neu leben können. Und noch realer und folgenreicher als in der Verklärung des Mose bezeugt Gott in der Verklärung und Auferstehung Jesu seine Liebe und Treue zu uns Menschen im Neuen Bund, weil er mit uns Gemeinschaft haben will, auch über den Tod hinaus. Letztlich überbietet Gottes Identifikation mit Jesus diejenige mit Mose - so wie mit dem Erscheinen der Wolke und dem Ertönen der Stimme Gottes bei der Verklärung Jesu Mose und Elia in den Hintergrund gestellt werden. Nachdem Gott seinem Volk immer wieder Mittler wie Mose gesandt hat, um die gefährdete Beziehung zu ihm neu auszurichten, hat er am Ende selbst die Mittlerrolle auf sich genommen, ist uns in Christus selbst zum Heilsmittler geworden. Auf ihn können wir unsere Hoffnung richten, selbst wenn wir seine Macht und Größe als Schöpfer des Universums und Herr der Geschichte zuweilen kaum ertragen können und nicht verstehen. Da bleibt immer etwas Ambivalentes. Es bleibt Gott gegenüber auch eine Fremdheit, die sich nicht einfach in die kleine Münze vom netten, kumpelhaften „lieben Gott“ wechseln lässt. Gott ist heilsam und unerträglich.

Liebe Gemeinde, wenn aber Jesus Christus Ziel- und Höhepunkt einer langen Geschichte menschlicher Mittlergestalten Gottes ist, dann versteht es sich von selbst, dass wir als Christen in diese Geschichte mit einbezogen sind. „Das ist mein lieber Sohn, auf den sollt ihr hören!“: so setzt Gott seinen neuen Impuls, der die Geschichte der Kirche begründet. Der auferstandene Jesus wird zu seinen Jüngern sagen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Joh 20,21). Eine ungeheuerliche, zugleich eine unglaublich tröstliche, ermutigende Zusage. Wir alle werden somit von dem einen großen Heilsmittler Christus als seine Mitarbeiter, seine kleinen Mittler in die Welt gesandt, um in ihr Zeugen der Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes zu sein.

Und dabei spielt nun all das, was wir von Moses und Jesu Mittlerschaft lernen konnten, eine wichtige Rolle: Die Solidarität mit in Not und Schuld geratenen Mitmenschen, unsere intensive, nicht nachlassende Fürbitte für sie bei Gott und auch das strahlende Angesicht, mit dem wir ihnen gegenübertreten. Vor Weihnachten sah ich mal wieder den Film vom „Kleinen Lord“. Es ist einfach anrührend, wie hier ein kleiner Junge, der sich beharrlich weigert, die Bosheit und die Not seiner Mitmenschen zu akzeptieren, mit seinem strahlenden Kindergesicht das Misstrauen, den Dünkel und die Einsamkeit seines Großvaters hinwegschmelzen lässt und ihn wieder zu einem sozialen, barmherzigen und versöhnungsbereiten Wesen macht. Es ist wirklich kein Zufall, dass im Zentrum des Feindesliebegebots die Fürbitte für diejenigen steht, die uns verfolgen (Mt 5,44). Ja, die Fürbitte hat eine große entfeindende und solidarisierende Kraft! Sie öffnet, wie es schon Mose erlebt hat, den Zugang zu Gottes gütigem Herzen. Auch Mose hatte, als er von Gott herab stieg, seinen bitteren Konflikt mit dem Volk schlichtweg vergessen. Gebe Gott, dass etwas von dieser seiner wunderbaren Vergesslichkeit Gottes auch auf uns abstrahlt in diesem noch frischen Jahr.


AMEN.

Heilsame Ohrfeigen

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Paulus ist mit seiner Weisheit am Ende. In der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth sind tiefe Spaltungen entstanden. Die eine Gruppe sagte: Petrus, der ist eine echte, durch seinen Lebensweg an der Seite des Herrn beglaubigte Autorität. Ein echter Leader, der uns sagt, wo’s lang geht. So einen brauchen wir! - Die andere Gruppe propagierte: Nein, den können wir gar nicht hören. Viel zu konservativ und eng. Aber dieser Apollos, ein mitreißender Redner, charismatisch und intellektuell auf der Höhe der Zeit, mit dem haben wir Zukunft! - Und Paulus? Naja. Auch er ist zwar gebildet, aber sein rhetorisches Talent findet er selbst überschaubar. Lieber greift er in der Studierstube zur Feder und schreibt gelehrte Briefe. Zum Beispiel, was uns in diesem Predigttext überliefert ist: „Worum geht es hier eigentlich? Um unsere Weisheit? Wer am klügsten rüberkommt, in den Dialog mit den geistigen Größen der Zeit gehen kann? Oder geht es um Gottes Weisheit?“ - Für Paulus ist die Antwort klar. Es geht um das - wie er es nennt - tiefe Geheimnis, dass in dem Schrecken einer Hinrichtung am Kreuz höchste Weisheit verborgen ist. Gottes Weisheit eben. Mit seiner Weisheit, wie gesagt, ist Paulus am Ende. Aber über dieser Erkenntnis gerät er wieder und wieder ins Staunen.

I.

Direkt vor diesem Abschnitt erklärt Paulus der in die genannten Fraktionen gespaltenen Gemeinde in Korinth ganz klar: Die Botschaft vom gekreuzigten Christus, der gerade durch die Ohnmacht am Kreuz sich als Sieger, als Erlöser der Welt erweist, ist ein Ärgernis, eine Torheit. Ein Skandal und ein Rätsel für den gesunden Menschenverstand. Stellen wir uns einmal vor, das stünde nicht in der Bibel, wäre nicht vom großen Paulus gesagt: wir würden abwinken! Die Predigt vom Gekreuzigten, von dem, der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, ein Skandal und eine Torheit? Das verstehe, wer will! Wir hätten’s gerne andersrum: Das Evangelium als mitreißende Botschaft. Keine Torheit, sondern höchste Weisheit, von keiner Weisheit dieser Welt zu erreichen.

Aber wir feiern Gottesdienst nicht, um unsere Wünsche an Gott in den Mittelpunkt zu stellen, sondern um darauf zu hören, was er uns durch sein Wort in der Bibel sagen will. Wenn man so liest im Neuen Testament, dann merkt man, dass es schon den frühen Christen zugesetzt hat, dass ihr Herr kein strahlendes Alphatier war - sondern ein Gekreuzigter, ein am Galgen als Verbrecher zwischen zwei anderen Verbrechern Gehenkter. Ein Erhängter ist ein grauenhaftes Bild. Der allmächtige Gott, grausam hingerichtet: wenn das nicht wirklich ein Skandal ist! Man muss sich einmal klar machen, was mit einem Todesurteil ausgesagt ist: Du bist nicht mehr wert, in der Welt zu leben; aus unserem System von Normen, Werten und Idealen hast du dich definitiv und für immer verabschiedet. Wo kämen wir hin, wenn wir gelten ließen, was du bist!

Paulus hat nichts getan, um diesen Skandal abzumildern. Dass er das, was menschlich verständlich wäre, um keinen Preis tun wollte, dass er sich vehement dagegen wehrte, die Sache irgendwie zu beschönigen - das meint er, wenn er hier sagt: „Ich beschloss, nichts unter euch zu wissen als allein Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten“. Liebe Gemeinde, wir führen in unseren Liedern und Gebeten den Gekreuzigten zwar sehr selbstverständlich im Mund. Aber angesichts dessen, was der Apostel uns hier ins Stammbuch schreibt, sollten auch wir uns ehrlich machen und einfach zugeben, dass der gekreuzigte Jesus uns auch irgendwie peinlich, unangenehm ist. Ich denke dabei weniger an viele Bilder, in denen man das schreckliche Leiden Jesu ins Süßliche, Sentimentale gezogen hat - die „Christliche Kunst“, manchmal auch die Musik („Ruhe sanfte, sanfte Ruh“) hat da so allerhand angerichtet. Aber das ist nicht das eigentliche Ärgernis. Zu den schlimmen Erinnerungen an den Krieg gehört der Anblick derer, die die Nazis noch in den letzten Tagen vor dem Untergang an Bäumen und Laternen aufgehängt haben. Anna Seghers hat das in ihrem großen Roman „Das siebte Kreuz“ erschütternd dargestellt. Mitleid kam kaum auf, weil stärker das Grauen war: da waren Menschen gezeichnet, gestempelt von etwas Unsagbaren, das Paulus den „Fluch“ genannt hat. „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“, sagt er im Galaterbrief. Man erlebte damals nicht nur den Tod unschuldiger Menschen. Vielen war es, als sei Gott selbst gestorben. Das ist der wahre Skandal, den Paulus hier meint: Am Kreuz hängt nicht einfach ein großer, unschuldiger Mensch. Vom Kreuz Jesu geht der Geruch der Verwesung Gottes aus.

II.

Handfertiger, billiger ist das „Geheimnis Gottes“, das Paulus verkündigen wollte, nicht zu haben. Gestorben, hilflos verendet ist der Gott, von dem die Menschen träumen, von dem sie sich die Erfüllung ihrer Wünsche erwarten, den sie über den Sternen oder in der Tiefe ihrer eigenen Seele suchen. Den sogenannten „lieben Gott“ gibt es nicht mehr, den man beschwören, für politische Zwecke vereinnahmen oder dessen Gunst man sich durch Opfer erkaufen wollte. Leer ist der Platz eines Gottes, den man zum Zentrum einer Weltanschauung machen will, sei sie kapitalistisch, sozialistisch, kirchlich oder wie auch immer. Das alles sind ja sehr menschliche Sehnsüchte. Wir alle tragen sie in uns. Und darum ist es verständlich, wenn die Botschaft von einem Gott, der so anders ist, der so quer steht zu unseren Bedürfnissen, für uns ein Ärgernis, ein Skandal ist. Martin Luther King hat einmal gesagt: „Wer sich im Angesicht des Kreuzes noch nicht geohrfeigt gefühlt hat, dass ihm die Backen glühten, der hat das Kreuz noch nicht verstanden“.

Aber, und darauf kommt es nun an: das Wort vom Kreuz soll ein produktives Ärgernis sein! Ein Skandal, der - anders als die vielen Skandale in unserer Welt - uns nicht in Strudel und Abgründe an Peinlichkeit reißt, sondern der für uns, um unseretwillen geschieht. Denn das ist jene „heimliche, verborgene Weisheit Gottes“, wie Paulus sie nennt, die so anders ist als unsere Weisheiten: Gott hat sich den Schrecken der Welt ausgesetzt und sich das alles nicht erspart. Ihnen hat er sich selbst preisgegeben, und eben damit hat er ihnen ihre Macht genommen. Da, wo Menschen ganz schwach und klein, mit ihrer Weisheit am Ende sind, da ist der Boden, wo Gottes Kraft und Weisheit wächst. Da, wo Menschen, anstatt sich auf der Suche nach persönlichem Glück und Selbstverwirklichung aufzureiben, der Welt ungeschminkt ins Auge sehen, wie sie ist, und bereit sind, im Leiden Gott zu begegnen anstatt ihn zu bestreiten, da werden sie auch erfahren, dass Gott da ist. Denn seit dem Kreuz, diesem furchtbaren Werkzeug, mit dem er zu Tode gefoltert wurde, gibt es keine Schrecken mehr, in denen Gott nicht wäre. Mir ist unvergesslich, wie vor Jahrzehnten ein alter Pastor, der wegen seines Widerstandes gegen die Nazis Jahre im Gefängnis zubrachte, von dem Grauen dort erzählte. Ich konnte das nur ertragen, sagte er, weil ich wusste, dass auch das getragen war, dass auch das zu der Finsternis gehörte, in der Jesus umkam.

Paulus hat in Korinth keine Antrittsbesuche bei den Oligarchen und Honoratioren gemacht. Er ging zu den kleinen Leuten, ins Hafenviertel. Den dort in prekären Umständen lebenden Menschen hat er den nahegebracht, der am tiefsten im Elend steckte. Obwohl er aus ausgebildeter Rabbiner ein Intellektueller aus dem Lehrbuch war, hatte er jedes Mal Angst, wenn er den Mund aufmachte, weil er wusste: alle meine Worte sind umsonst, wenn nicht Gott selbst sie bestätigt. Und das hieß für Paulus: jeder macht sich verdächtig, der den Gekreuzigten anders predigt als mit Furcht und Zittern. Er wollte kein gefeierter Kanzelredner sein. Das hat er denen überlassen, die einen Christus verkündigten, der jedem wohl und keinem weh tut. Zu denen zu gehen, um die andere einen weiten Bogen machte war für Paulus ein Erweis von Gottes Kraft: weil es für Gott keine hoffnungslosen Fälle gibt. Am Kreuz hat Gott ja alle Hoffnungslosigkeiten der Welt sich aufgeladen.

III.

Wenn aber keiner unter uns für Gott ein hoffnungsloser Fall ist, dann ist es uns schlichtweg verboten, andere, oder uns selbst, zu hoffnungslosen Fällen zu stempeln. Dann gilt: Schluss damit, Schuld immer nur die der anderen sein zu lassen. Der Gekreuzigte verbittet sich das und sagt uns: Lass es sein, auf andere zu zeigen! Das ist ein Gift, das sich nicht erst seit Corona, aber seitdem in einem schrecklichen Ausmaß als Gift in unser Gemeinwesen eingeträufelt hat. Gott sagt uns: Lass es sein! Du kriegst davon ein hartes Herz und dein Gesicht wird auch nicht schöner. Und drei Finger deiner Hand zeigen ja auf dich selbst zurück. Sicher haben die anderen auch ihre Schuld. Aber um die habe ich mich schon gekümmert und sie ihnen abgenommen. Deine übrigens auch. Also lass das meine Sache sein! Und hör mit dem Krieg auf. Du wirst sehen: es ist viel schöner so.

Wer hat also Recht, das Kreuz oder wir? Jesus, der sich dahingab, oder wir, die wir uns selbst behaupten, unser Prestige, unsere Überzeugungen? Paulus ist sich da seiner Sache sicher - nein, nicht seiner, sondern Gottes Sache. „Uns aber, die wir gerettet werden, ist’s eine Gotteskraft“. Eine Kraft, die uns entdecken lässt: wir alle sind voreinander und erst Recht vor Gott im Unrecht. Wir alle wüssten nicht mehr aus noch ein, wenn wir nicht das wüssten: so viel können wir gar nicht falsch machen, wie Jesus am Kreuz wieder gut macht.


AMEN.

Gottes Logik der Erwählung

Predigt gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Von einem unbekannten sog. Gottesknecht ist hier im zweiten Teil des Jesajabuchs die Rede. Was hier von ihm gesagt ist, soll auch für alle die gelten, die es nicht als Herabsetzung, sondern als Auszeichnung nehmen, wenn man sie „Knechte“ nennt: Gottes Knechte wohlgemerkt. Paulus jedenfalls hat sich selbst mit allem Selbstbewusstsein „Knecht Jesu Christi“ genannt (Röm 1,1).

I.

Dass Knecht genannt zu werden eine Auszeichnung ist, das ist uns allerdings fern wie nur was. Für uns ist dieses Wort negativ besetzt. Wir denken an den geknechteten, unfreien Menschen, der nicht frei sein kann, nicht frei sein soll. Im allgemeinen Sprachgebrauch gibt es deshalb keine Knechte mehr - außer als Schimpfwort. „Folterknecht“, Henkersknecht“ etc. In den Monarchien gibt es Untertanen, bei uns gibt es Beschäftigte, Weisungsgebundene, es gibt Bedienstete und im schlimmsten Fall Abhängige.

Knechte - die gibt es nur noch inkognito. Aber so, verschwiegen und uneingestanden, gibt es sie reichlich: überall da nämlich, wo ein Mensch seine Macht über andere Menschen missbraucht, wo er die Abhängigkeit anderer ausnutzt. Da werden Menschen, um das Bild unseres Textes zu nehmen, wie Rohre geknickt, damit sie sich nicht mehr aufrecht halten können und dadurch erst recht abhängig sind von dem, der sie dann stützt und aufrecht hält - solange er will. Er kann sie jederzeit auch fallen lassen. In diesem üblen Sinn gibt es wohl viele äußerlich freie Menschen, die in Wahrheit moderne Knechte sind. Die Zahl derer ist riesig, die in den Beratungsstellen Hilfe suchen wegen Mobbing am Arbeitsplatz, dem sie sich ausgeliefert fühlen, weil sie um den Verlust ihrer Stelle fürchten. Oder man denke an die vielen Frauen, die von ihren Männern immer wieder mit physischer Gewalt klein gehalten werden. In Lockdown-Zeiten hat das, wie man immer wieder lesen kann, beängstigend zugenommen. In früheren Zeiten war das anders. Da musste Knecht kein Schimpfwort sein. Ein guter und treuer Knecht hielt etwas auf sich und konnte von seiner Herrschaft durchaus mit Achtung behandelt werden. Aber er blieb, und war er noch so gut und treu, eben ein Knecht. Er war nicht sein eigener Herr, er blieb abhängig.

Nicht so der „Gottesknecht“ aus dem Jesajabuch. Vielleicht ist Ihnen bei der Textverlesung aufgefallen, dass Gott in unserem Text den Knecht, auf den er sich stützen will, als den Erwählten vorstellt: „Siehe, das ist mein Knecht..., mein Erwählter“. Eine seltsame Kombination. Das passt doch nicht zusammen: Knecht und Erwählter! Einen Knecht ließ man arbeiten. Er hatte seine Pflicht zu tun. Hatte er die eine Aufgabe erledigt, dann wartete schon die nächste. Anders gesagt: Ein Knecht bringt seine Schuldigkeit niemals hinter sich. Meint er, sie jemals getan zu haben, kann er gehen, wie Shakespeares Mohr, weil er entbehrlich, ersetzbar ist. Ein anderer Knecht tut’s auch. - Einen Erwählten aber lässt man nicht gehen. An einem erwählten Menschen hat der Erwählende Gefallen - nicht weil er etwas für ihn tut, sondern weil er etwas für ihn ist. Deshalb will er nicht, dass er geht. Im Gegenteil: wo du hingehst, will ich auch hingehen - das ist die Sprache von Menschen, die sich erwählt haben. Die Sprache der Liebe. Sie wollen zusammenbleiben, weil sie füreinander unersetzbar geworden sind. - Knecht und Erwählter: zwei Welten prallen da aufeinander. Und dennoch heißt es: „Siehe, das ist mein Knecht, auf den ich mich stütze, mein Erwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat“. Wie geht das zusammen?

II.

Der unbekannte „Gottesknecht“ aus unserem Predigttext gehört zu den großen, umrätselten Gestalten in der Bibel. Seit über 100 Jahren arbeiten sich die gelehrten Ausleger daran ab, wer oder was sich hinter dieser Gestalt verbirgt. Manche meinen sogar, es sei gar keine Einzelperson gewesen, sondern der „Gottesknecht“ sei ein typologischer Ausdruck für das ganze Gottesvolk und seine besondere Sendung. Andere sagen wiederum ganz anderes. Sicher ist nur, dass er in der schweren Zeit der Verbannung des Gottesvolks in Babylon gelebt hat. Er konnte also noch nichts von dem gekreuzigten und auferstandenen Christus wissen. Dennoch hat die Kirche die Worte Gottes über ihn - man nennt sie in der Fachsprache „Gottesknechtslieder“ - von Anfang an auf Jesus Christus bezogen und in diesem „Gottesknecht“ einen geheimnisvollen Herold, einen Vorläufer des Gottessohnes gesehen. Des einen ewig Erwählten also, von dem Paulus in einem Hymnus gesagt hat: Er nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,7+8). Denn hier wie dort stimmt zusammen, was sonst nur als schroffer Gegensatz erscheint: erwählt, geliebt - und dennoch Knecht. Und darüber hinaus sagt nun die Kirche, seit es sie gibt, dass das auch für alle Mitarbeiter Gottes zutrifft. Also auch für uns. Wir alle sind erwählt und Knechte zugleich. Luther hat das genial in einen berühmten Doppelsatz gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Damit wir das wirklich verstehen, müssen wir darauf achten, was das für ein Herr ist, der sich einen Knecht in bedingungslosem Gehorsam hält - und ihn zugleich voller Liebe erwählt hat. Was es mit einem solchen Herrn auf sich hat, das kommt an dem heraus, was sein Knecht tut. Er bringt, so heißt es in unserem Text, Gottes Recht unter die Völker. Und er tut das, so wird hier weiter gesagt, ohne dabei das geknickte Rohr zu zerbrechen und den glimmenden Docht auszulöschen. Er bringt auf andere, nämlich auf Gottes Weise Recht in die Welt. Was bedeutet das?

Recht unter die Völker zu bringen, das war seit jeher eine große Sache. Mehr Achtung konnten die Völker früher ihren Herrschern nicht zollen, als wenn sie sie als gerecht bezeichneten. Der Kühne, der Große, selbst der Weise war nicht so geschätzt bei seinen Untertanen wie der Gerechte. Recht unter die Völker zu bringen, bis zu den entferntesten Inseln, wie es hier in einem schönen Bild ausgedrückt ist: das war und ist ein so heiß ersehntes wie immer noch weit entferntes Ziel der Menschheit. In der großen Mehrheit der Staaten dieser Erde ist Korruption an der Tagesordnung. Auch in mancher der westlichen Demokratien, die eigentlich als Vorbilder eines Rechtsstaats gelten. Erst dann, wenn überall auf Erden gerecht Recht gesprochen wird, kann man von der Menschheit sagen, dass sie menschlich ist. Deshalb lohnt es sich nie aufzuhören, für das Recht zu streiten und zu arbeiten. Und deshalb beeindrucken Menschen wie etwa der vor zwei Wochen verstorbene Desmond Tutu so sehr, die das ein Leben lang getan haben.

Der „Gottesknecht“ ist ein solcher Streiter und Arbeiter für das Recht. Indem er Recht unter die Völker bringt, bringt er Gott unter die Völker. Vor allem aber ist wichtig, wie er das tut. Dem Recht Geltung zu verschaffen, das geht in dieser Welt nicht ohne Gericht und Rechtsspruch. Die irdische Gerechtigkeit verlangt, dass Schuldige entsprechend der Schwere ihrer Schuld verurteilt werden. Suum cuique, jedem das Seine: Der alte römische Rechtsgrundsatz, nach dem jeder ohne Ansehen seiner Person strikt nach dem Maß seiner Tat zu beurteilen ist, ist bis heute ein Fundament aller Rechtsstaatlichkeit. Das antike Recht kannte das Ritual, über dem schuldig Gesprochenen einen Stab zu brechen. Und man hat damals auch ein für den Angeklagten brennendes Licht gelöscht, wenn man ihn für schuldig erkannt hatte.

Der „Gottesknecht“ spricht anders Recht. Das „geknickte Rohr“, also den schon angebrochenen Stab zerbricht er nicht, und den „glimmenden Docht“ löscht er nicht aus. Die für die Welt schon sichtbar Gerichteten - er richtet sie nicht hin, sondern begnadigt sie. Der Gottesknecht bringt also das Recht der Gnade unter die Völker. Und so bringt er Gott, bringt er einen gnädigen Gott unter die Menschen: der gerade mit denen unter uns, mit denen wir nichts mehr anfangen können oder wollen, wieder anfangen will. Wo bei uns verurteilt und hoffentlich gerecht verurteilt wird, bricht er den Stab nicht. Gott steht dafür ein, dass jeder Mensch nicht nur Täter, sondern zuerst und zuletzt Person ist, und dass er als Person noch mehr und anderes ist als seine Tat. Kein Mensch darf mit seinem Tun, und sei es noch so grauenhaft, ganz und gar identifiziert werden. „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch“: diesen einfachen, und einfach wahren Satz hat vor 21 Jahren der damalige Bundespräsident Johannes Rau auf dem Erfurter Domplatz gesagt, bei der Trauerfeier für die von einem Mitschüler umgebrachten Schüler und Lehrer eines Gymnasiums. Ein in der Situation damals auch mutiger Satz. Einfacher, klarer kann man kaum ausdrücken, was in der Politik gerne „das christliche Menschenbild“ genannt wird. Deshalb können Menschen, die an diesen Gott glauben, nicht für die Todesstrafe sein. Und deshalb ist es mir rätselhaft, dass in einem so christlich geprägten Land wie den USA eine große Mehrheit der Leute, die sonntags treu in die Kirche gehen, so entschiedene Anhänger der Todesstrafe sind.

III.

Unser Text weiß es besser: Wenn wir mit einem Menschen nichts mehr anzufangen wissen, aber auch wenn jemand mit sich selbst nichts mehr anfangen kann, wenn er am Ende ist - dann ist da immer noch der Gott, der mit ihm nicht am Ende ist. Den glimmenden Docht, dem jedes menschliche Leben gleicht, solange noch ein Herz in ihm schlägt, wird er nicht auslöschen. Und nun, liebe Gemeinde, fangen wir vielleicht an zu verstehen, was es heißt, dass wir Gottes Knechte und zugleich Gottes Erwählte sind. Jemanden erwählen, wie gesagt, heißt Gefallen an ihm haben, bei ihm bleiben und mit ihm immer etwas anfangen wollen. Gott kann und will in jeder, auch in der aussichtslosesten Lage noch etwas anfangen mit uns.

Sicher, nach dem Schema der Welt geht es anders zu. Recht muss durch Macht durchgesetzt werden. Immer wieder gab es auch solche, die unter Berufung auf Jesus die Welt mit Gewalt verbessern wollten. Jesus, der Gottesknecht, sieht das anders. Als ihm der Großinquisitor in Dostojewskis berühmter Legende erklärt, dass die Kirche Gewalt anwenden muss, weil sonst alles aus den Fugen gerät, antwortet Jesus ihm, indem er kein Wort sagt, sondern ihn küsst. Er hat die weltlichen Mittel abgelehnt. Immer wieder ist seine Kirche von ihm abgefallen, indem sie es auf „weltliche“ Weise versucht hat: mit Prunk und Pomp, mit Kreuzzügen und Scheiterhaufen, mit moralischem und gesellschaftlichem Druck. Jesus aber geht unaufdringlich durch die Welt. Er weiß, dass man mit Zwang die Menschen nicht für Gott zurückgewinnen kann. Druck schafft nur Gegendruck. Wo ein Mensch sich in aller Freiheit von Jesus anrühren und verändern lässt, da setzt sich Gottes Herrschaft durch - und damit sein Recht. So arbeitet Jesus, der erwählte Gottesknecht, für die Erwählung der Menschheit. Und so sind auch wir durch unsere Taufe erwählt.

Das ist allerdings wirklich eine Arbeit mit geknickten Rohren und glimmenden Dochten. Nach dem Leistungsprinzip, nach dem Motto: Du bist das, was du kannst und hast, haben sie wenig Wert. Ein geknicktes Rohr, ein angebrochener Stock geben nichts her. Man kann sich darauf weder stützen noch damit schlagen. Man zerbricht ihn besser und wirft ihn weg. Das ist unsere Logik des Verbrauchs. Die Logik der Erwählung hingegen gilt den geknickten Menschen, den angeknacksten Existenzen. Sie dürfen um Gottes willen nicht zerbrochen werden.

Genauso mit dem glimmenden Docht. Ein nur noch glimmendes Teelicht wärmt keine Kanne mehr. Man löscht es besser und ersetzt es durch eine neues. Aber ein glimmendes Lebenslicht, ein mühsam sich aufrecht haltendes Menschenleben, die vielen traurigen Gesichter, aus denen nur Hoffnungslosigkeit spricht - die fallen unter die Logik der Erwählung. Da gilt es, den glimmenden Docht ja nicht auszulöschen, sondern mit ihm in Gottes Namen wieder etwas anzufangen.

Gottes Knechte müssen nicht groß von sich reden machen. Nicht wir sind interessant. Interessant ist der Gott, der das erwählt, was vor der Welt schwach, unansehnlich und verachtet ist: eben glimmende Dochte und geknickte Rohre. Das ist dann die Arbeit der Liebe. Die Liebe hat keine Gewalt, sie ist wehrlos, das weiß eine Mutter, und wer das Schicksal einer Ehe vor Augen hat, der weiß es auch. Wer am meisten liebt, kann sich am wenigsten wehren. Das Kreuz zeigt uns: auch Gottes Liebe ist wehrlos. Man kann sie verlachen, wie damals, als er am Kreuz hing. Man kann sie vergessen und mit Füßen treten. Aber man kann sich in ihr auch bergen. Sie hat keine Gewalt, aber sie hat Kraft. Das ist ein Unterschied, und man kann sich noch daran halten, wenn die Gewalten vergangen sind.


AMEN.

Predigt gehalten von

Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des ZDF-Neujahrsgottesdienstes aus der Frauenkirche

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Liebe Gemeinde an den Bildschirmen,

zu meinen Kindheitserinnerungen gehört, dass meine Eltern eine Zeitlang großen Wert darauf legten, dass wir Kinder Sonntags zum familiären Kirchgang ein weißes Hemd tragen. Ich fand das natürlich doof. Aber ich weiß noch gut, wie sich mit der Zeit dann doch so eine Vorstellung in mir breit machte, dass man nicht einfach so zu Gott kommen kann. Man muss sich schon fein machen. Also ein weißes Hemd - eine weiße Weste? -, um bei ihm wirklich willkommen zu sein.


I.

Mehr als 50 Jahre ist das her. Die Losung für das neue Jahr hat mich daran denken lassen. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Ein schönes, warmes Bibelwort. Ein klares, einfaches Versprechen. An der Schwelle zum neuen Jahr tut es mir gut zu hören: Vor der Tür zu Gott steht keiner und kontrolliert meine Performance. Da geht es anders zu als vor der Disco, wo der Türsteher nach Gutdünken den Daumen hebt oder senkt, wer reinkommen darf. Es tut mir auch deshalb gut, dass Gott keine Einlassbedingungen aufstellt, weil ich weiß, dass das für viele, die darum ringen, einen Zugang zu Gott zu bekommen, gar nicht so selbstverständlich ist.

Denn wenn man genauer hinschaut, dann könnte man dieses Jesuswort ja auch so hören, dass sein schönes Versprechen fragwürdig erscheint. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Der erste Teil des Satzes „Wer zu mir kommt“ sagt ja ziemlich klar: ich muss erst einmal den Weg zu ihm gefunden, es dahin geschafft haben. Den ersten Schritt muss ich machen. Scheint es jedenfalls. Du musst schon glauben, dich ernsthaft bemühen, sonst erfährst du Gottes Liebe und Barmherzigkeit nicht. Über Jahrhunderte haben solche Mahn- und Moralpredigten Übles angerichtet. Bei manchen Christ*innen wirkt das bis heute nach. Zwar sagt Jesus von sich „Ich bin die Tür“. Aber er sagt eben auch: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“. Bin ich auserwählt? Oder droht mir am Ende das Nichts, lande ich bei denen, von denen es heißt: „Die im Dunkeln sieht man nicht“? Für nicht wenige Menschen ist das bitter erfahrene Wirklichkeit. Ersehnte, lange gesuchte Türen bleiben verschlossen. Ich komme nicht da rein, wo die anderen sind, die im Licht. Ich bleibe buchstäblich „draußen vor der Tür“. Gewogen und zu leicht befunden.

Gibt uns diese Jahreslosung also doch nicht nur eine schöne Einladung, sondern durch die Hintertür auch das mit: Gott wird nur den nicht abweisen, der zu ihm gekommen ist, der wirklich etwas von ihm will!? Gilt bei Gott tatsächlich die schöne Devise: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit? Oder ist die Angst berechtigt, dass die Tür bei Gott auch verrammelt bleiben kann? Das dann auch alles Rütteln an der Klinke, alles Rufen „Ich will da rein!“ nichts nützt?

Bei mir hat es damals schon seine Zeit gebraucht, bis mir aufgegangen ist: Nein, Gott schaut nicht auf die porentief reine Weste. Bei ihm geht es nicht so, dass ich mir einhämmern muss: Ich bin okay, alles okay! Gott heißt mich anders willkommen: Nein, manchmal bist du gar nicht so okay, ich sehe auch die Schatten und Peinlichkeiten bei dir - denn du bist ja ein Mensch. Aber gerade so habe ich dich unendlich lieb! Deshalb steht meine Tür sperrangelweit offen für dich.

Das war ja schon die weihnachtliche Erfahrung der Hirten in der Heiligen Nacht. Die kitschige Idylle, die die Weihnachtstradition um sie herum aufgebaut hat, hat mit dieser Berufsgruppe in Wahrheit wenig zu tun. Selbst wenn einer von ihnen die Idee gehabt hätte, für die Begrüßung des Krippenkinds wäre ein weißes Hemd angemessen - sie hätten gar keins gehabt! Ausgerechnet die sind nicht nur die ersten irdischen Adressaten der unglaublichen himmlischen Botschaft von der Geburt des Erlösers. Sie sind auch die ersten, die nach hektischem Gerenne den Viehstall vor den Toren der Stadt erreichen - und dort ganz persönlich erfahren, was dieses Baby in der Futterkrippe 30 Jahre später von sich sagen wird: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“. Fassen, begreifen, was das für sie bedeutet, können sie das jetzt noch nicht. Sie können jetzt erstmal nur zur Ruhe kommen und staunen: „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben.“

II.

Ganz anders, aber doch irgendwie ähnlich wie bei den Hirten ist es mit dem Zollbeamten Zachäus, dessen erstaunliche Geschichte wir vorhin gehört haben. Als Geldabpresser ist auch er eine finstere Figur. Dieser neureiche Parvenü klettert wie ein Schuljunge auf einen Baum. Ein unmöglicher Mensch in einer unmöglichen Situation. Kaum hat Zachäus sich da oben in den Ästen eingerichtet, macht er die Erfahrung, dass Jesus alle Klimmzüge, die Zachäus unternommen hat, um ihn zu sehen oder selbst gesehen zu werden, souverän unterläuft. „Zachäus, komm schnell da oben runter, heute Nacht muss ich bei dir bleiben!“ sagt Jesus zu dem tragikomischen Mann im Baum. Er lädt sich, ganz unkonventionell, als Gast bei Zachäus ein.

Und, das ist auch wichtig: Jesus redet ihn mit seinem Namen an. Zachäus, das heißt wörtlich übersetzt: Gott gedenkt deiner. Darin steckt: Du, Zachäus, bist nicht nur einer, der es abgezockt zu Reichtum gebracht hat, du bist auch nicht nur einer, dessen Geschichte von geheimer Tragik umweht ist. Nein, zuerst bist du ein Mensch. Das heißt: Gott hat schon an dich gedacht, als an dich noch gar nicht zu denken war, ehe du davon wusstest. Und jetzt ist der Moment, wo du erfahren sollst: Gott meint jetzt dich, gerade dich, der du diesen Namen trägst, mit dir hat er etwas vor, was dein Leben verändern kann. Deshalb, schnell runter von deiner unmöglichen Lage auf diesem Baum. „Heute muss ich in deinem Haus einkehren“: Heute, nicht morgen oder in zwei Wochen. Und ich komme zu dir, du musst dir nicht den Kopf zerbrechen, wie du zu mir kommst! Weil ich immer schon an dich gedacht habe, immer schon da war, auch wenn du es gar nicht gemerkt hast.

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“: so ist das also auch mit unserer Jahreslosung. Zu Gott kommen, mich zu ihm in Bewegung setzen, das kann ich überhaupt nur, weil er sich längst zu mir aufgemacht hat, weil er zu mir gekommen, immer schon da ist in meinem Leben. Irgendwie ist das so wie in der alten Legende von den beiden Mönchen. Die geht so:

Zwei Mönche lasen in einem Buch, am Ende der Welt gäbe es einen Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren. Sie beschlossen loszuziehen und den Ort zu suchen. Sie durchwanderten die Welt, bestanden Gefahren, erlitten Entbehrungen. Sie suchten den Ort - eine Tür sei dort, man brauche nur anzuklopfen und befinde sich bei Gott. Schließlich, nach Jahren des Wanderns, fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür. Bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete. Als sie eintraten, standen sie - daheim in ihrer Klosterzelle. Da begriffen sie: Der Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren, ist auf dieser Erde, an dem Ort, den Gott uns zugewiesen hat. (Nach Ernst Lange)

Ich komme nochmal aufs weiße Hemd meiner Kindheit zurück. Kennen Sie das Bestattungsritual der gekrönten Habsburger Häupter? Zuletzt vor 30 Jahren in Wien zu erleben, als die letzte Habsburgische Kaiserin Zita gestorben war. Vor dem Portal zur Kapuzinergruft steht der Zeremonienmeister mit dem Sarg und klopft. „Wer begehrt Einlass?“ ruft von drinnen ein Mönch. Der Zeremonienmeister antwortet protokollarisch korrekt mit einer Kaskade von Titeln: „Ihre Majestät, Zita, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, Königin von Böhmen, Dalmatien, Kroatien, Slavonien, Galizien,“ und und und. Der Mönch lässt dazu knapp verlauten: „Ich kenne sie nicht.“ - Wieder klopft der Zeremonienmeister. Wieder die Frage von innen: „Wer begehrt Einlass?“ Der Zeremonienmeister fährt mit noch mehr Titeln der Verstorbenen auf. Und wieder dieselbe lapidare Antwort von innen. - Dann wir ein drittes Mal angeklopft. „Wer begehrt Einlass?“ - „Zita, ein sterblicher, sündiger Mensch“, heißt es dieses Mal vom Zeremonienmeister. Darauf der Kapuzinermönch: „So komme sie herein!“ Dann öffnet er die Flügeltüren.

Eigentlich sind wir ja alle gekrönte Häupter. Gekrönt mit Gottes unendlicher Liebe. Sie wird uns auch durch das annus domini, das Jahr des Herrn 2022 tragen. Garantiert.

AMEN.

2021

Fleisch von meinem Fleisch

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Weihnachten ist die Kinderzeit im Jahr. Und auch wir „Großen“ spüren, wenn Weihnachten wird, dass unser Kind im Manne und in der Frau wieder erwacht, weil so viele sinnliche Erinnerungen aus der Tiefe wieder empor steigen. Was habe ich vor Augen? Etwa das von meinen Eltern am 23. Dezember abends geheimnisvoll hergerichtete und danach hermetisch abgeschlossene Weihnachtszimmer. Die karge Linsensuppe, die es am 24. immer zu Mittag gab. Die Anspannung am Nachmittag vor dem Krippenspiel in der Kirche, und das Herzklopfen später daheim, wenn wir auf unseren Zimmern still warten sollten, während die Eltern im Weihnachtszimmer den Baum entzündeten, behängt mit Strohsternen, roten Äpfeln und Goldlametta. Und dann der Höhepunkt, das Klingeln mit einer hellen Glocke zum Zeichen, dass alles fertig war. Und zur Melodie von „Ihr Kinderlein kommet“, das meine Mutter am Klavier intonierte, öffnete sich das Zimmer, in einen uns Kindern überirdisch erscheinenden Lichterglanz getaucht. Der Duft von Tanne, Kerzen und den erzgebirgischen Räuchermännchen füllte das Zimmer aus.

I.

Sie alle werden ihre eigenen Kindheitserinnerungen da eintragen können, seien sie ähnlich oder ganz anders. Die Aufregung vor dem verschlossenen Zimmer kennen bestimmt alle. Das gemeinsame Singen vor der Bescherung viele sicher auch. Aber mussten Sie auch Blockflöte vorspielen oder ein Gedicht, oder gar die Weihnachtsgeschichte auswendig aufsagen? Und immer warten, warten: wann dürfen wir endlich auspacken? Erst nach dem Essen, oder - was die meisten Kinder natürlich wollen - davor, gleich nach dem Singen?! Ja, und überhaupt das Essen: gab es bei Ihnen noch den klassischen Heringssalat, mit dem ich an Heiligabend groß geworden bin, der eben daran erinnerte, dass am 24.12. ja eigentlich noch Advents-, also Fastenzeit ist? Oder war es bei Ihnen schon etwas freigeistiger, mit Würstchen und Kartoffelsalat - vielleicht sogar Pasteten? Oder fallen Ihnen eher die Heiligabende ein, an denen Sie selbst schon erwachsen waren und mit Ihren Kindern gefeiert haben? Wie die vor lauter Anspannung nur noch quengeln oder weinen können. Wie man darüber auch als Großer ganz angespannt werden kann. Und dann beim Auspacken strahlt - oder aber auch arg enttäuscht sein kann.

„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“ Weihnachten ist Kinderzeit. Kinder brauchen Geborgenheit, und das heißt vor allem anderen: das intuitive Wissen um Zugehörigsein. Der erste Satz aus unserem Text sagt uns aber: das meint auch die Erwachsenen. An Weihnachten holt uns das auch dann ein, wenn wir dem Kindsein längst entwachsen sind. Karten, Reisen, Besuche, Geschenke, das Festessen, Spiele, Spaziergänge, Rotwein am Abend: durch all das vergewissern wir uns, wo wir hingehören. All dies will ein Gefühl des Zuhauseseins, der Verortung in uns stärken. Zu Weihnachten spüren wir, ob das wirklich stimmt mit dem Dazugehören, den Bindungen, der Heimat. Darum ist Weihnachten ein so hochsensibles Fest, überfrachtet mit Erwartungen und Hoffnungen, die eben deshalb so leicht ins schlimme Gegenteil kippen können. Viele Filme, die alle Jahre wieder in diesen Wochen die Fernsehprogramme füllen, leben genau von dieser Spannung.

Wer freut sich über mich, wenn ich vor der Tür stehe, lässt mich spüren: Schön, dass Du da bist, komm rein, setz Dich, erzähl! Wo bin zu Hause? Ja, und letztlich auch: Wer bin ich? - Unser auf den ersten Blick wenig weihnachtlich anmutender Predigttext aus dem 1. Johannesbrief sagt uns: Wer wir auch sind, wir sind auf jeden Fall und unbedingt Gottes Kinder. Egal wie souverän und top aufgestellt wird sind. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen, und wir sind’s auch“. Ihr bleibt meine Töchter und Söhne, und deshalb seid ihr Schwestern und Brüder zu dem, der in dieser Nacht zur Welt kam, um euer Bruder zu werden. Das kann uns fremd in den Ohren klingen. Mancher fragt sich wie der jüdische Gelehrte Nikodemus, der im Johannesevangelium ein langes Nachtgespräch mit Jesus hat: Wie kann ich als erwachsener Mensch neu geboren und wieder Kind werden? Ist das nicht Kinderkram? Nichts für autonome Leute, die ihr Leben im Griff haben? Und sind Sie, bin ich als Kinder Gottes zu erkennen? Johannes scheint da schon auch skeptisch zu sein. Kaum hat er von uns als den Kindern Gottes geredet, spricht er seltsamerweise über etwas sehr anderes: Sünde und Unrecht.

II.

Da kommen nun wieder die roten Äpfel ins Spiel. Sie hängen am Christbaum, als unschuldig aussehende süße Frucht, deren Anblick uns erfreut. Aber eigentlich hängen sie da, weil sie an einen anderen Baum erinnern sollen: den Paradiesbaum aus dem 3. Kapitel der Bibel! Das ist der eigentliche Zweck der Übung mit den roten Äpfeln an den grünen Christbäumen. „Von diesen Früchten sollt ihr nicht essen, sonst müsst ihr sterben!“ sagt Gott. Doch Adam und Eva beeindruckt das nicht. Die Faszination ist größer, Gott zu spielen, absolute Freiheit auszuleben. Seither, das ist die tiefe Wahrheit dieser uralten Geschichte, begleiten Sünde und Schuld unser Leben. Wir können ihnen gar nicht entkommen. Was ich auch unternehme, sie ist immer auch dabei, als klammheimlicher, raffinierter Begleiter, die Schuld! Sie ist nicht nur die der anderen, sie ist auch meine eigene.

Die Sünde wird sichtbar in konkreten Verfehlungen, im Übertreten von Gesetzen, von denen viele schon in den 10 Geboten grundgelegt sind. Töten, stehlen, ehebrechen, und - gerade besonders beklemmend - verleumden und hetzen. Sie zeigt sich in vielen einzelnen Taten. Aber die einzelnen Taten sind nicht die Sünde, wie die Bibel sie versteht. Johannes verwendet nicht zufällig die Einzahl. Er spricht von der Sünde, nicht von den vielen Sünden. Sünde ist stärker als jede einzelne Verfehlung. Sie sitzt in meinem Denken und Handeln, sie lockt mich, sie schafft gewissermaßen einen Herrschaftsbezirk um mich herum: Du, es geht doch um dich! Vergiss die anderen! Du musst schauen, wo du bleibst! Sie setzt auf Abgrenzung, Abwertung und ständiges Vergleichen. Und vor allem: sie nährt und facht die Angst in mir an, zu kurz kommen: Die da, was wollen die denn hier? Die leben ja nur auf unsere Kosten. Uns wird nichts geschenkt, denen wird alles nachgeworfen, Sünde setzt auf Misstrauen: „Die da oben“, die „Eliten“, von geheimen Mächten gelenkt, die die ganze Welt beherrschen und überwachen wollen…- So denkt und redet sie, die Sünde. Auch in mir. Sie setzt sich fest, tut so, als wäre Lieblosigkeit ganz normal: Das machen doch alle so…!

Warum aber werden wir von den roten Äpfeln am grünen Baum ausgerechnet zum Fest der Liebe an die Sünde als Quell der Lieblosigkeit erinnert? Das ist doch sowas von unpassend heute. Eine Weihnachtsgeschichte aus meiner Kindheit, die unsere Eltern uns oft vorgelesen haben, ist die Erzählung des russischen Dichters Nikolai Leskow „Der Gast beim Bauern“. Sie handelt von Timofei, einem Jungen, der früh zum Waisenkind geworden ist. Sein Onkel hat Timofei hinterhältig um sein Erbe gebracht. Als er 20 Jahre ist, sticht er bei einem heftigen Streit mit dem Messer auf den Onkel ein. Er wird verurteilt und auf Jahre nach Sibirien verbannt. Dort führt er ein braves Leben, wird fromm, arbeitet und liest und betet viel. In seinem Inneren aber grollt er noch immer dem Onkel, der ihn betrogen hatte. Wieder einmal steht Weihnachten vor der Tür. Während eines innigen Gebetes wird Timofei plötzlich zur Gewissheit, dass dieses Mal Christus selbst bei ihm einkehren wird. Voll gespannter Vorfreude lädt Timofei dazu seine Freunde ein. Der Tisch ist festlich gedeckt. Alle warten sie sehnsüchtig auf Christus, den großen Gast. Timofei wird ungeduldig, unruhig geht er auf und ab. Dann tritt er vor die Ikone, um zu beten. Da - ein lautes Poltern, die Tür fliegt auf, und auf der Schwelle steht ein alter Mann in zerlumpter Kleidung. Zitternd hält er sich am Türrahmen fest. Timofei fällt auf die Knie. Die Freunde hören verstört, wie er erschüttert ausruft: „Christus ist mitten unter uns!“ Der zerlumpte Alte in der Tür ist Timofeis Onkel. Lange war er ziellos herumgeirrt. Für Timofei aber ist er in diesem Moment der Herr selbst, der so sehnsüchtig erwartete Gast, wenn auch in ganz anderer, unerwarteter Gestalt.

III.

Liebe Gemeinde,

mir bringt diese Geschichte etwas vom innersten Geheimnis der Weihnacht nahe. Weihnachten: Gott hat Heimweh nach der verloren gegangenen Welt, er macht sich auf den weiten, mühseligen Weg in sie hinein, er kommt zu uns. Aber er kommt ganz anders als wir uns vorstellen, wie es zugehen müsste, wenn der „König aller Königreich“ der fernen Provinz Erde die Ehre seines Besuchs erweist. Wir mögen ihn für unser persönliches Leben und für diese verwirrte Welt leidenschaftlich ersehnen, wir mögen aus tiefstem Herzen singen „Komm, o mein Heiland, Jesu Christ“, es mag von uns aus alles vorbereitet sein: aber wenn er dann kommt, dann auf eine so überraschende, all unsere Vorstellungen umwerfende Weise wie hier bei Timofei und seinem Onkel. Deshalb dieses Ausrufezeichen am Anfang unseres Textes: „Augen auf! Seht!“ Sehr das Unerwartete, seht, was so leicht zu übersehen ist! Seht, dass der, der seine Herrlichkeit unter ihrem Gegenteil verborgen hat, „elend, nackt und bloß in einem Krippelein“ liegend, sich sogar in der Gestalt eines Menschen verbergen kann, der dafür steht, dass Sünde und Schuld zu uns gehören.

Und darum, liebe Gemeinde, erinnern die roten Äpfel am grünen Christbaum zum guten Schluss auch nicht nur an die Äpfel im Paradies und das Unheil, das mit ihnen gekommen ist. Zugleich und noch viel mehr werden sie auch zu Zeichen der Liebe Gottes, die am Ende immer weiter reicht als alles, womit wir die Verbindung zu Gott gefährden und abschneiden. Auf mittelalterlichen Weihnachtsbildern gibt Maria dem Jesuskind den Apfel in die Hand. Darstellungen von tiefer Symbolkraft: Maria und ihr Kind - die neue Eva und der neue Adam. Die Trennung zwischen Gott und uns Menschen wird aufgehoben, Gottes Liebe nimmt Stallgeruch an, sie erdet sich buchstäblich. Seit Weihnachten sind wir Töchter und Söhne Gottes, Geschwister von Jesus. Er wirft uns die rotbackigen Äpfel zu: nehmt sie, spielt mit den Äpfeln, nutzt eure Freiheit, genießt die Früchte der Erde, die Gott euch schenkt, teilt sie, übernehmt Verantwortung füreinander und für die Welt. Sein Leben zeigt uns, wie das gehen kann. Jesus hat den roten Apfel in der Hand, er wirft ihn uns zu, weil er will, dass der Glanz des Himmels sich auf der Erde ausbreitet. Dass uns die Augen auf- und übergehen, indem wir im Krippenkind den neuen Adam entdecken. Aber das ist doch! Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch! So beginnt die Liebesgeschichte Adams mit seiner Eva, die erste Wahlverwandtschaft der Menschheitsgeschichte. - Aber das ist doch! Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch! So kommt ins Staunen, wer einen gloriosen Gottessohn erwartete, und einen brüllenden Säugling im Futtertrog findet. So beginnt mit dem Gott in Windeln die ungewöhnlichste Wahlverwandtschaft der Geschichte: die zwischen Gott und Mensch. Sie bricht nicht ab, sondern vollendet sich: Aber das ist doch! Tod von meinem Tod! Aber ganz zum Schluss heißt es: Da habt ihr! Leben von meinem Leben, Kraft von meiner Kraft!

„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!“ Als Gottes Töchter und Söhne verlassen wir uns darauf: Wenn schon wir als Eltern unser Kind nicht loslassen, auch wenn es noch so sehr nervt, oder ganz andere Wege geht als wir gedacht und gehofft hatten, wenn wir trotzdem gar nicht anders können als an ihm festhalten: wieviel mehr können wir das von Gott erwarten, der uns liebt wie ein Vater und eine Mutter.

Der schwedische Dichter und Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer hat einmal gesagt: „Wir müssen uns auf vieles verlassen können, um zu leben. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass wir gehalten werden.“ Und er findet ein schönes Bild für unser Menschsein: Es ist im Leben oft so, wie wenn das Licht im Treppenhaus ausgeht. Wir stehen plötzlich im Dunkel. Unsere Hand greift ins Nichts. Findet sie etwas? Findet sie Halt? Plötzlich finden wir das Geländer und das Geländer führt uns Blinde durch das Dunkel ins Licht.

Dasselbe mit unserem Textabschnitt gesagt: Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wenn es erscheint, schauen wir Gott und sind ihm gleich – im Licht.


AMEN.

Weihnachten zum Quadrat  

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist alt, aber sie veraltet nie. Alle Jahre wieder fängt sie uns mit ihrem Zauber ein. Ihr unvergleichlicher Luther-Sound breitet sich in uns aus und lässt es Weihnachten werden. Dabei fängt sie, inhaltlich, überhaupt nicht bezaubernd an, sondern stocknüchtern und prosaisch. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging: am Anfang steht eine behördliche Anordnung. Flächendeckende Volkszählung im ganzen Reich, zum Zweck der Steuerschätzung. Ob es daraufhin damals auch wütende Proteste und Verschwörungstheorien gegen „Die da oben“ gegeben hat? Darüber schweigt sich die Weihnachtsgeschichte zum Glück aus. Für uns frappierend aber ist, wie schon vor einem Jahr: ganz anders als Maria und Josef werden wir nicht durch staatliche Verordnungen in Bewegung gesetzt. Wir sind zum Gegenteil aufgefordert. Wir sollen die eigenen vier Wände möglich wenig verlassen. Am besten in möglichst kleiner Runde unter uns bleiben. Das tut weh. Den Sachsen ganz besonders, seit Wochen schon. Sie nennen, wie ich hier gelernt habe, ihr Land stolz das „Weihnachtswunderland“.

I.

Auch vor diesem für ein Weihnachtswunderland schmerzhaften Hintergrund beginne ich diese Heiligabendpredigt ähnlich nüchtern und prosaisch wie die lukanische Weihnachtsgeschichte. Nämlich mit einer Gleichung, die ich entwickelt habe. Die geht so: Weihnachten–Weihnachten=Weihnachten². Mathematisch ist sie ganz unhaltbar, denn Weihnachten-Weihnachten ergäbe rein logisch: nicht Weihnachten, also eigentlich Null. Aber auf einer anderen, tieferen Ebene finde ich die Gleichung sehr wahr. Wir erleben wie letztes Jahr erneut eine nie da gewesene Reduktion von Weihnachten. Eine Reduktion um vieles, was seit jeher Weihnachten für uns bedeutet, was es zum gefühlt schönsten und größten aller Feste macht. Wir können nicht zueinanderkommen, zusammenrücken in unseren Familien. Eltern können ihre anderswo lebenden Kinder, Großeltern ihre Enkel nicht umarmen. Wir können in den Kirchen, oder auf den Plätzen davor nicht die unvergleichlichen Lieder singen, die unser Herz anrühren. Und so vieles mehr, was zu Weihnachten gehört wie zu Dresden der Stollen und die Frauenkirche. Wir müssen also von dem, was für uns so unbedingt zu Weihnachten gehört, ganz viel abziehen, subtrahieren. Deshalb: Weihnachten minus Weihnachten. Aber nun, so geht mein Rechenexempel, steht auf der anderen Seite der Gleichung keine Null, sondern ein „Weihnachten zum Quadrat“. Ein potenziertes Weihnachten also. - Hä? Wie meint der das?

Eigentlich finde ich es ganz einfach. Es ist dieselbe Dynamik wie beim Fasten. Das ist ja Reduktion, Subtraktion, um wieder den Kern, das Wesentliche zu finden. Nach dem Grundsatz: Weniger wird am Ende mehr. Manches Weihnachtsfasten, das uns jetzt auferlegt ist, ist schmerzlich, ja. Aber eben doch nicht nur! Es gibt uns auch eine seltene Chance, wieder auf das Wesentliche von Weihnachten zu stoßen, back to the roots zu gehen, dieses Fest neu zu entdecken. „Er äußert sich all seiner G’walt, / wird niedrig und gering“ - ja, ein bisschen niedrig und gering können wir uns fühlen bei den Verhältnissen, unter denen wir Weihnachten feiern. Aber eben damit sind wir ganz nah an dem, dessen Ankunft in dieser Welt wir an Weihnachten feiern. Dessen Glanz und Herrlichkeit wir an Weihnachten nicht anders als unter ihrem totalen Gegenteil von Armut, Kälte, Unbehaustheit und Ausgeliefertsein erahnen können.

II.

So ist das nun mal mit dem „Wunder der Weihnacht“. Was in unserer geliebten Weihnachtsgeschichte nach Lukas anschaulich, wie einem naiven Gemälde, ins Bild gebracht ist, wird anderswo in der Bibel abstrakter, aber in der Sache ganz präzise so ausgedrückt: „Gott ist offenbar geworden im Fleisch“ (1. Tim 3,16). Im Fleisch: das ist die Welt, wie wir sie kennen. Die Welt, in der geküsst und gefoltert, gestillt und gekillt, geliebt und gehasst, gefuttert und verhungert wird. In der Menschen das Beste aus sich schöpfen und einander auf großartige Weise helfen wie im Sommer bei der Flutkatastrophe in Westdeutschland - und einander Schlimmes antun, wie zuletzt Menschen, die sich im Bodensatz der sog. Social media eingerichtet haben und Gewaltakte gegen führende sächsische Politiker planten. Im Fleisch, das ist die Welt, in der die Menschen am Anfang alle gleich sind - und dann wird aus dem einen Greta Thunberg und aus dem anderen Lukaschenko. In dieser Welt ist Gott drin. Er bleibt nicht in sicherer göttlicher Distanz zu all dem, was wir in der Welt tun und erleiden, aufbauen und kaputt machen. In Jesus teilt er das alles mit uns.

Und da ist ihm nichts erspart geblieben. Das Erlebnis des ersten Lebenstages: in dieser Welt macht keiner freiwillig dem anderen Platz. Wenig später schon auf der Flucht ins Ausland: in dieser Welt sind sie hinter einem her. Damals wie heute: wenn autoritäre Machthaber Angst bekommen, haben die Machtlosen nichts zu lachen. Und dann als Mann: von der eigenen Familie nicht verstanden, von den besten Freunden im Stich gelassen, als es drauf ankam. Verhaftet, von gekauften Zeugen belastet, von einem unter Druck gesetzten Richter verurteilt, von den Wachsoldaten bespuckt und gefoltert, mit zwei Verbrechern aufgehängt und qualvoll gestorben. Das ist der Stallgeruch im Leben des Stallgeborenen. Und das ist das Geheimnis, das wir in dieser Nacht bestaunen: Gott hält sich nicht raus aus der Welt, sondern geht in sie hinein mit allen Konsequenzen. „Er ist auf Erden kommen arm, / dass er unser sich erbarm“: als hungrig brüllender Säugling kommt er in diese Welt - nicht im Triumphmarsch. Und als wehrloser Mensch, denen ausgeliefert, die ihn aus dieser Welt wieder wegräumen wollen, beschließt er seinen Weg - nicht mit Staatsbegräbnis am Tempel.

III.

In Heidelberg, wo ich in den 1970er Jahren aufgewachsen bin, wurde damals in der Universitätskirche jeweils an Heiligabend die „Offene Nacht“ gefeiert. Die Kirche war dann bis zum Morgen des 1. Christtages geöffnet für Obdachlose, ausländische Studierende, für Singles, die in den eigenen vier Wänden das Alleinsein schwer ertragen, oder für solche, die einfach mit der bürgerlichen Weihnacht nichts anfangen können. Einer, der damals dabei war, hat danach einen anonymen Brief geschrieben. Darin schrieb er:

„(...) Noch ganz unter dem Eindruck, in Gedanken und tief empfundener Freude an jene Nacht, erlaube ich mir, Ihnen nun diesen Brief zu schreiben. Weil ich allein war, ging ich in die Peterskirche... Nach dieser Nacht aber beginne ich zu zweifeln an meinem Unglauben. Ich meine, ihn gibt’s doch noch, den starken, barmherzigen Gott. Ich bin dort gewesen, in der Nacht, in der Kirche, die ihre Pforten weit geöffnet hielt. (...) Ich habe gesehen und gehört. Gehört, wie ein Stoppelbärtiger ungehemmt an der Schulter eines Tippelbruders weinte: Warum nur heute, warum kann das nicht immer sein? Ich habe gesehen, wie ein junger Bursche unablässig seinen Hund kraulte - Sehnsucht nach ein bisschen Liebe? Gehört, wie eine verblasste Schönheit einen abwies: Lass mich in Ruhe, diese Nacht ist für mich allein! Er gab ihr eine Zigarette und verschwand. Gesehen, wie ein Mensch in Leder und Bügelfalte einem schlafenden Penner einen zerknüllten Geldschein in die Faust schob, rasch und verlegen. Und ich habe mich gefreut über die Freundlichkeit, mit der mir ein junges Mädchen einen Plastikbecher heißen Tees gab. ‚Prost Weihnachten!‘, sagte sie, und unbekümmerte Freude lachte aus ihren Augen. (...) In der ganzen Kirche Lachen, Weinen, Trauer, Freude. Wenn es wirklich einen Gott gibt, dann war das Geschehen in dieser Kirche nach seinem Willen.“

Soweit der Auszug aus jenem Dankesbrief. Er kann mehr vom Geheimnis der Weihnacht erschließen als gewichtige theologischen Schriften. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“: Weihnachten hat darum eine solche Kraft, weil es Gottes Ehre in der Höhe ist, den Menschen in ihren Niederungen von Hunger und Flucht, von Herumgestoßensein und Gehasstwerden, und auch den Menschen, die die Achtung vor sich selbst verloren haben, seine Reverenz zu erweisen. Von Gott Geehrte sind wir - das ist das ganz Neue, das in jener Nacht aufgebrochen ist. Und wir können beginnen, an unserem Unglauben zu zweifeln.

IV.

Das ist der Kern des Christlichen. Und das Wesentliche von Weihnachten. Tausendfach übertüncht, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, von dem bürgerlichen Weihnachten, das uns so unersetzlich erschien, mit Idylle, Gemütlichkeit, Tannenduft , süßen Plätzchen und süßem Krippenkind. Ich liebe das alles sehr. Aber es kann eben auch vom wirklichen Weihnachten wegführen. Bethlehem, die Krippe war vieles - aber kein Idyll, kein Zuckerlecken. Oder etwas theologischer gesagt: Im Holz der Krippe wird bereits das Holz des Kreuzes spürbar. Der evangelische Liederdichter Jochen Klepper hat es in einem Weihnachtslied so ausgedrückt:

Die Feier ward zu bunt und heiter,
mit der die Welt dein Fest begeht.
Mach uns doch für die Nacht bereiter,
in der dein Stern am Himmel steht.
Und über deiner Krippe schon
zeig uns dein Kreuz, du Menschensohn.

Wenn wir uns in diese Spur hineinziehen lassen, dann kann es vielleicht wahr werden, und erfahrbar, worum Paul Gerhardt in seinem Weihnachtslied bittet: „So lass mich doch dein Kripplein sein / komm, komm und lege bei mir ein / dich all deine Freuden.“ So gesehen wünsche ich Ihnen von Herzen ein von Freude erfülltes Weihnachten 2021. Ein Weihnachten zum Quadrat!


AMEN.

gehalten von
Landesbischof Tobias Bilz
im Rahmen der Weihnachtlichen Vesper in der Frauenkirche
(Live-Übertragung durch den MDR)

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Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,

ich höre die Stimme der Hebamme heute noch: Möchten sie ihr Kind einmal nehmen? Diese Mischung aus Erschöpfung und Glück, Vorsicht und Stolz hatte ich noch nie vorher empfunden.  Ich stelle mir vor, dass die meisten von Ihnen oder doch zumindest sehr viele schon einmal ein Neugeborenes auf dem Arm hatten. Die Mütter sowieso. Wir Väter in der Regel wohl auch, ist es doch ganz normal geworden, dass wir bei der Geburt unserer Kinder dabei sind. Und dann dieser Moment: Möchten sie ihr Kind einmal nehmen? Ich kann heute nicht mehr genau sagen, wie der Cocktail meiner Gefühle genau zusammengesetzt war. Eins aber weiß ich noch ganz genau: Ich war mir völlig sicher, Zeuge eines Wunders zu sein. Hier vor mir und gleich auf meinem Arm war der Himmel auf die Erde gekommen. Scheinbar aus dem Nichts war da ein neuer Mensch und dieses zarte Wesen wurde mir und meiner Frau jetzt anvertraut. Zugegeben, die Hebamme hatte gleich noch eine ganze Reihe anderer Ideen, was ich als frischgebackener Vater mit dem Neugeborenen alles tun könnte. Da habe ich mich dann doch eher zurückgehalten. Aber: klar war schon, dass ich jetzt Verantwortung hatte, dass es galt mit Vorsicht und Mut, Liebe und zunehmender Übung das neue Leben zu schützen und zu versorgen. Für alles weitere, was darauf folgte und immer wieder folgt, haben wir die Bezeichnung – „ein Kind großziehen“ – gefunden. Damit meinen wir, dass ein junges Leben solange genährt und betreut werden muss, bis es groß und selbstständig geworden ist.

Liebe vorweihnachtliche Gemeinde am Bildschirm,

der erwachsene Jesus von Nazareth hat einmal in einer eindrücklichen Szene ein Kind mitten in den Kreis diskutierender Erwachsener gestellt und den legendären Satz gesagt: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“  Viele Male habe ich diese Worte so gedeutet, als ob es eine kindliche Haltung braucht – naiven Glauben sozusagen – um das Reich Gottes zu empfangen. Heute denke ich es andersherum: Das Reich Gottes selbst ist das Kind und kommt in Gestalt eines Kindes! Es will angenommen und aufgenommen werden. Es braucht schützende Arme und sorgsamen Umgang wie das Wertvollste, was wir uns überhaupt vorstellen können.

Zugleich zieht es Aufmerksamkeit auf sich und verändert die Gesichter derer, die in die Wiege schauen. Ansteckende Freude geht von einem Neugeborenen aus, ansteckende Freude soll sich verbreiten, wenn wir über das Reich Gottes sprechen und versuchen, es unter uns großwerden zu lassen.

Mir kommt es so vor, als ob Jesus mit diesem Satz – „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind…“ – seine eigene Geburtsgeschichte gedeutet hat. Die Geschichte von jener Nacht in Bethlehem, wo unter widrigen Umständen ein Kind geboren, in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe gelegt wurde. Diese Geschichte, die so außergewöhnlich war, dass wir noch heute weltweit ein großes Fest deshalb feiern. Und wenn es stimmt, was wir damit verbinden, nämlich dass Himmel und Erde dort zusammengefunden haben, dann können wir daran ablesen, wie Gott in dieser Welt wirken möchte. Nicht machtvoll, sondern als jemand, der sich ausliefert, nicht als Kümmerer, sondern selbst bedürftig. Nicht als einer, der Leid aus der Welt schafft, sondern einer, der das Schicksal der Menschen teilt.

Diese Botschaft trifft uns heute in einer Situation, in der wir uns nichts sehnlicher wünschen, als Erlösung und Befreiung. Menschen mit Verantwortung ringen Tag für Tag darum, wie sie die immer neuen Herausforderungen bewältigen sollen. Wer sich den Umständen ausgeliefert fühlt, muss mit Ängsten fertig werden und braucht Ermutigung. Dort, wo gelitten wird, geht es darum, die nächsten Stunden und Tage irgendwie zu schaffen. Ist es überhaupt möglich, die Weihnachtsbotschaft unter diesen Umständen auszurichten? Ja, es ist nicht nur möglich, sondern sie wird dringend gebraucht, diese Botschaft, dass Gott in einem Kind kommt und dass damit  das ungeschützte Leben unserer Fürsorge anvertraut wird!

Lassen sie mich daraus drei Gedanken ableiten:

Dort, wo ein kleines Kind ist, werden die Erwachsenen still. Manchmal, wenn laute Menschen kommen, legen die Eltern den Finger vor den Mund und sagen “Pssst!“ Wie wünsche ich mir in diesen Tagen, dass der vielfältige Lärm, der über die Ohren aber auch die anderen Sinne in uns ein- und bis zum Herzen vordringt zum Schweigen kommt! Es ist Zeit, auf allen Krawall zu verzichten. Zeit zum Schweigen, wie man schweigt, um ein schlafendes Kind nicht aufzuschrecken.

Dort, wo ein kleines Kind ist, beugen sich Menschen herab. Sie werden selbst kleiner und nehmen damit ganz unbewusst eine Haltung der Demut ein. Von den Weisen, die zum Christkind kamen, heißt es, dass sie „niederfielen“. So haben wohl nicht so vornehm gekniet, wie in unseren Krippenspielen, sondern buchstäblich auf der Erde gelegen. Säuglinge jedenfalls bringen uns dazu, dass wir uns klein machen. Ich wünsche mir in diesen Tagen, dass unsere selbstbewussten Ansprüche an das Leben klein werden, im Angesicht der Menschen, deren Leben gerade klein, schwach und gefährdet ist. Zugleich vertraue ich darauf, dass das Reich Gottes dort ist, wo sich Menschen nicht nur über die Kinderbetten beugen, sondern auch über die Betten der Kranken und Leidenden und ihnen dienen.

Und schließlich: Dort, wo ein kleines Kind ist, da ist Hoffnung! Warum sollten Menschen (angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt) Kinder bekommen? Die ersten Sekunden nach der Geburt beantworten diese Frage ein für alle mal. Ein Kind bedeutet, dass es sich lohnen wird, sich allen kommenden Herausforderungen zu stellen. Eben unm dieses Kindes willen! Könnte das der eigentliche Grund dafür sein, dass sich uns das Reich Gottes in der Gestalt eines Kindes nähert?  Will Gott uns damit herausfordern, die besten Kräfte dafür zu mobilisieren, aus dieser Welt einen Ort zu machen, der so lebenswert ist, wie wir ihn uns für unsere Kinder nur wünschen können?

Noch einmal sehe ich mich da stehen, mit meinem ersten Kind auf dem Arm. Natürlich war mir klar, dass da allerhand an Verantwortung auf mich zukommt. Das Andere aber war stärker: Für dieses Kind (wie für die, die noch kommen sollten) wird es sich lohnen, alles zu geben. Das fühlte sich an, als ob sich bereits in diesem Moment alle Kräfte einstellen wollten, die in Zukunft nötig werden würden.

Liebe Gemeinde am Vortag des Heiligen Abends,

wenn es so ist, dass mit jedem Neugeborenen eine Botschaft an uns Menschen verknüpft ist, dann gilt das auch und besonders für das Christkind. Diese Botschaft lautet für mich in diesem Jahr: Das Leben, das Reich Gottes und letztlich Gott selbst werden in unsere Hände gelegt! Damit bringt Gott zum Ausdruck, dass er uns zutraut, das Leben zu schützen, zu umsorgen und buchstäblich großzuziehen. Gott vertraut uns!


AMEN.

Empfangsbereit sein

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Seid gegrüßt, Ihr späten Jüngerinnen und Jünger des Herrn! Ihr schaut mich so ungläubig an? Doch, ich bin’s wirklich: Maria, die Jungfrau, die Gottesmutter, die reine Magd, die Himmelskönigin, die Miterlöserin, Stern des Meeres, Urbild und Vorbild der Glaubenden, und was es sonst noch an Ehrentiteln für mich gibt, mit denen ihr mich im Lauf der Jahrhunderte versehen habt. Zahllose mehr oder weniger begnadete Künstler haben mich in den verschiedenen Situationen meines unglaublichen Lebens ins Bild gebracht. Eure Kirchen sind voll von Bildern, Fenstern und Altären, auf denen man mich andächtig betrachten kann.

I.

Eure Kirchen? Nein, Ihr tut Euch eher schwer mit mir, höre ich, und scheut Euch davor, in Euren Liedern, Gebeten und Predigten Euch mit mir zu beschäftigen. Dabei ist eure so besondere Kirche hier, wo ihr mir jetzt gerade zuhört, ja nach mir benannt! Auch wenn das vielen wohl gar nicht mehr bewusst ist. Aber bei Euren getrennten Schwestern und Brüdern in der anderen Kirche, da ist das ganz anders. Die können gar nicht genug haben von mir, und manchmal frage ich mich: wissen sie denn alles über mich? Ein bisschen fühle ich mich geehrt, und doch wäre es mir manchmal lieber, sie würden mir mehr Unantastbarkeit lassen.

Aber das, Ihr lieben Protestanten, ist ja nicht Euer Problem. Mein Problem mit Euch ist, dass Ihr Euch so wenig um mich kümmert. „Solus Christus - Jesus Christus allein“, so hat es Euch Euer Erzvater ins Stammbuch geschrieben. Zugleich aber hat er mich über alles geschätzt, ja verehrt, euer Doktor Martinus. Ganz wunderbare Sachen hat er über mich geschrieben, von denen ich mich bis heute sehr verstanden fühle. Leider ist davon bei seinen Nachfolgern, bis hin zu euch heute, allzu wenig hängen geblieben. Wobei, damit ihr mich bloß nicht missversteht: Gegen das Solus Christus will ich ja gar nichts sagen! Dass ein Kind seiner Mutter über den Kopf wächst, ist ja keine Erfahrung, die ich für mich allein habe. Nur - ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für mich, ein bisschen mehr Nachdenken über und Einfühlung in meine Lage, das hätte mir schon gut getan manchmal. Immerhin habt auch Ihr das eine Glaubensbekenntnis, in dem ich ja vorkomme. Aber sonst fühle ich mich aus Euren Feiern eher verbannt. Dafür haben viele von Euch mich und meinen Angetrauten bald unter ihrem Christbaum stehen. Noch fünf Mal schlafen, dann ist es wieder soweit. Da sehe ich dann wieder aus wie eh und je: ewig jung, von einem langen Kleid züchtig bedeckt, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und mütterlich liebendem Blick auf mein hilfloses Kind in der Krippe herabblickend. Den „holden Knaben im lockigen Haar“...

II.

Und noch ein Ereignis in meinem Leben gibt es, das haben eure Künstler auch unendlich oft dargestellt. Damals, als alles losging, als sich mein Leben auf den Kopf stellen sollte. Ihr wisst schon, ich meine den berühmten Tag, als der Engel Gabriel zu mir kam. Eure Maler haben in ihren Bildern den Engel und mich gern auf goldenem Grund gemalt. Ich will es ihnen gar nicht verübeln, aber so richtig wohl ist mir nicht dabei. Denn ich weiß es noch gut: so golden ging es mir damals wahrlich nicht! Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, was jene unglaubliche Mitteilung des Engels für mich, und nicht nur für mich, wirklich bedeuten sollte. Diese Szene in Gold - passt das zusammen mit dem, wie es wirklich war damals? Über den, den ich zur Welt bringen sollte, wird in Euren Heiligen Schriften ja auch ganz anderes gesagt: Er erniedrigte und demütigte sich, nahm die Gestalt eines Sklaven an, er wurde Euch zuliebe arm, ja er war am Ende der Allerverachtetste: das alles klingt ja gar nicht so golden, und eigentlich passt es mehr zu mir und meinem Leben als Eure Bilder!

Ob Ihr Euch vorstellen könnt, wie mulmig mir damals war? Allein die Tatsache, dass ich schwanger werden sollte! Für mich selbst ahnte ich wohl, dass das ein Werk meines Gottes war, von dem mir der Engel am Ende seiner kleinen Ansprache sagte, ihm sei nichts unmöglich. Also auch das nicht, was allen biologischen Gesetzen widerspricht. Ich kannte ja die alte Geschichte von Sara und Isaak - da hatte Gott auch Unglaubliches zuwege gebracht. Also, ich selbst konnte mir schon irgendwie einen Reim auf all das machen. Aber die anderen? Meine Familie, und vor allem mein Verlobter? Nach damaligem Recht verpflichtete mich das schon wie eine Ehe. Nach außen hin hätte ich mit meiner Schwangerschaft wohl als Ehebrecherin dagestanden, und da hätte mir schlimmstenfalls die Todesstrafe gedroht. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass drei Eurer vier Evangelisten einen weiten Boden um diese Skandalgeschichte gemacht haben. Euer schon erwähnter Reformator hat es einmal so ausgedrückt: „Diese heilige Jungfrau kann nicht zu Ehren kommen, wenn sie nicht vorher zuschanden wurde.“ Ja, bei all dem Großen, Unfasslichen - etwas von „Schande“, von Demütigung empfand ich damals auch. Weil ich mit mir und meinem Geheimnis so allein war. Schon wahr: von außen gesehen ist, was Lukas Euch hier überliefert hat, ganz schön zwielichtig. Aber lassen wir das.

III.

Erlaubt mir bitte noch eine Nebenbemerkung. Ich habe es nie verstehen können, wie Ihr Euch die Köpfe heiß reden konntet über dieses Geheimnis, das Ihr etwas angestrengt akademisch „Jungfrauengeburt“ nennt. Ich höre, dass nicht wenige unter euch an der Stelle des Glaubensbekenntnisses, wo es heißt „geboren von der Jungfrau Maria“ stumm bleiben, weil sie das einfach nicht glauben können. Theologische Schlachten habt Ihr Euch deswegen geliefert, die auf mich ein bisschen wie alberne Scheingefechte gewirkt haben. Warum begreift Ihr nicht, dass es da um ein Geheimnis geht, das Ihr mit Euren biologischen und historischen Begriffen niemals entschlüsseln, plausibel machen könnt, sondern das eben ein Geheimnis bleiben will!? Das ist ja der Unterschied zwischen einem Rätsel und einem Geheimnis: ein Rätsel kann und will man lösen, ent-rätseln. Das ist schön, wenn man es schafft, aber dann hat das Rätsel seine Anziehung verloren, man legt es zur Seite, es ist nicht weiter interessant. Ein Geheimnis dagegen kann man nie lösen und plausibel machen, sondern kann es immer nur wieder neu umkreisen, man kann versuchen, tiefer in es einzudringen - und wenn das gelingt, wird es nur noch geheimnisvoller und faszinierender. Man kommt nie wirklich los davon. Die Liebe ist das beste Beispiel dafür.

Was Ihr so hölzern „Jungfrauengeburt“ nennt, ist eben ein Zeichen: dafür, dass kein anderer als Gott selbst sich aus grenzenloser Liebe zu dieser Welt, aus Heimweh nach ihr in alles Menschliche hinein begibt, und dass so eine Bewegung allein von Gott ausgehen kann. Hier soll um Gottes Ehre und seiner Freiheit willen jeder Möglichkeit gewehrt werden, sich eine Mitwirkung des Menschen an diesem Wunder vorzustellen. Wo Gott als Retter in die Welt kommt, da können wir nur Empfangende sein - da haben wir mit unseren begrenzten, oft chaotischen Mitteln nichts beizutragen. Wir wissen doch, wie schnell menschliche Eingriffe und Ideale in unmenschliche Aktionen umschlagen können. Was Rettung bringt, ist von anderer Qualität. „Den aller Welt Kreis nie beschloss, / der liegt in Marien Schoß“, hat Martin Luther in einem Weihnachtslied gedichtet. Also auch ich, gerade ich, bin dabei nur eine Empfangende gewesen. Mein eigener Anteil daran war einfach, dass ich das alles versucht habe anzunehmen, dass ich Ja dazu gesagt habe, dass Gott uneingeschränkt Ja zu mir gesagt hat. Und genau das ist Glaube doch, oder: Ja dazu sagen, dass Gott Ja zu mir gesagt hat! Lukas hat meine Antwort am Ende sehr richtig wiedergegeben: „Ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast!“

Wenn ihr es so seht, dann lasse ich es mir gern gefallen, dass Ihr mich „Urbild des Glaubens“ nennt. Aber nur so, dass Ihr selbst durch mich den Mut gewinnt, darauf zu setzen, dass für Gott tatsächlich nichts unmöglich ist. Und dass Glauben heißt, nicht mehr Macher zu sein, sondern Empfänger zu werden.


AMEN.

O Heiland, reiß die Himmel auf!        

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

es war in den bewegten Nach-68er-Jahren in einer Hamburger Kirche, als der Pastor eines Sonntages seine Predigt mit diesen Worten begann: „Dies ist bis auf weiteres meine letzte Predigt. Ich hab es versucht mit allen Registern. Mit Ironie, mit Geschichten, direkt, elegant oder gemein und brutal. Alles half nicht, änderte nichts. Ihr wollt, dass ich euch am Sonntag einen kleinen lieben Gott aufs Knie setze, ihr spielt mit ihm ein bisschen Hoppereiter, und dann setzt ihr ihn mir wieder auf den Arm und ich kann sehen, wo ich mit ihm bleibe bis zum nächsten Sonntag. Unbequem darf er nicht werden, nichts soll unsere Ordnung stören. Und ihr singt ‚Liebster Jesu, wir sind hier‘ – und ich soll die Nacht durcharbeiten und euch Pflaster auf eure Seelen legen, die ihr euch gegenseitig wund geschlagen habt. Ich habe meine Munition verschossen. Ich will nicht mehr predigen. Ich denke mir keine neuen Verfahren mehr aus, mit denen ich noch weiter Gott und der Welt vorspiegele, in der Kirche sei etwas los, was die Welt verändert“.

Soweit der Original-Kanzelton eines Amtsbruders. Man soll ja keine Kollegenschelte betreiben. Aber hier kann ich sie mir nicht ganz verkneifen. Denn dieses Verfahren des Hamburger Kollegen kann nun wirklich keine Lösung sein. Nicht dass mir in meinem Pfarrerdasein Anflüge von Resignation völlig fremd wären. Aber wenn man in die Bibel schaut, findet sich dort kein einziger Fall, wo einer von sich aus abgetreten, das Predigen eingestellt und wie anno 1918 hier (angeblich) der abdankende Friedrich August „Macht euren Dreck alleene!“ gerufen und sich getrollt hätte.

I.

Das ist doch wohl ein bisschen einfach. Ganz anders der Prophet, der dieses Klagelied gebetet hat. Er klagt nicht eine elende Gemeinde an, sondern er klagt das Elend der Gemeinde zu Gott hin - der Gemeinde, der er sich zugehörig weiß, von der er sich nicht distanziert. Er geht nicht hoch, sondern er geht in die Knie. Was ihn so schrecklich lähmt, ist der Eindruck, dass Gott abwesend ist. Das Gefühl trostloser Verlorenheit in einer Welt, die auf ganzer Linie Recht zu bekommen scheint, wenn sie sich um Gott nicht mehr schert. Denn es gibt nicht das geringste Zeichen, dass er sich noch kümmert: „Wo ist dein Eifer und deine Macht?“ Wir merken nichts von Deiner Wirksamkeit. Damit ist für Israel ein Lebensnerv eingeklemmt: denn seine Identität hängt so vital an der Verbindung mit Gott, dass es sich verloren fühlt, wenn es ihn verloren hat.

Dieses ganze Elend eines verschlossenen Himmels wird hier Gott ins Ohr geschrien. Wie sollen wir vor den Menschen noch glaubwürdig davon reden, dass wir Dir gehören, von Dir beauftragt, der Welt Dein Heil bekanntzumachen, wenn „die Gottlosen dein Heiligtum zertreten?“ Müssen uns die Leute nicht auslachen, wenn wir uns auf Dich berufen, wenn wir mit der Bibel behaupten, wir seien die Vorhut von Gottes neuer Welt – und dann sind immer weniger bereit, für deine Sache noch etwas einzusetzen? Wie sollen wir von deiner Zukunft reden, wenn bei uns das Christliche scheinbar unaufhaltsam versickert und verdunstet?

II.

Liebe Gemeinde, das Entscheidende an dieser Klage ist: die Not der so bitter erlebten Abwesenheit Gottes schlägt nicht um in den Trotz der heute populären Melodie: Wenn euer Gott all das zulässt, dann kann es ihn nicht geben, dann ist er nur eine religiöse Fantasie. Nein, der Schmerz der Gottverlassenheit wird vor Gott gebracht. Er erinnert an den Schrei Jesu am Kreuz. Der rief ja auch zu eben dem Gott, von dem er sich verlassen fühlte! Der Gott, der sich uns entzieht, ist der, zu dem wir rufen können: „Kehre um, deiner Knechte wegen, die dein eigen sind!“

Der Gott, der so unerkennbar geworden ist, ist dennoch kein unbekannter Gott, sondern es ist der, der sich seinem Volk bekannt gemacht hat als Erwähler und Befreier. In bestimmten geschichtlichen Momenten hat er sich seinem Volk unauslöschlich eingeprägt: als er es aus der Sklaverei unter der Knute einer Großmacht herausholte, als er ihm einen Weg durchs scheinbar Ausweglose bahnte – dort am Schilfmeer –, und es so vor der Vernichtung rettete. Wir könnten so fortfahren: als er am Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi uns von uns selbst, von der Last unserer Schuld frei gemacht hat. In diesen geschichtlichen Taten hat sich Gott so unvergessbar als einer erwiesen, der die Gemeinschaft mit seinem Volk geschaffen und Verantwortung für es übernommen hat, der seine geknechteten Leute lieb gehabt und alles für sie eingesetzt hat, dass man ihn dabei behaften kann: „Bleib doch unser Vater, Abraham weiß ja nichts von uns und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; ‚Unser Erlöser‘ ist dein Name von Urzeit an.“

Gottes Volk tröstet sich also nicht mit einer glorreichen Vergangenheit, es beschwört nicht seine großen Gestalten. Dass wir einmal Leute hatten wie Luther oder Wichern oder Bonhoeffer oder Hempel, das hilft uns jetzt nichts. Gottes Gemeinde beruft sich nicht auf große Väter (oder Mütter), sondern auf den Vater. Sein vergangenes Tun war so voll von Zukunft und Verheißung, dass wir uns mit der aktuellen Gottesfinsternis nicht abfinden müssen, sondern herausgefordert sind, Gott zu bestürmen, er möge sich doch an seinen Namen als Erlöser erinnern: „Mein Herz hält dir vor dein Wort“. Unser Gebet beschwört Dich als den, der sein Volk in die Freiheit geführt, ihm neue Zukunft gegeben hat. Du bist kein Gott, der im Museum zu bestaunen ist, sondern immer noch unser Vater, auch wenn wir nicht mehr als deine Kinder erkennbar sind. Sei es wieder aufs Neue!

III.

Und dann dieser Ruf: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Komm doch und zeig dich so, dass dich endlich keiner mehr übersehen kann: die Adventsbitte des an der Verborgenheit seines Gottes verzweifelten Gottesvolks. Gott müsste zeigen, wer er ist. Es ist ein Ruf der Sehnsucht. Sehnsucht zeigt immer eine Erfahrung des Mangels an, die als Not erlebt wird. Mir ist das Wort Sehnsucht noch nie so oft begegnet wie in der Zeit, seit die Pandemie da ist. Ich sehne mich danach, wieder mein Geschäft öffnen zu dürfen! - Ich sehne mich nach einem Konzert, oder wieder ins Kino zu gehen! – Ich sehne mich nach dem Glühwein mit den Kollegen nach der Arbeit auf dem Weihnachtsmarkt. – Ich sehne mich nach einem Weihnachten mit Gottesdiensten, wo ich die alten Lieder singen kann und wo wir mit Kindern und Enkeln zusammenkommen können! Ach, dass du den Himmel zerrissest und endlich die Bedrohung durch den elenden unsichtbaren Feind bannst! Zwischen diesem Ruf aus der Tiefe damals und uns heute liegt die Geschichte Jesu Christi. Diese Geschichte erzählt: Ja, der Himmel hat sich geöffnet! Gott hat sein Schweigen gebrochen. Er ist gekommen zu seinem Volk, hat gezeigt, was für einer er ist. Aber eben so ganz anders als in dem alten Gebet des Propheten erhofft.

Gott kommt. Aber nicht als einer, der die Berge beben und die Völker erzittern lässt, sondern als der, der „sanftmütig und von Herzen demütig“ ist. – Er kommt. Aber nicht als einer, der seine Feinde vernichtet, sondern der sie liebt und rettet. Er verbietet seinen Jüngern, Feuer vom Himmel herab zu bitten über ein Dorf, das ihn abgewiesen hat. – Er kommt. Aber nicht unwiderstehlich. Wer ihm Contra geben will, hat alle Freiheiten dazu. – Er kommt als ein König. Aber als einer, dessen Herrschaftszeichen nicht Krone und Adler, sondern die unscheinbare Taube ist. – Er kommt: nicht auf einer Sänfte durch den Triumphbogen getragen, sondern auf einem Esel. – Er kommt. Und seine Leute sind unbewaffnet. Er heißt den Jünger, der ihm in der Gefahr das Leben retten will, gewaltlos zu bleiben und das Schwert wegzulegen.

IV.

So, liebe Gemeinde, hat Gott seinen Himmel aufgerissen. So hat er den Adventsruf seiner Leute gehört, so redet er, bringt sich zur Sprache vom hilflosen Krippenkind bis zum wehrlosen Mann am Kreuz. Und es geschah – und geschieht immer noch – das Wunder, dass harte Herzen sich öffnen, dass Menschen mit einem Mal aufhören, nur zu fragen: Was bringt mir das?, sondern fragen: Was kann ich anderen bringen? So, nicht durch einen Hokuspokus aus Jesu Munde, wie es der Versucher in der Wüste von ihm wollte, kommt Lebensbrot, Brot für die Welt zustande.

Heißt das nun, dass wir durch diese von Jesus vollzogene Korrektur der Adventsbitte des Propheten nicht mehr um Gottes Kommen beten müssen? Nein: Weil Gott in Jesus von Nazareth so anders gekommen ist als in dem alten Gebet erhofft, so ohnmächtig gegenüber dem, was für die Maßstäbe der Welt mächtig ist, gerade darum wartet seine Gemeinde auf das endgültige Kommen Jesu Christi, auf seinen Zweiten Advent, an dem nicht mehr bestreitbar sei wird, sondern alle bekennen: Er ist es, er ist der Herr, auf den wir im Leben und im Sterben setzen wollen!

Eine Gemeinde, die diese Hoffnung wach hält, die betet „Dein Reich komme“: die träumt sich nicht aus einer trostlosen Erde in einen blauen Himmel, sondern die tut das Selbstverständliche: sie zündet Lichter ihrer Hoffnung an, die in der Nacht dieser Welt aufleuchten und aufmerksam machen auf den großen Tag, den dem Er kommt und der keinen Abend mehr kennt. Und an dem kein Himmel mehr zerrissen werden muss, weil er nach allen Seiten hin offen ist. Bis es soweit ist, singen wir beherzt weiter: „O Heiland, reiß die Himmel auf! / herab, herab, vom Himmel lauf.“


AMEN.

Der verheißene König der Gerechtigkeit

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Die Worte dieses Textes kommen von weit her. Sie sind wohl etwa 600 Jahre vor Christus gesprochen worden. Ihre damaligen Adressaten haben sie sehr anders gehört als wir heute. Das Wort, das Gott durch seine Propheten sagen lässt, ist immer ein Wort, das in die Geschichte hinein geht, und dann Geschichte macht. Und zwischen den Hörern damals und uns heute liegt die Geschichte Jesu Christi, von der dieses Prophetenwort aufgenommen und durch die es ausgelegt worden ist. Und so spricht es jetzt uns an. Denn die Geschichte Jesu Christi ist ja für uns Christen unsere Geschichte geworden. Und zwar nicht die Geschichte nach Christus, sondern mit Christus und auf ihn zu. Das heißt ja Advent: Wir leben auf Jesus Christus hin.

I.

Der Prophet Jeremia hat diese kühne Verheißung eines kommenden Davidssproß in ganz dürftiger Zeit ausgesprochen. Beim Gottesvolk hatte sich eine lähmende, depressive Zukunftslosigkeit breitgemacht. Die Nachfolger auf dem von David begründeten Jerusalemer Königsthron hatten abgewirtschaftet, waren politisch und moralisch korrumpiert. Der letzte von ihnen, er hieß Zedekia, in dessen Regierungszeit Jeremia diese Worte gesprochen hat, war eine schwache Figur, Marionette seiner Spin-Doctors. Sein Name – Zedekia heißt: der Gerechte - war eine bittere Karikatur. Und Israel war nur noch ein unbedeutender Kleinstaat, im bedrohlichen Schatten der Supermacht Babylon unter dem eroberungsfreudigen Potentaten Nebukadnezar. Alles war grau in grau.

Jeremia sieht seine Aufgabe nicht darin, durch Schwarzmalerei diese Stimmung noch zu verstärken – aber auch nicht darin, schönzufärben. Sondern er kündigte an: Es wird nicht dauerhaft so bleiben! Nicht weil er irgendwo am politischen Horizont einen Silberstreifen entdeckt hätte, sondern weil Gott es so gesagt hatte: „Siehe, es kommt die Zeit, in der ich dem David einen gerechten Spross erwecken will, der als ein wirklicher König herrschen wird“. Also nicht wie die, die sie erlebt hatten. Das Kennzeichen seiner Herrschaft sollte Recht und Gerechtigkeit sein. Nie mehr sollten sie der Willkür und Grausamkeit eines Einzelnen ausgeliefert sein, sondern der kommende König würde dafür sorgen, dass ihnen allen ihr Recht zuteil wird, als Menschen in Frieden miteinander zu leben. Bezeichnenderweise fehlt in dieser Verheißung jeder Hinweis auf militärische Stärke, was die Israeliten ja gerade mit der guten alten Zeit unter König David, dem Machtmenschen, verbunden hatten. Nein, der Friede, den der kommende König bringen wird, soll kein kalter Friede, nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern ein endgültiger Friede sein.

Die Verheißungen, die Gott durch Propheten wie Jeremia aussprechen ließ, haben Israel in einzigartiger Weise zu einem Volk der Wartenden gemacht, in dem die Hoffnung auf die Zukunft immer wieder über die lähmenden Erfahrungen der Gegenwart siegte und den Blick nach vorn offen hielt. Das hat sich durch die ganze Geschichte des Judentums durchgehalten. „Nächstes Jahr in Jerusalem!“: Mit diesem aberwitzigen Ruf haben sich Juden durch die vielen Jahrhunderte ihrer Zerstreuung in der ganzen Welt voneinander verabschiedet. Die Hoffnung auf bessere Zeiten, auf die Heimkehr zum Zion, konnte durch keine noch so grausige Erfahrung zum Sterben gebracht werden. Sie ist sogar mit in die Gaskammern gegangen und nicht verbrannt. So gesehen ist das jüdische Volk das adventliche Volk schlechthin. Dass diese Hoffnung nur drei Jahre nach dem Grauen mit der Gründung des Staates Israel Realität wurde: dieses Faktum ist ein Wunder der Geschichte, ja ich möchte sagen, es ist fast eine Art „Gottesbeweis“.

II.

Diese durch Jeremias Verheißung entzündete Hoffnung auf einen gerechten König hat dazu geführt, dass Israel hinfort alle seine Führergestalten an diesem Bild gemessen hat, mit der Frage: Bist du der, der da kommen soll? Und es entsprach ihm keiner. Als dann die Zeit kam, in der die Verheißung sich erfüllte, da erkannte man ihn nicht. Denn Gott machte seine Verheißung ganz anders wahr, als sie es erwartet hatten. Anders auch, als Jeremia selbst sie wohl verstand, als er sie von Gott vernahm. Sie hatten einen charismatischen politischen Führer erwartet, der Revolution machen und die Verhältnisse wieder ins Lot bringen würde. Und dann kam einer. Ein Nachkomme Davids, das schon. Aber – ein König?

Einer, der nicht im Palast zu Jerusalem zur Welt kam, sondern unter mehr als dubiosen familiären Umständen in einem Viehstall in der Wüste. Einer, der so eigene Wege ging, dass sogar seine Familie an seinem Verstand zweifelte. Der auf staubigen Landstraßen unterwegs war, zu Fuß. Der nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Die einzigen, die wirklich zu ihm standen, waren ein paar einfache Leute ohne Ansehen. Und dass er auf breiter Front Recht und Gerechtigkeit hergestellt hätte, kann man auch nicht wirklich sagen. Eher andersherum: er litt wehrlos unter der Ungerechtigkeit seiner Zeit, als er in einem Schauprozess zur Strecke gebracht wurde. Schon sehr verständlich da die zweifelnde Nachfrage Johannes des Täufers: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ – „Selig, wer sich nicht an mir ärgert“, lässt der Mann aus Nazareth ihm ausrichten. Wohl dem also, der daran nicht irre wird, dass Gott die Sehnsucht seines Volkes so anders wahr macht, als sie es sich vorgestellt hatten. Ja, der in der Hütte zu Bethlehem zur Welt gekommene Davidssohn ist es, in dem dieser Ruf aus der Tiefe erhört und zugleich korrigiert wird. Er ist der, der da kommen soll. Wer sich von seiner Geschichte anrühren lässt, spürt: Wir kommen von ihm her und gehen auf ihn zu. Und Er kommt – auf seine Weise, leise, aber unaufhaltsam. Dabei kann uns im Licht dieser Jeremia-Verheißung zweierlei aufgehen.

1. Wir leben im Advent Jesu Christi und sehen, wie er die neue Gerechtigkeit aufrichtet. – „Der Herr unsere Gerechtigkeit“: so soll der programmatische Titel des angesagten Königs lauten. Wenn das stimmt, dann ist es auf jeden Fall aus mit unserer Selbstgerechtigkeit, die uns so oft in der Mangel hat und mit der wir uns um das schönste Menschenrecht bringen: unser Leben in Gemeinschaft mit Gott leben zu können. Der Selbstgerechte braucht Gott nicht – er missbraucht ihn allenfalls zur Bestätigung der eigenen Rechtschaffenheit, nach dem Motto: Danke Gott, dass ich nicht so bin wie der da! Niemand ist frei davon. Jeder hat da so seine Vergleichspersonen in der Hinterhand. Wie sehr das Vergleichen und die daraus erwachsende Selbstgerechtigkeit Gemeinschaft kaputt machen kann, das erleben wir ja in unserem Land gerade, und hier im Freistatt besonders bedrückend. Hier ist in dieser Zeit auch einmal von dieser Kanzel ein Wort zu den Debatten um das Impfen nötig. Man kann zu der in der Politik immer breiter erwogene Impfpflicht unterschiedlicher Meinung sein. Der öffentliche Streit darüber, den es ja gibt, steht einer offenen Gesellschaft gut an. Aber der muss so geführt werden, dass man einander nicht die Menschenwürde abspricht. Wenn immer öfter zu lesen und zu hören ist, eine Impfpflicht würde Deutschland wieder zu einem totalitären System machen, wenn gar von „Impffaschismus“ gesprochen wird, dann muss auch in den Kirchen solche „Kritik“ als das benannt werden, was sie ist: Eine schlimme Verharmlosung von Diktatur und Faschismus, und vor allem eine Verhöhnung ihrer Opfer.

Jedenfalls hat der, dessen Name „Gott unsere Gerechtigkeit“ lautet, die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner erzählt und uns vor Augen geführt: Gerecht ist, wer sich selber nicht groß machen muss, sondern wer Gott gegen sich Recht geben kann, indem er an das Recht der Gnade appelliert: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Dasselbe mit Jens Spahns viel zitiertem Satz gesagt: „Wir werden einander noch viel zu vergeben haben.“ Als Gemeinde Jesu nehmen wir dieses Gnadenrecht in jedem Gottesdienst in Anspruch, wenn wir offen eingestehen, dass bei uns nicht alles in Ordnung ist, dass wir Schatten, auch Schuld unbewältigt mit uns schleppen. Das ist das Kyrie, das Eingeständnis, dass nicht ich, sondern nur Gottes Erbarmen mich heil machen kann. Das Gloria, das dann folgt, sagt mir zu: Du bist noch mehr als deine Schatten und Defizite, ich lege dich nicht darauf fest, sondern ich sehe dich als ganze Person mit einer unantastbaren Würde. – Menschen, die aus dem gnadenlosen Zwang heraus sind, immer das letzte Wort haben zu müssen, sind eine Wohltat für das Leben in einer Gesellschaft. Unsere sich in Selbstrechtfertigungen aufreibende Welt braucht dieses Recht der Gnade. Auch dazu ist unverzichtbar, dass es die Kirche gibt.

2. Wir leben im Advent Jesu Christi und sehen, wie er den Schwachen zu ihrem Recht verhilft. Jeremia hat von dem Kommenden gesagt: „Der König wird Recht und Gerechtigkeit im Lande üben“. Das heißt, er wird für das elementarste Menschenrecht eintreten: ungeschmälert Mensch sein zu dürfen. Dieses Recht wird ja in vielen Gesellschaften den ganz Schwachen verweigert. Ihr Recht lag Jesus am Herzen. Deshalb hat er sich unter dem Kopfschütteln der Eliten mit denen an einen Tisch gesetzt, die die anderen zu Parias gestempelt hatten. Darum hat er die schuldig gewordene Frau vor der Stigmatisierung ihrer hochanständigen Ankläger in Schutz genommen. Darum hat er die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt.

III.

Wir nähern uns dem Geheimnis dieses unvergleichlichen Königs der Gerechtigkeit am besten, indem wir uns das Gegenbild vor Augen führen. Nämlich uns. Wir möchten nach oben - Er geht nach unten. Wir halten, was wir durch harte Arbeit erworben haben, beharrlich fest: Geld, berufliche Positionen, Heimat, Familie, unsere Standpunkte. – Er liefert sich total aus. Wir halten uns gern im Umfeld derer auf, von deren Image auch ein Strahl auf uns abfällt – Er sucht die, die unter dem Strich existieren: Prostituierte, Steuerbetrüger, Leprakranke. Wir möchten leben, etwas gelten und Einfluss wahrnehmen – Er nimmt Sklavengestalt an und endet jämmerlich zwischen zwei Verbrechern. Die Geschichte dieses verheißenen Königs, liebe Gemeinde, hat einen unübersehbaren Zug nach unten, zu den Schwachen hin. Deshalb kam er unbehaust in einem Futtertrog zur Welt, nicht in einem Vier-Sterne-Hotel. Und deshalb emdete sein Weg durch diese Welt an einem Folterwerkzeug, wehrlos denen ausgeliefert, die ihn aus dieser Welt wieder weghaben wollten - nicht mit Staatsbegräbnis im Tempel. „Er, der in göttlicher Gestalt war, behielt seine göttliche Macht nicht für sich wie einen Raub, sondern entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod“ dichtet der Apostel Paulus in seinem Christushymnus.

Sicher, das Kreuz führt uns immer wieder vor Augen: Wir werden es mit unserem Einsatz für eine Welt, in der der Mensch nicht des Menschen Wolf, sondern sein Bruder ist, nicht schaffen. Das gehört zur Nüchternheit unseres Glaubens. Aber wenn wir die Augen aufmachen, sehen wir, dass es unübersehbare Signale gibt, dass der am Werk ist, von dem Jeremia angekündigt hat, er werde Recht und Gerechtigkeit bringen. Eine Gemeinde, die von dieser Hoffnung lebt und die betet „Dein Reich komme“, die träumt sich nicht von der trostlosen Erde in einen Wellness-Himmel weg, sondern die tut einfach Selbstverständliches: sie zündet Lichter ihrer Hoffnung an, die in der Nacht dieser Welt aufleuchten und hinweisen auf den Tag, den dem Er kommt und der ohne Abend ist. Die hellsten Lichter in der Adventszeit sind aber nicht die Adventskerzen, so sehr wir sie lieben und brauchen. Uns können sie nicht ersetzen. Die wahren Adventskerzen in dieser Welt: sind wir. Gott selbst hat uns in unserer Taufe angezündet. Und nun wollen wir unser Licht leuchten lassen.


AMEN.

Gottesdienst zum Abschluss der Friedensdekade 2021


gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

Wir haben aus diesen unglaublichen Worten sofort etwas zu lernen, was den Anfang jeder Predigt betrifft. Der Friedenswunsch, mit dem ich Euch eben grüßte, kann nicht nur uns, der christlichen Gemeinde gelten. Sondern Gnade und Friede auch der ganzen Welt! Gnade und Friede also auch denen, die davon nichts wissen wollen, weil sie Nutznießer von gnaden- und friedlosen Verhältnissen sind. Gnade also auch Herrn Lukaschenko in Belarus, und auch Herrn Putin oder Herrn Bachmann von Pegida. Und Friede auch Herrn Kim Jong-Un in Nordkorea, unter dessen Herrschaft gerade wieder Tausende an Hunger sterben. Aber Gnade und Friede auch dem Menschen in meiner Nähe, der mir manchmal unheimlich zusetzt. Gnade und Friede ihnen allen von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Denn, so schärft uns Jesus hier ein: „Wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun dasselbe nicht auch die Heiden?“ Wir wären also schlechte Botschafter einer guten Nachricht, wenn wir diesen Gruß für uns behielten, im heimeligen Kreis der kirchlichen Insider.

I.

Jesus Christus erwartet also Besonderes. Seine Gemeinde – das ist das Unerhörte, das die Bergpredigt so provozierend macht – soll etwas Besonderes sein. Und mit einer ganz besonderen Autorität wird hier ein Einspruch laut gegen das, was uns von vielen Autoritäten gesagt wird. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist – Ich aber sage euch...“. Aber wir, protestantisch bescheiden, wie wir so sind, halten sofort dagegen. Etwas Besonderes sein wollen? Als Christen? Wir sind doch gerade in der Bergpredigt zur Sanftmut und Demut aufgerufen. Es ist ja auch nicht gut gemeint, wenn wir von einem sagen: Der will etwas Besonderes sein! Da ist Misstrauen angebracht. Und so ist es verständlich, dass es an Misstrauen gegenüber den im Namen Jesu versammelten Menschen von Anfang an nicht gefehlt hat. Aber eigentlich ist das gut so. Denn immer, wenn dieses Misstrauen der Welt gegen die Kirche Jesu Christi fehlte, war mit der Kirche ganz bestimmt etwas nicht in Ordnung. Was das konkret heißt, kann man etwa in Russland beobachten, wo die orthodoxe Kirche längst zur chauvinistischen Nationalkirche geworden ist.

Aber was ist denn das Besondere, das die Gemeinde Jesu in der Welt darstellen soll? Was ist dran an der christlichen Gemeinde, dass sie nach Jesu Worten zu allem, was irdisch ist, in einen Gegensatz gerät? Die Antwort Jesu greift hoch. Schwindelerregend. Die Bergpredigt ist ja auch im tieferen, übertragenen Sinn eine Rede von einem Berg aus. Denn ihr Anspruch ist steil, er greift bis zum Himmel. „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“. M.a.W.: das Besondere, das die Kirche darstellen soll, ist Gott selbst. Seine Vollkommenheit soll unsere Vollkommenheit sein. So will es Jesus. Wer so ausgezeichnet ist, wird aber unweigerlich in einen Gegensatz geraten zu allem, was er sonst auf Erden zu hören bekommt. Um ihn herum werden Stimmen laut, die zu diesem Anspruch empört Nein sagen. Denn wer Gott selbst auf Erden darstellt, führt ja der Welt vor Augen, dass alle anderen Rollen, die auf Erden so gespielt werden, gegenüber diesem „Ich aber sage euch“ in Wahrheit ziemlich unwichtig sind. Das war schon bei den ersten Christen so, die sich weigerten, den römischen Kaiser als Gottheit zu verehren und dieses Zeugnis der Einzigheit Gottes mit dem Leben bezahlen mussten. Und es ist bis 1989 bei vielen Christen hier in Ostdeutschland so gewesen, die sich mutig der Erziehung zum Hass auf den „Klassenfeind“ in den Schulen und in dem Waffendienst in der Volksarmee verweigert haben und dafür Ausgrenzung und gravierende berufliche Nachteile in Kauf nahmen.

 

II.

Und nun mutet uns Jesus diese Darstellung von Gottes Vollkommenheit gerade auch im Blick auf Feinde und Verfolger zu. Das ist verstörend, denn es bringt uns in völligen Gegensatz zu allem, was in dieser Welt plausibel ist, was uns der gesunde Menschenverstand sagt. Aber eben, das Evangelium, die Nachfolge Jesu ist keine billige Sache! Es kann uns in schmerzliche Gegensätze bringen. Aber, so sagt Jesus, das soll gerade nicht dazu geschehen, dass die Gräben noch breiter und tiefer werden, sondern es soll zum Heil der Welt, zu ihrem Besten sein! Denn Jesus bringt uns sozusagen in den liebevollsten Gegensatz der Welt! „Gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Und betet für eure Verfolger!“

Was für eine Zumutung: die Feinde lieben! Wer das wirklich ernst nimmt, läuft Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden. Das mindeste ist, dass er, wie das heute in gewissen Milieus als chic gilt, als „Gutmensch“ bezeichnet wird, und das ist dann natürlich verächtlich gemeint. Unsere scheidende Kanzlerin wurde seit der sog. Flüchtlingskrise 2015 immer wieder mit diesem Ausdruck gebrandmarkt. Seltsame Logik: sind denen, die „Gutmenschen“ nicht mögen, also „Bösmenschen“ lieber?! Wie auch immer, wer Feindesliebe praktiziert, setzt sich damit erst recht der Feindschaft anderer aus. Er macht sich angreifbar. Der Kabarettist Hanns-Dieter Hüsch hat dieses Jesuswort so gedeutet: „Liebe deine Feinde - nichts wird sie mehr ärgern!“ Jesus hat es so wohl nicht gemeint - aber das hat schon was. Denn es drückt das Bezwingende aus, das eine unbefangene Feindesliebe ausstrahlt. Auch da können wir nur 32 Jahre zurück denken und uns an das berühmte Wort eines SED-Häuptlings nach der gewaltlosen Revolution erinnern: „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet – nur nicht auf Kerzen und Gebete“.

Aber Jesus meint es eben doch noch anders. Seine Feinde lieben, das heißt nicht, eine besonders subtile Gegenoffensive der Großmut und Sanftheit starten, sondern es heißt: dem, der mein Verderben will, ohne Rüstung und ohne Waffen entgegen gehen. Seine Feinde lieben, das heißt: das Freund-Feind-Verhältnis einseitig für beendet erklären. Was wir ihnen gegenüber sagen und tun, soll eben nicht böse, auch nicht listig oder taktisch sein, sondern: liebevoll. Als christliche Gemeinde sind wir dazu aufgefordert. Und das ist und bleibt eine Herausforderung sondergleichen an uns. Kein Wunder, dass deshalb immer wieder bedeutende Politiker, keineswegs Atheisten, gesagt haben, man könne mit der Bergpredigt unmöglich in der Welt regieren. Bismarck, ein frommer Christ, der die Herrnhuter Losungen auf dem Nachttisch liegen hatte, hat das behauptet. Und in den 80er Jahren auch der Protestant Helmut Schmidt gegenüber der Friedensbewegung. Alle Erfahrung spricht dafür, ihnen Recht zu geben. Ich weiß auch nicht, ob man mit der Bergpredigt Politik machen kann. In unserer evangelischen Kirche, die kein Lehramt kennt, das verbindlich festleget, was wahr und was falsch ist, wird immer wieder offen über friedensethische Fragen diskutiert und gestritten. Vor einigen Jahren etwa, als es darum ging, wie der Terrorherrschaft des IS in Syrien und Irak zu begegnen ist. Da war Margot Käßmann, die als überzeugte Pazifistin militärische Interventionen und Waffenlieferungen in Krisengebiete ablehnt. Sie hat sogar mal den verwegenen Gedanken ausgeworfen, wie es wäre, wenn Deutschland auf eine Armee verzichten würde. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem”, zitiert Käßmann Paulus, und führt Gandhi, M.L. King und Mandela als Vorbilder an. Einen anderen Weg ging der gerade aus dem Amt geschiedene EKD-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm. Er befürwortete seinerzeit einen internationalen Militäreinsatz im Irak, weil - ich zitiere ihn - „die schwächsten Glieder, in diesem Fall die Flüchtlinge, die Fürchterliches erlebt und panische Angst haben, geschützt werden müssen.“ Und sein Lehrer und Vorgänger Wolfgang Huber sagte: „Für mich schließt das Gebot ,Du sollst nicht töten‘ auch das Gebot ein: ,Du sollst nicht töten lassen‘. Unsere Verantwortung für den Frieden kann im äußersten Notfall den Einsatz von Waffengewalt einschließen. Wir werden auch dann schuldig, wenn wir die Opfer des IS allein lassen.“ – Wer hatte nun Recht? Ich tendierte damals eher zu Bedford-Strohms und Hubers Urteil - aber sicher war und bin ich nicht. Jedenfalls hat der frühere Bundespräsident Johannes Rau, auch er ein überzeugter evangelischer Christ, auf die These, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen, lakonisch entgegnet: „Aber ohne die Bergpredigt könnte ich erst recht keine Politik machen.“

III.

Unterschiedlichen Folgerungen aus demselben Glauben: das hat es in der Kirchengeschichte immer wieder gegeben. Auf der einen Seite der Versuch, bereits hier so zu leben, wie es der Blick himmelwärts verheißt. Auf der anderen Seite drängt es Christen, hier und jetzt in Jesu Namen Verantwortung zu übernehmen für die Welt, für die Leidenden - in dem Bewusstsein, dass es Situationen gibt, in denen jedes Handeln uns schuldig werden lässt.

Ein weltfremder Naivling und Phantast ist der Jesus der Bergpredigt jedenfalls nicht. Etwas in unserem Text lässt mich aufhorchen. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. M.a.W.: Gott selbst geht mit gutem Beispiel voran! Er gewährt der ganzen Welt, und nicht nur seinen Freunden, die nötigen Mittel zum Leben. So gibt er uns unaufdringlich zu verstehen, dass er nicht unser Vater sein will, ohne zugleich der Vater aller Menschen zu werden, auch derer, die nicht seine Kinder sein wollen. Was uns unmöglich erscheint, Gott leistet sich das: Nichts kann ihn darin irre machen, dass er Gott der Vater ist, der für alle seine Kinder sorgt. Mit übermenschlicher, eben göttlicher Geduld bleibt er denen nahe, die meinen, es ginge auch ohne ihn.

Aber das demonstriert er uns nicht nur natürlich, durch Sonnenschein und Regen, sondern auch noch höchst persönlich! An uns selber nämlich hat Gott anschaulich gemacht, was es heißt, seinen Feind zu lieben. Denn was ist die christliche Gemeinde, was sind wir alle anderes als die Versammlung der begnadigten, gerechtfertigten Feinde Gottes? Das ist die Pointe unseres Textes: In ihr, der Christengemeinde, soll sich Gottes Feindesliebe darstellen. Das ist das Besondere, worin wir uns von der Welt unterscheiden. Und deshalb ist diese Aufforderung nicht eine Zumutung, sondern eine Ehre, eine Auszeichnung. Warum? Weil Gott ja selbst das an uns vorexerziert hat, was es heißt, ein Freund-Feind-Verhältnis einseitig für beendet zu erklären. Und das hat er nicht mit großen Worten proklamiert. Sondern er hat es an sich selbst erlitten, was das heißt: seine Feinde lieben und für seine Peiniger beten. „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“: Am Kreuz, liebe Gemeinde, wird Feindesliebe konkret. Da sieht man, was einseitige Abrüstung ist. Das ganze NT ist eine einzige Abrüstungsverlautbarung.

Liebe Schwestern und Brüder,

so wie Sonne und Regen natürliche Gleichnisse für Gottes Liebe zu allen Menschenkindern sind, so soll also unser Leben als Christen ein persönliches Gleichnis für unseren himmlischen Vater sein. Denn wo Menschen anfangen, ihre Feinde zu lieben und für ihre Verfolger zu beten, wo sie aufhören, selber etwas darzustellen und anfangen, Gott selbst darzustellen, da werden sie Gottes Kinder. Und dazu ist man nie zu alt. Und so grüßt die Gemeinde Jesu als die Versammlung aller begnadigten, ja geliebten Feinde Gottes die feindliche oder einfach nur gleichgültige Welt und wünscht ihr das, was sie wirklich braucht: nämlich Gnade und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.


AMEN.

Predigtreihe »Heilige Dinge«
Predigt zu »Das Buch«


gehalten von
Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Es ist nichts Besonderes. Fast immer ist er so dargestellt, wie auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche. Martin Luther. Im Gelehrtenmantel mit aufrechtem Blick, in der einen Hand das Buch; die Heilige Schrift; die andere Hand zur Faust geballt scheint auf die Buchdeckel zu pochen. Hunderte solcher Lutherdarstellungen gibt es. Und wer die Bilder von der Zerstörung der Frauenkirche 1945 im Netz sucht, findet Fotos mit der abgestürzten Luther-Figur, und noch immer klopft der Reformator mit seiner Faust auf die Bibel, auch wenn die Lutherrezeption der Nazis zu Recht vom Sockel gestoßen werden musste. Nicht wenig später ist er dann wieder – noch vor der ruinierten Stadt – auf dem Sockel zu sehen. Wie zum Trotz. Wie zum Trost. Verbum manet in aeternum. Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit.

Heilige Dinge – das Buch.

Nicht nur zum Reformationstag, aber das gerade muss die neue Themenreihe der Abendgottesdienste in der Frauenkirche zur Widerspruch reizen. Denn nach evangelischem Verständnis gibt es keine Heiligen Dinge. Immer sind es Menschen, die geheiligt oder gesegnet werden, keine Sachen oder Gegenstände. Wenn man aber die Dinge darauf hin befragt, wofür sie stehen und inwiefern sie das Heilige beherbergen können, dann gewinnt diese Themenreihe ihr Recht. Zumal zum Auftakt am Reformationstag mit dem Buch.

Ist es nicht so, dass Bücher eine ganz eigene Faszination haben? Es heißt, das Buch sei nicht tot zu kriegen, trotz Hörbuch und Kindle – es ist schön, etwas in der Hand zu haben. So wie Luther sich praktisch an diesem Buch festhält, auch als er vor dem Kaiser in Worms steht – in diesem Jahr vor 500 Jahren – und nicht wiederruft, sondern sich auf die Schrift beruft. Nur von ihr würde er sich überzeugen und seine Aussagen widerlegen lassen. Und wie gern schlage ich die ersten Seiten eines Buches auf, wenn es noch frisch riecht und die ersten wie eine Verheißung sind auf das, was in der nächsten Zeit für mich zu entdecken sein könnte, in den Wochen oder Monaten, in denen ich es immer wieder in die Hand nehme oder es gar durchlese.

Antiquare haben so einen heiligen Umgang mit Büchern. Manchmal verrät schon ihr Geruch etwas über die ehemalige Nutzung oder Missachtung des Werkes. Manchmal sind es Entdeckungen wie die eines Schatzes, der ungeborgen bei einer Wohnungsentrümpelung zum Vorschein kommt. Natürlich gibt es auch die Bücherflut, eine Verramschung des gar zu Populären oder der abseitigen Interessen, die Fehlgriffe von Lektoren in den Verlagen, die zwanghaften Veröffentlichungen, die Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen wollen oder die Öffentlichkeit von der eigenen Wichtigkeit überzeugen wollen.

Die Aufforderung „lies doch mal ein gutes Buch!“ – wie meine Mutter immer sagte, kann einen auch überfordern; nicht nur weil die Auswahl an Büchern zu groß war, um Qualität wirklich beurteilen zu können, sondern auch, weil ein Buch mehr Aufmerksamkeit fordert, als ich zu geben bereit bin.

Bücher – so möchte ich einmal sehr profan formulieren – sind deshalb heilig, weil sie eine Begegnung mit einem Autor und mit Figuren oder Inhalten fordern, die mit nach dem Lesen des Buchklappentextes nur eine vage Vorstellung geben. Erlesen ist ein Buch dann, wenn diese Begegnung mit diesem Fremden zu einer guten, hilfreichen oder erhellenden Erfahrung geführt hat. Welches Buch würden Sie nie weggeben? Das ist so eine Frage nach dem Erlebnis, das mit Büchern machen kann. Erlebnisse, die über eine Planbarkeit hinausgegangen sind. Irgendwie heilige Erfahrungen, weil sie mich aus den alltäglichen und gar zu erwartbaren Erlebnissen hinausgeführt haben.

Heilige Dinge – das Buch: Im spezifisch religiösen Sinne hat das Buch natürlich noch eine andere Bedeutung. Es gibt sogenannte Buchreligionen. Das Judentum, das Christentum, der Islam gehören dazu. Gemeint sind Schriften, die zu einem Kanon gesammelt wurden, weil sie von Gotteserfahrungen zeugen. In Form der Erzählung, in gedichteter Form, als Prophetie, als Brief, als Literatur, die inspiriert ist; d.h. die begeistern konnte, weil ein Heiliger Geist in ihr lebendig war oder lebendig werden soll.

Sola scriptura – allein die Schrift, heißt es in der Reformation. Allein der Glaube, allein Christus. Das sind die Grundschneisen der religiösen Hermeneutik im Christentum, die durch die lutherische Reformation geschlagen wurden. Damit gewann die Überlieferung der biblischen Schriften des Alten wie des neuen Testamentes einen herausgehobenen Status. Heilig sind sie insofern, dass sie dem Profanen enthoben werden, weil sie zum Sprachrohr göttlicher Botschaft zu jeder Zeit werden können.

Das Buch, das Luther in Händen hält, war zu seiner Zeit allerdings noch etwas sehr Neues. Dieses neue Medium gab es noch nicht lange. Wenn Luther damals schon als Skulptur so dargestellt worden wäre, wäre das etwa so, wie wenn wir heute einen markanten Glaubenszeugen mit dem Notebook in der Hand zum Himmel weisen sähen. Nicht das neue Medium ist das Heilige. – Noch zu Luthers Zeiten waren es noch eher Schriften, Blätter, Pergamente, Rollen. Der Inhalt, die Schrift, also eigentlich die Botschaft in der Schrift ist das Heilige, auf das Luther pocht, und nicht nur er:

Zwei biblische Figuren habe ich als Lesung für diesen Gottesdienst ausgewählt, die die Heiligkeit der Schrift in besonderer Weise zum Thema machen. Aus den Propheten des 1. Testaments im Judentum Hesekiel oder Ezechiel, wie er auch genannt wird, und 2. Testament Philippus mit dem Kämmerer aus Äthiopien. Philippus ist ja hier in der Kirche ganz im Altar stehend dargestellt. Mit dem Wanderstab in der Hand. Das Buch dazu liefert der Kämmerer.

Hier nicht dargestellt, aber das ist die Geschichte über Philippus. Der reiche Kämmerer der Königin von Äthiopien sitzt auf seinem Wagen und hat gerade eine Schriftrolle gekauft. Die des Propheten Jesaja. Und er lädt den wandernden Philippus ein und gibt ihm eine Mitfahrgelegenheit. Und die beiden kommen ins Gespräch. Der christliche Apostel deutet dem Fremden die Heilige Schrift; und der versteht nicht nur, sondern ist erfüllt von dem, was Philippus ihm im Gespräch eröffnet.

Das ist die große Chance von Mitfahrgelegenheiten. Menschen begegnen sich auf Zeit. Gerade das führt oft dazu, dass intensive Gespräche entstehen. Manchmal ist gerade der Fremde der richtige Gesprächspartner, weil die Anonymität des Gegenübers mir die Chance gibt, mich weiter zu öffnen, als ich das bei einem Bekannten tun würde. Die ganz andere Perspektive des Fremden kann mir den Blick weiten und mich über eigene Horizonte hinausführen. Und schon werden die Gespräche wesentlich, werden zu neuer Wegweisung im Leben. Die Begegnung zweier Menschen über der Schrift haben das Potential zu Gottesbegegnung zu werden.

Und der andere: Hesekiel: Was Gott ihm sagt, schmeckt ihm nicht. Die Bibel schmeckt uns an vielen Stellen nicht. Sie ist schwer zugänglich. Das Buch lässt sich nicht lesen wie ein Roman. Durchlesen geht praktisch nicht. Man muss ungefähr die Zeiten kennen, in denen die verschiedenen Schriftrollen der Bibel entstanden sind, um zu verstehen. Und nicht alles schmeckt uns, weil es sofort unsere Zustimmung finden würde. Manche Botschaft fordert mich heraus. Nicht nur mein Verstehen, sondern auch meinen Willen, mich darauf einzulassen und erst einmal hinzuhören. Die Bibel sagt mir nicht immer das, was ich gern hören möchte. Auch und gerade darin ist sie heilig. Sie ist in ihrer Rätselhaftigkeit eine Chance, mich so lange an ihr zu reiben, bis sie die Wahrheit auch für meine konkrete Lebenssituation heute aufschlussreich macht. Das ist eine geistliche Übung, zu der nicht viele bereit sind, weil wir von so vielen Worten, Schriften und Botschaften umgeben sind, aus denen wir in kürzester Zeit auswählen müssen, und vieles einfach zu Seite legen, weil es zu viel Kraft kostet. Kein Wunder, dass da die Bibel mit ihren oft schwer zugänglichen Botschaften schnell unter die Räder kommt. Und doch gibt es wohl etwas wie eine Ahnung, es könne sich lohnen, zumindest ein solches Buch im Bücherregal zu haben. Und sei es nur ein Symbol dafür, dass die Trauung, die Taufe oder die Konfirmation damals als wir die Bibel geschenkt bekommen haben, ein Meilenstein in unserem Leben waren, von dem wir hoffen, dass ein göttlicher Segen davon zu uns strömt.

Und manchmal erwacht eine innere Gewissheit.
Vielleicht ein Traum, der in Erinnerung bleibt. So etwas wie ein innerer Ruf.
Eine Ahnung, dass unser Weg nicht so bleiben kann. Die Gewissheit, dass etwas falsch läuft im persönlichen Leben oder mit einem ganzen Volk.

Hesekiel kam in einen inneren Widerspruch. Einerseits fühlte er sich seinem Volk verbunden, andererseits wurde eine Stimme in ihm laut, die nicht mehr zu überhören war. Das Leben, das wir führen, steht nicht mehr im Einklang mit dem guten Willen für diese Welt. Verstockt im Widerspruch. Dagegen ohne jeden Sinn und Verstand. Jeder weiß es besser und für sich allein, was er will. Gemeinschaft und Solidarität sind verloren. Niemand fragt nach einem großen sinnstiftenden Zusammenhang. Ein Gottesbewusstsein verblasst zur Unkenntlichkeit. Du nicht, hört der Prophet Hesekiel. Widersprich nicht und öffne dich. Du sollst es sagen. Du sollst es sein, damit niemand sagen kann, es wäre kein Prophet, kein Gottesbote dagewesen, wenn die Katastrophe kommt. Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde. Eine bittere Botschaft. Schon die Vorstellung im Traum. Eine Schriftrolle essen.

Heilig ist ein Buch dann, wenn beim Lesen die Erkenntnis wächst: Auch wenn Gott uns Hartes zumutet, Worte, die wir selbst nie wählen würden, die uns nicht schmecken, er will Gutes und Segen. Er will, dass unser Leben heil wird; das persönliche, das in der Gemeinschaft mit anderen, das der ganzen Welt und Heilung der Zeit bis zur Ewigkeit. Im Traum, in der Vision: Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.

Manche Heilsgewissheit, geht über den mit dem Verstand fassbaren Sinn hinaus. Man muss sie sich geradezu einverleiben. Deshalb lebt ein Gottesdienst- gerade auch der protestantische – zwar über weite Strecken vom Wort. Das Heilige Essen aber gehört eigentlich dazu. Natürlich können wir kaum beschreiben, was uns während der Pandemie gefehlt hat, wenn das Abendmahl nicht gefeiert werden konnte. Aber ein Wunsch, Gottes Botschaften mögen uns auch auf tieferen Ebenen erreichen, der bleibt in Vielen lebendig. Und das nicht nur aus einer Gewohnheit heraus, oder aus Tradition. Die Bitte um das Mahl vor dem Altar heißt immer auch: Rede zu uns. Sei nicht ferne. Bleibe bei uns, denn es will Abend werden.

Für Martin Luther war das Buch nicht heilig. Aber die Schrift – sola scriptura. Er hat wohl auch sehr gern gegessen und getrunken. Seine Tischreden zeugen davon. Aber das Essen an sich ist nicht heilig. Aber er wusste mit seiner Kirche um das sichtbare Wort. Verbum visibile im Sakrament. Das war ihm heilig. Und der gläubige Mensch erwartet eine Wirkung aus diesem Essen.

Einen Vorgeschmack auf die Ewigkeit.
Eine Gemeinschaft im Namen des Höchsten.
Eine Nähe zu Jesus Christus und seinen Jüngern und zum Kreuzesgeschehen, wie in der Nacht, da er verraten ward.

Heilige Dinge – nur wenige gibt es nach protestantischem Verständnis.
Das Wort gehört dazu. Und als Sinnbild dafür dann auch das Buch.


AMEN.

Evangelisch – was ist das?

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik


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Reformationstag. In früheren Zeiten - so lange sind sie noch gar nicht her -, war das ein Tag der ganz hohen Töne. Wo zum Reformationstag dröhnend die Fanfare geblasen wurde: „Ich bin stolz, Protestant zu sein!“ Martin Luther als der Mann, der allein und todesmutig Kaiser, Papst und dem Rest der Welt die Stirn geboten hat. Die Reformation als die große Befreiungsbewegung, die die Menschen vom Joch klerikaler Bevormundung befreit und ihnen Glaubens-, Geistes- und Gewissensfreiheit gebracht hat. Und natürlich auch Luther als Geburtshelfer einer selbstbewussten Nation mit gemeinsamer Sprache und Kultur.

Nun ja. Wie an allen Klischees ist all dem ja auch einiges dran. Aber spätestens seit der Zeit, wo man das „Reich, das uns doch bleiben muss“, mit dem sog. ‚Tausendjährigen Reich‘ verwechselte, sind uns Protestanten solche Töne gründlich vergangen. Gut so. Nicht so gut, sondern eigentlich die Kehrseite derselben Medaille ist es, dass wir Protestanten über dem Bemühen, bloß nicht so etwas wie protestantischen Stolz zu zeigen, recht verdruckst geworden sind. Für mich zeigt sich das auch darin, dass wir uns immer wieder neu die anstrengende und angestrengte Frage vorlegen: Evangelisch, was ist das eigentlich?

Eine Frage, die selbst schon typisch evangelisch ist! Es hat ja was Sympathisches, sich immer wieder auf den Grund zu gehen. Aber es ist auf Dauer auch anstrengend. Die katholischen Mitchristen fragen sich so etwas viel weniger. Die sind es einfach, katholisch, in einer Selbstverständlichkeit, die uns dauerreflektierenden Protestanten fremd ist, um ich man sie aber beneide. Wenn Sie mit einem der hierzulande ja die große Mehrheit ausmachenden „liberalen Katholiken“ sprechen, der dann die notorischen Leiden an seiner Kirche anspricht: Hierarchie, Klerikalismus, Zölibat, Männerherrschaft, Sexualethik usw., dann wäre ja eigentlich eine naheliegende protestantische Frage: Warum kommst du nicht zu uns? Bei uns ist ja das meiste verwirklicht, was dir in deiner Kirche fehlt. Aber häufig habe ich dann erlebt, dass der typisch „liberale Katholik“ mir sehr selbstverständlich entgegnete: „Warum sollte ich zu euch übertreten? Ich bin doch katholisch!“ Diese Selbstverständlichkeit hat für uns etwas Irritierendes. Aber sie ist auch entlastend. Katholische Christen müssen ihr Katholischsein, anders als wir, nicht immer wieder neu erfinden und rechtfertigen. Das ist alles irgendwie immer schon da, und mehr und größer als der einzelne Mensch mit seiner Kirchenkritik.

Was könnten wir nun antworten, würden wir gefragt, warum wir evangelisch sind? Das eine oder andere würde mir dann hoffentlich einfallen. Die erste, banalste Antwort: ich bin evangelisch getauft. Meine Vorfahren waren es auch. Auf diesem Boden bin ich gewachsen, er hat mich mit zu dem werden lassen, was ich bin. Meine Eltern haben mir als erste die biblischen Geschichten erschlossen, haben zum Einschlafen Paul Gerhardts Liedstrophe „Breit aus die Flügel beide“ mit mir gebetet. Später wollte ich einige Pubertätsjahre lang von all dem wenig wissen. Das war damals gut und notwendig. Aber je älter ich werde, desto dankbarer bin ich für das, was ich als Kind mitbekommen habe. Ich verdanke dieser Abkunft vermutlich mehr, als ich weiß.

Weitere mögliche Antwort: Ich möchte die Ursprünge der speziell evangelischen Art zu glauben bewahrt sehen. Das angstfreie Nachfragendürfen, das Zutrauen in das Wort, das aus sich selber heraus wirkt und kein großes Brimborium und Inszenierungen braucht. Das Persönliche, die Eigenverantwortung, die Bereitschaft, ‚Ich‘ zu sagen. Deshalb will ich unsere Kanzeln besetzt sehen von Frauen und Männern, die dem oft sperrigen Bibelwort verpflichtet bleiben und nicht dem Mainstream. Und sie sagen, was sonst nicht zu hören ist in einer Welt, die immer mehr auf die Macht der Bilder und die einfachen, unterkomplexen Botschaften fixiert ist.

Und dann natürlich auch: Die Pflege unserer großartigen protestantischen Musikkultur, um die uns so viele beneiden. Nicht umsonst nennt man Bach den „5. Evangelisten“. Albert  Schweitzer, der nicht nur ein berühmter Arzt und bedeutender Theologe war, sondern auch ein großartiger Organist und führender Bach-Forschers einer Zeit, hat zu Bach den wunderbaren Satz geprägt: „Nicht Bach, Meer müsste er heißen, so unergründlich und tief ist seine Musik!“ Bachs Musik, unter die er immer das berühmte „s.d.g.“ notierte, das Soli Deo Gloria, hat mehr Menschen einen Weg zum evangelischen Glauben erschlossen als gute Predigten. Was, nur nebenbei bemerkt, gar nicht heißt, dass in unseren Gottesdiensten nicht auch Keyboard, Gitarre und Schlagzeug ihren Platz haben sollen. Auch die gehören längst zur protestantischen Musikkultur dazu.

Schließlich: ich will mich nicht von der Trägheit derer anstecken lassen, die ihrer Kirche so schnell den Rücken kehren, weil ihnen dieser Pfarrer oder jenes Bischofswort oder auch der Papst nicht passt. Was glauben Sie, wie viele Protestanten aus der Kirche austreten „wegen dem Papst“?! Und ich will mich nicht geistlich über die überheben, die die einfache, aber ernstzunehmende Frage stellen: was bringt es mir, dass ich zur Kirche gehöre? Was hab‘ ich davon? Es ist eine Stärke des Protestantischen, auch auf solche Fragen Antworten zu finden.

„Evangelisch aus gutem Grund“ hieß einmal eine Broschüre. Ja, es gibt viele gute Gründe, die wir hoffentlich präsent haben, wenn wir gefragt werden, warum wir evangelisch sind. Der allerbeste Grund aber ist der, den wir nicht plausibel machen können und müssen, einfach weil wir auf ihm stehen und gehen können. Wohin? In jene „feste Burg“, als die Luther unseren Gott besungen hat. Dass deren Tore nicht hermetisch abgeriegelt sind gegen Fremde und Feinde, sondern sperrangelweit offen stehen für dich und mich: darauf möchte ich dann doch auch etwas stolz sein.

Freihälse werden

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Das kann man nicht flüstern oder im Plauderton sagen. Dann wird der Satz läppisch. Dabei ist er ein Fanfarenstoß. Die Zeiten waren ja auch lange genug so, dass zum Reformationstag in der evangelischen Kirche die Fanfaren besonders laut geblasen wurden. Martin Luther Superstar als Praeceptor Germaniae, als Ahnherr einer selbstbewussten deutschen Nation mit gemeinsamer Sprache und Kultur. Davon transportiert auch der heldisch dreinschauende Luther draußen auf dem Neumarkt etwas.

Nun ja. Da ist ja auch einiges dran. Aber nicht erst das Reformationsjubiläum 2017 hat gezeigt: Diese Töne sind uns vergangen. Wir haben in der Geschichte unserer Kirche, auch in der Geschichte Deutschlands zu oft erfahren, wie weit weg wir von jener Freiheit waren, oder sie auch oft missbraucht haben, in der Luther dichten und singen konnte: „Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr Kind und Weib, / lass fahren dahin, / sie haben’s kein Gewinn. / Das Reich muss uns doch bleiben.“ Was von solch wuchtigem Freiheitspathos übriggeblieben ist, ist, dass die Evangelische Kirche mit einem selten gewordenen Anflug von Selbstbewusstsein sich Kirche der Freiheit nennt.

I.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Dieser biblische Fanfarenstoß erklingt zunächst über der Landschaft Galatiens an der kleinasiatischen Küste, und hallt über zwei Jahrtausende nach bis zu uns heute. Freiheit: das ist ein hoher Ton. Wenn wir heute von Freiheit reden, meinen wir es sehr anders als zu Luthers Zeiten. Auch anders als in vielen Teilen dieser Erde. Politisch gibt es bei uns ein weites Spektrum, unsere Gesellschaft ist prinzipiell durchlässig. Wenig ist bei uns von vornherein festgelegt, jede und jeder kann sich selbst erfinden. Ob ich mein Leben in einer bestimmten Weise leben möchte oder anders, ist zunächst einmal meine persönliche Angelegenheit. Niemand darf mich zwingen: Familie nicht, Religion nicht, Konventionen nicht. Weil aber die Freiheit aber für uns so selbstverständlich geworden ist, ist ihr etwas abhandengekommen: Das Ausrufezeichen, das Paulus hinter seinen Gedanken gesetzt hat. Die enorme Kraft. Die Sehnsucht, die in diesem Wort steckt: Freiheit!

„Freiheit, die ich meine“, wurde ein Jahrhundert lang in Deutschland patriotisch gesungen. Aber welche Freiheit meine ich denn? Die, über meinen Körper selbst zu verfügen, also zu entscheiden, ob ich mich impfen lassen oder nicht? Das ist die Freiheit von - in diesem Fall einer verordneten Impfplicht. Oder geht es um die Freiheit auch des anderen, also das Gemeinwohl an erste Stelle zu setzen und durch eine Impfung auch andere zu schützen? Das ist die Freiheit zu - in diesem Fall zu Gemeinsinn gegenüber Individualismus. Was für ein Potential an Erhitzung, ja Spaltung in der Interpretation von Freiheit steckt, wissen wir. Hier im Freistaat wissen wir es nur zu gut.

Was ist Freiheit für Sie? Vor nichts und niemandem Angst haben müssen? Keine Grenzen kennen, alles ist erlaubt: Wär’s das? Oder: mich frei strampeln, indem ich allen Ansprüchen genüge, die andere an mich stellen, von morgens bis abends? Das war Martin Luthers Projekt vor über 500 Jahren. Alles Mögliche hatte er unternommen als Erfurter Augustiner-Mönch, um nicht nur vor der Welt, sondern v.a. vor Gott bestehen zu können. Waschen, Fasten, Beten, Pilgern, Studieren, auf nacktem Fußboden schlafen. Spirituelle Selbstoptimierung, buchstäblich bis zum Gehtnichtmehr. Denn genau das spürte Luther irgendwann: ich kann es nicht, so geht es nicht mehr! Verzweiflungsspirale. Bis ihm endlich, endlich - durch ein Wort desselben Paulus - wie Schuppen von den Augen fiel: Die ersehnte Freiheit kann ich nicht erarbeiten. Sie wird mir geschenkt. Umsonst. Von Gott. Ich bin bei Gott unbedingt geliebt: nicht wegen meiner Integrität, sondern trotz all meiner Halbheiten und Peinlichkeiten. Sola gratia - allein aus Gnade. Das Beste im Leben gibt es gratis. In der Rückschau schreibt Luther ein Jahr vor seinem Tod, es habe sich damals für ihn angefühlt, als hätten sich die Tore zum Paradies geöffnet. Eine grundstürzende Lebenswende.

Diese geschenkte Freiheit hat Martin Luther eine unglaubliche innere Kraft gegeben. Das bezeugt sein Auftreten vor Kaiser und Fürsten vor genau 500 Jahren in Worms. Ob er das mit dem „Hier stehe ich“ nun in echt gesagt hat oder ob es nur eine fromme Legende ist. Entscheidend ist, dass dieses Wort der Haltung entsprach, in der er die Tage in Worms durchhielt: klar und unbeirrt bleiben, sich nicht beugen vor dem, was in Welt und Kirche mächtig ist. Ein Christ beugt sich vor keinem anderen Menschen. Wohl aber für andere Menschen. Freiheit, die Gott mir schenkt, kommt erst dann zur Erfüllung, wenn sie auch meine Mitmenschen freier macht und aufrichtet. Es ist mit dieser Freiheit wie mit dem Glück: wenn ich sie teile, wird sie nicht kleiner, sondern verdoppelt sich. Auf eine nie vergessbare Weise haben das die Berliner in der Nacht des 9. November 1989 erlebt. Deshalb hat Luther drei Jahre nach seiner umwälzenden Freiheitserkenntnis eine seiner wichtigsten und schönsten Schriften „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ überschrieben. Sie beginnt mit einem berühmten Doppelsatz, der genau das sagt, was das ist mit der geschenkten und geteilten Freiheit, und dem Sich-Beugen nicht vor, aber für andere: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Klingt total paradox. Aber gerade darum ist es wahr. Besser, schöner, genauer lässt sich Freiheit, christlich gesehen, nicht in Worte fassen.

II.

"Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und fallt nicht wieder in die Knechtschaft zurück." Paulus wusste, warum er das den Christen in den galatischen Gemeinden so mit Ausrufezeichen ins Stammbuch schrieb. Denn dort hatten sich Zweifel breitgemacht, ob das denn wirklich ausreicht, das Vertrauen auf Christus allein. Diese Zweifel fingen an, das neue Freiheitbewusstsein zu zerfressen: Braucht es nicht doch bei Gott eine entscheidende Zusatzbedingung? Eine Premiumcard, die sicherstellt: jetzt bist du Gott recht!? Für die Galater hieß diese Premiumcard Beschneidung. Viele von ihnen waren aus dem Judentum zum Christusglauben gekommen. Dieses wichtige äußere Zeichen der Gotteskindschaft: war das jetzt wirklich entbehrlich? Ist das nicht ein Zuviel, ja ein Missbrauch der christlichen Freiheit, auf die Beschneidung, dieses wichtige Zeichen, zu verzichten? In anderer Art stieß auch Martin Luther 1500 Jahre später auf ein solches Premiumcard-Denken. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“. Ein unter PR-Aspekten genialer Satz in den „Ablasspredigten“ des wortmächtigen Dominikaners Johannes Tetzel. Die verlockende Idee, man könne sich in die Gnade Gottes einkaufen. Mit Brief und Siegel. Sicher ist sicher. Aber was ist das für ein Gottvertrauen, das auf dem Abschluss irdischer Zusatzpolicen beruht? Diese bohrende Frage, die Luther nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, war die Geburtsstunde dessen, was zur Reformation wurde. Ein zum Protestantismus konvertierter ehemaliger Katholik sagte mir einmal: „Um Luther wirklich zu verstehen, muss man eigentlich katholisch gewesen sein.“ Sehr zugespitzt gesagt. Aber nachdenkenswert.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und fallt nicht wieder in die Knechtschaft zurück.“ Die Erinnerung des Apostels ist wohl zeitlos aktuell. Denn: Neben jeden Tempel der Freiheit, so sagte Luther einmal drastisch, baut der Teufel eine Kneipe der Unfreiheit. Wir Deutschen wissen, wie sehr wir von Zeit zu Zeit diese Erinnerung brauchen. Wer von der ersehnten Freiheit gekostet hat, wird sie hüten wie einen Schatz. Der will nicht mehr zurück in die Unfreiheit. Denken wir. Aber es hat ja seinen Grund, dass Paulus mahnt: „Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ So sehr Menschen sich nach Freiheit sehnen, so schwer ist sie zu leben. In unserem wieder vereinten Land mühen wir uns seit 31 Jahren damit ab, inzwischen eher wieder mehr als noch vor einigen Jahren. Man kann es aber auch in ganz Persönlichen sehen. Wie befreiend es für einen Menschen ist, dem Gefängnis einer Beziehung entronnen zu sein, die nicht gut für sie/ihn war. Wo man sich auf fatale Weise ineinander verstrickt hat. Wo selbst ein harmloser Abend mit Freunden in einer Eifersuchtsszene endet. Manch eine wagt das Ende mit Schrecken und fängt an, ein eigenes Leben zu gestalten. Vorsichtig, im Wissen, dass der Weg in die Freiheit lang und steinig ist. Manche schaffen es. Andere nicht. Ehe sie sich versehen, haben sie sich wieder in eine ungesunde Beziehung verstrickt, werden wieder abhängig. Liebe als Knechtschaft. So sehr also die Freiheit ersehnt wird, so schwer ist sie auch auszuhalten. „Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen." Das spricht auch sehr in das heutige christliche und kirchliche, aber auch gesellschaftliche Leben hinein: Das Verhaftetsein im Gewohnten und Vertrauten, obgleich man hofft, vieles möge grundlegend anders werden. Die Schwerkräfte eines angenehmen Lebensstandards, zugleich eine Sehnsucht nach mehr Einfachheit, spielerischer Leichtigkeit und klimagerechten Leben.

III.

Anders als unsere Politiker, die diese Spannung auszutarieren versuchen (müssen?), zeigt Paulus klare Kante. Entweder - oder. Christus allein genügt, solus Christus. Wer ihm glaubt, bekommt die Freiheit, nach der er sich sehnt. Ich finde eine sprachliche Entdeckung erhellend. Unser deutsches Wort Freiheit hat seine Wurzel im mittelalterlichen Wort Freihals. Freihälse, sagen Sprachforscher, waren solche, die im buchstäblichen Sinn freie Hälse hatten: Leute, deren Hals nicht in einem Sklavenring steckte. Auf deren Schultern keine fremde Last aufgeladen war. Niemand, auch der Mächtigste nicht, durfte einen Freihals vor den eigenen Karren spannen. Kein König, kein Bischof, kein Richter. So also, als Freihälse, ohne fremdes Joch, hat Gott sich uns gedacht. Mehr noch: Zu Freihälsen hat er uns längst gemacht. Zu Freihälsen wohlgemerkt. Nicht zu Schreihälsen. Freihälse können ihren Blick ungehindert heben. Sie können in den Himmel sehen - und einander offen ins Gesicht. Was übrigens auch mit Mund-Nasenschutz besser geht als man denkt; Augen können so viel ausdrücken. Freihälse Gottes sind in die Lage versetzt, mehr und anderes zu sehen als den eigenen Bauchnabel. Sie machen den Mund auf, wo die Würde und die Freiheit anderer in den Dreck gezogen werden, weil sie eine andere Hautfarbe, Religion oder sexuelle Orientierung haben. Sie packen mit an, wo Herzen und Hände gefragt sind. Wie in unserer Stadt die Initiative „Herz statt Hetze - Für ein buntes, weltoffenes Dresden“. Deshalb wird von den deutschen Lutherstädten alle zwei Jahre der Preis „Das unerschrockene Wort“ verliehen. Er gilt Frauen und Männern, die die innere Freiheit haben, den Mund aufzumachen, widerständig zu sein und öffentlich zu ihrem Glauben zu stehen, wo der Mainstream lieber wegschaut. Und, besonders wichtig: Freihälse Gottes müssen keine Angst haben sich zu verlieren. Denn sie sind ja längst gefunden.

Liebe Gemeinde,

die Kirche ist eine Gemeinschaft von Freihälsen. Sie ist der Raum, in dem Menschen über sich hinaus und aufeinander zu kommen. In dem sie sich einschwingen in den Klang der von Gott geschenkten Freiheit. Die wir nicht erkämpfen müssen, sondern nur empfangen brauchen. Ich muss mir nicht selbst aus meinem Innern sagen, was ich mir eh nie selbst sagen kann. Ich muss mir nicht nach den Gesetzen eines Positive thinking ständig einhämmern: „Ich bin okay, alles okay!“ Stattdessen kriege ich durch das Evangelium von Gott zu hören: Nein, so okay bis du nicht - sondern ein trauriger Sünder! Aber gerade so habe ich dich grenzenlos lieb! - Und nicht nur die Wahrheit, erst recht die Liebe wird uns frei machen.


AMEN.

Die Wahrheit braucht keine Dome

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Die Wahrheit braucht keine Dome. Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm.“ Mit diesem Satz begann der damalige Präses der rheinischen Kirche Peter Beier seine denk-würdige Predigt bei der feierlichen Wiederindienstnahme des restaurierten Berliner Doms vor 28 Jahren im Juni 1993. Ich finde das einen unglaublich guten und wahren Satz. Gut und wahr auch für uns hier und heute, wo wir in unserer wieder aufgebauten Frauenkirche zum 16. Mal den Kirchweihsonntag feiern. Es steht uns nicht nur gut an, es ist auch geistlich entscheidend, dass wir uns bewusst bleiben: Gott braucht keine Dome. Sein liebes Evangelium kriecht in der kleinsten Erzgebirger oder Lausitzer Dorfkirche unter und hält sie warm. Also braucht er auch keine Frauenkirche. Als Aussage über Gott und sein Wort ist jener Satz von Peter Beier einfach nur wahr. Anders wäre es, wenn dieser Satz eine Aussage über uns wäre. Dann käme er in Schieflage und würde so nicht mehr stimmen. Dazu nachher. Jedenfalls sind wir schon mitten drin im Predigttext dieses Festsonntages. Es ist ein kurzer Abschnitt aus dem 8. Kapitel des 1. Buchs der Könige.

I.

Die Verse unseres Textes sind nur ein kleiner Teil eines langen, feierlichen Gebetes, mit dem Israels großer König Salomo den neu erbauten Tempel seiner Bestimmung übergibt. Es war ein erstaunlicher, ja man muss sagen, ein verstörender Akt in der Glaubensgeschichte Israels bis dahin, ein Haus zu errichten, in dem Gott wohnen soll. Denkt Salomo, verwurzelt im Glauben seines Volkes, auf einmal wie die Heiden? Die sehen ihre Tempel als Wohnungen Gottes an, bisweilen wird die Gottheit nahezu identisch mit dem Bauwerk. Israel hat doch das Gebot, sich von Gott kein Bild zu machen. Salomo spürt, dass durch das Bauen des Tempels eine Spannung zur bisherigen Glaubensgeschichte aufkommt. Auf jeden Fall ist das eine tiefe Zäsur. Deshalb legt Salomo größten Wert darauf, das Band zur Tradition nicht abreißen zu lassen und die Erinnerungen an Gottes Geschichte mit seinem Volk in das Neue des Tempels mit einzuzeichnen. So werden die Dinge, die in der Vergangenheit zeichenhaft an den bildlosen Gott erinnert und ihn für seine Menschen sozusagen geerdet haben, von den Priestern jetzt feierlich in den Tempel gebracht.

Da ist die Bundeslade. Eine äußerlich schmucklose längliche Kiste, in der die Gesetzestafeln aufbewahrt waren, in die Mose am Sinai Gottes Gebote als Hilfe zum Leben gemeißelt hatte. Seit der Wüstenwanderung der Kinder Israel war die Bundeslade das geheiligte Symbol von Gottes Gegenwart. Ließen die Priester sie nieder, so wusste man Gott bei sich im Lager. Hob man sie auf, so machte Gott sich selber auf, um mit seinem Volk unterwegs zu sein. - Ebenso erinnert die Stiftshütte an Gottes Bund, ein Gerüst mit vergoldeten Brettern und kostbaren Teppichen. Sie war das Heiligtum Israels in den Zeiten der Wanderung, ein „Zelt der Begegnung“, wie sie es nannten. Denn hier begegnete Gott dem Mose immer wieder in einer Wolke, um ihm Wegweisung zu geben. - Eine solche Wolke erfüllt jetzt auch den neu errichteten Tempel, nachdem die Priester Lade und Stiftshütte hineingetragen haben. Wie einst Mose Gott nicht unmittelbar, sondern nur in der Verhüllung einer Wolke begegnen konnte, so ist es jetzt Salomo, der vor dieser Wolke für sein Volk betet, Gott um Nachsicht und Verstehen bittet für den Traditionsbruch des Tempelbaus.

Wer von denen unter uns, die den 30. Oktober 2005 erlebt haben, an den Bildschirmen oder auf dem brechend vollen Neumarkt, oder sogar unter den Glücklichen, die den Weihegottesdienst in der in neuem Glanz erstrahlenden Frauenkirche mitfeiern konnten: wer von all denen hätte bei jenen Bildern von der Einweihung des Jerusalemer Tempels nicht die Bilder von vor 16 Jahren vor Augen?! Statt Bundeslade und Stiftshütte waren es damals die sog. Prinzipalien, also Taufstein, Altarbibel, Abendmahlsgeschirr u.a., die damals durch Landesbischof Bohl und andere feierlich wieder in ihren liturgischen Dienst genommen wurden. Man kann das ja immer noch auf Youtube ansehen. Manchmal tue ich das, und dann läuft es mir immer noch den Rücken runter. Obwohl ich damals weit weg von hier lebte und das nur staunend am Fernseher verfolgt habe.

Beides war in jenem unvergesslichen Gottesdienst zu spüren: Wir können einen Kirchenraum mit anschaulichen Zeichen der Treue Gottes ausstatten. Wir können ihn mit Glanz versehen, als Gleichnis für den himmlischen Überschuss der unbegreiflichen Gnade Gottes - so wie das damals George Bähr und dann die Wiedererbauer in dieser Kirche so einmalig vollbracht haben. Aber alles Gold, alle Deckengemälde der Frauenkirche mit ihrer alles überstrahlenden Gloriole, sie können Gottes Gegenwart und die Gabe seines Geistes nicht ersetzen. Auch im herrlichsten Kirchenraum sind wir nicht im Himmel, denn „aller Himmel Himmel können dich nicht fassen“, wie Salomo so nüchtern wie fasziniert in seinem Gebet formulierte, als er den neuen Tempel betrat.

II.

Wie gesagt, die vier Verse unseres Predigttextes sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus einem nicht enden wollenden langen, auch etwas langatmigen Gebet, das Salomo zu diesem Anlass spricht. Das könnte sich heute kein Liturg mehr erlauben, wo der Satz „Man darf über alles predigen, nur nicht über 12 Minuten“ längst zum Mantra der Pastor*innen geworden ist. Es scheint fast, als fühle sich Salomo Gott gegenüber unter riesigem Rechtfertigungsdruck für dieses Projekt Tempel, das für den Glauben Israels etwas Neues, noch nie Dagewesenes bedeutet. Auch da gibt es verblüffende Bezüge zur Wiederaufbau-Geschichte der Frauenkirche. Auch dieses Jahrhundertprojekt war ja nicht so glatt und unumstritten gelaufen, wie es von heute her aussieht. Im Mai kurz nach meinem Beginn als neuer Frauenkirchenpfarrer lief mir ein alter Pfarrer hier auf dem Neumarkt über den Weg. Er sprach mich an und sagte, er habe die Frauenkirche noch nie betreten und werde das in diesem Leben auch nicht tun. Auch solches gibt es. Man kann darüber den Kopf schütteln, das als verstockt ansehen. Aber es schwingt darin wohl noch etwas von dem nach, was vor über 30 Jahren, als der berühmte „Ruf aus Dresden“ in die Welt hinaus ging, viele in der Landeskirche empfanden: Steht uns das an, als evangelische Kirche mit solch barocker Pracht und Prunk verbunden zu werden? Wird dadurch nicht überlagert, ja verdunkelt, was doch Kern und Stern des Protestantischen ist: Einfachheit, Bescheidenheit, Knappheit, die Konzentration auf Gottes Wort, das sich seinen Weg zu den Menschen bahnt ohne Brimborium und große sinnliche Stützen? Und überhaupt, nach dem elenden 20. Jahrhundert: wäre der Erhalt der Ruine nicht die eindringlichere Botschaft gewesen, näher dran auch an dem, wofür die Evangelische Kirche gerade in der DDR friedensethisch stand und was dann zu der wunderbaren Rolle geführt hat, die sie im Wendeherbst 1989 spielte? Sind wir als Protestanten nicht Kirche des Kreuzes, einer theologia crucis verpflichtet und weniger der theologia gloriae, deren steinerne Zeugin die Frauenkirche war? So dachten damals viele Christ*innen - nicht nur in der sächsischen Landeskirche. So war es zunächst auch weniger die Christengemeinde, sondern die Bürgergemeinde, die durch das enorme Echo auf den „Ruf aus Dresden“, und durch den staunenswerten Einsatz beherzter Männer und Frauen aus Dresden und anderswo eine Dynamik für den Wiederaufbau in Gang brachte, die übermächtig wurde. Und die dann - heute sagen wir alle: Gottseidank - auch die Kirche erfasste und zu einem Ja zum Wiederaufbaus brachte. Das alles mündete in den 30. Oktober 2005.

So steht sie nun wieder an ihrem Ort, die Frauenkirche, im altneuen Glanz. Mit ihrer einzigartigen Kuppel Fokus und Krönung des „Canaletto-Blicks“, der Dresden zum „Elbflorenz“ gemacht hat. Sie ist eine Kirche, und doch nicht nur, sondern mehr als das, nämlich ein Hybrid, wie man neudeutsch sagt, wo sich Christengemeinde und Bürgergemeinde wie selten an einem Ort begegnen, vermischen, auch Reibungen untereinander, Funken erzeugen. Genau so soll es sein. Aber zuerst und zuletzt bleibt sie doch ein Gotteshaus. Wie damals der Jerusalemer Tempel.

III.

Wir sind Protestanten, also eher cool und rational, religiös in der gemäßigten Zone beheimatet. Wir wissen gut, dass Gott nicht an heilige Räumen und besondere Zeiten gebunden ist. Wir wissen es zu gut, leider. „Ich glaube an meinen Herrgott, aber dazu muss ich nicht in die Kirche rennen; ich erfahre ihn mehr am Sonntag in der Sächsischen Schweiz“ - wird einem Pfarrer oft gesagt. Nun ja, die Erzketzerei ist das nicht, schon Luther hat gesagt: „Wo Gottes Wort klingt, sei es im Wald oder im Wasser, da ist ein Bethel, ein Gotteshaus“. Das stimmt - nur habe ich Gottes Wort im Rauschen der Waldwipfel eher selten erklingen hören. Über allen Gipfeln ist ja eher die Ruh. Und dass ich wieder aufatmen kann, weil mir Schuld vergeben wird, dass ich Verbindung zu anderen finde, die auch zu glauben versuchen: das habe ich im Elbsandsteingebirge auch noch nicht wirklich erfahren. Dazu brauche ich den Gottesdienst, deshalb bleibt er unverzichtbar.

Klar, Gott begegnet uns nicht nur in den Kirchen. Aber im Gotteshaus will er uns begegnen, dort dürfen wir ihn ganz gewiss erwarten: da, wo wir als seine Gemeinde beieinander sind, sein Wort hören, mit ihm im Gebet sprechen können und wo er sich uns in den Sakramenten schenkt. Natürlich: Er, den alle Himmel nicht fassen, braucht keine festen Orte und festen Zeiten. Die Wahrheit, wie gesagt, braucht keine Dome und Barockkirchen. Aber wir, gehetzt, zerrissen wie wir oft sind, wir brauchen sie. Es ist ein Segen, dass wir diese festen, schönen Orte und festen Zeiten haben. Ohne sie hätten wir Gott längst verloren. Serva ordinem et ordo te servabit - Halte die Ordnung ein, und die Ordnung wird dich halten und tragen: heißt es geistlich und psychologisch sehr weise in der alten Regel der Benediktiner. Ein Dichter hat einmal gesagt: „Als der Mensch den ersten Altar baute, wurde er Mensch. Wenn er den letzten abreißt, wird er wieder zum Tier“. Gott ist überall da, sonst wäre er nicht Gott. Aber er ist nicht überall für uns offenbar und erfahrbar. Im Gegenteil, Gott kann uns zusetzen und quälen, wenn er uns rätselhaft und unheimlich bleibt. Wir ertragen den Gott nicht, der für uns dunkel bleibt, in Katastrophen, Schicksalsschlägen verborgen, weil wir nicht wissen, ob er für uns oder gegen uns ist.

Gott weiß das. Und deshalb weiß er auch, dass uns nur geholfen ist, indem er sich uns an bestimmten Orten zu erkennen gibt und sich dort finden lässt. Deshalb spielt er das religiöse Spiel der Israeliten mit und lässt sich, vielleicht mit einem leisen himmlischen Seufzer, auf den Tempelbau ein. Luther hat gesagt: „Gott ist frei und ungebunden allenthalben, wo er ist, und muss nicht dastehen als ein Bube am Pranger oder Halseisen geschmiedet“. Das ist wahr. Aber wenn der freie, himmlische Gott sich bindet und „erdet“, vom Bau des Tempels über die Sendung Jesu in diese Welt bis zum Ausgießen des Geistes, dann tun wir gut daran, uns eben dort an ihn zu wenden. In einem alten Adventschoral heißt es: „Seht, wie so mancher Ort / hochtröstlich ist zu nennen, / da wir ihn finden können / in Nachtmahl, Tauf‘ und Wort“.

Das gilt auch für unsere Frauenkirche. Sie ist nicht nur das Missing link zum berühmten Dresdner Stadtbild, mehr als die klaffende Wunde des 15. Februar 1945, die 60 Jahre später endlich geschlossen wurde. Sie ist für viele Menschen, in Dresden, aber auch weit weg von hier, zu einem solchen hochtröstlichen Ort geworden. An dem sie Gott näher kommen, etwas von dem „Geschmack fürs Unendliche“ kosten, wie der große Theologe Schleiermacher das genannt hat. Und wo sie ganz persönlich erfahren, dass die Bitte Salomos nicht ins Leere gesprochen blieb: „Lass deine Augen offen stehen über diesem Haus Tag und Nacht. (…) Erhöre das Bitten deines Knechtes und deines Volkes Israel, wenn sie an dieser Stätte bitten werden. Und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein.“

AMEN.

Altwerden geht auch für Feiglinge

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

„Ach wie nichtig, ach wie flüchtig sind der Menschen Sachen. (…) Alles, alles, was wir sehen, das muss fallen und vergehen“ haben wir eben gesungen. Novembertöne des Barockdichters Michael Franck. Das spielerische Miteinander der Gegensätze von Leben und Tod, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Weltflucht und Weltsucht, das die Kunst des Barock geprägt hat, lässt sich Francks Lied nicht abspüren. Es ist ganz bestimmt von der inneren Seelennot, der allein das Vertrauen auf Gott standhalten kann. Auch das Schöne steht unter dem Verdikt des „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig sind der Menschen Tage!“ Dieses Memento mori hat sich Michael Franck bei einem Dichterkollegen aus der Spätzeit des Alten Testaments abgelauscht: dem sog. Prediger, einem Vertreter der alttestamentlichen Weisheit, aus dessen Sentenzen der heutige Predigttext kommt. Er steht im Buch des Predigers im 12. Kapitel.

I.

Das hebräische Wort, das Luther mit „Prediger“ übersetzt hat, lautet Kohelet. Zu Deutsch heißt das „Versammlungsleiter“. Ob bei seinen Versammlungen Freude aufgekommen ist, darf man bezweifeln. Denn das unterscheidet ihn von den meisten Stimmen in der Bibel, dass gerade dieser sog. Prediger keinen Verkündigungsauftrag, kein hilfreiches Wort mehr hat für eine Zeit, die immer hybrider wird. Der Glaube Israels trägt nicht mehr. Jetzt, im dritten vorchristlichen Jahrhundert, strömt der Hellenismus ein, der griechische Geist der Antike mit ihren großartigen Philosophen. Das kommt in der flirrenden Stadtluft Jerusalems, wo der Prediger unterwegs ist, attraktiver rüber als der überkommene Glaube an den Gott Israels. Das Wort „Gott“ hat seinen Reiz, seine Größe verloren. Der Prediger ist zwar kein solcher - aber reden, das kann er! Sein Reizwort lautet „Häbäl“, zu Deutsch Nichtigkeit, Eitelkeit. Entsprechend endet auch unser Textabschnitt mit der Feststellung, die sich mit ermüdender Monotonie durch das gesamte Buch des Predigers zieht: „Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, ganz eitel.“


Wir können uns diesen Prediger, der keiner mehr sein will, ganz gut in einem in hellenistischem Stil gehaltenen Haus in Jerusalem vorstellen. Eine Art orientalischer Salon: Man hat Zeit zum Philosophieren, was unter den modernen Jerusalemer Intellektuellen gerade sehr en vogue ist. Auf der Dachterrasse lässt es sich im Kreis Gleichgesinnter bei einem guten Wein von den Höhen des Libanon bis in die Nacht anregend über den Menschen räsonieren. Überall ist der Mensch sich selbst zum vornehmsten Gegenstand geworden. Das Gespräch dreht sich immer weiter und kreist doch eigentlich nur um die eine Frage: Was soll all unser Machen und Tun, wenn wir sowieso sterben müssen? Kurzum: Es geht um Leben und Tod. Aber nicht im Sinn des Überlebens in todbringenden Verhältnissen. Sondern es geht darum, wie wir unsere Endlichkeit ertragen können.

Die Einsicht in unsere Endlichkeit wirft uns zurück auf die Grundfragen unserer Existenz. Man kann versuchen, das mit Humor nehmen. Als der Regisseur Woody Allen einmal ironisch über das Älterwerden sprach, wurde er nach seiner Haltung zum Tod gefragt. Die habe sich, so Woody Allen, nie geändert: er sei vehement dagegen. Die Antwort kann man schräg finden, trotzig oder auch einfach ehrlich. So oder so, bei Woody Allen bringt sie das vergebliche Bemühen auf den Punkt, im Absurden seinen Platz zu finden. Darin gleicht Woody Allen dem Prediger und seinem Cantus firmus „Alles ist flüchtig und Haschen nach dem Wind.“


II.

Unser Textabschnitt ist in der Lutherbibel mit „Jugend und Alter“ überschrieben, wobei die Gewichte ungleich verteilt sind. Die Jugend wird mit kurzen Ratschlägen abgehandelt, umso üppiger dann die reichlich ernüchternde Darstellung des Alterns und das Memento mori, die Erinnerung an den Tod. Die Mahnungen des Predigers atmen, typisch ist für die späte Weisheit Israels, einen lebensklugen Pragmatismus. Alter wie Jugend sind flüchtig, weder das eine noch das andere ist privilegiert. Das Leben soll in der jeweiligen Gegenwart genossen und die Freude nicht auf eine unsichere Zukunft verschoben werden. Carpe diem.


Zum Alter fällt dem Prediger nichts Erfreulicheres ein als diese Lebenszeit mit dem Verdikt „böse Tage“ zu belegen. Das Alter, es sind „die Jahre, da du sagen wirst: Sie gefallen mir nicht“. Es geht einem bei diesen Einlassungen der sprichwörtliche Satz einer amerikanischen Schauspielerin durch den Sinn: „Altwerden ist nichts für Feiglinge“. Das trifft heute einen Nerv. Die Angst vor dem Altwerden lässt Wirtschaftszweige blühen: Kosmetik- und Pharmaindustrie, Schönheitschirurgen, Fitnesscenter, Gesundheitsmessen. Von Second-life-people spricht man heute, oder von den Goldies oder den Herbstzeitlosen. Viele sind fasziniert von dem Narrativ, das Udo Jürgens vor 50 Jahren in Wort und Ton brachte: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an…“ An prominenten Belegen für diese forsche These fehlt es ja nicht. Zum Problem wird aber, dass wir dabei Gefahr laufen zu vergessen, dass das Leben nicht unser Produkt ist, sondern Geschenk. Dass wir nicht Schöpfer, sondern Geschöpf sind. Die genannten Industrien suggerieren, dass wir die Herren unseres Lebens sind, dass es allein an uns liegt, ob wir im Alter noch fit und unbeschwert sind.

Der Prediger sieht das anders. Er findet starke, fast unheimlichen Bilder für die Altersjahre, die der Jugend nicht gefallen werden. Der Körper des alternden Menschen erscheint im Bild eines baufälligen, vielleicht schon verlassenen Hauses. Die zitternden Torwächter repräsentieren die Arme. Die Männer, die sich krümmen, die Beine. Die wenigen Müllerinnen, die immer leiser mahlen, stehen für die Zähne. Die Frauen, die aus den Fenstern ins Finstere schauen, sind die Augen. Die geschlossenen Türen die Ohren. Nebenbei bemerkt, genau von diesem biblischen Bild kommt unsere deutsche Redewendung „Du altes Haus!“ Es ist wie eine dunkle Negativ-Folie zum Bild des Paulus von Leib Christi als einem quicklebendigen Organismus mit vielen Gliedern, die alle aufeinander eingestimmmt ist. Der Prediger muss dieses Bild für das Älterwerden gar nicht ausdeuten. Es ist selbsterklärend. Der Mensch wird schwächer, sein Leben gleicht dem auf- und abschwellenden Gesang der Vögel und die Natur vollzieht ihren Kreislauf. Der ewigen Wiederholung in der Natur ist der Weg des Menschen entgegengestellt, der unerbittlich in den Tod, sein ewiges Haus, führt. Die Jugend soll an den Tod denken, solange noch Zeit ist. Denn nur das Wissen um den Tod führt zur Weisheit: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden“, sagt der 90. Psalm. Allein das Bedenken unserer Vergänglichkeit macht uns dazu fähig, die Kostbarkeit des Lebens zu ermessen, die schönen Momente dankbar als Geschenk zu nehmen.

Sicher, der Mensch und, was er schafft, ist alles vergänglich. Doch wird das menschliche Leben damit weder sinnlos oder, wie Woody Allen meinte, eine makabre Groteske. Der Cellist Pablo Casals, einer der größten Musiker des 20. Jahrhunderts, hatte so gesehen ein überaus gelingendes Leben. Auch als über 90jähriger übte er noch täglich vier bis fünf Stunden Cello. Auf die Frage, warum, antwortet er lakonisch: „Weil ich den Eindruck habe, ich mache Fortschritte“. Und über sein Alter sagte er: „Ich bin jetzt über 93, also nicht gerade jung, jedenfalls nicht mehr so jung wie ich mit 90 war. Aber Alter ist etwas Relatives. Wenn man weiter arbeitet und empfänglich bleibt für die Schönheit der Welt, dann entdeckt man, dass das Alter nicht zwingend Altern bedeutet, wenigstens nicht im landläufigen Sinne. Ich empfinde heute viele Dinge intensiver als früher, und das Leben fasziniert mich noch genauso wie vor 40 Jahren.“

III.

Nun sind genial begabte Menschen wie Pablo Casals Ausnahmeerscheinungen. Aber auch für uns Normalsterbliche gilt: Altwerden kann durchaus auch was für Feiglinge sein! Menschen, die das Alter nur noch oder überwiegend als Last erleiden, vielleicht auch die Sehnsucht haben, davon durch den Tod befreit zu werden, gilt es schon ernst zu nehmen. Aber das kann auch heißen, mit ihnen auszuloten, ob nicht auch in dem als Last gefühlten Leben nicht doch noch Potenzen stecken, die es lohnend machen. Drei solcher möglichen Potentiale will ich zum Schluss andeuten.

Zum ersten. Ich muss nicht mehr in der ersten Reihe stehen. Ich muss niemand mehr etwas beweisen. Allenfalls noch mir selbst. Und das dann auf ganz anderen Ebenen als auf der Prestigeschiene. Die Karriereleiter ist Vergangenheit, auf die ich gelassenen und hoffentlich sogar lächelnd zurückschauen kann. Es wird leichter, anzunehmen, dass ich nicht Herr im eigenen Haus bin, mein Leben nicht bis ins Letzte verantworten muss. Das gilt zwar in jeder Lebensphase, aber im Alter erkenne ich das besser. Ich bin einfach da, weil es Gott gefällt - nicht, weil ich für irgendeinen Zweck verwendbar bin. Das zu erkennen kann sehr befreiend und tröstend sein.

Zum zweiten. Das Geschenk, Enkel zu haben. Als meine Eltern vor 25 Jahren ihr erstes Enkelkind bekamen, hing bald ein Button an der Pinwand ihrer Küche Da stand drauf: „Wenn ich gewusst hätte, wieviel Freude Enkel machen, hätte ich die zuerst bekommen.“ Damit ist etwas von dem Zauber ausgedrückt, Großeltern zu sein. Es ist alles so viel lockerer als es mit den eigenen Kindern war. Ich bin nicht für die Erziehung verantwortlich; naja ein bisschen vielleicht doch, aber es ist ganz anders. Ich muss sie nicht anhalten, ihre Hausaufgaben zu machen oder aufzuräumen. Ich kann mit ihnen spielen und herumtoben. Ich kann ihnen Geschichten erzählen. Nicht mit dem Unterton: Früher war alles besser. Aber ich kann erzählen von dem, was gut und interessant war in meinem Leben. Erzählen war schon immer die Sache der Großeltern. Und nicht zuletzt, ich kann mit ihnen singen. Immer weniger Eltern tun das ja noch mit ihren Kindern.

Und zum letzten. Je älter ich werde, desto breiter wirft der Tod seine Schatten. Unser Text beschreibt das wieder in starken Bildern: „Denn der Mensch fährt dahin (…), der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad fällt zerbrochen in den Brunnen.“ Ich sterbe nicht erst, wenn der Tod eintritt; jeder Tag bringt mich näher dahin. Wie ein langsames Sich-aus-dem-Leben-Rausstehlen. Im Alter erfährt man das elementar: Der Radius an Kontakten verkleinert sich, die Beweglichkeit lässt nach. Was geht, wird weniger; was nicht mehr geht, wird mehr. Und: Es geht immer öfter auf den Friedhof. Man ist auf der Zielgeraden. Das ist die Zeit zum Entrümpeln. Wie bei einem Umzug: Was nicht mehr gebraucht wird, wird weggegeben. Das Lebenshaus leert sich, nur die wirklich wesentlichen Dinge werden mitgenommen. Wenn ich nur noch ganz wenig um mich habe, in einem Kranken- oder Sterbezimmer, ist dann mein Leben entrümpelt? Bin ich dann beim Wesentlichen angekommen?

Ob ich dann wohl auch frei werde von dieser oder jener Last, die ich lange mit mir herumgeschleppt habe? Frei von meiner Schuld, wo ich einem anderen Menschen sehr weh getan habe? Frei von dem, was ich versäumt, wo ich meine Gaben brachliegen gelassen habe? Ist noch Zeit, etwas in Ordnung zu bringen? Hoffentlich begreife ich aber auch: manches kann ich nicht mehr gutmachen. Was geschehen ist, ist geschehen. Rückgängig kann ich es nicht mehr machen. Aber ich muss nicht mein eigener Richter sein. Das ist einer, der nicht nur gerecht, sondern barmherzig ist, einer, der mich unbedingt liebt, einer, der mir die Hände unter den Kopf legt, wenn ich sterbe. Weil er versprochen hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28).

Altwerden: wirklich nichts für Feiglinge? So oder so, auf jeden Fall könnte Altwerden etwas für Träumer sein. Denn im Alter drehen sich Träume nicht mehr so sehr um das, was war in diesem Leben. Sie schauen mehr nach vorne, auf einen neuen Anfang, auf ein Ziel. „Denk an deinen Schöpfer“, so beginnt unser Text. Weil ich aus Gottes Hand bin, werde ich in seiner Hand bleiben. So gesehen ist das Alter ein Zieleinlauf nach einem Marathon mit all seinen schönen und harten Abschnitten. Es ist schön, wenn ich auf der Zielgeraden mit Goethes Türmer sagen kann: „Es sei wie es wolle, es war doch so schön.“ Aber jetzt habe ich das Ziel vor Augen. Das Glück, die Erleichterung, wenn ich über die Ziellinie bin. Und dann die Siegerehrung: Willkommen bei Gott!


AMEN.

gehalten im Rahmen des Gottesdienstes mit Traujubiläum von
Superintendent Sebastian Feydt, Leipzig
(und von 2007-2020 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Liebe Gemeinde,

es muss gar nicht immer den ganz großen Knall geben. Dass etwas zu Bruch geht, das kann auch leise passieren; schleichend, im Verborgenen. Da höhlt sich stillschweigend etwas aus, das lange getragen hat: meine Beziehung zu anderen, mein Wertegerüst, mein Selbstvertrauen – auch mein Glaube?

Ja, aufhören oder zu Bruch gehen kann auch meine Beziehung zu Gott. Mose, von dem wir gehört haben, hatte die steinernen Tafeln mit den An-Geboten Gottes mit lautem Knall zu Bruch gehen lassen. Und nun heißt es wieder: Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand dann morgens früh auf und stieg auf den Berg Sinai...Und Gott ging vor seinem Angesicht vorüber. Und Mose rief aus: Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Herr, habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte.
Liebe Gemeinde,

diese Bitte kennen wir nur zu gut: Gott möge in der Mitte gehen; mitten unter uns sein. Wie oft sprechen wir so, wenn wir uns mit einem Blick nach oben an Gott wenden? Wie oft kommt diese Bitte ganz tief aus unserem Innersten: Gott möge doch bitte endlich dafür sorgen, dass diese Krankheit heilt, der Tod aufgeschoben ist, Gerechtigkeit gestiftet wird, für Frieden gesorgt ist; So verständlich all diese wohlmeinenden Bitten an Gott sind: Es wird nicht geschehen!

Gott selbst rückt diese Vorstellung zurecht: Haben Sie es noch im Ohr?
Gott sagt zu Mose: Ich will Wunder tun an den Menschen, in deren Mitte du! gehst.

Von Gott her hören wir hier eine ganz klare Weigerung, uns Menschen aus der Verantwortung zu entlassen. Kein Bruch im Leben, kein Ablassen von Gottes, keine Missetat kann Gott dazu bringen, uns Menschen die Mündigkeit und Selbstständigkeit und Verantwortung für das Leben abzunehmen. Das weiter zu denken ist ein aufklärerischer Vorgang. Gott lässt sich nicht in eine Macht-Vorstellung, schon gar nicht in die Vorstellung einer Gottesherrschaft bringen, die Menschen als das Abbild Gottes entmündigen würde, sondern wir werden vielmehr in unserer Verantwortung vor Gott gestärkt. Nicht, ohne dennoch Gottes Gegenwart zu vertrauen, nicht ohne Gottes wunderbares und Wunder wirkendes Handeln anzunehmen. Aber wir werden nicht auf den Irrweg geführt, mit Gott in unserer Mitte uns selbst zurücknehmen zu können, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, dass Gott schon das Notwendige tun wird. Das wäre letztlich die Vorstellung einer Art Theokratie, einer Herrschaft Gottes, der in der Bibel nie das Wort geredet wird und schon gar nicht der Weg geebnet ist.

Nein, vor aller Welt will Gott Wunder tun, vor einer Welt, in deren Mitte Menschen wie Mose oder Sarah oder Abraham oder Paulus oder Maria oder Jesus Christus – und in seiner Nachfolge Sie und ich, wir stehen.

Wir können uns auf Gott berufen und verlassen. Einstimmen in das Bekenntnis des Mose: Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Wir können uns auf Gott verlassen. Ohne Angst!

Wirklich, ohne Angst, werden Sie jetzt vielleicht fragen! Spricht der alte Text nicht eine ganz andere Sprache und letztlich dagegen? Das ist Ihnen sicher hängen geblieben bei der Lesung: aber ungestraft lässt Gott niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindes-Kindern bis ins dritte und vierte Glied.

Dass Missetaten, zumal in der Erziehung, Spätfolgen zeigen können, verwundert heute nicht mehr wirklich. Wer in den letzten zehn Jahren Kinder begleitet hat, sich bemüht hat ihnen ein gutes Elternteil zu sein, der weiß: unser Lebenswandel hat Folgen für sie und ihre Kinder, unser Enkel und Urenkel. Unsere Art zu wirtschaften hat heute schon abgewirtschaftet, nicht erst in der nächsten und übernächsten Generation. Und als Kinder unserer eigenen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern wissen wir um die Spätfolgen deren Verstrickungen in Krieg und Verbrechen vor 80 Jahren; die Traumatisierung dauert über Generationen bis heute an.

Und doch: So sehr wir uns diesen Spätfolgen gedanklich nähern: Die Vorstellung von einem strafenden Gott, ist in Vielen von uns doch tief verankert. Selbst bei Menschen, die wenig oder gar nicht fromm sind. Gar nicht glauben. Wie viele Schicksalsschläge unter uns werden heute immer noch als Strafe Gottes verstanden? Da ist die Erfahrung mit dem Tod von Kindern, den Missbrauch von jungen Menschen, die Auseinandersetzung mit einer unheilbaren Krankheit. Wie schnell sind wir dabei, das, was wir nicht einordnen können, als Strafe Gottes anzusehen?

Und umgekehrt: Um wie viel schwerer fällt es uns, den liebenden, langmütigen, geduldigen und gütigen Gott anzunehmen und diesem Gott zu vertrauen? Vielleicht ist das ja sogar die weitaus größere Aufgabe oder vielleicht ist diese Vorstellung von Gott sogar die größere Provokation, angesichts unseres Lebens, dem Kranksein und Sterben müssen, dem Brüche und Katastrophen unweigerlich eingeschrieben sind.

Liebe Gemeinde,

Sie merken: Hier steht unsere Vorstellung von Gott in Rede. Genauer gesagt steht hier meine Vorstellung, meine Beziehung zu Gott in Rede. Was ich wirklich glaube. Dass die Rede von einem lieben Gott eine schöne Erfindung ist? Oder glaube ich an Gott, der sich mir – als Mensch – als Person, als Frau oder Mann oder Jugendlichen oder Älterem unmittelbar und ganz direkt zuwendet? Glaube ich das? Glaube ich, dass es einen ganz unmittelbaren Bundesschluss Gottes mit mir gibt? Dass Gott etwas mit mir zu tun haben will?

Es zeichnet den christlichen Glauben aus zu vertreten, dass jeder Mensch, ausnahmslos direkt vor Gott, ganz unabhängig von seiner Herkunft, von seinem Geschlecht, von seinen Äußeren, von seiner Abstimmung etc. vor Gott steht. Nicht wir alle zusammen in einer anonymen Gruppe, nicht als Volk, oder als Menschheit, sondern jede und jeder für sich, ganz individuell. So kritisch wir heute die Tendenz zur Individualisierung innerhalb aller Lebensvollzüge sehen: In meiner Beziehung zu Gott ist die Individualisierung sogar christlich begründet. Durch das Kreuz. In dem Leiden Jesu Christi am Kreuz wird ein Leiden stellvertretend des Einen für andere, für alle anderen Menschen verstanden. Das nachzuvollziehen fällt uns heutigen modernen Menschen sehr schwer.

Aber gerade darin liegt ein Schlüssel, die Angst vor einem strafenden Gott, die Vorstellung von der ständig drohenden Strafe Gottes ablegen zu können und dem Gott der Liebe zu vertrauen. Weil ich diesen Gott mit leidend und mit gehend und mit sterbend und mit neu ins Leben findend  ansehen kann. Weil ich in diesem Gott mein Gegenüber erkenne, der, oder die, das mich so annimmt, wie ich bin. Es geht nicht mehr darum, was ich getan habe oder was du getan hast. Ob es richtig oder falsch war. Es geht nicht in erster Linie um schuldhaftes Verhalten und Reden. Es geht darum, dass ich als ein Mensch bei Gott bin und bleibe. Nicht allein auf mich gestellt bleibe, nicht verlassen mit mir allein zurechtkommen soll, sondern Gott recht bin, gerechtfertigt bin vor Gott. Das geht nicht mit einem strafenden Gott, sondern ausschließlich in der engen Beziehung zu dem mich liebenden Gott, der mich sucht.

Ich gebe zu, dass das nicht ganz leicht ist. Seit 500 Jahren trägt diese auf den einzelnen Menschen orientierte rechtfertigende Lehre durch die Reformation bis heute durch. Nicht meine Verantwortung an Gott wegdelegieren zu wollen. Sondern selbst Verantwortung zu übernehmen. In der Mitte zu stehen und mich von Gott gehalten zu wissen. Und umgekehrt mich von Gott in die Freiheit hinein lieben zu lassen. Das ist wunderbar. So wie es Gott sagt: Wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

Wenn das keine Verheißung ist.


AMEN.

gehalten im Rahmen des Gottesdienstes mit Traujubiläum von
Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Das Herz ist vernarbt.

Der alte Baum hat es nicht übel genommen, damals als das frisch verliebte Paar in seinem Schatten sein Glück fand. Als wollten sie ewig bleiben, bauten sie sich ihr Liebesnest, aßen, tranken, liebten sich, erzählten sich ihre Geschichte, redeten unablässig, nicht ohne sich immer wieder in die Arme zu nehmen und mit den Lippen zu berühren. Irgendwann nahm er das Küchenmesser, das sie für das Picknick einpackt hatten, und ritzte ein Herz in die Rinde der Buche direkt über den Ort, wo sie ihre Fahrräder angelehnt hatten. Zwei Buchstaben, ein Datum. Der Baum ertrug es mit Gelassenheit. Damals schon übertraf er das Lebensalter der beiden um Jahrzehnte. Heute steht er noch immer.

Das Herz wie ein Tattoo auf seiner Rinde. Immer noch etwa auf Augenhöhe, nur dicker ist es geworden und vernarbt. Die Buchstaben und Zahlen nur noch schwer zu lesen. Mehr eine Ahnung. War es die erste Liebe, die wie ein Strohfeuer schnell erloschen ist? Oder haben die beiden Jahre, vielleicht Jahrzehnte miteinander verbracht? Sind sie je wiederkommen; gemeinsam oder einzeln; mit Glück im Herzen oder mit Tränen in den Augen? Haben sie es ihm gedankt oder ihn gar verspottet, dass der Baum seine Botschaft in der Rinde konserviert hat?

Und ich, ich stehe nun auch vor ihm, halb mitleidig, dass man ihm mit dem Messer Gewalt angetan hat, halb ehrfürchtig, dass ihm keine Liebe zu gering ist, um nicht bewahrt zu werden.

Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen, heißt es in der Bibel. Liebe sucht Ewigkeit. Wie brüchig unsere Fähigkeit zu lieben auch immer sein mag, der Wert der geschenkten Zuwendung zweier Menschen wird bleiben. Mögen Herzen auch vernarben in der Mühe um das Gelingen einer Ehe, im Schmerz über Enttäuschung und Trennung oder in der Angst vor Verlust und Einsamkeit – Liebe ist niemals sinnlos oder vergeblich. Auch wenn sie sich auf Erden nur zum Teil erfüllt, so bleibt sie doch ein Angeld auf die Ewigkeit.

Denn die Liebe glaubt,
glaubt an Gott oder wie die himmlische Kraft auch immer heißt;
sie hofft über alle Grenzen hinaus.
Sie ist die Größte.


AMEN.

Vom Glück »Gott sei Dank« zu sagen

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

alle fünf, sechs Jahre, fallen der Erntedanktag und der 3. Oktober, unser Nationalfeiertag, aufeinander. Ob das nur ein Zufall ist, oder ob da nicht doch auch ein wenig himmlische Regie spielt? Heute ist es wieder einmal so: wir feiern Erntedank, in Magdeburg feiern sie den „Tag der deutschen Einheit“, zum 31. Mal inzwischen. Ich komme aus der alten Bundesrepublik, da trug der 17. Juni diesen Namen. Es gab zwar auch schulfrei, aber gefeiert hat eigentlich keiner. Weil kaum einer wirklich an die Wiedervereinigung geglaubt hat, obwohl man zumindest an diesem Tag gerne von „unseren Brüdern und Schwestern drüben“ redete. Man ließ die Politiker ihre Reden halten, freute sich über den freien Sommertag, machte Ausflüge oder besuchte die Oma.

Auch nach 31 Jahren im neuen Deutschland haben wir kein wirklich geklärtes Verhältnis zu unserem Nationalfeiertag. Das hat wohl mit unserer Geschichte zu tun. Aber etwas ist doch anders geworden gegenüber dem „17. Juni“. Die Repräsentanten des öffentlichen Lebens aus ganz Deutschland feiern die „Wiedervereinigung“ wie eine Art Erntedankfest. Sie versuchen es jedenfalls. Obwohl sie und wir alle wissen: trotz etlicher „blühender Landschaften“, die inzwischen wirklich entstanden sind in den neuen Bundesländern - überwältigend üppig ist die Ernte der bisherigen Vereinigungsbemühungen bisher nicht. Die so unterschiedlichen Ergebnisse der Wahl vor einer Woche in West und Ost zeigen einmal mehr: die Wahrnehmung der Realität zwischen Regierenden und Regierten klafft weit auseinander. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz, Beauftragter der Regierung für die neuen Länder, hat durch seinen Klartext hierzu im Frühsommer eine heftige Debatte ausgelöst. Wie immer man zu seinen Aussagen steht, es zeigt wohl, dass er da in eine offene Wunde gegangen ist. Aber trotz alldem, sie feiern jetzt in Magdeburg. Und das ist gut so! Nicht obwohl, sondern durchaus weil die Probleme nicht wenige sind. Das klingt widersprüchlich. Aber genau mit diesem Paradox sind im Kern des Erntedankfestes.

I.

Unser Unser Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief hilft uns, auf die Spur zu kommen. Dieser Brief - er ist unter den Paulusbriefen der farbigste, erfahrungsgesättigste - ist nicht an Menschen im ländlichen Bauernidyll, sondern an Großstädter gerichtet. Und zwar an solche, die mehr zu kämpfen hatten als wir. Die Menschen der jungen, von Paulus gegründeten Christengemeinde in der pulsierenden Hafenstadt Korinth gehören nicht zur urbanen Elite. Es sind „kleine Leute“: einige sind Sklaven, viele Hafenarbeiter. Heute würden viele von ihnen unter Hartz IV fallen. Denen wird das Danken nicht leichter gefallen sein als uns. Aber Paulus traut ihnen ganz offensichtlich zu, dass sie sehen: materiell sind wir zwar dürftig dran, aber wir haben einen Reichtum, der sich gar nicht in Geld aufwiegen lässt - nämlich einen reichen Gott! Mit diesem Predigttext werden wir vor einer falschen Erntedank-Romantik bewahrt. Denn er macht dieses Fest durchsichtig für sein eigentliches Geheimnis:

„Er sendet Tau und Regen und Sonn- und Mondenschein, / er wickelt seinen Segen gar zart und künstlich ein; / und bringt ihn dann behende in unser Feld und Brot: / es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott“.

Die menschlichen Anstrengungen um die Gestaltbarkeit des Lebens werden immer ausgeklügelter und in vielen Bereichen auch erfolgreicher: Agrarindustrie, Biochemie, Reproduktionsmedizin, KI. Und doch wird auch immer deutlicher der Kontrast dazu, also wo das nicht gelingt. Wo Leben kontingent, unverfügbar bleibt. Unter den vielen neuen Worten, die uns Corona beschert hat, ist Vulnerabilität vielleicht das wichtigste, weil es eine unveränderliche Grunddimension des Menschlichen kennzeichnet. Das hat unsere Ahnung verstärkt, dass unser Leben, unser alltägliches Tun auf Voraussetzungen beruht, die wir selbst nicht garantieren können. Wir haben durch die Pandemie wieder ein sensibleres Gespür für das bekommen, was das eigentlich meint: Ernte-Dank.

Unser Text ist eigentlich eine Kollektenabkündigung - wie wir das aus unseren Gottesdiensten kennen. Paulus bittet die Gemeinde in Korinth um einen Obolus für die „Heiligen“ - damit meint er die Mitglieder der Urgemeinde in Jerusalem. Die waren materiell keineswegs besser dran. Zugleich geht es sicher auch um ein starkes Statement für die Gemeinschaft, die Paulus, der Heidenapostel, mit der judenchristlich geprägten Jerusalemer Gemeinde aufrechterhalten will. Die hatte eine historische Vorrangstellung. Das erinnert ein bisschen an den sog. Peterspfennig, der in der katholischen Kirche einmal im Jahr weltweit als Kollekte für den Vatikan erhoben wird. Paulus hofft, dass die Kollekte für Jerusalem nicht kärglich ausfällt, sondern „im Segen“. Das traut und mutet er den Korinthern zu, dass sie trotz ihrem Wenigen dennoch etwas abgeben können.

II.

Den Grund dafür finden wir am Ende unseres Abschnitts. Dort bricht Paulus in den Jubelruf aus: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ „Gott sei Dank!“ - normalerweise geht uns das eher gedankenlos über die Lippen. Und doch hat das Wort „Gott“ als Adressat unserer Dankbarkeit in diesem Ausruf seinen tiefen Sinn. „Gott sei Dank“: so rufen wir, wenn wir an einem kritischen Punkt endlich weitergekommen sind, wenn wir aus einer zugespitzten Lage unverhofft rausgekommen sind und wieder eine Perspektive sehen. Zum Beispiel: Wir gehen zum Arzt. Völlig unerwartet stellt der etwas Verdächtiges fest. Dann nach Tagen des Bangens das erlösende Ergebnis: Die Gewebeprobe war ohne Befund. „Gott sei Dank!“, die Gefahr ist vorbei. - Oder: Eltern haben lange nichts mehr von ihrer Tochter gehört. Es hatte immer wieder Streit gegeben, und irgendwann war sie von Zuhause weggereist. „Irgendwohin nach Südamerika“, stand auf dem Zettel, den sie hinterlassen hatte. Dann, nach Monaten der Ungewissheit, kommt ein Brief. „Gott sei Dank!“, ein Lebenszeichen. Die Zeit des Verstummens, der Angst ist vorbei. - „Gott sei Dank!“: Immer zeigt dieser Ausruf, dass wir spüren: wir sind nicht festgefahren, das Leben bewegt sich wieder.

So auch Paulus: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ Gott sei Dank, dass dieser Gott so sehr interessiert an uns ist, dass er alles riskiert, um uns aus der Sackgasse unserer Selbstbezogenheit, unserer Schuld herauszuführen. „Unaussprechlich“ - er will damit sagen, dass Gottes Gabe von einer Art und Größe ist, dass unsere Sprache viel zu klein ist, das zu fassen. Ein schöner Kanon in unserem Gesangbuch von Angelus Silesius fasst das in Worte: „Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben. / Ach, dass wir Armen, nur so kleine Herzen haben“ (EG 411). Paulus will damit etwas von dem tiefsten Geheimnis Gottes andeuten, in dem auch sein Reichtum beschlossen liegt: dass dieser Gott einer ist, der nicht nur etwas, oder auch sehr viel, sondern nicht weniger als alles uns zum Geschenk gibt: nämlich sich selbst. Dass er also etwas tut, was kein Mensch tut, weil es keiner kann, auch in der glücklichsten Liebe nicht: „Gott hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben. Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32). Diese Gabe ist es, die er als „unaussprechlich“ preist.

Und das tut er zum Schluss eines ausführlichen Abschnitts, in dem keine steilen theologischen Gedanken ausgebreitet werden über Menschwerdung, Kreuz und Erlösung, sondern in dem ganz praktisch und konkret zum Geldsammeln aufgefordert wird. Der sog. „schnöde Mammon“ gehört also nicht in den glaubensfreien Raum, er ist nichts Unheiliges, sondern hat unmittelbar zu tun mit Gottes großen Taten an uns. Wer an Gott glaubt, der selber die unaussprechliche Gabe ist, meint Paulus, der kann gar nicht anders als Herz und Hände weit zu öffnen.

III.

Liebe Gemeinde,deshalb ist das Erntedankfest ein Ruf zur Diakonie. Wenn es eine schöne liturgische Feier bleibt, wo wir nur den Anblick der Blumen um den Altar genießen, dann verfehlen wir diesen Tag. Der Erntedankaltar steht ja nicht für sich selbst, sondern er ist ein Fingerzeig auf etwas anderes: Hinter der Welt, wie wir sie erleben, stehen nicht nur Mühe und Arbeit, Scheitern und Leid. Hinter dieser Welt steht auch und zuerst ein großes Schenken. Jeder Apfel, jede Ähre am Altar will uns nahebringen: Wir sind Leute, an denen Gott sein Interesse nicht verloren hat.

„Was nah ist und was ferne, von Gott kommt alles her, / der Strohhalm und die Sterne, das Sandkorn und das Meer“.

Wenn wir diesen Tag ernst nehmen, dann erwächst aus ihm die Erkenntnis, dass alles, was wir haben, materiell und innerlich, Geschenke sind, die Gott uns zu treuen Händen anvertraut hat. Und wie jeder, der jemand anderem ein Geschenk aus Liebe macht, hofft Gott, dass wir mit dem großen Geschenk des Lebens in und mit seiner Schöpfung liebevoll umgehen.

„Wer da kärglich sät, wird auch kärglich ernten“, meint Paulus. Das ist natürlich nicht so gemeint, als würde erst auf einer drei- oder vierstelligen Spende Gottes Segen ruhen. Die innere Haltung ist das Entscheidende. „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“, sagt Paulus. Das heißt: Wer nur wenig geben kann für „Bot für die Welt“, aber weiß, dass das, was für uns wenig ist, anderswo richtig viel ist, der verändert die Welt mehr als der, der von seinem Steuerberater den Tipp bekommt, dass diese oder jene Spende auch noch clever ist. Und solche Saat bewirkt, dass über Meere und Erdteile hinweg Verbundenheit entsteht. Das Geldsammeln für die, die sich selber kaum helfen können, ist eine Nagelprobe, ob in einer Gemeinde Glaube, Hoffnung und Liebe lebendig sind. So tauchen die Geschwister aus Jerusalem, die damals in die Geschichte der Korinther verwoben waren, heute wieder auf, aus vielen Richtungen: in dem teppichknüpfenden Kind aus Bangladesh, in der Frau aus den Favelas in Sao Paulo, in den bis aufs Skelett abgemagerten Leuten im Südsudan. Sie sind deshalb unsere Geschwister, weil sie genauso das Recht haben, so dankbar wie wir singen zu können: „Herr, die Erde ist gesegnet von dem Wohltun deiner Hand.“ Solange es so viele gibt, die das nicht singen können, solange dürfen wir das nie ohne etwas Erschrecken singen.

Als Kinder konnten wir gar nicht genug von unseren Eltern aus deren Kindheit erzählt bekommen. Am spannendsten fanden wir die Erzählungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Unser Vater erzählte uns oft, wie überwältigend das für ihn war mit den berühmten Care-Paketen. Sie hatten entfernte Verwandte in den USA. Es hatte nie Kontakte gegeben, sie waren ihnen unbekannt. Die Verwandten dort hatten für den Kauf eines Autos gespart. Aber dann lasen sie 1945 in der Zeitung von der Not in Germany, erinnerten sich, dass es dort Verwandte gab, legten den Autokauf ad acta und investierten ihre Ersparnisse jahrelang in prall gefüllte Care-Pakete. Für unseren Vater waren Schokolade und Erdnüsse noch mehr als Kostbarkeiten, die auf der Zunge zergingen. Da waren unbekannte Verwandte, die ihm zeigten: du bist uns nicht gleichgültig, du bist uns etwas wert!

Auch mit Care-Paketen kann man diesen Jubel des Paulus einstimmen: „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ Unser Leben ist so viel wert, wie wir es Gott verdanken. Und darum ist es auch so viel wert, wie wir es für andere leben. Singen wir uns deshalb jetzt dankbar zu:

Keiner kann allein Segen sich bewahren.
Weil du reichlich gibst, müssen wir nicht sparen.
Segen kann gedeihn,
wo wir alles teilen,
schlimmen Schaden heilen,
lieben und verzeihn.
(EG 170,2)


AMEN.

Wir glauben, Herr, hilf unserem Unglauben!

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Gerade nur aus zwei Versen besteht dieser Predigttext. Aber die haben es in sich. „Herr, stärke uns den Glauben“: frommer geht’s kaum. Demütig erbitten die Apostel, was man nur empfangen kann. Aber auch krasser geht’s kaum: Statt milde zu geben, sinniert Jesus über botanische Mehr-fachwunder. In dieser Bitte der Jünger jedenfalls „Herr, stärke uns den Glauben!“ steckt eigentlich alles drin, worauf es ankommt, wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen. Nicht erst seit Corona über uns gekommen ist, durchleben wir Zeiten, in der wir das so sehr brauchen: Glaubensstärkung. Das Leben die Woche über setzt uns zu. Wir werden von Montag bis Samstag hin- und her gerissen zwischen all dem, was wir eigentlich tun sollten, und dem, was wir anderen, manchmal auch uns selbst, schuldig bleiben. Und wenn wir, wie Ende Juli, Bilder mitten aus Deutschland sehen, die wir uns hierzulande kaum vorstellen konnten mit dem Ausmaß an Verwüstung, durch Starkregen ausgelöst, und Menschen, die binnen Stunden fast alles verloren haben: dann können wir sehr klein und mutlos werden in unserem Glauben an einen Gott, „der alles so herrlich regieret“. Da wird mir diese Bitte der Jünger sehr nah: „Stärke uns den Glauben!“, damit ich trotz allem daran festhalten kann, dass es sich zu leben lohnt in dieser schönen, schrecklichen Welt.

I.

Die Kirche kann keine bessere Funktion haben, als uns immer wieder aus unserer Resignation und Traurigkeit zum Gottesdienst zu rufen, damit unser Glaube gestärkt wird. Der Gottesdienst, liebe Gemeinde, ist eben nicht nur ein religiöses Ritual, sondern ein Therapeutikum: Er will die Lebensgeister wecken, er will uns Mut machen und Freude wecken in einer Welt, die mut- und freudlos machen kann. Wo der garstige Graben zwischen den großen biblischen Verheißungen und der Welt, wie sie ist, Ohnmachtsgefühle, Zweifel, Herzenstraurigkeit auslösen kann, so dass darüber der eigene Glaube eingehen kann wie eine Primel. Heute vor 20 Jahren, am 12. September 2001 machte die Bild-Zeitung mit der in riesigen Lettern über die gesamte Vorderseite gezogenen Headline auf: „Großer Gott, steh uns bei!“ Gewöhnlich lobt man „Bild“ in der Kirche nicht, gibt es auch wenig Grund zu. Aber diese Schlagzeile war großartig, weil sie für das, was eigentlich jede Sprache gesprengt hat, doch Worte fand, und zwar die einzigen, die überhaupt noch irgendwie angemessen waren. Weil dieser Ruf „Großer Gott, steh uns bei!“ präzise aus-drückte, dass es Situationen gibt, wo wir ganz unten sind, wo nichts mehr geht mit Vertrauen auf unsere Kräfte und Ressourcen, wo wir nur noch angewiesen sind – oder wir vergehen. Deshalb sind mir die Jünger in unserem Text sympathisch. Auch sie, das zeigt ihre Bitte, sind keine Glaubenshelden, sondern Verunsicherte, Zweifler wie du und ich. Hier in dieser Szene kommen sie mit leeren Händen zu Jesus. Sie kennen die großen Verheißungen der Bibel, sie kennen vor allem Jesus, auf den sie alles gesetzt haben - und doch spüren genau, dass sie weit hinter diesen Verheißungen, hinter Jesu Anspruch zurückbleiben. Uns in ihnen wiederzuerkennen ist nicht schwer. Das wünsche ich uns, dass wir immer wieder mit dieser Sehnsucht im Herzen zum Gottesdienst kommen: „Herr, stärke mir den Glauben!“

II.

„Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn“ - das genügt! Eine erstaunliche, beim ersten Hören fast unsinnig erscheinende Antwort. Erwartet Jesus gar nicht den starken Glauben, sondern nur eine Minimaldosis davon? Wie ist das zu begreifen? Weiß Jesus etwas von der Versuchung, im Glauben felsenfest verankert sein zu wollen, damit die Not der Welt einem nicht so quälend nicht zu Herzen geht? „Keine schlimmere Häresie als solche Orthodoxie!“, hat der große Theologe Karl Barth dazu gesagt. Es gibt ein Im-Glauben-Stehen, eine unangefochtene Glaubenssicherheit, die gefährlicher sein können als Unglauben. Nach der Melodie „Ein Christ, der schaut in Glaubensruh / dem Einsturz ganzer Welten zu“. Manchmal wollen wir diesen starken Glauben, um für uns allein den ruhigen Ort zu finden, während rings um uns herum vieles in Brüche geht: Ehen gehen kaputt, Kinder brechen mit ihren Eltern, Familienväter verlieren ihre Arbeit, Ausländer oder Homosexuelle werden gejagt. Einen starken, großen Glauben zu haben, so dass ich all die kleinen und großen Dramen auf Abstand halte: das wäre doch was. Jesus macht uns einen Strich durch diesen frommen Wunsch: Ihr wollt eindrucksvolle Glaubensstärke, um unbeeindruckt zu bleiben von der Not der Welt, von der Not derer, die gar nicht die Luft haben, um sich ihrerseits um ihren Glauben zu sorgen - so nicht, liebe Leute!

Das wünsche ich uns, dass wir in unseren Gottesdiensten erfahren, dass wir nicht nur in unseren religiösen oder sonstigen Bedürfnissen bestätigt werden; dass wir die Botschaft des Evangeliums nicht nur so hören, wie es unserem Gusto entspricht; dass wir von unserer Kirche und ihren Vertretern nicht nur erwarten, dass sie es uns selber recht macht und Recht gibt, und den anderen ordentlich austeilt. Wer zum Gottesdienst kommt, kann immer damit rechnen, dass er von Jesus zurechtgewiesen und auf eine neue Spur gebracht wird - so wie dort die Jünger.

Jesus erklärt dann seine Zurechtweisung näher: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn und sagt zu diesem Maulbeerbaum: Reiß deine Wurzeln aus und verpflanze dich ins Meer!, so wird er auch gehorsam sein“. Das ist ein merkwürdiges, ja ein bizarres Bild. Wofür steht es? Was den Glauben in Jesu Augen zum rechten Glauben macht, ist nicht Unerschütterlichkeit, imponierende innere Stärke, Verwurzeltsein um jeden Preis, sondern das Vertrauen darauf, dass uns Gott bis in die Wurzeln unserer Existenz zu neuen Menschen verwandeln kann. Was wir nicht hinkriegen, weil wir immer wieder die Alten bleiben - oft bleiben wir ja hinter unserem scheinbar starken Glauben die alten misstrauischen, wehleidigen, von Angst besetzten Leute -, das können wir Gott zutrauen: dass tief eingewurzelte Gewohnheiten, Stimmungen und Launen von Grund auf verändert werden. Das brauchen wir in einer Zeit, da mörderischer religiöser Fanatismus und Hass vielerorts mit Gegenhass beantwortet wird und wo, wenn wir ehrlich sind, auch wir nicht frei sind davon, beim Wort „Islam“ sofort an Fanatismus und Gewalt zu denken. Aber dann bleiben wir die Alten, dann verharren wir in unserem Unglauben.

III.

Wir sollen jedenfalls nicht darauf aus sein, einen starken Vorzeigeglauben zu haben, an den man die Messlatte anlegen kann. Wir sollen uns - und erst recht anderen - nicht ständig den Glaubenspuls fühlen. Wer das tut, kommt von sich selbst nie und nimmer los. Das war ja Luthers Drama in seinen sog. Klosterkämpfen mit der Frage „Wie werde ich Gott recht?“ als junger Mönch im Erfurter Augustinerkloster. Er kam mit seinen verbissenen Frömmigkeitsübungen immer weniger von sich selber los - bis er die alles verändernde, befreiende Entdeckung machte: nicht mein Frommsein ist’s, wodurch ich Gott recht und lieb werde, sondern er liebt mich grundlos, wie eine Mutter ihr Kind, und sei es noch so nervig. Und gerade das lässt mich an ihn glauben. So begegnete Luther Jesus, und so will Jesus auch uns begegnen, indem er uns ins Herz brennen will: Euer Glaube, wenn er „rechter“ Glaube ist, glaubt nicht an sich selbst, sondern er glaubt an Gott! Er sagt nicht: Ich traue mir dies und das zu; er sagt: Ich will es Gott zutrauen, dass er mich stark macht! „Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön wären, sondern die Sünder werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“, lautet einer der tiefsten Sätze von Luther. Das ist es!

Bei einer internationalen ökumenischen Begegnung in den 50er Jahren erzählte ein Franzose: Meine Eltern wurden im Krieg von der SS erschossen. Ich hatte mir damals geschworen, die Deutschen mein Leben lang zu hassen. Ich bin hierher gekommen, um französische Freunde zu treffen. Heute Morgen beim Gottesdienst unter den Kastanien war neben mir ein Platz frei. Ein Deutscher kam und setzte sich neben mich. Es war kalt. Ich legte meinen Umhang um uns beide. Aber ich sagte mir: Er ist nicht dein Freund, er ist ja Deutscher. Dann, beim Abendmahl, standen wir vorne am Altar wieder nebeneinander. Als ich neben ihm das Brot und den Kelch empfing, wusste ich auf einmal: Christus ist auch für diesen Deutschen gestorben. Er ist dein Bruder“.

Das ist für mich eine eindrucksvolle Auslegung dieses Glaubensgesprächs der Jünger mit Jesus. Dieser Franzose hat nicht aus sich selbst heraus, aus irgendwelchen inneren Ressourcen an Moral, Glauben und Barmherzigkeit den Weg zum Bruder gefunden. Da war nur tief eingewurzelte Wut und Bitterkeit. Aber dann hat er Christus, seine Nähe erfahren, und konnte plötzlich auf Gottes vergebende Kraft vertrauen. Das ist Senfkornglaube, der kein starker Vorzeigeglaube ist.

Gebe Gott, dass wir miteinander diese Kraft Jesu suchen und erfahren, die an die Wurzeln unseres eigenen Lebens und der Welt geht, tief eingewurzelte Hoffnungslosigkeiten überwindet, und uns inmitten unseres kleinen Glaubens mit Gottes Verheißungen rechnen lässt, die unser Leben und unsere Welt verwandeln. Wir glauben, Herr, hilf du unserem Unglauben!

AMEN.

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

was für ein fremd klingender Text. Er scheint aus ganz weit entfernten Welten zu uns zu kommen. Er geht schon merkwürdig los- als hätten die, die ihn ausgewählt haben, etwas abgeschnitten. Der Text setzt ein mit einem „aber“: „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit…“ Bevor dieser Textabschnitt Gottes Taten rühmt, ist ihm etwas ganz anderes vorangestellt. Eine knallherbe Aussage nämlich: „Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gelebt habt nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams. Unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unseres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Sinne und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern.“

I.

Da gibt es also Leute - die anderen nämlich - die wohl immer noch tot sind durch ihre Übertretungen und Sünden. Und dann gibt es die einen - nämlich uns -, die waren tot durch ihre Übertretungen und Sünden. Wir sind es also nicht mehr. Warum? Womit haben wir das verdient? Der Predigttext sagt glasklar: durch gar nichts! Denn: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch, sondern Gottes Gabe ist es.“ Aus purer Gnade und Barmherzigkeit also. Oder eher aus purer Willkür Gottes? Je näher man diesen Text anschaut, desto ungemütlicher kann einem werden. Denn die Voraussetzungen dieses Gotteslobes sind nicht wirklich anschlussfähig an das Selbstbild von uns sog. modernen Menschen. Da ist zum einen, als erstes Ärgernis, diese Unterscheidung zwischen den anderen und uns. Die anderen sind immer noch tot in Sünde und Übertretung - wir aber längst nicht mehr. Irritierend für uns ist diese Exklusivität, oder althergebracht gesprochen: dieses Auserwähltsein. Und was für eines: „Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war“ (Eph 1,4). Noch bevor wir lebten, bevor wir einen Schnaufer, geschweige denn eine Sünde taten, waren wir auserwählt. Die anderen aber nicht. Das verstehe wer will.

Nun ja, so mochte ja der Absender des Briefes wohl noch an die Gemeinde in Ephesus schreiben. Er wollte seine Adressaten nämlich vor einem anderen Exklusivitätsanspruch in Schutz nehmen. Er wollte sie über den Makel der damaligen Zeit trösten, keine Judenchristen, also zur Urgemeinde konvertierte Juden zu sein, sondern arme Heidenchristen. Leute also, die aus dem religiösen Nichts zu den Christen gestoßen waren. Denen ruft er zu: Ihr alle seid auserwählt, von Anfang an!

Aber heute? Können Christen noch so reden, dass sie eine derart exklusive Grenze ziehen zwischen sich und den anderen? Wir scheuen ja heute exklusives Denken wie der Teufel das Weihwasser, wir wollen auf allen möglichen, manchmal vielleicht auch unmöglichen Ebenen inklusiv sein. Was ja auch verständlich ist, weil wir auf die schrecklichen Vereinfacher schauen, deren Weltbild aus Gegenüberstellungen besteht: wir-die; weiß-schwarz; deutsch-fremd; rechts-links, etc. pp. Und die postulieren, dass sich alle diese Pole zueinander verhalten wie Feuer und Wasser, die also unser Gemeinwesen spalten wollen. Also allein schon mit Blick darauf: Könnten wir je so tun, dass wir eine Grenze ziehen zwischen allen Christen, also auch jenen Christen, die einmal Juden gewesen waren, und jenen vielen Menschen, die immer noch und immer nur - Juden waren, sind und bleiben wollen? Solche Grenzziehungen bleiben uns, nach all der christlichen Judenfeindschaft und ihren grausigen Folgen, uns im Halse stecken.

Überhaupt, dass wir Menschen jemals besser sein könnten als wir es einmal waren; oder noch schärfer, wie es unser Text zu sagen scheint: dass wir früher total schlecht waren, und heute ganz und gar gut sind, das ist doch klassisch fundamentalistische Schwarz-Malerei. Die nehmen wir uns selber nicht mehr ab. Wie gesagt, wir haben es ja nicht mehr mit den scharfen Unterscheidungen, auch nicht mehr zwischen katholisch und evangelisch. Allenfalls noch in der eigenen Kirche: zwischen evangelisch und evangelikal, konservativ und liberal, lutherisch und reformiert… Ja, wir Menschen sind eine merkwürdige Spezies: Wir machen unsere Unterschiede am ehesten dort, wo es keine geben sollte. Ansonsten lassen wir lieber fünfe grade sein, und alle Katzen grau.

II.

Nun kommt aber noch ein zweites Ärgernis hinzu. Und da verfangen wir uns in der selbstgestellten Falle – aus der uns letztlich, wie wir noch sehen werden, nur die Aussagen unseres Predigttextes befreien können. Wir modernen Menschen glauben nämlich, zum einen, nicht wirklich an die Verbesserung des Menschengeschlechtes. Dass wir gestern Sünder waren und tot in all unseren Fehlleistungen, dass wir aber heute das alles nicht mehr sein sollen: das kommt uns ziemlich spanisch vor. Woran kann man denn dergleichen festmachen? Viel sympathischer und plausibler ist uns die Auffassung, dass der Mensch an sich eigentlich ja schon gut ist – dass er aber durch soziale Bedingungen, für die er in der Regel nichts kann, dann leider ziemlich korrumpiert wird.

Wir glauben also schon deshalb nicht an eine fundamentale Veränderung des Menschen, weil wir gar nicht wahrhaben wollen, dass der Mensch (und zwar nicht irgendein Mensch, sondern ganz konkret wir selbst) jemals so total schlecht, so verworfen sein könnte, dass man mit unserem Predigttext von ihm sagen müsste: „Auch du bist – und zwar wie jeder – tot durch deine Übertretungen und Sünden, in denen du lebst nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams.“

Will ich mir wirklich so etwas über mich sagen lassen? Und sei es nur, dass ich früher mal so war? Im Klartext: Das ist Fundamentalismus pur. Es erinnert mich an eine Predigt, die ich vor über 30 Jahren einmal in einer Baptistenkirche in New York gehört habe. Der Pastor predigte eine dreiviertel Stunde lang mit nicht enden wollenden Leidenschaft und Beredsamkeit nur einen immer neu illustrierten Satz. Er lautete, in der Sache niemals variiert: You all are dreadful sinners! – Ihr seid alle schreckliche Sünder! In einer schon monumentalen Monotonie: Because you all are dreadful sinners! Nicht nur die heutige Predigtlehre würde das wohl kaum als überzeugende Darbietung des Evangeliums durchgehen lassen.

Trotzdem ist mir diese Predigt sehr gut haften geblieben. Und das durchaus nicht nur als skurriles Negativ-Beispiel! Denn wenn wir uns einmal wirklich und unverstellt auf unsere Verfasstheit, auf das Wesen und Motiv unserer Entscheidungen, auf die Grundmuster unseres Verhaltens einlassen – kommt uns dann nicht doch langsam, heimlich und unheimlich die Gefangenschaft, die Verstrickung in mancherlei Schlingen den Sinn, die zumindest auch eine Potenz zum Tod erkennen lassen, zum Ersticken in all den Stricken? Entdecken wir dann nicht doch auch manches Verkehrte, Verdrehte in unserem Leben – das sich immer weiter dreht und verdreht?

Und einmal angenommen, wir akzeptieren, dass es auch solches in uns zu entdecken gibt: glauben wir wirklich, wir könnten diesen Sachverhalt ad acta legen? Vielleicht leben mitten unter uns mehr Menschen, als wir ahnen, die sich derart heillos verstrickt und gefangen fühlen. Und die diesen Alpdruck nicht abschütteln können, schon gar nicht aus eigenen Kräften, im Gegenteil: Ein Alpdruck, der sich immer fester setzt, je wehrloser und heilloser man ihn verjagen möchte. Und dann klingt dieser Satz aus New York dann doch gar nicht mehr so skurril und daneben: You all are dreadful sinners! Vielleicht sind wir wirklich schreckliche Sünder – auf schreckliche Weise Gefangene der Sünde und Übertretung? Wenn ich ehrlich mit mir selbst und der Welt bin, in der ich lebe, dann finde ich diese robuste Aussage fast realistischer als das blanke Gegenteil, das heute so oft verbreitet wird: Alles wird gut! Ihr seid doch alle gut! Passt nur gut auf Euch auf!

Das also ist die Lage, in die hinein unser Predigttext spricht. Er sagt uns: Auch dort, wo ihr selbst, aus eurer Kraft, nichts ändern könnt an all dem Verfehlten und Verdrehten, wo ihr euch buchstäblich in einer unentrinnbaren Falle wiederfindet – selbst dort ist noch nicht aller Tage Abend. Ja, noch mehr, und erst recht: Solange ihr euch aus eigener Anstrengung von diesem Alpdruck befreien wollt - solange wird es finster bleiben!

III.

Vergessen wir also für einen Moment all das Merkwürdige, worauf unser Text zurückweist. Schauen wir auf das, worin er nach vorne weist. Dass es da überhaupt heißt, es gebe eine Möglichkeit, all diesen Verstrickungen und Verdrehungen zu entkommen, und zwar ganz ohne eigenes Zutun, ja geradezu: nur ohne eigenes Zutun: Ist das nicht schon ein Wunder für sich? Ist nicht allein die Tatsache, dass davon geschrieben und dass das geglaubt werden kann, ein Keim der Befreiung? Die christliche Sündenpredigt – auch das immer wiederkehrende: You all are dreadful sinners! – hat selbst etwas Verkehrtes an sich, jedenfalls dann, wenn daraus folgen sollte: Ihr müsst endlich bessere Menschen werden. Reißt Euch zusammen! Das wäre plumper Moralismus. Aber so spricht der Epheserbrief in seiner uns fremden Sprache und Strenge über die Sünde – eben gerade nicht! Denn unser Predigttext erklärt die Sünde, erklärt all das tödlich Verkehrte und Verdrehte in unserem Leben als bereits überwunden. Und das eben nicht durch menschlich-übermenschliche moralische Anstrengung an uns selbst, sondern durch Gottes freie Zuwendung und liebevolle Gnade – selbst zu uns.

Ich versuche das mit einem Bild anschaulich zu machen. Ich frühen Mittelalter gab es eine merkwürdige Sitte. Der König konnte ja nicht überall sein, also auch nicht überall seine Gnade walten lassen. Deshalb sandte er Boten aus, Leute, die vom König das Recht erhalten hatten, i jede Gerichtsverhandlung einzugreifen. Sie trugen einen langen Mantel und konnten ihn über jeden angeklagten Menschen werfen, auch wenn die weltliche Justiz ihn schuldig gesprochen hatte. Damit stand dieser Mensch unter der Gnade des Königs und kam auf der Stelle frei. Der König übernahm in der Person seines Boten alle Verantwortung und Verpflichtung für ihn.

Das finde ich ein schönes Bild für den schwierig zu begreifenden Sachverhalt, den unser Epheser-Text in so hohe Worte leidet. Denn genau so wirft unser Gott seinen Mantel über dich und mich uns sagt Ja zu uns. Mit diesem Ja nimmt er alle Verantwortung für dein und mein mehr oder weniger verfehltes, rätselhaftes Leben auf sich. Du bist frei – nicht weil du dir das verdient hast, sondern weil ich dich so sehr liebe, das ich dich frei sehen will. Du hast es deshalb auch nicht mehr nötig, dein Leben ständig selbst zu kontrollieren, dich immer wieder selbst zu rechtfertigen.

Man muss sich das nur gefallen lassen - und dran glauben. Das klingt vielleicht schwierig, an so etwas zu glauben. Aber im Kern ist Glauben einfach, wie der frühere Papst Benedikt XVI. gerne sagte. Und da hatte er Recht. Denn Glauben heißt im Kern sehr einfach: Ja dazu sagen, dass wir von Gott unbedingt bejaht sind! Oder wie es der Verfasser des Epheserbriefs leider um einiges umständlicher ausdrückt: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“ Und da gilt dann wirklich in einem hoch erfreulichen Sinn: Wer’s glaubt, wird selig!


AMEN.

gehalten von
Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

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Liebe Gemeinde,

Manchmal muss man das Glück auch zwingen.
Es gibt solche Situationen im Leben, die lange in der Schwebe blieben.
Und dann spitzt es sich zu.
Durch ein äußeres Ereignis.
Durch eine Entscheidung anderer.
Durch einen Wendepunkt in der Geschichte.
Durch eine Krise der Gesundheit oder einfach durch ein Lebensjahrzehnt, das sich rundet.

Manchmal muss man das Glück auch zwingen.
Das heißt, eine Entscheidung treffen, von der man meint, dass es die richtigen ist. Wir sind es nicht mehr gewohnt zu fragen, welchen Plan Gott für unsere Leben hat. Und es ist auch die Frage, ob das überhaupt die richtige Frage ist. Sitzt er wirklich da oben und hat alles vorherbestimmt, was werden soll? Oder müssen wir es anders denken? Etwa so: Wie webt sich unser Lebensfaden ein in das große Muster des Gewebes, das Gott entstehen lassen will? Das heißt konkret: Welche unserer Entscheidungen erweisen sich als letzte Wahrheit auch unter den Augen Gottes. Und wenn wir glauben dürfen, dass Gott es gut mit uns meint, dann ist mit jeder Frage nach dem Glück auch die Frage gestellt, was die letzte Wahrheit auch über unser Leben ist. Welche hat Gott über uns und über die Geschichte der Welt ausgesprochen? Das zu beurteilen, sind wir nicht in der Lage, weil der Faden nicht das Muster kennt. Das mögen wir getrost Gott überlassen.

Befiehl du deine Wege, und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege, des, der den Himmel lenkt, dichtet Paul Gerhardt.

Da sitzen Menschen in einem Zug zurück von München nach Ostberlin im Jahre 1961, ziemlich genau heute vor 60 Jahren. 13. August. So erzählt es der Film „3 ½ Stunden“, der gestern in der ARD gezeigt wurde. Verschiedene 6er-Abteile. Verschiedene Lebensgeschichten, von jungen Leuten, die gerade noch vor oder im Krieg geboren wurden; von Alten, die beide Weltkriege erlebt haben; von solchen, die wild entschlossen eine bessere Welt im Sozialismus eines ostdeutschen Staates realisieren wollten; und anderen, die mit den Kriegsereignissen im Gepäck auf die Schiene in eine Zukunft gesetzt sind, die neue Entscheidungen erfordern, ohne dass die alten schon verarbeitet wären.

Die Stärke des Films ist, dass er nahezu unparteiisch ist, weder für Ost noch West. Und noch besser darin, dass er sich über jede Lebensgeschichte, wie immer sie ablief, eines letzten Urteils enthält. Es ist, wie es eben ist, oder war.

Problem des Films: Es ist eine etwas künstliche Szene, die hier in den ablaufenden Minuten zwischen dem Bahnhof in München über die Oberfränkischen Städte bis zum Übergang in die noch junge DDR gezeichnet ist. Mit jedem Bahnkilometer steigt der Entscheidungsdruck: Ost oder West. Denn im Transistorradio melden die Nachrichten, wie unter militärischer Bewaffnung, am 13. August  Stacheldraht und Mauer in der Mitte zwischen den Sektoren hochgezogen werden.

Manchmal muss man das Glück auch zwingen.
Wer hat damals schon wissen können, wie und wo das Glück für den je einzelnen tatsächlich zu finden wäre? Und wer will eigentlich in der Geschichte entscheiden, wo das bessere oder das wahrere Leben zu finden gewesen ist. Die Sieger schreiben die Geschichte. Und unsere Deutungen hängen immer vom späteren Verlauf der Geschichte ab. Wie sich das aus Gottes Perspektive darstellt, wo mehr letztliche Wahrheit zu finden ist und gelebt wurde – wer mag das allgemein formuliert überhaupt sagen. Das Urteil bleibt allein Gott vorbehalten, auch wenn der einzelne oder die einzelne mehr oder weniger gute ethische Entscheidungen getroffen hat. Nicht alles kann auch bei größter Enthaltsamkeit einem Urteil über andere gegenüber für gut erklärt werden oder verständlich. Manches muss auch aus menschlicher Sicht beurteilt und verurteilt werden, auch im Wissen dass das letzte Urteil nur Gott zusteht.

Aber für den je einzelnen stellt sich die je eigene Lebensgeschichte so dar, wie sie verlaufen ist. Und es gibt ein mehr oder weniger an Reue und ein mehr oder weniger zumindest an Erklärung dafür, dass es so gekommen ist, wie es war. Und so teilen sie sich den Zug auf dem Gleis in die Zukunft. Die überzeugte Sozialistin und der alte schweigsame Nazi. Die hoffnungsvolle Jungsportlerin und die Band, die die Weite der Welt erleben will. Das alt gewordene Paar, das sich nichts mehr traut und Angst vor neuem Krieg hat. Und dazwischen in verschiedenen Schattierungen Menschen, die eben sind wie sie sind. Alle vor die Entscheidung gestellt: Noch vor der Grenze aussteigen oder weiterfahren in einen Staat, der gerade dabei ist, sich abzuriegeln, d.h. die getroffene Entscheidung zu ver-endgültigen.

Wie gesagt, eine unwirkliche Szene.

Eine unwirkliche Szene auch, die die Bibel im 1. Buch der Könige beschreibt: Elia, der Prophet, will das Glück zwingen, oder besser die Wahrheit. Gott zwingen, zu offenbaren, ob er und wer der wahre Gott ist. Die ewige Wahrheit zwingen, das Muster in der Geschichte zu offenbaren. Und er baut geradezu eine Versuchsanordnung auf dem Berg Karmel. Da wo auch die Baalspriester ihren Gott und die Fruchtbarkeitsgötter verehren. Einen Graben im Kreis um einen alten Altar seines Gottes, den Gott Israels. Er legt ein zerteiltes Kalb darauf zum Opfer für seinen Gott. Durchtränkt alles mit viel Wasser, so dass auch der Graben sich rundherum mit Wasser füllt, und fordert das Gottesurteil. Wer mit Feuer antworten wird, der sei der wahre Gott.

Und die Baalspriester und das Volk rufen Baal an, und nichts passiert. Der Gott des inzwischen einsam dastehenden Elia antwortet mit Feuer; bewahrheitet, dass er da ist und Macht hat, auch wenn das Volk sich inzwischen arrangiert hat damit, dass es andere Götter geben könnte und man eine friedlich Koexistenz pflegen könnte. Dem Eiferer ist es gelungen. Sein Gott antwortet und setzt ihn ins Recht, der so lange darauf warten musste, dass die Zeichen vom Himmel ihm deuten, dass Gott ihn nicht verlassen hat.

Und dann gerät die Szene außer Kontrolle. Elia, so beschreibt es die Bibel, vollzieht den alten Bann, wie sie die Väter als sesshaft gewordene Nomaden noch um der inneren Einigkeit willen vollzogen hatten. Sie töten alle anders Gläubigen. Ein Blutbad im Eifer und in der Meinung, im Recht zu sein, legitimiert vom Höchsten selbst. Die Bibel lässt offen, ob das tatsächlich der Wille Gottes ist, den Elia da ausführt, oder ob es der persönliche Eifer des Propheten war, der da weit über das Ziel hinausschießt und nur sich selbst Genugtuung verschaffen will. Die biblische Geschichte ist vielschichtiger, als dass eine klare theologische Entscheidung zu treffen wäre.

Ich sehe in dem, was danach erzählt wird, eine klare Kritik am Verhalten Elias. Gott hätte es nicht nötig, zu schlachten, um seine Wahrheit in der Geschichte durchzusetzen. Denn, was kommt, ist eine merkwürdige Leere. Gott kritisiert Elia nicht, aber er zieht sich zurück. Das, was kommt, war zu erwarten. Die Königin Isebel, die um eine schiedlich, friedliche Koexistenz der Religionen bemüht war und auch deren Mischung befördert hat, lässt diese Gewalttat nicht ungesühnt. Und schon ihre Androhung reicht, dass Elia sich verfolgt fühlt. Er irrt durch die Wüste getrieben von Angst bis er sich schließlich unter dem Ginster niedersetzt. Auch wenn gar keine Verfolger hinter ihm her sind, verfolgen ihn die Ängste bis in die Träume.

Denn, da bleibt etwas hängen, wenn man knöcheltief im Blut der Feinde gestanden hat; oder wenn man über Tote auf dem Schlachtfeld gestiegen ist. Unsere Großväter haben nicht darüber geredet. Da bleibt etwas hängen, wenn man Menschen in Züge verladen hat, und nicht wissen wollte, wo sie wieder aussteigen werden. Da bleibt auch etwas hängen in unserer eigenen Geschichte, wenn man über andere berichtet hat aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Ja, wenn man den Mut hat, sich alle die Männer oder Frauen vorzustellen, denen man im Leben geschadet hat oder geschadet haben könnte. Da muss man nicht im Unrechtsstaat oder im Krieg gelebt haben. Die Schatten der Vergangenheit verfolgen Menschen; auch die, die es eigentlich immer nur gut gemeint haben. Und da denke ich an die exemplarischen Menschen im Zug oder an alle, die in der Nachkriegszeit und in der jüngeren Vergangenheit ihren Weg genau an ihrem Ort und zu ihrer Zeit finden mussten und ihr Glück gesucht haben; auch auf Kosten manchen Schattens, den sie geworfen haben oder bis heute in sich tragen.

Dann kann es sein, wir wünschen uns gar keinen Gott mehr; kein letztes Urteil, kein Erbarmen, keine Rechtfertigung, nicht einmal mehr Liebe. So wie Elia unter dem Ginsterstrauch. Er wünscht sich zu sterben. So nimm nun, Herr, meine Seele. Ich bin nicht besser als meine Väter.

Und dann stehen da nur ein Krug und etwas Brot.
Die Bibel spricht von Engeln, um es zu vereinfachen, was sich nicht fassen lässt. Eine Zuwendung ohne Worte von einem Gott, der sich entfernt hat; fremd bleiben will den allzu klaren Vorstellungen der Menschen davon, wie Gott zu sein hätte. Um die Leere zu füllen, isst Elia, und es keimt die Ahnung, dass sein Weg noch weit sein könnte. Es führt ihn wieder durch die Wüste, vierzig Tage und vierzig Nächte, hin zum Horeb. Wenn sich Leben bewahrheiten kann, dann im Rückgriff auf die alten Verheißungen und zugleich in der Sehnsucht und im Vorgriff darauf, dass Gottes Wahrheit sich in der Zukunft erweisen wird.

Aber Elia zieht es nicht auf den Berg, sondern in eine Höhle;
Und fragt er sich selbst, oder fragt ihn Gott?
Was willst du hier?
Und als wüsste es Gott nicht längst, resümiert Elia über sein Leben: Ich habe geeifert für den Herrn. Und jetzt stehe ich allein da, verfolgt von Ängsten und ohne eine Gewissheit um die Nähe Gottes.

Und jetzt, da er das Glück nicht mehr zwingen will; der Wahrheit und Offenbarung Gottes nicht mehr die Pistole auf die Brust setzt; seinen Gott nicht in Versuchung führt, sondern leer ist, tritt er heraus aus der Höhle und lässt geschehen, was will.

Sturm, Erdbeben, Feuersbrunst. Er ist ernüchtert genug und geheilt von der Vorstellung, dass sich darin Gottes Gegenwart ereignet; geheilt von der Vorstellung, es müsste Außerordentliches passieren, um Gott als Gott zu erkennen. Die Bibel konstatiert nüchtern: aber der Herr war nicht im Feuer, im Erdbeben, im Sturm.

Fürwahr, es sind stürmische Zeiten. Viele ahnen, dass eine neue Epoche anbricht. Die Zeichen der Zeit sind nicht zu übersehen. Feuersbrunst, Sturm und Überschwemmung, Wind und Klimaveränderung. Grassierende Mächte im viralen Bereich. Seien wir nicht zu schnell, darin Gottes Botschaften zu lesen. Vielmehr gilt für Elia, wie für uns: Wenn geschichtliche, gesellschaftliche oder persönliche Verwandlungen sich ankündigen, lohnt es sich, leer zu werden; Gott nicht mit seinen eigenen Wünschen zu verwechseln; zu warten, wie er sich erweisen will; stille sein.

Ein lautloses Verwehen hörte Elia, wenn denn Sinneseindrücke überhaupt erfassen können, wie das Dasein des entfernten Gottes angemessen zu beschreiben ist. Ein stilles, sanftes Sausen. Eigentlich sieht und hört man nichts. Nur Elia selbst, der behutsam seinen Mantel nimmt und sein Angesicht verhüllt vor einer Gegenwart und Wahrheit, die höher ist alle Vernunft.


AMEN.

In der Wüste – Vom Sinai nach Babylon

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

Wüste: eigentlich braucht das keiner. Eine weitgehend tote Landschaft. Ausgetrocknet, leblos, oft auch ein endloses heißes Nichts. Hunderte von Kilometern nur Sand und Steine. Kein Baum, allenfalls vertrocknete Sträucher. Keine Ahnung, ob vielleicht doch irgendwo eine Oase liegt. Und wenn – wer weiß, ob ich da hinfinde, ob die Vorräte reichen bis dorthin.

I.

Und dann gibt es auch die anderen Wüsten. Die, in die man gerät, ohne eine weite Reise zu unternehmen. Weil eben auch das Leben Wüsten bereithält. Monate, manchmal Jahre, durch die man sich schleppt, wo es Momente gibt, da man sich fragt, ob da überhaupt Leben ist in diesem „Leben“. Gefühlt blüht und atmet da nichts mehr, es geht eigentlich nur noch ums Ertragen und irgendwie Durchhalten. Während meines Studium geriet ich gefühlt mal in so eine Wüstenzeit, weil eine Beziehung zu Bruch gegangen war, was sehr weh tat. Ein guter Freund sagte mir damals: „Ich kann dich nicht weiter trösten, außer dir zu sagen: akzeptiere das jetzt als Wüstenzeit für dich, und halte das aus, statt dich in die Landschaft vor der Wüste zurückzuträumen.“ Nur aushalten – am Anfang kam mir das gar nicht tröstlich und hilfreich vor. Aber je länger je mehr merkte ich, das war ein kluger Rat. Und dann kamen, fast unmerklich zunächst, wieder mehr und mehr Oasen zurück. Es wurde wieder grüner in mir, das Leben kam mir wieder entgegen. Irgendwann merkte ich: die Wüste lag hinter mir, ich war wieder ein vollwertiger Teil des Lebendigen um mich herum. Vor allem aber, und das war das eigentlich Wichtige an dieser Erfahrung: ich merkte in der Rückschau auf die Wüstenwanderung, dass ich sie gar nicht mehr missen wollte. Weil ich an dieser Phase gewachsen war.

Deshalb muss ich den Eingangssatz meiner Predigt eigentlich revidieren, zumindest relativieren. Vielleicht kann man die Wüste manchmal doch auch brauchen. Auf diese Idee kann man auch mit durch Bibel kommen. Dort ist die Wüste nämlich ein Bild von tiefer Doppeldeutigkeit und Ambivalenz. Die Bibel weiß: gerade auch in der Wüste kann Leben wachsen. Der heutige Predigttext, den wir gleich hören, führt uns an den Anfang der 40jährigen Odyssee der Kinder Israel durch die Sinai–Wüste. Drei Monate ist es her, dass sie durch das Wunder am Schilfmeer sich vor den Häschern des Pharao in den Schutz der unwirtlichen Wüste gerettet hatten. Und dann wird dieses berichtet:


Man sieht sie förmlich vor sich, die sog. Kinder Israel, wie sie dasitzen und über diese Worte Gottes den Kopf schütteln. Unter hochriskanten Begleitumständen hatten sie Ägypten verlassen, um ins gelobte Land zu kommen. Aber nun schon fast 100 Tage unterwegs, und nicht die geringste Spur von der Milch und dem Honig, das dort angeblich fließt. Stattdessen rieselt ihnen überall Sand und Staub entgegen. Es geht nicht richtig vorwärts, es gibt die ersten Konflikte, das Essen ist auch knapp und immer das gleiche. Das hatten sie sich doch sehr anders vorgestellt.

II.

Liebe Gemeinde, in diesen Text werden Erfahrungen eingetragen und verarbeitet, die das Gottesvolk viele hundert Jahre später gemacht hat und die die Identität, das kollektive Gedächtnis des Judentums bis heute fast so sehr prägen wie der Auszug aus Ägypten. Es geht dabei auch um eine Wüstenzeit, dieses Mal aber um eine der genannten anderen Art, also im übertragenen Sinn: die Zeit des babylonischen Exils, also der zwangsweisen Deportierung der Jerusalemer Eliten in die Metropole des babylonischen Herrschers Nebukadnezar im Jahre 587 v.Chr. Für Israel war die Deportation ins sogenannte babylonische Exil eine traumatisierende Katastrophe, verbunden mit schwerwiegenden religiösen Fragen: Warum hatte Gott sie nicht geschützt? Was hatten sie getan, um solch eine Strafe zu verdienen? Wie sollten sie leben in dieser Mega–Stadt im Zweistromland, voll von fremden Göttern und Tempeln, und Sprachen, die sie nicht verstanden? Hatte Gott sie nun für immer verlassen? Und wenn nicht, was wollte er mit all dem von ihnen? Wie sollten sie ihn verehren, so weit weg vom Jerusalemer Tempel?

Erstaunlicherweise hat ausgerechnet diese zutiefst traumatisierende Erfahrung für das Judentum eine der produktivsten Phasen seiner Geschichte bewirkt. Manche Theologen sagen, dass damals und dort eigentlich erst entstanden ist, was wir heute Judentum nennen. Ohne Tempel und Priesterkult mussten die Deportierten im fremden Babylon neue Formen finden, ihre religiösen Traditionen zu bewahren und fortzuentwickeln: Das Judentum wurde eine Schriftreligion! Im Zuge dieser Entwicklung entstand, was wir heute Altes Testament oder Hebräische Bibel nennen.

Damit auch unser Text. Der berichtet: Kaum haben die Israeliten die gebirgige Sinai–Wüste erreicht, steigt Mose auf den Berg, um Gott zu treffen. Damals, am brennenden Dornbusch hatte er den Auftrag erhalten, sein Volk aus der Knechtschaft in Ägypten zu befreien. Jetzt wäre es also Zeit, Vollzug zu melden und sich vielleicht auch etwas Lob abzuholen. Es war ja weiß Gott kein einfaches Unternehmen gewesen, diese Flucht. Aber während Mose noch am Aufstieg ist, ruft Gott schon Neues von oben zu ihm herunter. Ernüchterndes für den erschöpften Mose. Offenbar ist sein Auftrag noch nicht erfüllt. Gott hat noch mehr vor mit Israel. Dabei gibt Gott den befreiten Sklaven einen neuen Namen: Er nennt sie „Haus Jakob“. Im Buch Exodus fällt dieser Name hier zum ersten Mal. Die befreiten Sklaven, im Frondienst unter den Ägyptern nur zu Nummern gestempelt, erhalten einen Namen – und damit eine Identität: Sie sind in Gottes Augen kein geflohener Haufen mehr, sondern das „Haus“ Jakob. Sie gehören zusammen und werden so etwas in der Richtung, was wir modern mit dem Begriff „Nation“ meinen. Auf jeden Fall werden sie ein Volk. Dieses Volk soll an seine Erfahrungen mit Gott erinnert werden: Gott hat es aus der Sklaverei befreit. Und ein Kapitel nach unserem Text kommen die berühmten 10 Gebote. Das gilt für das gesamte Alte Testament: Bevor Gott Gebote gibt, erinnert er immer daran, dass er der Befreier ist. Erst Geschenk, dann Verpflichtung. Das heißt auch, dass kein Gebot der Befreiung widersprechen darf. Hier in diesem Text erinnert Gott Mose daran, wie die ägyptischen Verfolger durch sein Wirken im Schilfmeer ertranken. Das wird man in Babylon viele Jahrhunderte später sehr aufmerksam gehört, aufgeschrieben und gelesen haben.

Gott bringt das hier in ein wunderbares Bild: „…wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln“. Mich erinnert das an das – bewusst „Operation Moses“ benannte – Unternehmen, mit dem die israelische Armee vor fast 40 Jahren innerhalb weniger Wochen 8.000 afrikanische Juden nachts heimlich von Sudan und Äthiopien nach Israel ausgeflogen hat, um sie vor dem wachsenden Judenhass dort in Sicherheit zu bringen. Für die Deportierten in Babylon gab es keine Operation Moses, aber das Bild von Gottes Adlerflügeln wird Hoffnung gemacht haben. Die Befreiten aber, mit denen Moses am Berg Sinai angelangt war, hatten eine wochenlange Flucht durch die Wüste hinter sich. Zu Fuß. Schwitzend, hungrig, durstig und mit viel Angst. Sicherlich musste manch lieber Mensch zurückgelassen werden. Nicht alle werden überlebt haben. Auf Adlerflügeln getragen? Das entsprach wohl kaum ihrem Erleben. Aber es entsprach der Sehnsucht der Deportierten in Babylon. Menschen, die in Ängsten gefangen sind, brauchen solche starken Hoffnungsbilder, um irgendwann im Vertrauen auf den befreienden Gott selbst wieder fliegen zu können.

III.

Den Befreiten am Sinai unterbreitet Gott nun ein Angebot: Wenn sie seiner Stimme gehorchen und den Bund einhalten, dann sollen sie Gottes Eigentum sein. „Eigentum“ klingt übrigens sehr prosaisch, denn das Wort, das dafür im hebräischen Urtext steht, klingt mehr nach einem Schatz. Preziosen, wertvolle Edelsteine. Das spricht dafür, dass hier eigentlich die Sprache der Liebe gemeint ist. So wie ich zum geliebten Du „Schatz“ sage, so spricht Gott hier vermutlich auch. Sie sollen sein Schatz sein. Es kann hier eigentlich nur um Liebe gehen – denn es gibt keinen anderen Grund, sich ausgerechnet diesem kleinen Haufen befreiter Sklaven zuzuwenden, wo Gott doch betont, dass die ganze Erde und alle Völker sein sind. Da würde er schönere, größere, frömmere Völker finden. Aber nein, sein Antrag gilt diesem. Für die nach Babylon Deportierten ist das ermutigend.

Ebenso wie auch die Antwort, die unser Text auf ihre Frage gibt, wie sie fern von Jerusalem und vom Tempel ihre Gottesbeziehung leben können: sie sollen auf Gottes Stimme hören und seinen Bund halten. Es hängt also an den Geboten, am Sabbat und an der Beschneidung. Ort und Kult sind unwichtig. Möglich, dass das nicht allen Deportierten zusagte: Das klang doch alles recht nüchtern, als ginge es vor allem um Ethik. Wo bleibt die Schönheit der rituellen Feiern im Tempel? Wie kann ich Kontakt zu Gott haben, wenn es keine Priester mehr gibt, die für mich opfern? Die Leiblichkeit, die Ekstase, die heiligen Handlungen? Alles nicht mehr nötig, denn: „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“. Eine ungeheuerliche Zusage: Jede einzelne, jeder einzelne in direktem unmittelbaren Kontakt zu Gott. Das richtet die Zerschlagenen auf, spricht unendliche Würde zu und ist eine Zumutung, denn als Priester kann ich wohl einzelne religiöse Aufgaben delegieren, nicht aber die Verantwortung. Ich muss religiös erwachsen werden. Das ist revolutionär und stellt bestehende Ordnungen auf den Kopf. Aber damals in Babylon sicherte diese Revolution das Überleben des Judentums. Martin Buber, der große jüdische Religionsphilosoph, liest in diesem Text die Antwort auf die Frage: Wie wurden wir, was wir sind?

In dieser Ermächtigung Gottes steckt auch die biblische Grundlage für das, was wir Protestanten mit Martin Luther das „Allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ nennen. Worauf wir zurecht stolz sind, weil das auch in der Christentumsgeschichte ein ungeheurer Fortschritt und eine Befreiung von klerikaler Herrschaft gewesen ist. So sind die Juden nicht nur für uns als Christen, die wir uns seit Jesu Auferstehung auch Kinder Gottes nennen dürfen, sondern gerade auch für uns als Protestanten unsere großen Geschwister im Glauben.

Hier in Ostdeutschland finden sich nicht wenige Christen in der alten Geschichte vom Auszug aus Ägypten wieder. Der Mauerfall 1989, die unblutige Revolution wurde von vielen Christen in der damaligen DDR als ein Schilfmeerwunder eigener Art erlebt. Andere trugen die Geschichte der DDR in die 40jährige Wüstenwanderung Israels ein. Auch wenn viele das heute vielleicht so nicht mehr sagen würden: Damals nach der Wende waren die großen Bilder der Exodusgeschichte kraftvolle Deutungen des eigenen Erlebens. Und auch im neuen Südafrika nach dem Ende der Apartheid waren vielerorts Bilder vom Auszug aus der Sklaverei und dem Tod des Pharaos wirkmächtig. Gott ist und bleibt der große Befreier!

IV.

Ich schließe, indem ich auf den Anfang zurückkomme. Wie gut, dass, wenn wir in die Wüste geraten sind und das manchmal droht, uns um den Verstand zu bringen, dass da mal ein Wort kommt, bei dem es sich lohnt, hinzuhören – weil es mehr ist, als nur eine Durchhalteparole: „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln“. Das kennen wir doch: „Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret. / Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet. / Der dich erhält, wie es dir selber gefällt; hast du nicht dieses verspüret. – Ja, es gab sie, diese Momente: Erfahrungen, wo „Gott sei Dank“ mehr war als eine Redensart. Wo ich gespürt habe, dass da eine Kraft war, die etwas in meinem Leben zum Guten bewirkt hat, ohne dass ich genau wusste, wie mir geschieht. Dass Gebete nicht vergeblich waren, und mir der buchstäbliche Stein vom Herzen gefallen ist. Die Entdeckung, dass in einer Lebensphase Gott es richtig gut mit mir gemeint hat.

„Er ist dein Licht, / Seele, vergiss es ja nicht“: Ja, es ist so schnell vergessen – nicht nur in der Wüstenzeit. Aber auch die Wüste lebt. Und wir in ihr. Und irgendwann kommt dann wieder die Zeit, da wir aus der Wüste auffliegen können wie Adler. Weil Gottes Geist uns ordentlich Auftrieb unter die Flügel gibt.


AMEN.

Urlaub: die temporale Struktur der Rechtfertigung …

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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„Urlaub, endlich Urlaub, komm, wir packen unsre Siebensachen“ – trällerte ein Schlager aus den 1980er Jahren. Trivial, aber doch nah an unserem aktuellen Lebensgefühl. Zumal jetzt in der Zeit der hoffentlich ihrem Ende entgegengehenden Pandemie. Eigentlich kraxele ich leidenschaftlich gerne im Gebirge herum. Aber zum Haupturlaub im Sommer zieht es mich dann doch immer wieder in den Norden. Sobald ich an Nordsee oder Ostsee bin, empfinde ich ein ganz intuitives Gefühl von Heimat. Obwohl ich nie dort gelebt habe. Das hat viel mit dem Himmel dort oben zu tun. Jeder Nordlandreisende weiß, dass der Himmel dort so ganz anders ist als hier bei uns. Irgendwie weiträumiger, offener, mit einer ganz anderen Dynamik der Wolken. Man blickt in einen anderen, größeren, weiter gespannten Kosmos, wenn man im Norden zum Himmel schaut. Ich muss dann oft an das schöne Wort aus dem 31. Psalm denken: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ „Der bestirnte Himmel über uns“, den der Philosoph Kant als eine der beiden unumstößlichen Grundkonstanten des Daseins ausmachte, oder wie es die Bibel immer wieder sagt: der Himmel, der sich öffnet. Das gehört zu den elementaren Lebensvollzügen, die uns aufatmen und dankbar werden lassen, dass wir da sind in dieser oft schrecklichen, und dennoch so schönen Welt.

Und ich denke dann auch daran, dass Jesus in der Bergpredigt daran erinnert, dass Gott die Sonne am Himmel verlässlich aufgehen lässt, und dass sie „über Gerechte und Ungerechte“ scheint, beide. Ich bin also nicht allein für mich, kann auch das Schöne, das Gott schenkt, nicht einfach für mich abschöpfen. Sondern ich teile meine Existenz und diese Schöpfung mit allen Menschenkindern - auch mit solchen, die mir zu schaffen machen oder über die ich zornig bin. Alle miteinander leben und sind wir aus Gott und dem, was er uns für ein gutes, gelingendes Leben schenkt. Das kann mir manchmal helfen, nicht vorschnell über andere zu urteilen und damit selbst ungerecht zu werden.

Wie auch immer: der offene, weite Himmel über mir lässt mich dankbar werden und erinnert mich daran, dass ich mich in meinem Dasein nicht mir selbst, sondern anderen verdanke. Das öffnet das Herz. Paul Gerhardt hatte einfach Recht, dass er seinen vielleicht populärsten Choral als Sommerlied konzipierte: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / in dieser lieben Sommerszeit, an deines Gottes Gaben…“ Geh aus dir heraus, mein Herz, und bleib nicht in den Traurigkeiten oder Verbitterungen dieser bleiernen Corona-Zeit über stecken! Ja, du musst dich schon auf den Weg machen, musst dir einen Ruck geben und die Freude suchen, denn sie liegt in dieser Zeit der Pandemie für uns nicht so offen auf der Straße herum. Du findest sie, indem du alles so ansiehst, als hätte Gott es dir, gerade dir, zum Geschenk gemacht. Wenn du das versuchst, wer weiß, ob du dann nicht entdeckst, dass Dein Leben wieder neu aufblühen kann. Nimm das als Zeichen, dass Gott sich nicht zurückgezogen hat aus deinem Leben.

Wenn wir, jedenfalls dann und wann, jetzt im Urlaub in dieser Sommerzeit solches spüren, dann sind wir auf der richtigen Spur, Gerade indem wir uns ein Stück weit verlassen und, wie Hölderlin auffordert, „ins Offene“ gehen, finde ich mich wieder neu. So dass ich sagen kann – ob im hohen Norden, oder an einem Gebirgssee, oder vor der Haustür auf einer Blumenwiese in der sächsischen Schweiz: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Dann erfahren wir das, was Paulus und Luther mit dem schwierigen Wort von der Rechtfertigung gemeint haben. Vor allem Machen, Schaffen, Tun und Haben sind wir einfach Daseiende, die allein dadurch, dass wir sind, dass Gott uns Leben geschenkt hat in dieser Welt, eine unveräußerliche Würde haben. Deshalb wünsche ich Ihnen, gerade jetzt in dieser immer noch belasteten Zeit, eine Sommer- und Urlaubszeit mit ganz wenig Machen und ganz viel Sein. Bleiben Sie behütet!


AMEN.

Auch Sex ist ein Gleichnis fürs Himmelreich

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

es ist Hochsommer. Lau(t)e Nächte am Elbufer und im Großen Garten. Chillen, grillen, tanzen, trinken. Endlich das elende social distancing hinter sich lassen. Die Leute sind leicht bekleidet, spüren sich und ihren Körper intensiver als zu anderen Zeiten und genießen das. Und wie das so ist, jedenfalls wenn Menschen noch jünger sind: Mit der Lebenslust wächst die Sinnlichkeit, die Freude an der Erotik.

In diese sinnenflirrende Sommerstimmungslage treffen diese Briefzeilen des Apostels Paulus wie ein völlig überraschend hereingebrochenes Gewitter. Gewalt, Missbrauch, Prostitution: Thema ist das Abgründige, die dunklen Seiten der Sexualität, die doch eigentlich, wie alles Geschöpfliche, eine gute Gabe Gottes ist. Aber die Stichworte sind notorisch und beelendend: die weltweite MeToo–Bewegung; die nicht enden wollenden Missbrauchsfälle von der Kirche bis zum Sportverein; die Prostitution und das Elend der Frauen, die in diesem Bereich unterwegs sind, als alltägliche, viel zu selbstverständlich genommene Realität in unserem Land. Rund drei Millionen Männer in Deutschland suchen regelmäßig Prostituierte auf und tragen damit auch zu diesem Elend bei.

I.

In der Welt, in der die ersten Christen lebten, waren sie offen ausgelebter Sexualität, und damit verbunden auch Gewalt, ständig ausgesetzt. Sex war allgegenwärtig und öffentlich, weil es noch gar nicht so gab, was wir Privatsphäre nennen. In der damaligen antiken Umwelt war die nicht– und außerehelich gelebte Sexualität etwas ebenso Normales, Natürliches wie das tägliche Essen. Niemand musste damals Kinder aufklären, wie es geht. Da war es allerdings eine Revolution, mit welcher Klarheit Paulus hier diesen selbstverständlichen way of life angreift, indem er auch den Körper als Gott zugehörig ansieht, ja ihn in unserem Text sogar zum „Tempel des Heiligen Geistes“ erhebt. Von daher ist für ihn jede Kommerzialisierung des Leiblichen ein absoluter no go. Paulus nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Aufs Klartextreden hat er sich ja verstanden. Gleich fünf Mal taucht in unserem Text das Wort „Hurerei“ auf. Das Wort im griechischen Urtext, das Luther so übersetzt – „porneia“ –, gibt es auch bei uns: wir sprechen von „Porno“. Es gibt dankbarere Themen zum Predigen. Mir ging es beim ersten Lesen dieses Textes so, dass mir ein berühmter Filmtitel von Woody Allen in den Sinn kam, den ich leicht abwandeln würde: Was wir schon immer nicht über Sex wissen wollten… Aber nun hat die Liturgie diesen Text für heute vorgesehen, da will man als Prediger denn doch nicht kneifen.

Der Hintergrund dieser ziemlich übellaunig klingenden apostolischen Ermahnungen ist sehr konkret. Paulus hat Informationen über bestimmte Vorgänge in der korinthischen Gemeinde bekommen, die schwierige Fragen aufwerfen. Etwa: dürfen Gemeindeglieder vor einem weltlichen Gericht gegeneinander prozessieren? Oder, und darum geht es in unserem Text: Darf ein Christ mit einer Prostituierten sexuell verkehren? In Korinth gab es einen prächtigen Tempel der Aphrodite, in dem viele hundert geweihte Dirnen den männlichen Besuchern „zur Verfügung“ waren. Es hat in der Gemeinde Männer gegeben, die dort regelmäßig hingingen. „Alles ist uns erlaubt!“, war ihr Schlagwort. Möglicherweise haben sie sich dabei sogar auf Paulus selbst berufen: „Ihr seid zur Freiheit berufen! Lasst euch nicht wieder zu Sklaven von Vorschriften und Reglementierungen machen!“, schreibt Paulus im Galaterbrief. Wahrscheinlich haben sie so argumentiert: Gott hat es mit unserer Seele, unserem unsterblichen Kern zu tun. Dort, im „inwendigen Menschen“, spielt unser geistliches Leben. Unser Leib hat daran keinen Anteil. Er ist vergängliche Hülle, von Staub genommen und zum Staub zurückkehrend, viel zu irdisch, zu banal für das erhabene Göttliche. So nach der Melodie: „Es sitzt der Körper auf dem Kanapee, die Seele schwingt sich in die Höh“ (Reinhard Mey). Und wenn die Seele mal so weit sich erhoben hat, ist es dann auch egal, dass der Körper auf dem Kanapee noch andere Dinge machen kann als nur dasitzen. Was mit unserem Leib geschieht – die Befriedigung des Hungers oder des Geschlechtstriebes –, das hat mit der Religion nichts zu tun. Da sind wir ganz frei. So etwa haben diese Gemeindeglieder argumentiert.

II.

Darüber beginnt der Apostel mit der Gemeinde ein Gespräch. Es geht darin eigentlich um die Frage: Was bedeutet die Tatsache, dass wir als Glieder der Gemeinde Jesu mit Leib und Seele Christus gehören und von ihm zur Freiheit berufen sind, für unsere Sexualität? „Alles ist uns erlaubt“, hatten jene männlichen Gemeindeglieder im Blick auf ihre Sexualität proklamiert. Diese Einstellung ist bei uns heute gang und gebe. Freilich mit einer sehr anderen Begründung, in der Religion keine Rolle mehr spielt. Wir sind autonom. Wir lassen uns nicht mehr bevormunden. Was ich mit meiner Sexualität anfange, ist meine ureigene Sache. Da hat mir keiner reinzureden – schon gar nicht die Kirche! Denn dass die Kirche mit ihren Moralvorstellungen von vorgestern ist – angstbesetzt, lustfeindlich, verklemmt –, dieses Narrativ ist ja heute mainstream. Da wird dann auch unsere evangelische Kirche munter in einen Topf mit der katholischen geworfen – und manche treten aus unserer Kirche aus, wenn der Papst gegen Kondome wettert. Und so ist denn der Sex–Business in all seinen Erscheinungsformen längst mehr als nur ein leider unvermeidlicher Bodensatz unserer Marktwirtschaft. Er ist ein Geschäftsfeld, in dem Milliarden umgesetzt werden.

Aber es hilft nichts, über den Zeitgeist zu jammern. Schon gar nicht, wenn man sich klarmacht, dass die sog. „sexuelle Revolution“ eben auch eine – sehr plausible! – Gegenreaktion war auf eine jahrhundertealte, entscheidend vom Christentum mitverschuldete Tabuisierung, ja Verteufelung alles Sexuellen. Viele können sich die Kirche ja gar nicht anders vorstellen, als dass sie rund um das Feld des Geschlechtlichen lauter Verbotsschilder aufgestellt hat. Gott erscheint ihnen als ein Griesgram, der es ihnen nicht gönnt, dass ihre Liebe sich ihre Sprache sucht und eben auch in der Sprache des Körpers sich mitteilen möchte: wie ein brausendes Meer, oder wie ein stilles Streicheln des Windes. Leider ist dieser populäre Verdacht, die Kirche habe zur Sexualität ein gebrochenes Verhältnis, so falsch nicht. „Alles mit möglichst wenig Lust, und nur für die Fortpflanzung“: das ist über Jahrhunderte die traurige Devise christlicher Sexualmoral gewesen, und ist es in manchen Kirchen heute noch. Das hat die bürgerliche Sexualmoral hervorgebracht, mit ihrer oft verlogenen Doppelbödigkeit. Theodor Fontane hat das in seinen Romanen oft verarbeitet, mit den Frauenfiguren, die hinter einer leblosen Fassade bürgerlicher „Anständigkeit“ gelitten haben und daran kaputt gegangen sind. Von den Pastoren sind sie im Stich gelassen worden.

Hier lässt sich dann doch einiges von Paulus lernen. Er stellt die selbstbewusste Parole „Uns ist alles erlaubt“ als solche nicht in Frage. Aber er stellt Fragen an sie. Und nun noch von einer anderen Seite: „Alles ist mir erlaubt. Aber es soll mich nichts gefangen nehmen“. – Ja, ihr seid frei! Aber seht ihr die Gefahr, dass das Sexuelle so beherrschend werden kann, dass es alle anderen Lebensinhalte nebensächlich macht? Es gibt ja einen Trend, in der Erfüllung sexueller Wünsche die Summe des Glücks zu sehen. Die Paartherapeuten können ihre Lieder davon singen. Diese Einstellung pervertiert die behauptete Freiheit in eine oft würdelose Abhängigkeit. Es war kein freudloser Frömmler, sondern der junge, durchaus sinnenfrohe Mann Dietrich Bonhoeffer, der gesagt hat: „Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht“. Das ist sehr herb, wir würden nicht mehr so reden. Aber was Bonhoeffer damit sagen wollte, da ist viel Wahres dran. „Serva ordinem et ordo te servabit“, zu deutsch: Bewahre die Ordnung, halte eine gewisse Disziplin, und sie wird dich halten und tragen – ein lebenskluger Satz in der der Ordensregel der Benediktiner. Jede/r von uns wird die Wahrheit dieses Satzes für sich selbst schon erfahren haben.

III.

Bisher freilich hat Paulus den Korinthern noch nichts anderes gesagt als was gute Berater und Psychologen auch sagen. Aber er redet ja nicht als Ethiklehrer, sondern als Bote des Evangeliums. Da ist nun noch von einem anderen Grund her über unsere Leiblichkeit zu reden. Paulus bringt seiner Gemeinde ein paar Grundeinsichten des Evangeliums in Erinnerung. „Wisst ihr nicht, dass ihr nicht euch selbst gehört?“, fragt er: Ihr gehört Jesus Christus – und zwar mit Seele und Leib, mit „Psyche“ und „Soma“, wie es im Griechischen heißt. Ihr gehört ihm psychosomatisch, also mit eurem ganzen Menschsein. Und weiter: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist?“ Euer Leib, nicht nur eure hehre inwendige Seele! „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Christi Glieder sind?“ Immer wieder wird vom Leib geredet. Der Leib, unser Körper – das ist nicht etwas an uns, sondern das sind wir, wie wir sichtbar werden, woran man uns erkennt: unsere Bewegungen, Gebärden, unser Verhalten. Mit diesem unserem Leib haben wir Gemeinschaft mit Jesus Christus. Paulus schreibt: „Der Leib ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib“.

Das klingt erstmal verdächtig nach Leibeigenschaft. Aber es heißt ja eben auch: „Der Herr ist für den Leib da“! Das ist eine Anspielung auf das Kreuz, für Paulus der Dreh– und Angelpunkt. Jesus Christus hat nicht nur mit schönen Worten, sondern „ganzheitlich“, wie wir heute sagen, buchstäblich mit Haut und Haaren, mit seinem Leib dafür bezahlt, was wir mit unserem Leib angerichtet haben. „Ihr seid teuer erkauft“, schreibt Paulus. Jesus hat sich für euch alles kosten lassen! Deshalb gehören wir ihm – nicht als Leibeigene, sondern als Geliebte. Und weil wir Ihm gehören, den Gott mit seinem für uns geopferten Leib auferweckt hat, haben wir mit unserem Leib Anteil an seiner Auferstehung. „Gott hat den Herrn auferweckt, und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft“, schreibt Paulus. Unsere Leiber – die schönen, um die sich die Modelfotographen reißen würden, und die verunstalteten, von denen sich viele hilflos abwenden –, alle sind sie zur Auferstehung bestimmt. „Leibfeindlichkeit des Christentums“ – ja, im Blick auf die Kirchengeschichte stimmt das leider. Aber ganz bestimmt nicht Leibfeindlichkeit der Bibel! Kann es eine größere Würde für unsere Leiber geben, als dass über sie am Ende noch mehr zu sagen ist als „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“?!

„Ihr seid teuer erkauft. Darum preist Gott mit eurem Leib!“: darauf läuft es hinaus. Das ist natürlich noch viel umfassender als was wir in der Liebe dem geliebten Menschen an Beglückung bereiten möchten. Wir preisen Gott mit unserem Leib auch, indem wir uns aufmachen zu einem Menschen, der unsere Zuwendung, unsere Zärtlichkeit braucht. Oder auch indem wir leiblich dazwischen gehen, wenn einem Menschen auf offener Straße Gewalt angetan wird, weil er eine andere Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung hat.

Aber eben, auch die Sexualität ist Lob des Schöpfers, der uns als Beziehungswesen geschaffen hat. Auch Sexualität kann ein Gleichnis fürs Himmelreich sein. Du bist teuer erkauft, weil du Gott teuer bist, weil er sich für dich alles kosten lässt – wenn uns aufgeht, was das bedeutet, dann werden auch unsere Leiber einander mit Zärtlichkeit, Leidenschaft, Achtung und Phantasie begegnen. Daran wird Freude sein nicht nur bei uns, sondern auch im Himmel.


AMEN.

Lauter Grenzüberschreitungen

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

mit diesem Text tritt der Prophet Elia in die Bibel und die Geschichte Israels ein. Ganz unvermittelt, wir erfahren nichts über seine Herkunft, er ist einfach plötzlich da. Wer die Elia–Geschichten etwas kennt, vielleicht aus dem grandiosem Oratorium von Mendelssohn, weiß: dieser Elia ist eine extrem faszinierende, aber auch unheimliche Gestalt! Ein großer Alttestamentler nannte ihn „eine geschichtliche Gestalt von fast übermenschlicher Größe“. Elia ist auf jeden Fall ein Alphatier, berstend selbstbewusst, dessen Weg durchzogen ist von triumphalen Erfolgen, aber auch tiefen Abstürzen. Und auch von verstörender Gewalttätigkeit. Hunderte von heidnischen Baalspriestern bringt er eigenhändig um. Diese Militanz macht den charismatischen Propheten auch zu einer abgründigen Figur. Aber er ist in der Geschichte Israels der Ausleger des ersten Gebots geworden: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Sein Name ist Programm: Elija heiß: Er ist mein Gott. Deshalb ist Elia für die Juden eine ganz zentrale Figur.

Gegenüber dem, was dann alles kommt, mutet unser Predigttext als die Ouvertüre der Elia–Geschichten noch verhalten, ja geradezu leise an. Elia wird am Leben gehalten: erst durch die nichtmenschliche Kreatur in Gestalt von Raben, dann durch eine verarmte Frau. Aber der Hintergrund des Ganzen ist alles andere als verhalten, sondern bedrohlich: „Es sollen diese Jahre weder Tau noch Regen kommen“: eine verheerende Dürre wird hier von Gott angekündigt. Auch uns muss man heute nicht mehr sagen, was das heißt. Diesen Sommer geht es bisher noch, aber davor hatten wir drei Dürresommer in Folge und es ist uns immer bewusster geworden, was das ist: drückende, manchmal auch nachts kaum erträgliche Hitze, braun vertrocknete Laub– und Nadelbäume schon Anfang September, Bäche, die keine mehr sind, sondern nur noch Rinnsale. Der Klimawandel, und auch die Pandemie als handfeste Wechselwirkungen zwischen der globalen Zivilisation und unserem erschöpften Planeten, der zurückschlägt. Das Selbstverständliche, unser unbewusstes Vertrauen auf die Stabilität der Verhältnisse und der Natur, ist brüchig geworden. Wie können wir da weiter darauf bauen, dass wir mit dem täglichen Brot versorgt bleiben, um das wir im Vaterunser beten? Das meint ja mehr als nur die tägliche Nahrungsaufnahme. Es meint die elementaren Mittel, die wir zu einem guten, menschlichen Leben brauchen.

Vielleicht gibt uns diese Geschichte von Elia in der Dürre Hinweise. Zu ihrer ersten Szenerie, der wundersamen Versorgung Elias ausgerechnet durch Raben, gäbe es manches zu sagen. Raben galten im Alten Testament als kultisch unreine Tiere. Es ist erstaunlich, dass Gott gerade denen eine solche Handlungsmacht verleiht. Aber ich möchte ich mich heute auf die zweite Szene konzentrieren: Elias Kommen nach Sarpat (Sarepta) zu einer Witwe. In ihrer Not ist sie der Inbegriff von Armut und Hilflosigkeit. Wir sehen sie vor uns, wie sie die letzten Reste dürren Holzes sammelt, in der Hoffnung, über dem Feuer noch etwas Essbares kochen zu können. Wir sehen sie – und in ihr sehen wir viele Notleidende dieser Welt, denen monatelange Dürrezeiten immer wieder die Lebensgrundlagen entziehen. Sie sind uns längst vertraut, die Bilder von trostloser Trockenheit, in der alles Leben verdorrt. Unvorstellbar die Not im Volk, nachdem der Prophet seinem König Ahab angekündigt hatte: „Es wird diese Jahre nicht Tau noch Regen geben.“

Indes, auch Elia, der Prophet, der Mann Gottes ist dadurch nicht davor geschützt, selbst unter der verheerenden Dürre zu leiden. Er hatte beherzt dem König Ahab ins Angesicht widerstanden, der nicht nur dem einen Gott Israels dienen will, sondern unter dem Einfluss seiner heidnischen Gattin auch anderen Göttern. Diesem Synchretismus bei Hofe hat Elia unerbittlich den Kampf angesagt. Aber nun haben die Folgen seiner Drohbotschaft auch ihn getroffen. Zunächst hatte er sich an den Bach Krit zurückgezogen, weit im Osten im Jordangebiet am Rand der Wüste gelegen. Raben haben ihn dort versorgt, verlässlich wie damals das vom Himmel regnende Manna die Kinder Israel im Sinai. Aber irgendwann ist auch dieser Bach ausgetrocknet. Wie der Psalmist ruft Elia: „Meine Seele dürstet zu Gott.“ Und Gott ruft zu ihm: „Mach dich auf und geh nach Zarpat.“ Auf Gottes Wort hin zieht er los. Und erlebt auf diesem Weg mehrere Grenzüberschreitungen.

Zarpat ist weit westwärts, ein kleiner Ort am Mittelmeer, unweit von Sidon. Das ist die Herkunftsstadt der Königin Isebel, der heidnischen Ehefrau des israelitischen Königs. Sie ist Elia in innigem Hass verbunden – und umgekehrt. Das ist die erste Grenzüberschreitung in dieser Geschichte. Der bis zur Grenze des Fanatischen gläubige Elia muss sich überwinden, ins heidnische Gebiet zu gehen, gottloses Feindesland. Dort begegnet er dieser Witwe. Einer Ungläubigen. Der Mann Gottes begegnet der Heidin. Damit kommt es zur zweiten Grenzüberschreitung, einer ziemlich unerhörten. Denn einem Mann war jeder Kontakt mit einer Witwe verboten. Elia hätte sie gar nicht ansprechen dürfen. Aber er tut es. Not macht erfinderisch und alle Konvention nebensächlich. Und eine Dürre macht keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Heiden. Die gemeinsam erlebte Not verbindet Elia und die Witwe. Und sie lässt Elia auf Gottes Wort hin die Grenze des Anstands überschreiten. Fast scheint es, als kümmere Gott sich nicht um Konventionen. Und erst recht hat diese zweite Grenzüberschreitung auch noch etwas Unverfrorenes. Während die Witwe im Vorgefühl des baldigen Hungertodes für sich und ihren Sohn die Henkersmahlzeit zubereitet, fordert Elia sie auf, ihm ein kleines Brot zu backen. Was sollen die Witwe und ihr Kind dann noch essen?!

Aber da kommt es zu einer dritten Grenzüberschreitung – einer Grenzüberschreitung des Glaubens sozusagen. Gegen alle totale Hoffnungslosigkeit lässt sich die Witwe ein auf den Gottesmann aus dem fremden Land. Sie tut etwas eigentlich Verrücktes. In ihrer Not hilft sie dem Fremden und setzt dabei ihr eigenes Leben und das ihres Sohnes aufs Spiel. Aber so kann das sein im Leben mit dem Glauben, und sollte es wohl auch sein: Erst wenn wir an unsere definitiven Grenzen kommen, erst wenn wir bereit sind, Grenzen unserer religiösen Gestimmtheit, Grenzen der Konvention zu überschreiten, erst wenn wir bereit sind zu neuen Begegnungen, wenn wir bereit sind, Glauben gegen alle Erfahrung zu wagen, auf Hoffnung hin zu handeln: erst dann können Brücken des Lebens gebaut, Wege in die Zukunft beschritten werden. Die eigentlich ungläubige Witwe ist zu einem solch verrückten Glauben fähig, und dieser Glaube wird zur Quelle neuen Lebens, für sie, ihren Sohn und für Elia. „Das Mehl im Topf soll nicht verzehrt werden und dem Krug soll nichts mangeln bis zu dem Tag, wo der Herr regnen lassen wird auf Erden.“

III.

Dann wird auch noch eine weitere Grenze überschritten wird in dieser Geschichte. Eine Grenze in der Welt der Politik und Religion. Zarpat unweit von Sidon liegt im Feindesland, im Land des Baal, einer Natur– und Fruchtbarkeitsgottheit. Und Sidon ist die Stadt Isebels, der militant heidnischen Frau des Königs Ahab. Elia – das ist der Mann Gottes, der den Gottesglauben in Israel rein erhalten, besser gesagt: wieder zu seinem reinen Ursprung zurückbringen will. Ein früher Reformator im Alten Testament. Damit scheint in dieser wundersamen Story zwischen Elia und der Witwe auch die Geschichte einer mörderischen politisch–religiösen Auseinandersetzung durch. Und auch in der Welt der Politik reißt diese Geschichte Grenzen ein: Im Ausland, unter Fremden, mit denen er eigentlich nichts zu schaffen hat, ja die er verachtet, findet Elia Mitmenschlichkeit. Mehr noch: im heidnischen Land findet er einen Glauben, nach dem er in seinem vermeintlich frommen Israel lange suchen kann. Was 700 Jahre später Jesus zum heidnischen Hauptmann von Kapernaum sagen wird „Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden“ (Mt 8,10), das klingt wie ein Kommentar zum Glauben der Witwe von Zarpat. Das macht mich schon nachdenklich im Blick auf die Zeit, in der wir leben. In der in manchen Milieus, die gar nicht mehr nur an den Rändern beheimatet sind, nur der als deutsch im eigentlichen Sinn anerkannt wird, der dies, mit einem deutschen Namen ausweisbar, von Herkunft und Geblüt ist. Der also „autochthon deutsch“ ist, wie man mit einem scheinbar harmlosen Fremdwort zu bemänteln versucht, was man sich – noch – nicht so direkt auszusprechen traut. Ich habe in Freiburg, von wo ich komme, in den letzten Jahren gelegentlich Gottesdienste von Christ*innen mit nicht–deutschen Namen und nicht–deutscher Hautfarbe miterlebt, die seit 2015 zu uns gekommen sind. Was dort an Intensität und Freude des Glaubens mit Händen zu greifen war, hat mich manchmal beschämt. Der Weg von Zarpat nach Lesbos und Lampedusa ist gar nicht so weit.


Und last but not least erzählt unsere Geschichte von einer letzten Grenzüberschreitung, einer heilvollen. Sie spielt gewissermaßen in Gott selbst. Denn hier entgrenzt Gott seine eigene Heilsgeschichte. Im Herrschaftsbereich des Baal erweist er sich als Herr über Leben und Tod. Seine Herrschaft hilft den durch die große Politik unverschuldet in Not Geratenen, ohne Rücksicht auf Grenzen der Politik oder der Religion. Mit der Errettung der Witwe und ihres Sohnes bekennt sich Gott zugleich zu allen seinen Kindern in aller Welt. „Das Mehl im Topf soll nicht verzehrt werden, und dem Ölkrug soll nichts mangeln bis auf den Tag, an dem der Herr regnen lassen wird auf Erden.“ So erhalten die Habenichtse dieser Welt Zukunft und Brot, ob sie nun rechtgläubig sind oder nicht. Gottes Heil ist nicht begrenzt auf ein Land, auch nicht auf ein „christliches Abendland“. Gottes Herrschaft umgreift die ganze Welt. Sie kennt keine Grenzen. Aller Welt wird Gott später seinen Sohn dahingeben. Aus dem Mehl im Topf und dem Öl im Krug werden das Brot in der Schale und der Wein im Kelch, als Zeichen seiner Hingabe an die ganze Welt. So wie wir es jetzt gleich, nach eineinhalb Jahren Abendmahlsfasten, endlich wieder schmecken und sehen können. Über beides, Brot und Wein verspricht uns Christus: „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ Dafür können wir nur grenzenlos dankbar sein.



AMEN.

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

unser Predigttext enthält die letzten Worte Jesu vor seinem endgültigen Abschied von dieser irdischen Welt. Letzte Worte haben es in sich. Wenn sie von einem berühmten Menschen publik werden, faszinieren sie die Nachwelt. Da wird dem letzten Wort gerne die Bedeutungsschwere eines Vermächtnisses zugeschrieben. Dabei ist das keineswegs immer so. Goethe hat in seinem langen Leben weiß Gott Nachdenkenswerteres von sich gegeben als den Ruf nach „mehr Licht“, mit dem er angeblich sein Leben aushauchte. Martin Luther hat auf seinem Sterbebett, als er nicht mehr sprechen konnte, als letztes Wort auf einem Zettel notiert: „Wir sind Bettler. Das ist wahr.“ Das ist ein letztes Wort von anderem Kaliber, darüber kann man lange nachdenken.

I.

Hier also das letzte Wort des irdischen Jesus: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Man sollte denken, nach einem so schönen letzten Wort hätten die Jünger diesen Abschied gut bewältigen können. Ich bin bei dir: wie kaum ein anderes Wort kann diese Versicherung trösten und beruhigen. Wer das einem weinenden kleinen Kind zuflüstert, spürt es. Die Jünger dagegen sind zunächst nur untröstlich. Dieses irrsinnige emotionale Wechselbad, durch das sie die letzten 43 Tage seit Karfreitag getrieben worden waren, ist zu viel, es würde auch die abgebrühtesten Figuren überfordern. „Matthäi am Letzten“, diese von unserem Abschnitt am Ende des Matthäusevangeliums herrührende Wendung steht eben deshalb für Desaster, Chaos, Zusammenbruch.

Wie war es denn zu Beginn dieses letzten Kapitels im Matthäusevangelium? Jesus wurde hingerichtet auf Golgatha und dann begraben. Ein Stein versiegelt das Grab, Zeichen der Endgültigkeit, Unwiderruflichkeit des Todes. Alle Hoffnungen der Jünger wie Seifenblasen zerplatzt. Aber dann die unglaubliche Erfahrung: der Stein vor dem Grab war am Morgen des Ostersonntags weggewälzt. Er markiert nicht das letzte Wort über Jesus und auch nicht das letzte Wort Gottes über uns. Damit wir unser Vertrauen ins Leben, unser Hoffen und Lieben nicht unter Leid– und Todeserfahrungen begraben müssen, darum feiern wir Gottesdienst, und darum feiern wir die Taufe. Für Gott hatte der Tod nicht das letzte Wort. Der Grabstein Jesu wurde zur Kanzel für den Engel Gottes, als er den verstörten Frauen am Grab Jesu zurief: „Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden!“ (Mt 28,5) Das ist der Kern des Evangeliums, damals vor fast 2000 Jahren in Jerusalem und heute hier in der Frauenkirche. Und das ist auch der Grund, warum wir taufen. Der Gekreuzigte ist auferstanden! Christus lebt und hat uns seine Begleitung, seinen Beistand versprochen „bis an der Welt Ende“. Das ist im doppelten Sinn zu hören: zeitlich und räumlich. Was wir in unserem Leben an wohltuender, aufbauender Gegenwart Gottes erfahren haben, muss nicht begraben werden. Es bleibt über den Tod hinaus.

Matthäus erzählt dann  am Anfang unseres Textes, dass der Engel die Jünger nach Galiläa schickte, um dort dem Auferstandenen zu begegnen. Nach Galiläa, wo Jesus seine Geschichte mit ihnen begonnen hatte, als sie noch als Fischer in den Dörfern am Ufer des See Genezareth lebten. Eben dort, in Galiläa, begegnen die Jünger nun dem Auferstandenen und einige von ihnen – zweifeln! Es ist wohltuend, dass Matthäus auch davon berichtet. Selbst für sie, die den Gottessohn direkt sehen und hören und anfassen konnten, selbst für seine engsten Gefährten gibt es keine zweifelsfreie, unerschütterliche Glaubensgewissheit. Wir wissen es sicher aus eigenem Erleben: auch die Taufe ist keine Garantie dafür. Sie lässt den Glauben nicht zu einem festen, unangreifbaren Besitz werden. Glaube ist ein Weg, der Höhen und Tiefen kennt, dem auch Sackgassen und Irrwege, Fragen und Zweifel nicht fremd sind. Und eben darum kann man allein, für sich selbst auch nicht Christ sein. Darum gibt es die Kirche, die Gemeinde als soziale Gestalt des Glaubens. Wir brauchen die Gemeinschaft der Glaubenden, wir brauchen Eltern und Paten, Freundinnen und Freunde, die für uns da sind und für uns beten. Darum ist Friedas Taufe nicht nur das äußere Zeichen für das Band zwischen ihr und Gott, sondern sie knüpft auch ein Band zwischen ihr und der Gemeinde Jesu.

II.

In Galiläa gibt der Auferstandene seinen Jüngern einen einzigartigen Auftrag. Einen Auftrag, dessen Erfüllung Geschichte gemacht hat und immer noch macht, wie wir heute in diesem Gottesdienst mit Friedas Taufe erleben. Hören wir noch einmal die Worte, die der Auferstandene zu ihnen sprach, seine letzten Worte zu ihnen: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ Mit einer starken Selbstaussage begründet der Auferstandene die Sendung seiner Leute zur weltweiten Mission: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Wahrscheinlich ist es dieser robusten Übersetzung Martin Luthers geschuldet, dass in unseren Bibeln dieses letzte Wort Jesu immer noch mit dem militärisch klingenden Wort „Missionsbefehl“ überschrieben ist. Jesus steht in Galiläa bei seinen Jüngern, gezeichnet mit den Wunden der Kreuzigung, und gerade als so Gezeichneter sagte er von sich: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden!“ Dieser Macht Gottes vertrauen wir uns in der Taufe an. Sie bewahrt uns nicht einfach vor irdischem Leiden, diese Macht, denn Gott ist kein Glücksspielautomat. Er hat uns das Leben nicht als dauerhaften Honeymoon versprochen. Auch der Tod wir einmal nach jedem von uns greifen. Aber er wird sich nicht an uns vergreifen. Der Auferstandene mit seiner Macht wird dann zwischen uns und den Tod gehen. Im Vertrauen, dass diese Macht Gottes für uns in Jesus Christus erfahrbar und wirksam ist, können wir trotz aller gefühlten Übermacht des Todes glauben, hoffen und lieben.

Und deshalb lassen wir uns von dem auferstandenen Christus in Dienst nehmen und beauftragen und gehen hin, um allen in Wort und Tat das Evangelium nahezubringen und sie zur Nachfolge Jesu zu verlocken. Jede und jeder Getaufte ist gesegnet und beladen mit einer Verantwortung für die „draußen vor der Tür“. Das gilt ganz besonders für diese Kirche hier im Herzens Dresdens, die so viele Menschen anzieht. Deshalb sind wir Tag für Tag eine Offene Kirche, was viel mehr bedeutet als dass man hier hinein kann. Als ich letzten Herbst entschied, mich auf diese Pfarrstelle zu bewerben, war es auch die Formulierung in der Ausschreibung, die mich gereizt hat: „Pfarrstelle an der Frauenkirche zur Wahrnehmung missionarischer Aufgaben“. Das Wort „missionarisch“ ist umstritten. Und die Christen haben selbst genug dazu beigetragen, leider. Und doch bleibt, was das Wort meint, alternativlos. Weil es dem Willen und der Sendung Jesu entspricht. Die Außenorientierung statt dem Kreisen um uns selbst ist der Herzschlag unseres Kirche-Seins. Die Kirche ist keine geschlossene Gesellschaft, keine Trutzburg, sondern das Offene Haus schlechthin. Über ihrem Eingang steht nicht: Vorsicht, bissiger Hund! Sondern: Herzlich Willkommen!

III.

So weit so schön so wahr – und so idealtypisch! Denn um ehrlich zu sein: Die Mehrheit in unserer Kirche fremdelt mit dem, was man für „missionarisch“ hält. Das Dynamische, sich selbst Riskierende, was jeder missionarischen Bewegung innewohnt, scheuen wir. Wir richten uns lieber ein in uns vertrauter überkommener „Kirchlichkeit“. Nicht die Frage: Wie wird einer Christ?, bestimmt unser Agenda–Setting. Sondern die Frage: Wie können wir Volkskirche bleiben? Ich spitze bewusst zu: Die Rettung der Institution liegt obenauf. Weniger die Rettung der Menschen.

Kommt das alles von Konstantin her? War er der Sündenfall in der Christentumsgeschichte? Als jener römische Kaiser im 4. Jahrhundert den Grund legte, dass das Christentum Staatsreligion wurde, war das die Geburtsstunde der Volkskirche. Der Kirchenvater Augustinus hat sie ein corpus permixtum genannt: das meint ein oft diffuses Gemisch aus Entschiedenen, die singen und sagen können: „Ich weiß, woran ich glaube“, und aus den vielen, die durch ihre Taufe im Kleinkindalter da hineingeraten sind, ohne gefragt zu werden. Diese vielen wollen wir aber nicht verlieren. Denn wir brauchen sie, um es uns weiter leisten zu können, als Volkskirche „in der Fläche“ präsent zu sein. Was gerade aus missionarischem Blickwinkel sehr hoch zu schätzen ist. Zugleich denken wir oft, wir riskieren den Verlust dieser sog. Treuen Kirchenfernen, wenn wir zu „missionarisch“ werden. Das assoziieren wir mit übergriffig, unser bürgerliches Bedürfnis nach Abstand missachtend. Eigentlich müsste man sagen: Die Volkskirche hat enorme missionarische Möglichkeiten – und ist doch eine institutionalisierte Missionsbremse. Ganz schön kompliziert.

Also: Volkskirche bleiben? Ja, ich meine, immer noch. Trotz vieler Wenns und Abers. Ich sage es frei nach Churchill: Die Volkskirche ist das schlechteste aller Kirchenformen – ausgenommen alle anderen. Missionarische Volkskirche sein: Ja, unbedingt! Viel stärker als wir es bisher, ihre missionarischen Möglichkeiten zu wenig ausschöpfend, sind. Mir hilft der kluge Satz des Dichters und gläubigen Katholiken Paul Claudel. Rede nur von Christus, wenn du gefragt wirst – aber lebe so, dass man dich nach Christus fragt!


AMEN.

gehalten von

Pfarrer Holger Treutmann, Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR
(und von 2006-2016 Pfarrer an der Frauenkirche Dresden)

 

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Liebe Gemeinde,

„Und, wie immer? Einen Aperol Spritz für die Dame und für dich ein großes Helles?“
„Genauso“, antworten die beiden, und nachdem sie Platz genommen haben in der Außengastronomie dauert es nicht lange bis er mit dem Tablett zurückkehrt, schwungvoll die Bierdeckel auf den Tisch wirft und die zwei kühlen Getränke serviert:
„Schön, euch wiederzusehen!“
„Ja, geht uns auch so! Es war eine komische Zeit. Ständig gefangen in den eigenen vier Wänden. Und hier? der Laden? brummt wieder?“
„Ja, es geht so. Jedenfalls kommen alle mal wieder aus ihren Löchern.“
„Na ja, Durst haben die Leute doch immer.“
„Ja, zum Glück. Aber ganz so wie vorher, wird’s wohl nicht wieder.“
Noch ehe, die beiden zurückfragen, ist er wieder weg. Am Nachbartisch heben die Gäste schon die Hände und winken ihn heran.

Schön, so ein Gastwirt mit Leib und Seele.
Der kennt seine Leute und sieht schon Weitem, was einer braucht und will.
Der hat seinen Beruf gefunden.

Es heißt, früher wäre er zur See gefahren, dann auf dem Bau gewesen. Hatte Frau und Familie, hat aber nicht lange gehalten, und dann hat er sich selbständig gemacht und hier sein Glück gesucht. Bestimmt ne harte Zeit für die Gastronomie.

Liebe Gemeinde,

Durst haben die Leute doch immer. Ja, das ist es, was uns über die Jahrhunderte hinweg verbindet mit der Szene heute im Biergarten und damals am Brunnen in Samaria, als die unbekannte Frau auf Jesus trifft. Allerdings, wer Gast ist, und wer Kellner, scheint in diesem Wortwechsel am Brunnen nicht ganz klar zu sein.

Du siehst mich – durstig.

Schön, wenn Menschen sich einen Blick dafür bewahren, wonach der andere oder die andere wohl dürstet. Dazu muss man nicht Gastwirt sein. Man kann diesen Blick auch anders schulen. Aber ein guter Wirt hat wohl genau diese Qualität. Er sieht, wenn Menschen tiefer ins Glas sehen, als nur bis zum Boden unter dem Füllstrich. Er sieht die Armut eines Geistes, der für das halbe Lokal eine Runde wirft, damit die Leute ihm zuprosten. Er sieht den Bettler, der seine kleinen Münzen zählt, um herauszufinden, ob er noch Durst hat. Und er sieht die Frau, die sich nur zu gern einladen lässt auf einen Champagner von dem, der weiß, dass mit Geld fast alles zu bekommen ist.

Durst nach Leben.

Da sitzt Jesus zur Mittagszeit und macht Pause. Seine Jünger holen Essen aus der Stadt. In den Pausen geschieht ja bekanntlich oft das Entscheidende. Und da kommt die Frau, um zu schöpfen, wie jeden Tag. Und es entspinnt sich ein Gespräch, das zwischen Missverständnis und Klarheit genauso changiert wie zwischen Distanz und großer Nähe. Fast scheint es, als liege der Reiz eines Flirts in der Luft. Denn beide gehen sich ziemlich direkt an, und weisen sich gegenseitig ziemlich direkt in die Schranken. Und dazwischen entsteht so etwas wie ein gegenseitiges Wahrnehmen, ja Erkennen.

Du siehst mich.

Gott sieht mich. Und: Ich sehe einen Menschen und darin Gott?
Durstig sind sie beide.
Gib mir zu trinken, sagt Jesus.
Die Frau wehrt ab. Anmache oder Anspruchsgehabe eines Mannes, egal.
Sie geht auf eine andere Ebene, um auszuweichen.
Juden und Samariter haben keine Gemeinschaft.
Ihr wollt es doch so. Also lass mich in Ruhe.

Wenn du wüsstest, wer vor dir steht, antwortet Jesus, du müsstest eigentlich bitten!

Die Frau bleibt auf Distanz vor solcher Überheblichkeit und führt ihr scheinbar stolzes Gegenüber sehr geschickt vor: Du hast ja noch nicht mal einen Krug um Wasser zu schöpfen. Und weißt du eigentlich, wie tief der Brunnen der Vergangenheit ist? Weißt du eigentlich wie viele Menschen über die Jahrhunderte angefangen vom Erzvater Jakob ihr durstiges Spiegelbild auf der Wasseroberfläche dieses Brunnens angesehen haben? Und nicht nur die Menschen, auch die Tiere! Hast du eine Ahnung vom Durst nach Leben, die jedem Geschöpf innewohnt?

Mich dürstet – an dieser Stelle hat Jesus das noch nicht gesagt. Erst später am Kreuz ruft er es. Hier sagt er nur: Gib mir zu trinken. Der, der die Quelle allen Leben ist, wird es nur dadurch, dass er den ewigen Durst der Menschen selbst spürt und durchlebt.

Ja, man könnte sogar einen Schritt weiter gehen. Spiegelt sich im immer wieder neuen Durst der Menschen nicht auch ihre Sehnsucht nach dem Ewigen? Und wenn Jesus selbst sich hier als Durstiger zeigt – spiegelt sich darin nicht auch die große Sehnsucht Gottes nach dem Menschen?

Nein, es ist kein protziges Gehabe:
Wenn du erkenntest die Gabe Gottes, und wer der ist, der zu dir sagt:
Gib mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.
Gott hat Sehnsucht nach dir! Kannst du dir das vorstellen? Er dürstet nach dir Menschenkind und deinem Zutrauen, deinem Glauben.

Lebendiges Wasser, fließendes, frisches Wasser, nichts Abgestandenes über die Jahrhunderte im tiefen Brunnen gegen den immer neuen Durst. Das wohl war der Schlüssel für die Frau, ihre Abwehr aufzugeben. Wer von dem Wasser trinkt, wird nie mehr dürsten. Der wird trinksatt werden. Oder welches Wort gebe es in unserer Sprache für nicht-mehr-durstig-sein?

Ist es ein Zufall, dass es dafür kein Wort gibt? Durst kann bei uns immer nur gelöscht werden. Den Durst können wir stillen auf Zeit. Bis der neue kommt. Wie lange würde das Kind an der Brust der Mutter trinken, wenn diese es nicht irgendwann „abstillen“ würde. Du musst mit deinem Lebensdurst jetzt selbst klar kommen, liebes Kind! Ein ehrlicher, aber auch trauriger Prozess in dieser Welt. Das ist Menschsein. Und vielleicht trinkt der alte Mensch deshalb zu wenig, weil sich der Lebensdurst auch dem Ende neigt, weil die irdischen Brunnen nicht mehr trinksatt machen, sondern die Sehnsucht nach der Quelle ewigen Lebens  größer wird.

Und dann macht Jesus einsichtig, wo die Quelle eines Wassers zu finden ist, das nicht abgestanden ist, sondern lebendig sprudelt. Und er formuliert diesen schönen Satz: Das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt. Es geht um eine innere Quelle im Glauben und Erkennen, dass Gott nach uns, nach dir und nach mir, dürstet. Sehnsucht.

Noch bleibt die Frau im scheinbaren Missverständnis.

Gib mir solches Wasser, damit ich nicht immer wieder hier her kommen muss, um zu schöpfen. Vielleicht spricht sie aber damit auch schon eine tiefere Wahrheit aus. Denn wir haben so unsere Wiederholungszwänge, die immer wieder die gleiche Strategie wählen, um glücklicher zu werden, uns lebendiger zu erfahren, unsere Sehnsüchte zu stillen. Jetzt einen anderen Weg einschlagen. Das Vertrauen auf Gott wagen. Er wird neue Perspektiven öffnen, lebenstüchtiger machen, freier und wahrhaftiger zu leben. Gelassen im Wissen darum, dass die innere Quelle niemals versiegt, sondern uns zum ewigen Leben führt.

Für die Frau waren es wohl ihre Beziehungen zu den Männern, die nie erfüllend waren, aber erst mal trinksatt machen. Für andere sind es andere Wiederholungen, die das Leben ein wenig mehr lebenswert machen, aber doch die tiefe Sehnsucht nach Erfüllung nicht stillen können.

Die Frau jedenfalls geht weg. Ohne Wasser. Den Krug lässt sie stehen am Brunnen. Erfüllt von einem neuen Leben geht sie, und erzählt den anderen in der Stadt, wem sie begegnet ist. Offensichtlich ganz ohne trockene Zunge.

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„Und? nochmal dasselbe. Aperol Spritz und ein Großes?“
Wieder bringt er die Gläser, die nicht nur von innen gut gefüllt sind.
Außen sammeln sich kleine Perlen vom Kondenswasser am kühlen Glas.
Ein Genuss.
„Ich mach dann mal Kasse“, wirft er noch ein und legt die Rechnung auf den Tisch.
Trinkgeld stimmt. Er nimmt es gern.
„Schon Feierabend?“
„Ja, Schluss für heute, der Laden gehört mir nicht mehr.
Immer bis spät in die Nacht, das ist nichts für mich. Jetzt geht’s nach Hause. Ich hab was ganz anderes gefunden.“
Er geht weg, gibt keine weitere Auskunft, aber er sieht sehr glücklich aus.


AMEN.

»Und bliebe am äußersten Meer«

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

heute gibt es eine Gottesdienst–Premiere: Das Buch Jona, dieses kleine, aber feine Bibelbuch, wächst endlich über den Kindergottesdienst hinaus. Sein Inhalt ist irgendwie allerweltsbekannt. Aber eben nur aus Kinderkirche und Kinderbibeln. In den liturgischen Texten unserer Gottesdienste kam dieses Buch seltsamerweise nie vor. Mit der neuen Ordnung der Sonntagstexte, die vor drei Jahren in Geltung kam, ist das nun anders geworden.

Also heute endlich einmal Jona – noch nicht vom Walfisch verschluckt. An diesem Frühsommersonntag gehen wir mit Jona zum Hafen, an Bord, auf See. Das kann Urlaubs–Fernweh wecken, in Pandemiezeiten erst recht. Zugleich kommt hier der Alltag von Menschen in den Blick, die dafür arbeiten, dass andere einen schönen Urlaub genießen – bzw. dass wir überhaupt gut leben können. Man kann mit Schiffsreisen Romantik und Abenteuer verbinden. Sie sind aber auch Realität der Globalisierung, in mancher Hinsicht eine bedrückende. Jedenfalls bekommt die oft übersehene Profession der Seeleute in diesem Bibeltext endlich einmal Raum. Das ist mehr als angebracht, schließlich kommen über 90% der Dinge, die uns umgeben, über See per Schiff zu uns.

I.

Jona, der Prophet, geht auch aufs Schiff, um Urlaub zu machen. Einen Urlaub eigener Art: Urlaub von Gott! Wir sind hier in der Frauenkirche, weil wir etwas von Gott und seiner Nähe erfahren wollen. Jona will nichts weniger als das, deshalb schlägt er die entgegengesetzte Richtung ein: er will Gott loswerden! Obwohl er, wie das bei Propheten so ist, Gott mit höchster Verbindlichkeit, mit einem klaren, ganz wichtigen Auftrag zu sich hat sprechen hören, will er von ihm nichts mehr hören. Nichts wie weg von hier! Statt in die Stadt geht er ans Meer.

Auf dem Schiff dann lässt Jona es sich nicht auf Deck in der warmen Sonne gut gehen. Er zieht sich zurück: noch nicht im Bauch des Fisches, aber im Bauch des Schiffes. Wie ein blinder Passagier. Er will die Stürme der Welt, die Schreie seiner Mitmenschen verschlafen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Prophetenexistenz, die ja gekennzeichnet ist durch extreme Sensibilität für die Zeitläufte, in ihr Gegenteil verkehrt. Unwetter und drohender Schiffbruch, angstvolle Gebete und Ladung über Bord – Jona verpennt es. Nicht einmal auf die zunächst gut gemeinten Anreden von Kapitän und Crew geht er ein. Total auf Distanz, meterdicke Mauern aufgerichtet. Es sind zwei scheinbar gegenläufige Bewegungen, die Jona hier macht: er läuft davon, aus der Enge seiner Heimat in die vermeintlich große weite Welt – und zugleich verkriecht er sich. Während der Sturm wütet, findet er tiefen Schlaf. Ist er in dieser Szene ein Vorläufer Jesu, der ja genauso auf den Seesturm reagierte: mit tiefem Schlaf?! Ja und nein. Aber natürlich wird er im weiteren Verlauf seiner skurrilen Geschichte die Erfahrung machen: Vor Gott weglaufen, sich vor Gott verkriechen, das funktioniert nicht. Einer der schönsten Psalmen bringt das unübertrefflich ins Wort: „Wohin sollte ich fliehen vor deinem Angesicht? (…) Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, dann würde auch dort deine Hand mich führen“. So heißt es in Psalm 139. Ja, Gott ist überall, und überall ist er Gott. Sonst wäre er ja nicht Gott. Das weiß schon jedes Kind.

II.

Als Prophet, als einer, der mit Gott auf du und du ist, weiß Jona das auch sehr gut. Aber er weiß es nur noch, er fühlt es nicht mehr. Als die Crew des Schiffes, mit dem er bis nach Tharsis will, das liegt in Spanien, in der damaligen Welt wirklich „am äußersten Meer“, ihn zur Rede stellt und nach seiner Herkunft fragt, antwortet Jona standesgemäß, mit einem frommen Bekenntnis: „Ich bin ein Hebräer und verehre Jahwe, den Gott des Himmels, der das Meer und das Land gemacht hat.“ Ein korrektes Credo. Aber es bedeutet für Jona nichts mehr. Es ist nur noch eine theologische Formel. Der Gott, zu dem er sich da bekennt, ist ihm kein lebendiges Gegenüber mehr. Für Jona ist sein Gott jetzt weniger als für die heidnischen Matrosen ihre Götter sind, die sie um ihr Leben anflehen, während Jona schläft. Aus dem Propheten ist ein in die Gottlosigkeit abgeglittener Frommer geworden, dem von Gott nichts mehr geblieben ist als Katechismuswissen. Darin ist er ein Spiegel, den der unbekannte Verfasser dieses Buches im 4. Jahrhundert v. Chr. seinem Volk vorhält, damit es sich selbst in Jona erkennt: ein Volk, eine Kirche von frommen Gottlosen, für die Gott nur noch eine Phrase ist, eine Ideologie zur Übertünchung einer trostlosen Lage. Der Name Jona bedeutet zu Deutsch Taube. Durch die Bibel ist die Taube zum Symbol für den Sieg des neuen Lebens über die Kräfte des Todes geworden. Hier bei Jona ist das nur noch bittere Ironie.

Der Kapitän des Schiffs stellt Jona die erstaunliche Frage: „Warum betest du nicht zu deinem Gott?“ So fragt ein Heide den frommen Juden. Gott appelliert an die Reste an Glauben, die Jona noch in sich tragen mag, durch die Menschlichkeit dieser heidnischen Schiffscrew, die es nicht übers Herz bringt, Jona über Bord zu werfen, obwohl das Los so entschieden hat. Noch einmal und noch einmal versuchen sie, das Schiff aus dem bedrohlichen Unwetter zu retten. Aber Jona, der berufene Prophet, begreift nichts. Ihm fällt zu Gott nichts mehr ein. Mir wird daran deutlich: Gott ist zwar überall – aber man kann ihm dennoch mit Erfolg davonlaufen. Denn uns erwartet er nicht überall. Er braucht zwar überall Menschen, die sich für ihn einspannen lassen. Aber er braucht nicht jeden Menschen überall, sondern jede und jeden an bestimmten Orten, auf bestimmte Weise. Wir sind jeweils an bestimmte Orte gestellt, auf bestimmte Weise mit Gott verabredet. Natürlich ist jeder Gottesdienst, den wir feiern, eine feste Verabredung mit Gott. Aber es gibt auch unzählige andere, weitere, die ganz persönlich gelten. Und Gott hatte sich mit Jona nun einmal nicht für Tharsis in Spanien verabredet, sondern für Ninive, der Metropole im Zweistromland.

III.

Ninive wird an anderer Stelle in der Bibel „Blutstadt“ genannt. Das klingt schauerlich. Nach Zone des Bösen, des Unheilvollen, dessen, was dem Menschen nicht gut tut, sondern Leid bringt. Lange nach der Zerstörung der historischen Stadt Ninive ist ihr Name für die Juden des 4. Jahrhunderts ein Platzhalter für die Hölle auf Erden. Für das, was man flieht, wenn man leben will. Auschwitz, Srebrenica, Pjöngjang. Ninive ist der äußerste Gegensatz zu Gott und allem, wofür er steht. Genau an diesem Ort will Gott Jona haben. An dem Ort, den er in keiner Weise mit Gott zusammendenken kann. Aber Gott sagt ihm: Gerade dort ist jetzt dein Platz! Denn dort sind so viele Menschen, deren Leid mir ans Herz geht und die ich retten will. Und dazu brauche ich dich.

Ich deutete eben, mit Blick auf den Tiefschlaf mitten im Sturm, schon an, dass wir in Jona manche Züge entdecken können, die wir im Neuen Testament bei Jesus wiederfinden. An dieser Stelle hier, also Gottes Aufforderung, dorthin zu gehen, wo Jona auf gar keinen Fall hin will, wird das noch augenfälliger. Denn auch Jesus wird von Gott genau an den Ort bestellt, der für ihn der denkbar tiefste Gegensatz zu seinem Vater im Himmel ist: das Kreuz, Hinrichtungsinstrument für Schwerverbrecher, der Ort der totalen Gottverlassenheit. Wenn wir nicht wenigstens ahnen, warum es so menschlich ist, dass Jesus in Gethsemane gebetet hat „Bitte nicht, Vater!“, dann verstehen wir auch nicht, warum Jona von Gott wegläuft. Jona im Bauch des Schiffes und erst recht dann in dem des Fisches: es ist sozusagen seine Gethsemane–Stunde. Aber das ist dann ein neues Kapitel in dieser faszinierenden biblischen Novelle.

IV.

Unser heutiger Textabschnitt, sozusagen die Ouvertüre des Jonabuches, gibt mir abschließend einige Fragen auf, die hoffentlich ein bisschen mit mir gehen. Gottes Aufforderung zum Beispiel, mit der alles beginnt: „Mache dich auf und geh!“ Sie könnte vielleicht ja auch mir gelten. In welchen Situationen höre, erfahre ich eine Art Beauftragung, einen Ruf, der mich, auf welchen Umwegen auch immer, losgehen lässt, der meinem Leben eine andere Richtung weist? Gibt es Erfahrungen, in denen sich vielleicht auch Gottes Anruf an mich verbirgt, mein Leben zu ändern? „Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden“, heißt es in einem der schönsten und denkwürdigsten Gedichte deutscher Sprache über die nie endende Bewegung und Veränderung im Leben. Und die Jona–Geschichte fragt mich natürlich auch: wo habe ich vielleicht einen Ruf von Gott gehört, ihn aber schnell ad acta gelegt, weil er mir unbequem war, weil ich mich zu sehr eingerichtet habe?

Eine weitere Frage, die dieser Text mir stellt: Wie erlebe und erleide ich Lebenskrisen – aber wie kann ich sie auch bestehen, so dass ich am Ende stärker aus ihnen hervorgehe? Überall, wo wir zum Gottesdienst zusammenkommen, sind auch Menschen darunter, die einen Angehörigen verloren haben, deren Partnerschaft zerbrochen ist, die einen schlimme Diagnose erhalten haben und und und… Menschen, die sich als ganz weit weg von Gott erfahren und darunter, anders als Jona, unendlich leiden. Bei Jona kehrt das Leiden am fernen Gott erst dann zurück, als er im nächsten Kapitel vom Walfisch verschluckt sich in dessen Bauch wiederfindet. Wiederfindet im mehrfachen Sinn: denn da, in der denkbar größten Dunkelheit und einer gefühlten totalen Gottesferne betet er einen Psalm. Da sagt er keine Katechismusformeln mehr auf, sondern kann sich wieder hinein stellen in die Gebetstradition seines Volkes. Gott ist kein fremdes, fernes, abstraktes Etwas mehr. Er wird Jona wieder zum Gegenüber, zum Du, auf das er sich in seiner Not total angewiesen weiß. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt, dass wir Gott gerade dann am nächsten sind, wenn wir uns von ihm am fernsten fühlen. „Gott nötig haben ist des Menschen höchste Vollkommenheit“, sagte er. Wir denken ja oft, Gott ist uns dann besonders nah, wenn uns Gutes wiederfährt. Was wir an Glück erfahren, wo wir uns beschenkt sehen, da fällt s uns nicht schwer, das als Zeichen für den Segen Gottes anzusehen. Das ist ja auch nicht falsch. Aber in der Bibel entdecken wir: am nächsten kommt uns Gott im Unglück, da wo wir wirklich auf ihn angewiesen sind, wie wir selbst nicht mehr ein noch aus wissen.

Wie es auch immer gerade stehen mag mit Ihrer und meiner Beziehung zu Gott, eines möchte ich aus unserem heutigen Text mit in die kommende Zeit nehmen. Vielleicht bin ich gerade erst eingeschifft mit Jona, schlafe mit Jona, und bin kurz davor, aufgeweckt zu werden von einem aufgeregten Kapitän, der mir die berechtigte Frage stellt: Wie kannst du schlafen? Steh auf, ruf deinen Gott an. Vielleicht denkt dieser Gott ja auch an uns, damit wir nicht untergehen.


AMEN.

In einem Geist verschieden sein

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

DSDS – dieses Kürzel wird auch hier in der Frauenkirche vielen vertraut sein. Seit fast 20 Jahren beglückt sie uns, die berühmte, eher berüchtigte Casting–Show „Deutschland sucht den Superstar“. DSDS. Griffiger Titel, knalliges Format und Jury um die (kürzlich dann doch gefeuerte) Trash–Ikone Dieter Bohlen bescheren dem Sender RTL immer noch beachtliche Einschaltquoten.

I.

„Deutschland sucht den Superstar“: es sieht so aus, als sei diese Devise inzwischen viral gegangen ist in unserer Gesellschaft. Das Normale, Durchschnittliche gilt als langweilig, also uninteressant. Du musst ein Star sein in dieser Welt. Oft stehen schon Kinder unter entsprechendem Druck. In der Schule müssen sie gut, besser noch herausragend sein. Auch in anderen Bereichen, im Sport oder in der Musik, sollen sie doch bitte mit Spitzenleistungen aufwarten. Manche Eltern stellen ihren Kindern Terminkalender zusammen, als ginge es darum, sie zu potentiellen Nobelpreisträgern fit zu machen. Dieses Denken in Superlativen hat aber auch vor der Kirche nicht Halt gemacht. Man muss sich nur mal so manche Ausschreibungen für Pfarrstellen ansehen. Die folgende Anzeige hat unter Pfarrer*innen traurige Berühmtheit erlangt: „In der Kirchengemeinde B. ist die Pfarrstelle zum nächstmöglichen Zeitpunkt neu zu besetzen. Wir wünschen uns eine/n Pfarrer*in mit breiten Erfahrungen in der Gemeindearbeit. Er sollte eine engagierte und kooperative Persönlichkeit sein, die bereit ist, Bewährtes fortzuführen, sich aber auch darauf freut, Neues zu entwickeln. Unter den vielfältigen Arbeitsfeldern sollten ihm eine bibel– und lebensnahe Predigt, kreative Gottesdienstgestaltung, einfühlsame Seelsorge, Freude an der Arbeit mit Kindern, missionarische Jugendarbeit, Frauenarbeit, Seniorenarbeit, Haus– und Krankenbesuche besonders am Herzen liegen. Ferner ist uns die Kontaktpflege zur nichtkirchlichen Öffentlichkeit besonders wichtig. Erwartet werden gute Kenntnisse in der kirchlichen Verwaltung, insbesondere im Finanzwesen.“

Interessant. Offenbar hat diese Gemeinde B. jemand gesucht, der/die in jeder Hinsicht premium ist – die sprichwörtliche Eierlegende Wollmilchsau. Wie so eine Ausschreibung wohl auf potentielle Interessenten wirkt? Nicht nur, dass so ein Anforderungsprofil eigentlich jeden überfordert. Zu fragen ist auch, ob Stars und multitaskige Alleskönner der Gemeinde Jesu wirklich gut tun.

Deshalb noch ein zweiter Spot. Der kommt aus der Gegenrichtung. „Sein Platz im Gottesdienst war hinter dem zweiten Pfeiler links, da wo man die Beine ausstrecken kann und man ihn fröhlich singen hören konnte.“ So begann der Nachruf auf ein treues Gemeindeglied, der letztes Jahr im Gemeindebrief einer Freiburger Gemeinde zu lesen war. Es stand dann noch allerhand darin über die vielen Engagements des Mannes für seine Gemeinde, und dass er in seinem Leben auch Schweres erlebt hatte. Er hatte als junger Mann bei einem Motorradunfall ein Bein verloren, und blieb doch bis zum Schluss ein herzlicher, lebensbejahender Mensch, den viele gemocht hatten.

„Sein Platz im Gottesdienst war hinter dem zweiten Pfeiler links, da wo man die Beine ausstrecken kann und man ihn fröhlich singen hören konnte.“ So den Nachruf eines Gemeindeglieds zu beginnen ist ungewöhnlich, aber sehr sachgemäß. Das wichtigste, vornehmste Wirken von Gottes Geist, den wir zu Pfingsten feiern, ist nämlich, dass Menschen, gerade wenn es das Leben ihnen nicht leicht macht, an Gott glauben können, ihn als den Herrn über ihr Leben erkennen und sich seine Liebe gefallen lassen. Und dass sie erfahren und zeigen, dass sie auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen sind, dass sie sich nicht zu stolz dazu fühlen.

II.

Um Stolz, und die Probleme, der er machen kann, ging es auch in der Gemeinde in Korinth, die Paulus gegründet und an die er zwei dichte Briefe geschrieben hat. Diese Gemeinde war springlebendig – und doch weit entfernt von einer Vorzeigegemeinde. Im Gegenteil, es hat dort heftig gekracht. Manche Gemeindeglieder waren überzeugt, über besonders tolle Gaben zu verfügen, und machten sich damit wichtig. Es gab welche, die brillant und hochgescheit reden konnten. Es gab Wunderheiler und Propheten, die die Gabe der Weissagung hatten. Und dann waren da auch Leute, die „in Zungen“ reden konnten: sie stießen unter Zuckungen unverständliche Laute aus. Wieder andere konnten diesem so sinnlosen wie eindrucksvollen Gestammel einen Sinn verleihen. Diese Zungenrede haben manche Gemeindeglieder, weil sie so spektakulär wirkte, als besonders kräftigen Beweis des Geistwirkens verstanden. Manche glaubten, je übernatürlicher, spektakulärer es zugeht, desto mehr ist das ein Hinweis, dass Gottes Geist wirkt. Andere wiederum, die mehr rational unterwegs waren, sahen eben darin eine gefährliche Entwicklung. Darüber kamen in der korinthischen Gemeinde schwere Spannungen auf.

Was macht Paulus damit? Er setzt klug ein, indem er zunächst mal ein Lob der Verschiedenheit anstimmt. Dreimal beginnt er mit „verschieden sind“: die Charismen, die Dienste, die Energien. Dreimal aber sagt er auch, was sich bei all dieser Verschiedenheit gleich bleibt: derselbe Geist, derselbe Herr, derselbe Gott. Es geht ihm um das Gemeinsame gerade in unseren Verschiedenheiten. Natürlich hält Paulus nichts von der unseligen Parole: Du bist nichts, dein Volk, oder in diesem Fall: deine Gemeinde ist alles. Was wäre das für ein Volk, eine Gemeinde, die aus lauter Nichtsen besteht? Er hält aber auch nichts von der Haltung, die dem Starkult zugrunde liegt, also dem Getue um die einzigartige, ständig an ihrer Optimierung modellierenden Persönlichkeit. Was wäre das für eine Gemeinde mit lauter aus allem heraus ragenden Einzelnen, die sich an sich selbst berauschen? Paulus will uns nicht gleichmachen. Aber uns sozialisieren, gemeinschaftsfähig machen, das will er. Christentum ohne Gemeinschaft, nur im Inneren, im Herzen: diese sehr protestantische Versuchung ist für Paulus ein No go. Christsein heißt für ihn: ein Glied am Leib Christi, also Teil eines Organismus sein. In den Versen direkt nach unserem heutigen Text führt er genau das näher aus, mit dem bekannten Bild vom einen Leib und den vielen Gliedern.

Paulus zielt sehr klar auf die Vielfalt der Gaben ab. In einer Gesellschaft, die ein viel gelesener Soziologe „Gesellschaft der Singularitäten“ nennt, die wie noch nie von Individualisierung und Zerfaserung gekennzeichnet ist, von Verlust des Gemeinsinns, ist das ein Plädoyer für Vielfalt auch in der Kirche. Die Geistesgaben, die Paulus hier nennt, kennzeichnen sehr unterschiedliche Stile, Christsein zu leben. Zwischen denen, die mehr vom Denken herkommen und sich um ein tiefes Verstehen der heiligen Texte bemühen, und solchen, die das emotionale Erleben suchen, können Welten liegen. Da wird es schwierig, in einer Gemeinde zusammenzuleben, ein gemeinsames Körpergefühl für den Leib Christi zu haben. Auch darum ist unser Protestantismus weltweit ja so divers, oft auch zersplittert, weil es so schwierig ist, diese ganz unterschiedlichen Stile beieinander zu halten. Da wird die Bildung neuer Gemeinden manchmal auch zur Bildung neuer Blasen, wo nur noch geistlich Gleichgesinnte zusammen sind. Das ist die Stärke der Volkskirche, die wir zwar längst nicht mehr zahlenmäßig, aber als Organisation immer noch sind, dass unter ihrem Dach sehr Unterschiedliches beieinander bleiben kann. Weil in ihr eher möglich ist, worum Paulus hier wirbt: auch Andersartiges gelten zu lassen, den eigenen Stil nicht absolut zu setzen.

III.

Spannend ist nun, dass Paulus eine solche Gemeinschaft von Verschiedenen auch in Gott selbst erkennt. In dem genannten Dreiklang vom selben Geist, selben Herrn und selben Gott klingt schon an erst die Jahrhunderte später entwickelte Lehre von der Trinität. Also von Gottes Wesen als „Einer in Dreien“, von der Gemeinschaft aus Geist, Sohn und Vater. Um die wird es nächsten Sonntag gehen, der den Namen Trinitatis trägt. Diese schwierige, hoch abstrakt wirkende Lehre hat einen einfachen Kern. Sie soll uns hindern, vom dreifaltigen Gott einfältig zu reden, simpel, eindimensional. Denn Gott ist nicht erst in der Gemeinschaft mit uns, sondern schon in sich selbst ein soziales Wesen: als Vater, Sohn und Geist in sich reich an Beziehung und Gemeinschaft. Paulus zeigt das auf an den Wirkungen Gottes nach außen. Zwar lässt sich von diesem Gott insgesamt sagen, dass er barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte ist. Aber die Auswirkung dieses Wesens, die Gnadengaben, Charismen sind Gaben seines Geistes.

Verschiedene Charismen, aber derselbe Geist. Der Sohn ist zugleich der Herr der Kirche, der uns Dienstaufträge erteilt: verschiedene Dienste, aber derselbe Herr. Aber die Charismen blieben womöglich ungenützt, die verschiedenen Dienste ungetan, wenn nicht Gott der Vater auch uns energisch und kräftig, der Schöpfer auch die Geschöpfe schöpferisch, kreativ macht. Verschiedene Wirkkräfte, aber ein Gott, der alles in allem bewirkt. So kann Gemeinde Jesu als Gemeinschaft der Verschiedenen zum Ebenbild Gottes werden. Schon zu Anfang der Bibel, in der Schöpfungsgeschichte wird deutlich, dass der Mensch nicht in der Vereinzelung, sondern erst in Gemeinschaft, also auch in der Verschiedenheit, wirklich Ebenbild Gottes sein kann. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, lautet eines der ersten Gottesworte über die Krone seiner Schöpfung. Um nochmal auf den Starkult zurückzukommen: Wenn schon, dann gilt für die Kirche, die Gemeinschaft der Christen der Satz eines früheren Bundestrainers: „Der Star ist die Mannschaft“! Im folgenden Kapitel, dem berühmten Hohelied der Liebe, wird die Kritik an Selbstverliebtheit und Egoismus noch einmal zugespitzt. „…und hätte die Liebe nicht“: Ohne Liebe sind die tollsten Gaben am Ende Schall und Rauch.

Unser Text macht jedenfalls deutlich, mit wie viel einzelnen Beiträgern zum Gesamten der Gemeinde Paulus rechnet. Offensichtlich hat er keine Gemeinde vor Augen, in der die Pfarrer alles in allem können und tun, also keine eierlegenden Wollmilchsäue. Die eingangs zitierte Pfarrstellenausschreibung hätte Paulus sofort in den Papierkorb befördert. Menschen, die nicht nur durch ihre Lebenserfahrung, sondern auch durch göttliche Inspiration begabt sind, Worte der Weisheit zu sagen, Worte, die anderen zu einem gelingenden Leben verhelfen, müssen nicht dieselben sein, die Worte der Erkenntnis beisteuern, uns tiefere Einblicke in biblische und politische Zusammenhänge ermöglichen. Sogar der Glaube an sich ist für Paulus eine bestimmte Geistesgabe einiger, die allen zugutekommen soll. Wer also fähig ist, Gott und Jesus mit ganzem Herzen, ohne Zwiespalt und Zweifel zu vertrauen, soll sich nicht erheben über den Un– oder Kleinglauben anderer, sondern er soll diese mittragen, für sie mitglauben.

Der Mann, von dessen Nachruf ich erzählte, war in seiner Gemeinde auf verschiedene Weise engagiert, als Schatzmeister beim Gemeindefest, als Mitglied im Kirchenvorstand und im Besuchsdienstkreis. Das ist alles wertvoll. Wichtiger aber ist, dass er ein Zeuge war, mit seiner treuen Präsenz im Gottesdienst, mit seiner Gelassenheit, und einem bei allem Schweren, das er erlebt hatte, bewahrten Humor. So verstehe ich den Satz des Nachrufs: „Sein Platz im Gottesdienst war hinter dem zweiten Pfeiler links, da wo man die Beine ausstrecken kann und man ihn fröhlich singen hören konnte.“ Schöner kann man das nicht sagen über einen 87jährigen, der in der Jugend ein Bein durch einen Motorradunfall verloren hatte. Er war, was nach Paulus wir alle sind: begabt, oder ich sollte sagen: hochbegabt, weil vom Höchsten begabt. Mit Gaben beschenkt, ausgerüstet. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen, Sinne und Gaben in Jesus Christus.



AMEN.

Gott stillt Durst anders

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

Nikodemus war also auch dabei. Den Namen hat man doch schon mal gehört. Das war jener gelehrte Rabbiner, der beides war, gläubig und kritisch–intellektuell, und der Jesus einmal im Schutz der Nacht zu einem denkwürdigen Gespräch über Gott aufgesucht hatte. Jetzt, bei seiner zweiten Begegnung mit Jesus – am helllichten Tag diesmal – ist er nicht ganz so nah dran. Aber Wesentliches bekommt er mit und macht sich prompt suspekt bei seinen Kollegen, den Theologen. Als potentieller Sympathisant jenes seltsamen Predigers aus Nazareth.

I.

In Jerusalem ist was los. Das Laubhüttenfest wird gefeiert. Es ist nach Pessach das zweithöchste Fest der Juden, eine Art Erntedank– und Erntebittfest in einem. An seinem achten und letzten Tag schöpft der Priester aus der Quelle Siloah Wasser mit einem goldenen Krug. Der wird dann in feierlicher Prozession in den Tempel gebracht. Dort gießt der Priester den Krug über dem Altar aus, und alle, die dabei sind, bitten um Regen. Zugleich wird auch dankbar daran erinnert, dass einst in der Wüste, in jenen 40 Jahren des Umherirrens der Israeliten zwischen Sklaverei und gelobtem Land, das Wasser aus dem Fels gesprudelt war und ihnen das Überleben gesichert hatte.

Und dann geschieht es. Jesus macht sich bemerkbar. Es hatte gedauert bis zu diesem Moment. Er hatte lange gezögert, aus der Provinz ins Zentrum, von Galiläa nach Jerusalem zu gehen. Aber dann geht er. Nicht öffentlich, sondern ziemlich still und leise. Unter denen, die es vom Hörensagen erfahren, gibt es Geraune. Das ist einer, den müsst ihr hören – sagen die einen. Ein Sektierer, ein gefährlicher Verführer – so die anderen. Die Leute im Tempel sind gerade dabei, die alte Verheißung des Jesaja zu singen: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen“. Wie bei den Kindern vor Weihnachten, breitet sich eine gespannte Erwartung aus, dass Gott dieses Wort bald wahrmachen und seine Herrlichkeit wie ein breiter Wasserstrom vom Zion her durch die ganze Welt gehen und allen Durst stillen werde.

Für die einen mag es also keine Störung des Festes, sondern seine schönste Erfüllung sein, wenn Jesus mitten in die feierliche Liturgie ruft: „Kommt zu mir! Hier, bei und in mir ist der Gottesstrom, das Wasser des Lebens. Kommt einfach, und trinkt euch satt!“ Und so heißt es in unserem Text, dass viele danach ausrufen: „Dieser ist wirklich der Prophet, ein Mann Gottes! Der, auf den wir schon so lang gewartet haben. Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser!“ Aber klar ist auch, dass es für die anderen eine schlimme Gotteslästerung ist. Sie halten entgegen: „Wenn der Prophet schon kommt, dann ganz sicher nicht aus Galiläa, diesem Palästinisch–Sibirien! Habt ihr euch verführen lassen? Gibt es denn auch nur einen von den gelehrten Theologen, der ihm glaubt? Nur das Prekariat, die Ungebildeten hören auf ihn!“ Und so heißt es dann: „Also entstand Zwietracht im Volk über ihn“. Und das ist ja auch nicht verwunderlich. Dort im Vorhof des Tempels steht ja keine himmlische Gestalt in gleißendem Licht. Da steht ein gelernter Schreiner aus Galiläa, in einfacher ländlicher Kleidung, ohne klerikales Gewand. Nach außen hin einer wie alle anderen nach Leben Dürstenden auch. Und er, der ihnen zuruft: „Kommt zu mir und trinkt euch satt!“, wird ja bis zum Ende einer von ihnen bleiben. Am Galgen wird er unter rasenden Schmerzen nach kühlendem Wasser schreien. So einer preist sich als das lebendige Wasser an. Schwer zu fassen. Und leicht nachvollziehbar, dass das nicht der Durstlöscher ist, den die Leute brauchen. Für den Durst nach Wissen, Macht, nach Prestige und Attraktivität ist das nicht das passende Getränk.

Nun ja. Jedenfalls braucht es da nicht viel zum Einvernehmen der religiösen Elite: Weg mit diesem Störenfried und Verführer! Sie brauchen nicht mehr zu trinken. Sie sind genug berauscht von ihrer eigenen Theologie. Auf alle komplizierten Fragen haben sie eine einfache Antwort, für jedes Problem gleich das passende Bibelzitat. Einer, der sagt: „Bei mir, einer Person, einem Namen ist die Quelle des Lebens, nicht in euren Gedanken und Ideen, und auch nicht in Schriftbuchstaben!“, so einer ist eine Provokation für die, die immer schon alles wissen.

Aber seltsam: Die Sicherheitskräfte, die von den Hohepriestern mobilisiert werden, packen Jesus nicht an. Als wäre ein unsichtbarer Schutzschild um Jesus. Noch hat die Stunde der Häscher nicht geschlagen. Was Jesus seinen Verfolgern sagt, atmet eine unglaubliche innere Freiheit: „Noch eine kleine Zeit bin ich unter euch, und dann gehe ich zu dem, der mich gesandt hat. Nicht ihr werdet mich greifen, sondern ich werde weggehen, wenn es meines Vaters Wille ist. (…) Auch ihr werdet einmal Durst bekommen nach dem Wasser des Heils“.

II.

Rein menschlich gesehen mag bei dieser vorläufigen Verschonung auch Nikodemus mitgemischt haben. Da dieser Theologe mit wachem Geist und großer Neugier das jetzt miterlebt mit Jesus – diesen Szenenwechsel vom einem steinernen Altar zu einem lebendigen Menschen, weg vom Wasseropfer hin zum Opfer eines Menschen –, mag er sich an den einen oder anderen Nachtgedanken erinnern, den Jesus damals zu ihm geäußert hatte. Vielleicht an das Wort: „Wenn einer nicht von neuem geboren wird, aus Wasser und Geist, kann er nicht in das Reich Gottes gelangen“. Wasser, ja, das war Nikodemus damals schon einleuchtend. Das ist ein Grundlebensmittel. Aber dass Jesus auch den Geist genannt hatte, daran hatte er lange rumgerätselt. So wirklich verstanden hatte er es in jener Nacht noch nicht. Aber mit ihm mitgegangen war es. Sonst hätte Nikodemus wohl kaum in den erhitzten Disput Jesus eingeworfen: „Richtet denn euer Gesetz einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkannt hat, was er tut?“ Freilich, nachdenklicher machen kann er mit dieser einfachen Rückfrage seine Kollegen nicht mehr. Sie sind schon zu sehr im Rad: „Kommst du etwa auch aus dieser Gegend da oben?“ geben sie ihm zurück.

Wie wird es für Nikodemus nun weitergehen? Vergessen kann er das gerade Erlebte nicht mehr. Wie Jesus aufgetreten war! Mit welcher Ruhe und Klarheit er geredet hatte! „Wenn einer Durst hat, komme er zu mir und trinke! Ich bin das Wasser des Lebens.“ Nikodemus dämmert, dass es um ganz anderes geht bei diesem Ruf. Wir tun viel im Beruf, im Alltag, vielleicht auch in unserem Glauben. Was aber Leben in seiner Tiefe ist, das können wir nicht tun, das haben wir nicht gemacht. Nikodemus fängt an zu überlegen: Was mache ich? Vor allem aber: Was bekomme ich? Das hatte Jesus ja eindrücklich deutlich gemacht anlässlich der Wasserspende beim Erntefest: das Spenden, das Opfern soll den Blick nicht erschöpfen. Die entscheidende Spende, das wirkliche Opfer kommt andersherum. Gott spendet und opfert. Freilich, das ist jetzt, zu diesem Zeitpunkt, noch nicht verständlich. Jetzt ist es noch zu früh.

Ob die klerikalen Kreise, in denen Nikodemus verkehrte, etwas von seiner Entwicklung gemerkt haben? Wie war sein Stand unter seinesgleichen, den Pharisäern? Beobachtete ihn vielleicht jemand einige Zeit später, als er sich Jesus ein drittes Mal näherte? Zu spät näherte, könnte man meinen. Denn Nikodemus war in Jerusalem geblieben und machte sich auf dem Weg nach Golgatha. Bei sich hatte er hundert Pfund Myrrhe zum Einbalsamieren des toten Jesus. Zu spät?

Johannes, der all das aufgeschrieben hat, gibt uns einen Hinweis, der in eine andere Richtung deutet. Jene drei einschneidenden Begegnungen von Nikodemus mit Jesus sollen ja noch überholt werden. Und zwar dann, als der Geist auf Jesu Leute kam, als er sie sendete. Eben jener Geist, von dem Jesus Nikodemus gegenüber so rätselhaft gesprochen hatte. Jesus kam ja wieder, als Auferstandener. Er kam als der gleiche Jesus wie vorher, aber nicht mehr als derselbe Mensch. Er zeigte ihnen seine gefolterten Hände und seine durchstochene Seite. Er grüßte seine Leute und gab ihnen seinen Geist: „Wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich euch. Nehmt den heiligen Geist!“ Und die Jesus–Leute spürten auf einmal eine nie gekannte Kraft – wie von außen angeflogen.

Jetzt wurde Wahrheit, was vorher nur dunkel vorausschien. Jesus ging seinen Leuten richtig auf. Ob Nikodemus von Golgatha mit herübergekommen war? Wasser, Opfer, Umkehr: alles wichtig und gut zu einem besseren, vertieften Leben. Aber nicht ausschlaggebend zum Heil. Das, was wirklich auf die Beine stellt, das kann nur Gott selbst tun. Sein Geist erst lässt das von sich aus absolut Unverständliche, die Hinrichtung auf Golgatha, verstehen und das Leben ergreifen. Jetzt war heraus, was Gott mit Jesus angefangen und vollendet hatte. Aus dieser umwerfenden Erfahrung, aus diesem neuen Verstehen heraus entstand die Kirche. Aber das ist wieder eine neue Geschichte. Und mit der können wir ruhig noch eine Woche warten. Dann ist nämlich Pfingsten.


AMEN.

Heavly sky

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt


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Liebe Gemeinde,

viele werden das schon erlebt haben: man sitzt im Flieger, noch ganz früh am Morgen, der Start geht in den noch dunklen Himmel. Und dann der Sonnenaufgang weit über den Wolken! Das ist traumhaft schön, das schlechte Gewissen, dass man überhaupt im Flieger sitzt, kommt zumindest für diesen Moment nicht gegen das Überwältigungsgefühl an. Eine buchstäbliche himmlische Erfahrung, 10.000 Meter über der Erde. Aber kommt man so dem Himmel näher? Ein Blick aufs Englische ist erhellend. Da gibt es zwei Wörter für den Himmel: sky und heaven. Wenn ich die Hochhäuser von Frankfurt/M. sehe, wie sie schier in den Himmel wachsen, dann sehe ich die skyline, nicht die heavenline. Wenn ein Gebäude so hoch hinausragt, dass wir es „Wolkenkratzer“ nennen, dann ist das englische Wort dafür skyscraper, nicht heavenscraper. Wie so oft enthält die Sprache eine tiefe Wahrheit: Man ist dem Himmel nicht näher, je höher man fliegt. Die uralte Geschichte vom desaströsen Turmbau zu Babel steht dafür. Wir mögen den sky streifen, aber den heaven, den Himmel erreichen wir nicht.

In meinen Jahren als Gemeindepfarrer hat es mich im Religionsunterricht in der Grundschule oft berührt, wie wichtig den Kindern, wenn sie malten, der Himmel war. Keine Pflanze malten sie ohne Himmel darüber. Sein Licht und sein Glanz, das war ihnen wichtig. Besondere Sorgfalt verwendeten sie auf die Wolken, auch auf den Regen. Manche malten Bilder, auf denen der Himmel den allergrößten Teil einnahm. Wenn Kinder so malen, dann meinen sie nicht nur den sky, sondern auch den heaven. In ihrem Malen wollen sie etwas von dem ausdrücken, was man gar nicht malen kann: die Quelle des Lebens. Sie malen das Licht und das Wasser, weil sie spüren, dass man ohne Licht und Wasser nicht sein kann. Aber ihre Bilder sagen auch: Der Mensch lebt nicht von Licht und Wasser allein, sondern er lebt eigentlich von dem, was dahinter ist. So wird der Himmel, den wir sehen – „der bestirnte Himmel über uns“, wie ihn der Philosoph Kant ehrfürchtig nannte – zum Gleichnis für den Himmel, den wir nicht sehen. Der Himmel, nach dem wir uns ausstrecken können, wird zum Gleichnis für das Geheimnis der Welt, für die Wahrheit über unser Leben.

Der Himmel, den wir nicht sehen, aber in dem, so sagt es unser heutiger Predigttext, aus dem Epheserbrief, Jesus sitzt und regiert. Über dem Weltkreis thronend, ein Zepter in der Hand, eine Aura, die sich weit ins All hinein erstreckt: so erscheint der Himmelfahrtschristus auf vielen Bildern. Heaven eben. Solche Darstellungen wecken das für uns moderne Menschen zwiespältige Gefühl, dass Christus nichts entgeht, er die Dinge auf Erden unter Kontrolle hat und von einer höheren, geheimnisvollen Warte aus alles Sinn und Ordnung hat. Aber was macht Christus „dort“ eigentlich? Was haben wir von der Vorstellung eines Himmelthronenden, wenn uns auf der Erde die Ressourcen ausgehen, die Kriege nicht weniger werden und eine Pandemie eine verwüstende Spur durch sie zieht? Hat sich Gott mit der Himmelfahrt nicht aus der Verantwortung gezogen? Wäre ein irdischer Jesus, der wenigstens einige Kranke heilt oder hier und dort für etwas mehr Brot sorgt nicht allemal hilfreicher, als der erdenferne Himmelschristus?

Als Kind fand ich es verstörend und auch gemein, dass Jesus einfach so plötzlich weg ist und die Jünger, die sich doch bestimmt so gefreut hatten, dass ihr Jesus doch nicht wirklich tot war, nun wieder alleine da standen. Als ich etwas älter war, starb ein Onkel an einer schlimmen Krankheit. Weniger Monate nur, nachdem er in Rente gegangen war und mit meiner Tante für den neuen Abschnitt so viel geplant hatte. Aber nun war alles wie Seifenblasen zerplatzt, und ich war überzeugt, dass für meine Tante jetzt eine Welt zusammenbricht. Erstaunlicherweise war das aber nicht so. Meine Tante war traurig, klar, aber sie hatte sehr bald für sich herausgefunden, dass ihr Georg nicht wirklich weg, sondern sie immer noch mit ihm verbunden war. Auf etwas geheimnisvolle, aber beeindruckende Weise blieb ihr diese Liebe Hilfe in vielen Lebenslagen. Das half mir damals, die „Himmelfahrtsgemeinheit“ aus einer anderen Perspektive zu sehen: Nichts, was auf der Erde lebt, verschwindet einfach. Alles hat noch eine Entsprechung im Himmel. Und der Himmel hat eine Entsprechung auf der Erde. Und in Jesus verbindet sich beides auf einzigartige Weise. Jesus kann „in den Himmel auffahren“, weil er von der Erde gar nicht mehr verschwinden kann, weil er sie mit sich verbunden hat und nun ganz mit dem Himmel verbindet.

Dass Jesus „zum Himmel gefahren“ ist, heißt zunächst einmal ganz schlicht: Er hat an dem Geheimnis des Himmels, der heaven ist, nicht sky, Anteil, er ist selber ein Teil davon. Seine Macht ist unendlich viel weiter gespannt, als wir uns vorstellen können. Unser Abschnitt aus dem Epheserbrief sagt das in großer Eindringlichkeit: „Er ist eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen“. Das ist, durch alle feierliche, steile Sprache hindurch, eine großartige Aussage, weil sie uns Jesus Christus hier einmal von seiner anderen Seite vor Augen malt. Also nicht den Sohn Gottes, der gehorsam den Weg nach ganz unten ging und uns in allem gleich wurde, sondern den Christus Pantokrator, den Christus, der als König souverän über alle Dinge herrscht.

Wir rationalistischen Protestanten, denen das Kreuz der Kern des Glaubens ist, tun uns damit eher schwer. Uns ist Jesus, der „wahre Mensch“, näher als Christus, „der wahre Gott“. Der von Wunden und Dornen entstellte Gekreuzigte auf Grünewalds berühmten Isenheimer Altar erschließt sich uns eher als der überirdische, mit Goldglanz gezeichnete Christus auf den orthodoxen Ikonen. Aber es ist mit den beiden Seiten Jesu Christi wie mit Kreuz und Auferstehung: Ohne Ostern bliebe Karfreitag ein trostloser Tag, bliebe das Kreuz ein schreckliches Symbol für unsere dunkelsten Abgründe. Und ohne die göttliche Seite bliebe Jesus einfach ein „großer Mensch“, ein eindrucksvolles Vorbild der Humanität – aber nicht der, in dem unser Heil ist.

Der Himmel ist die uns entzogene umfassende Wirklichkeit Gottes, in ihm entfaltet Gott sich als der, der alles in allem erfüllt. Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, hat an dieser Fülle Anteil. In diesen geheimnisvollen Bereich zieht er uns mit hinein. Dass er zu Gott erhöht wird, heißt eben nicht, dass er uns verlässt. Er bleibt uns nah durch seinen Geist, er bleibt uns nah, wenn wir sein Wort hören, seine Sakramente feiern. Der Christus, der am Kreuz unendlich erniedrigt und gedemütigt wurde, herrscht über alle Reiche und Gewalten, über alles, was einen „großen Namen“ beansprucht. Das ist die Botschaft dieses Tages. Christus, so sagt es der Epheserbrief, „ist die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“ Wie sollten wir ihm dann nicht auch die Herrschaft über unser Leben anvertrauen? Das Himmelreich ist eben mehr als der Horizont, bis zu dem mein Auge reicht. Es ist auch ein Standpunkt jenseits meiner Perspektive, der mein Leben über seine Todesgrenze hinaus umfasst und in sich birgt. Ich kann das nicht immer so einfach glauben. Aber ich kann es mir immer wieder sagen und mich hineinziehen lassen in diese himmlische Herrschaft.

Besonders eindrücklich kann ich mir das sagen lassen von dem berühmten Theologen Karl Barth. Am Abend vor seinem Tod im Dezember 1968 telefonierte Barth mit einem engen Freund und theologischen Weggefährten. Sie sprachen über die auch damals düstere Weltlage: Vietnam, Biafra, Tschechoslowakei. Am Ende, so hat der Freund berichtet, sagte Barth, bevor er den Hörer auflegte, fast beschwörend: „Aber ja nicht den Kopf hängen lassen! Denn es wird regiert!“ In der Nacht starb er. Oder anders gesagt – er vertraute die Herrschaft über sein Leben ganz Gott an.

Und wenn uns das bei unserer ähnlich trostlosen Weltlage als ein hilflos–frommes Pfeifen im Wald erscheint? Dazu zum Schluss etwas zum Mitnehmen und Weiterdenken. In einem Roman des siebenbürgischen Pfarrers und Schriftstellers Eginald Schlattner gibt es ein beeindruckendes Zwiegespräch zwischen zwei Liebenden über den Glauben. Dort heißt es:

„Glaubst du an die Auferstehung der Toten?“ – „Ja“, hörte ich mich laut sagen, indem ich die Augen auf sie richtete. – „Wie gut!“ sagte sie. – „Ja“, sagte ich, obschon ich es nicht glaubte. – „Du glaubst es! Wie mich das tröstet.“ – „Ja“, hatte ich gesagt, obschon ich es nicht glaubte. Aber ich glaube, es gibt Augenblicke, wo man Ja sagen muss, auf Teufel komm raus, sofort, ohne mit der Wimper zu zucken... Wobei man die seltsame Erfahrung macht: Es gibt ein Ja, auch ins Leere gesprochen, das sich mit der Zeit seine Wahrheit schafft, in Erfüllung geht“.

Liebe Gemeinde, das wirft für mich ein schönes Licht auf diesen schwergewichtigen Text aus dem Epheserbrief. Dass Menschen in dieser von vielen Höllenspuren gezeichneten Welt an den Himmel glauben können, ist Grund genug zu danken. Und es ist Grund für die Bitte, dass das Ja des Glaubens, manchmal nur stammelnd und voller Zweifel gesprochen, sich „mit der Zeit seine Wahrheit schafft und in Erfüllung geht“.


AMEN.

Beten heißt dran bleiben

gehalten von
Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
im Rahmen des Gottesdienstes zur Einführung in das Amt als Pfarrer an der Frauenkirche Dresden

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Liebe Gemeinde,

Rogate heißt dieser Sonntag. Zu Deutsch: Betet! Eine sperrige Ansage. Sie wirkt wie aus der Zeit gefallen und braucht Zeit, ihren Weg in unsere Herzen und unseren Tageslauf finden. In einer durchgetakteten 24/7-Woche steht das Beten, wenn überhaupt noch, dann für die meisten nicht weit oben auf der To-do-Liste. Und schon gar nicht verträgt sich so ein Imperativ, die Aufforderung zum Beten damit, dass das Gebet für viele eine sehr intime Angelegenheit ist, über die man kaum mit anderen spricht. Manchmal kann es aber auch sehr anders sein. Da muss man nicht eigens zum Beten gebeten werden, sondern das Bedürfnis kommt ganz von selbst. Und: es kann auch eine sehr öffentliche Sache werden mit dem Beten.

I.

Wie etwa vor 16 Jahren in Rom. Manche werden sich erinnern, wie das war in den Tagen nach Ostern 2005 - auch das Jahr, in dem der Wiederaufbau dieser Kirche vollendet wurde. Johannes Paul II. lag damals im Sterben. Mir ist das immer noch vor Augen: die Tausende junger Leute, die damals aus vielen Ländern nach Rom gekommen waren. Nächtelang harrten sie auf dem Petersplatz aus und stimmten immer wieder die alten, über Jahrhunderte gewachsenen Trost- und Hoffnungsgebete und Gesänge der Kirche an. Das war eine eindrucksvolle kollektive Sterbebegleitung. Wie selten wurde da spürbar, welche Kraft liturgische Rituale aus sich heraus entfalten. Wie sie da tragen, wo pure Menschenworte nicht ausreichen. Ich bin in der Wolle gefärbt evangelisch. Aber damals habe ich die Katholiken beneidet um ihren liturgischen Reichtum.

Wenige Verse vor unserem eben gehörten Predigttext bitten die Jünger Jesus: „Herr, lehre uns beten“. Als der Philosoph Karl Jaspers im Alter gefragt wurde, warum er eigentlich kein Christ sei, antwortete er nicht hochphilosophisch, sondern entwaffnend einfach: „Niemand hat mich beten gelehrt.“ Beten will offenbar gelernt sein. Es wird einem nicht in die Wiege gelegt. Auch wenn man mit den Händen gerade nichts macht und sie eben darum faltet, ist das Gebet, wie Martin Luther sagte, auch ein Handwerk. Als solches braucht es Schulung, Einübung. Jesus bietet sie uns an mit einer Geschichte. Mitten aus dem Alltagsleben eines palästinischen Dorfes gegriffen. Um Gastfreundschaft geht es, um Bewirtung - und um eine ziemlich heikle Lage.

Bäckereien, in denen man Brot auf Vorrat kaufen könnte, gibt es keine. Die „Hausfrau“ backt es am frühen Morgen, so viel, wie die Familie für den Tag braucht. So dass am späten Abend, als ein offenbar unerwarteter Gast nach langer Reise eintrifft, nichts mehr zu essen da ist. Im Orient ist die Gastfreundschaft heilig. Was kann der Hausherr jetzt tun? Auf dem Dorf weiß man, was bei den Nachbarn los ist: dort haben sie heute Morgen doch mehr als sonst gebacken! Also nichts wie rüber und um eine Ration Brot bitten. Peinlich aber: es ist schon Mitternacht. Der Bittsteller muss den Nachbarn aus dem Schlaf reißen. Wir hören ihn anklopfen. Mit wispernder Stimme wird er dem Nachbarn sein Anliegen vortragen. „Freund“, redet er ihn an. Der Nachbar erwidert in anderer Tonlage: ohne Anrede, unwirsch. Denn sie schlafen alle dicht beieinander, Eltern und Kinder, in einem palästinischen Fellachenhaus mit seinem einen Wohnraum. Wie kann der Hausherr, mit der Bitte seines Nachbarn konfrontiert, einen Familienkrach vermeiden?

Ich habe das Gleichnis bis hierhin nacherzählt - in einer Hinsicht aber falsch. Ich habe nämlich außen vor gelassen, dass Jesus das ganze Gleichnis als eine einzige rhetorische Frage anlegt. Könnt ihr euch vorstellen, dass, wenn jemand von euch einen Freund hat, und... - nun käme die Geschichte bis zu der verärgerten Ablehnung des Nachbarn. Das Gleichnis müsste dann so enden, dass die Anfangsfrage wiederholt wird: Könnt ihr euch so etwas wirklich vorstellen? Antwort: Nein, dass die Gastfreundschaft so mit Füßen getreten wird: ein No go! Anders gesagt: Bei allem Unmut des Nachbarn, der Bittsteller wird am Ende Erfolg haben, weil es dem Nachbarn letztlich doch ehrenrührig vorkommt, ihn in seiner Not abblitzen zu lassen. So sagt es Jesus in seiner Antwort auf die Frage, die sein Gleichnis darstellt: „Ich sage euch: Wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, was er braucht“. Luther hat hier übersetzt: „um seines unverschämten Geilens willen“. Das klingt schön drastisch - geht aber doch etwas an der Sache vorbei, denn der Mann bittet ja nicht zum eigenen Vorteil, sondern für jemand anderen, weil er sich einem hohen Wert verpflichtet weiß. Jesus geht es jedenfalls darum: Bei einer ethisch so ernsthaften, Bitte soll man sich nicht so einfach abspeisen lassen, da muss man beharrlich sein, dran bleiben. Wie ein Fußballteam beim „Gegenpressing“, wie man das neudeutsch nennt.

II.

Aber im Blick auf sein Thema, das Gebet, ist dieses Gleichnis durchaus brisant. Das Gebet, das ja eine Bewegung von unten nach oben, zum „Herrn aller Herren“ ist, wird hier nicht in Bilder aus der höfischen Welt gebracht. Sondern aus dem Bereich dörflich-nachbarlicher Beziehungen. Die beiden, die da nachts verhandeln, sind auf Augenhöhe. Es gibt keinen Standesunterschied. Man wohnt um die Ecke und kennt sich aus dem ff. Und: Der Gebetene gibt am Ende nicht aus Güte und moralischer Einsicht nach, sondern weil ihm sein Nachbar mit seiner Penetranz einfach auf den Wecker geht. Er will wieder seine Nachtruhe haben. Es ist eine kühle Abwägung des kleineren Übels. Statt eines edlen Wohltäters sehen wir hier einen nüchternen Pragmatiker.

So gesehen erscheint Gott hier in einem fragwürdigen Licht. Unser Glaubens-Taktgefühl tut sich schwer, Gott in der Figur dieses Nachbars zu entdecken. Martin Luther aber, ein großer Beter und Seelsorger, hat da keine große Scheu gehabt, Gott auch so diesseitig zu sehen. Ich bin ja nun Pfarrer in einer lutherischen Kirche. Da darf es erlaubt sein, Luther mit einem starken Wort zu zitieren:

„Erstlich sollen wir bitten. Wenn wir nun anfahen zu bitten, so verkreucht er sich irgends hin und will nicht hören. Will er sich nicht lassen finden, so muß man ihn denn suchen, das ist: mit Beten anhalten. Wenn man ihn denn sucht, so verschleußt er sich in ein Kämmerlein; will man zu ihm, nein, so muß man denn kloppen. Wenn man dann einmal oder zwei gekloppt hat, so überhöret er. Letztlich, wenn man des Kloppens will zu viel machen, so tut er auf und spricht: Was willst du denn? Herr, ich will das oder jenes haben. So spricht er: So hab dirs doch! Also muß man ihn aufwecken.“

So weit Luther. Eine robuste Ermunterung, fern von jedem religiösen Knigge, in den Dingen, die uns unter den Nägeln brennen, bei Gott nicht die Schultern einzuziehen, sondern groß zu denken, ungeniert, ja fordernd zu sein. Luther meint das wohl kaum so, als könne Gott erst durch unser Rufen, Klopfen, Poltern zu etwas genötigt werden, was er von sich aus gar nicht will. Die Bibel sagt an vielen Stellen, dass er eigentlich mehr als genug Gutes für uns bereit hält. Aber Gott geht eben nicht darin auf, Lieferant zu sein für das, was wir ersehnen, ansonsten, als Person, aber uninteressant zu sein. Nein, er ist der Gott, dem es um den persönlichen Kontakt mit uns geht und für den das, was er uns gibt, ein Ausdruck seiner persönlichen Liebe ist. Dass er meistens nicht so flott und nach unserem Gusto mit unseren Bitten umgeht, könnte also auch ein Anreiz für uns sein, beharrlicher auf ihn zuzugehen und eben nicht nur die ersehnte Gabe, sondern in der ersehnten Gabe auch den Geber zu suchen. Die Geschenke, über die ich mich am meisten freue, sind ja die, wo mir noch wichtiger als das Geschenk selbst ist, von wem ich es bekomme.

Vielleicht kann man unsere Erfahrung, dass Gott unsere Bitten manchmal nur zögernd oder gar nicht zu erhören scheint, in dieses Bild übertragen. Es ist wie bei Eltern, deren ganz kleines Kind gerade laufen lernt. Sie strecken ihm die Hände entgegen und weichen vor dem auf sie zulaufenden Kind zurück, damit es jedes Mal ein paar mehr Schritte lernt. Vielleicht will Gott dadurch, dass er auf unsere konkreten Bitten so oft scheinbar stumm bleibt, uns in die Schule des Betens nehmen, in der wir ja oft wie kleine Kinder sind, und uns dazu locken, unsere unsicheren Schritte zu tun und Schritt für Schritt trittfester im Beten zu werden. Das Erstaunliche ist ja letztlich nicht, dass Gott Bitten erhören kann, sondern dass er es will. Wir sind ja nicht Gottes Vertragspartner, die aufgrund von Vorleistungen etwas erwarten, einfordern könnten. Gott ist uns in nichts verpflichtet.

III.

Heute ist der 9. Mai. Der Tag, an dem vor 76 Jahren endlich die Waffen schwiegen in Europa. Keine drei Monate, nachdem Dresden und mitten darin diese einzigartige Kirche zum Trümmerfeld gebombt worden war. So sehr dieser 9. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war, aber die für uns Heutige unvorstellbare Not, die damals gelitten wurde, war noch lange nicht vorbei. Vor allem der Hunger. Unser Gleichnis hat in die damalige Zeit eins zu eins gepasst und hineingesprochen. Meine Eltern haben uns, als wir Kinder waren, viel von ihren Kindheitserfahrungen aus dem Krieg erzählt. Wie Kinder so sind, fanden wir das damals eher spannend als schaurig. Nicht zuletzt, wenn sie uns Geschichten vom „Hamstern“ in der Zeit nach Kriegsende erzählten. Wie ihre Eltern viele Kilometer unter die Füße oder unters Fahrrad nahmen, um bei Bauern auf dem Land um etwas Essbares zu bitten, manchmal richtig zu betteln. Und wie unterschiedlich auch damals die Reaktionen sein konnten. Die Not war so groß, dass da kein Platz für bürgerliche Etikette, allzu viel Höflichkeit war. Bis dahin, dass der Tatbestand des sog. Mundraubs auf den Feldern durch den Kardinal von Köln als mit der kirchlichen Morallehre vereinbar erklärt wurde. Worauf das Wort „Fringsen“ Einzug in die Alltagssprache hielt. Wenn wir auch diese Erfahrungen der Notzeit vor 75 Jahren als Bild für das Beten nehmen, dann kann man Luther nur Recht geben: „Will er sich nicht lassen finden, so muss man ihn suchen, das ist: mit Beten anhalten“…

Liebe Gemeinde,

so möchte ich gerne Pfarrer an dieser Kirche sein, die ja aus sich selbst schon ein eindrucksvolles Gleichnis ist für die Kraft, die das Dranbleiben am Beten in der ganzen Welt entbinden kann: Ihnen immer wieder zurufen, und gegen die eigene Gebetsmüdigkeit, von der ein Frauenkirchenpfarrer weiß Gott auch nicht verschont bleibt, von Ihnen sagen lassen: Es gibt wirklich keinen Ort, keine Zeit, keine Worte, die zu „unpassend“ sein könnten, als dass wir Gott nicht suchend, anklopfend, bittend auf den Leib rücken dürften. Dann werden wir die Erfahrung machen, die Dietrich Bonhoeffer so ins Wort gebracht hat: Gott erfüllt nicht jeden unserer Wünsche, aber alle seine Verheißungen. So wie es auch die Erfahrung dieser schwer gebeutelten Stadt gewesen ist: Gott bewahrt nicht vor Katastrophen. Aber er bewahrt in Katastrophen. Daraus kann Neues erwachsen.

AMEN.