Kanzelworte

Hier finden Sie ausgewählte Predigten, Andachtstexte und geistliche Impulse von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt und verschiedenen Gastprediger*innen. Bitte beachten Sie, dass dies verschriftlichte Fassungen sind; es gilt stets das gesprochene Wort. Bei Interesse an Predigten von Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke sprechen Sie sie nach dem Gottesdienst an oder senden Sie eine E-Mail.

2024

Aufstieg und Fall - Fall und Aufstieg

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

gehen Sie heute um Mitternacht auf die Straße oder auf den Balkon, um sich an der Farbenpracht der Raketen zu freuen, die zum Himmel geschossen werden? Und wenn Sie es nur den Kindern zuliebe tun - was es da zu sehen gibt, ist eigentlich von starker Symbolkraft.

Ob dieses in fünfeinhalb Stunden zu Ende gehende Jahr wohl so buchstäbliche High Lights für mich gehabt hat, wie ich sie heute Nacht am Himmel bestaunen kann? Oder kann ich die in meinem 2024 kaum entdecken und sehe mehr Dunkles, Trauriges? Oder aber, dritte Möglichkeit: Ich sehe die Leuchtfeuer am Himmel, aber dann wie mit einer Nachtsichtbrille auch das, was die Augen nicht sehen: nämlich wie die Raketen, erloschen wie Seifenblasen, wieder runterfallen.

Eine Silvesterrakete ist zum Aufsteigen und zum Leuchten da, nicht zum Fallen. Dass sie es trotzdem tut - weil sie es nach den Gesetzen der Schwerkraft muss - braucht man nicht zu beachten. Denkt man.

I.

Hoffentlich können viele von Ihnen in diesem Jahr 2024 für sich solche Leuchtfeuer entdecken, wie wir sie nachher am Himmel bewundern können. Aber wahrscheinlich hatte dieses Jahr auch Momente, die man erst mit einer Nachtsichtbrille sieht - die noch etwas sehen kann, wenn das schöne Licht erloschen ist, also auch den Fall wahrnimmt. Darin liegt die Symbolkraft dieses Bildes: alles Dasein in dieser unaufhaltsam dahingehenden Weltenzeit, diesseits von Eden, ist mehrdeutig, ambivalent.

Aufstieg und Fall sind immer zwei Seiten derselben Medaille. Die Raketen, die wir hochschießen, die aber wieder fallen, sind ein Gleichnis, dass wir endlich sind. Unsere Lebenszeit mag uns hoch hinaus bringen - irgendwann zieht sie uns wieder nach unten, unweigerlich. Wer mag, schaue also heute Nacht Aufstieg und Fall der Raketen zu. Wir schauen jetzt mit Hilfe des Propheten Jesaja erst einmal auf uns selbst.

                         Predigttext: Jesaja 51, 4-6

Altjahrsabend: für mich ist er wie das nachdenkliche Betrachten einer verlöschenden Kerze. In den letzten Stunden des Jahres flackert sie noch einmal auf und wirft einen Schein auf Erlebtes im vergehenden Jahr, das mir wichtig war. Aber sie spiegelt mit den beim Verlöschen breiter werdenden Schatten auch manche Wunden.

Persönlich stehen mir solche dieses Jahr durchaus vor Augen. Deshalb hoffe ich an diesem Abend im Gottesdienst auf gute Worte, die mir sagen: Auch deine Lebenszeit 2024 stand in Gottes Händen - und das wird weiter so sein. Aber davon finde ich in unserem Predigttext aus dem Jesaja-Buch kaum etwas. „Die Erde wird wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben“: ein deprimierendes Bild! Mitten in der Weihnachtsfestzeit, die Nachricht von Geburt und Leben im Ohr, werde ich hier hart daran erinnert, dass ich sterben muss. Das Sterben von Mücken - wie viele haben wir wohl schon erledigt - ist mir ein Bild für Ausgeliefertsein. Wenn eine Mücke tot ist, juckt das niemand. Ihr Tod ist im doppelten Sinn „egal“. Beängstigende Vorstellung, auch mein Sterben könnte in dieser Weise mückenhaft sein: banal, unpersönlich, und niemand rührt es, wenn ich nicht mehr bin.

II.

Da braucht es ein Aber. Etwas, was gegen dieses deprimierende Bild aufsteht. Unser Text hält es auch bereit: „Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“ Theologisch, dogmatisch ist dieser Vers sauber und korrekt. Gott unterscheidet sich streng von allem, was er geschaffen hat. Hier vergehende Zeit, also Aufstieg und Fall, Anfang und Ende. Dort, bei ihm, Ewigkeit, also Zeitlosigkeit, festes Bleiben. Aber was hilft es mir, dass Gottes Heil ewig bleibt - wenn ich dazu verurteilt bin, einmal wie die Mücken dahinzusterben?

Manchmal muss man in der Bibel weiter blättern. Eine Seite weiter bei Jesaja klingt dasselbe schon ziemlich anders: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir fallen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer“ (Jes 54,10). Das ist ein anderer Vergänglichkeits-Sound. Da ist Wärme drin, da bin ich angeredet. Und vor allem: da stellt sich Gott nicht als der Ferne, majestätisch Unnahbare vor, sondern da ist er der Gott-für-mich: ein Erbarmer, wie er sich nennt. Einer, dem ich zu Herzen gehe, dem ich nicht egal bin, wie es mir die Mücke ist, die ich einfach erschlage, wenn sie mich nervt.

In unserem Text finde ich am ehesten einen solchen Anklang, wenn Gott hier durch Jesaja sagt: „Mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten“. Wenn wir an einem Grab hören, der Herr über Leben und Tod habe ein Menschenkind zu sich „heimgeholt“, dann braucht es gleichsam solche „Arme“. Denken wir an unsere Kinder, als sie klein waren, und ihre Arme zu uns hochstreckten als Signal, dass wir sie in unsere nehmen sollen. Und auch um alten, gebrechlichen Menschen zu Halt zu geben, brauchen wir unsere Arme. Und ich denke, heute Abend ehrlicher als sonst, auch daran, dass ich in gar nicht mehr so ferner Zeit auch gebrechlich sein werde. Und dass mein irdisches Ende ein Fallen sein wird, wo kein menschlicher Arm mich mehr aufheben und tragen kann. Wo mir nur die Hoffnung bleibt, dass ein anderer, Gott, mich dann aufheben und tragen wird. Es wäre schlimm, könnte ich nicht aus dieser Hoffnung leben.

III.

Aber der prophetische Text sagt mir noch etwas. Nämlich: Es geht nicht nur um mich! Die Völker, die fernen Inseln werden angesprochen. Gott macht einen kosmischen Anspruch auf seine ganze Schöpfung geltend. Wenn Gott sich dem von ihm Geschaffenen zuwendet, geht es nicht nur um mich und die, die mir nah sind. Es geht um alle Welt. Also geht es um eine Welt, von der wir nicht erst heute am Altjahrsabend 2024 das Gefühl haben, sie spielt verrückt, ist durchgeknallt. So beunruhigend wir den Kalten Krieg zwischen Ost und West manchmal erlebt hatten - aber damals war doch auch eine Verlässlichkeit, weil ganz klar war, wer wo und wofür stand. Dass die beiden Weltmächte einander neutralisierten. Und weil sie das auch wussten, agierten sie ziemlich berechenbar.

Diese sog. bipolare Weltordnung ist erloschen wie die zum Himmel gejagten Leuchtraketen. Stattdessen eine große, verwirrende Unübersichtlichkeit. Wohin wird Amerika unter Trump 2.0 steuern? Wird es noch für Freiheit, Weltoffenheit, Demokratie stehen oder sich in Richtung Diktatur verwandeln? Wird die Ukraine ein eigener Staat bleiben, oder unter dem brutalen Recht des Stärkeren zusammenbrechen? Wird China, das beides ist, kommunistisch und kapitalistisch, die Supermacht Nr. 1, und was bedeutet das für uns? Und bei uns: weshalb reden 34 Jahre nach der friedlich gewonnenen Einheit so viele von Spaltung, Diktatur und einer „Phantomgrenze“ zwischen Deutschland Ost und West? Warum steigt die Zahl der Menschen, die sich ernsthaft wieder die Mauer zurückwünschen? Warum gibt es nach furchtbaren Ereignissen wie zuletzt in Magdeburg kein gemeinsames Innehalten in der Trauer, kein Zusammenrücken mehr, sondern nur rasend schnelle Versuche, solche Geschehnisse für sich politisch nutzbar zu machen? Warum wollen wir nichts mehr davon hören, dass es auch unser Lebensstil ist, der zur Erderwärmung führt und auch damit verzweifelte Menschen aus dem Süden auf lebensgefährlichen Wegen nach Europa treibt?

In so überkomplexen Zeiten schlägt die Stunde der großen populistischen Vereinfacher. Alles wird forsch in schwarz und weiß aufgeteilt, Zwischentöne werden verächtlich gemacht. Und nicht wenige verbinden mit dem Bild unseres Textes vom „starken Arm“ ihre eigenen Sehnsüchte. Nach den schneidigen Armbewegungen der Alphatiere. Nach Armen, die die Welt in Freund und Feind zerschneiden und uns zeigen, wo‘s lang geht. Wo Heimat ist und wer in ihr Platz haben soll und wer nicht. Fuchtelnde Gesten der Männermacht, Symbole eines Willens zu „America first“, zum „Heiligen Russland“, und wie die Parolen so lauten, mit denen Verträge und Abkommen ignoriert oder abgeräumt werden.

Da kann man es schon zwiespältig hören, dass in unserem Jesajatext die Sehnsucht nach Gottes starkem Arm auf die „Inseln“ bezogen wird. Jesaja meint mit diesem Bild, dass auch die Völker, die am fernsten sind, von Gottes Heil nicht ausgeschlossen werden. Eine schöne Vorstellung. Aber das Bild von den Inseln hat auch eine beklemmende Rückseite. Wir erleben heute eine Verinselung der Staaten, einen überwunden geglaubten Nationalismus, der sein Heil im Abbruch von Beziehungen, von Vermittlungsprozessen sieht. Raus aus dem Komplexen, hin zu einem (vermeintlich) einheitlichen Wir der Nation, der Hautfarbe und Kultur.

IV.

Gegenüber all diesen Unsicherheiten unserer Zeit bekommt die herbe Sprödigkeit dieses Jesaja-Textes für mich nun doch auch etwas Wohltuendes. Er sagt uns: Auch der größte Fisch ist und bleibt ein Fisch, er wird kein Elefant. Und wer heute in der Sehnsucht nach dem starken Arm auf dicke Arme macht, bleibt am Ende des Tages eben doch eine Mücke, die morgen dahinstirbt.

Jeder Aufstieg erfährt irgendwann seinen Fall. Deshalb singen wir, als Antwort auf diese Prophetenworte, jetzt gleich am Abend dieses Jahres ein Morgenlied. In dem heißt es: „Menschliches Wesen, was ist’s gewesen? / In einer Stunde, geht es zugrunde, / sobald das Lüftlein des Todes drein bläst.“ „Und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben.“ - Es heißt dann dort aber auch: „Alles vergehet, Gott aber stehet / ohn‘ alles Wanken; seine Gedanken, / sein Wort und Wille hat ewigen Grund“ (EG 449,7) - „Aber mein Heil bleibet ewiglich und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.“

Dass Gott sich selber treu bleibt im rasanten Steigen und Fallen unserer Zeit: das ist der feste Boden unter unseren Füßen, auf dem wir beherzt von diesem Jahr ins nächste hinübergehen können. Unsere Geschichte von steilen Aufstiegen und tiefen Abstürzen ist umgriffen von einer ganz anderen Geschichte. Die verläuft umgekehrt. Sie hat im Stall von Bethlehem ihren Auftakt genommen. Und sie erzählt von einem tiefen Fall. Am Ende aber kam der Aufstieg. Und der ist seither auch für uns Fallende bestimmt.

„Heut schließt er wieder auf die Tür / zum schönen Paradeis…“ Wir wissen nicht, was 2025 uns bringen wird. Aber auch dieses neue Jahr wird ein annus domini, ein Jahr des Herrn sein. Das wissen wir, wer auch in 2025 alles in seiner Hand hält. Es ist der, der über uns gesagt hat: „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“ (Joh 10,28). Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne an der Schwelle zum neuen Jahr in Christus Jesus.

Amen.

 

WO light?

Impuls zur Geistlichen Festtagsmusik
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Das Oratorio de Noël von Camille Saint-Saëns, das wir gleich hören werden, ist in der Weihnachtszeit ein inzwischen sehr beliebtes Stück, längst nicht mehr nur in Frankreich. Zudem ist Saint-Saëns‘ Weihnachtsoratorium für einen Chor nicht wahnsinnig schwer einzustudieren und es ist auch für die Hörer eine gefälligere, etwas leichtere Kost als etwa Bachs gleichnamiges riesiges Werk. Ist Saint-Saëns’ Werk also, um es salopp zu sagen, eine Art „WO light“?

Sicher täte man dem Oratorio de Noël mit solch einer Klassifizierung Unrecht. Freilich stand das Werk, das Saint-Saëns Ende der 1850er Jahre als junger Organist der Madeleine-Kirche in Paris angeblich mit leichter Hand hinwarf, seit jeher in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Bach – und dafür hat zunächst vor allem der Komponist selbst gesorgt. Er ließ sein Oratorium nämlich mit einem „Prélude dans le style de Sébastian Bach“ beginnen. Dabei handelt es sich um eine Pastorale im Zwölfachteltakt, die mit ihrer Gegenüberstellung von Streicherklang und einer Orgelregistrierung im Oboenklang auch motivisch eine bewusste Anspielung an die berühmte Hirtensinfonie zu Beginn zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums ist. Natürlich schuf Saint-Saëns mit diesem Prélude keine Stilkopie. Seine Hirtenmusik ist viel weniger streng gearbeitet als diejenige Bachs, und sie ist in harmonischer Hinsicht mit typisch romantischen Mitteln verfertigt.

Aber im Blick auf den biblischen Stoff, der dem Weihnachtsoratorium hier wie dort zugrunde liegt, hat Saint-Saëns offenkundig dieselben Aspekte im Blick gehabt wie Bach. Es wird hier wie dort das selige Miteinander himmlischer und irdischer Musik dargestellt, repräsentiert einerseits durch die engelhaft rein anmutenden Streicherklänge, andererseits durch das charakteristische Timbre der Oboen, deren Klang in der Musik seit jeher Sinnbild für die Schalmeien des Hirtenvolks war. Und ganz ähnlich wie bei Bach spielen auch in Saint-Saëns‘ Prélude aufsteigende und sich herabneigende melodische Gesten eine große Rolle: Die himmlischen Mächte wenden sich der irdischen Lebenswirklichkeit zu, und die Menschen wiederum kommen über sich selbst hinaus und blicken dankbar gen Himmel. Gott wird in einem Akt des gewollten Abstiegs Mensch und erhebt den Menschen dadurch zu sich - Martin Luther beschrieb dieses Doppelgeschehen mit seiner prägnanten Sprache als „Fröhlichen Wechsel“ und „seligen Tausch“. „Er wird ein Knecht, und ich ein Herr / das mag ein Wechsel sein“ (EG 27,4), wie es in einem bekannten Weihnachtslied heißt. Bach hat das musikalisch versinnbildlicht, der aufmerksame Saint-Saëns hat es erkannt und sich mit seinen eigenen Mitteln anverwandelt.

Diese Erkenntnis macht neugierig auf den Rest des Werkes. Wie ist Saint-Saëns insgesamt mit dem weihnachtlichen Thema umgegangen? Wenn man sich den rein biblischen, lateinischen Text ansieht, staunt man: Wenn der Komponist die Zusammenstellung der Bibelworte tatsächlich selbst bewerkstelligt hat, wie vermutet wird, dann hat er dabei nicht nur beachtliche Bibelkenntnisse, sondern auch einiges Geschick bewiesen. Er hat nämlich nicht etwa nur die Weihnachtsbotschaft des Neuen Testaments als solche vertont, sondern hat sie mit vielen weiteren Bibelstellen in Verbindung gebracht - ganz im Sinn der damaligen katholischen Lehre, dass die gesamte Bibel Zeugnis einer einzigen, in sich geschlossenen göttlichen Offenbarung ist. Und so stellt Saint-Saëns einen Auszug aus der populären Weihnachtsgeschichte des Lukas an den Anfang, kommentiert diese dann aber sogleich mit einem passenden Psalmwort („Ich harrete des Herrn, und er neigte sich zu mir und erhörte mein Flehn“, Ps 39,2) sowie mit einem Petrus-Wort aus dem Johannes-Evangelium („Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist“, Joh 11,27). Es folgt ein Zitat aus Psalm 118: „Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn“. Weitere Psalmzitate schließen sich an, u. a. „Warum toben die Heiden, und warum schmieden die Völker vergebliche Pläne?“ (Ps 2,1) - damit wird der Zorn des Königs Herodes und seine Kindermord- Gräueltat kommentiert. Kurzum: Die Zusammenstellung zeugt insgesamt von großer Umsicht und von einem ungewöhnlich tiefen Verwurzeltsein in der Bibel.

Ebenso umsichtig ist Saint-Saëns beim Vertonen seiner Texte vorgegangen: In der Mezzosopran-Arie „Exspectans exspectavi Domino“ unterscheidet er gestalterisch sehr klar eine Phase des Bittens und Wartens – die Kantilene der Sängerin ist hier von bangen Pausen geprägt und versinnbildlicht durch große absteigende Bewegungen die menschliche Mutlosigkeit - und eine zweite Phase der freudigen Gewissheit, die vor allem durch aufstrebende Linien geprägt ist. Im dramatischen Chorsatz „Quare fremerunt gentes“ (Warum schreien die Völker?) setzt er nach anfänglicher Charakterisierung des „Tobens“ der Heiden die Nichtigkeit ihrer Pläne deutlich ab und verbindet diesen Aspekt mit der Frage nach dem an dieser Stelle nochmals wiederholten „Warum“, indem er beide Aussagen in einem Kopfschütteln quasi im Nichts versinken lässt.

Gewiss: Saint-Saëns wusste auch, mit welchen Klangfarben die Hörer zu Rührung und Ergriffenheit gebracht werden können. Weit ausschwingende effektvolle Melodielinien der Gesangssolisten, gestützt von Harfen- und Orgelklängen, verfehlen nicht ihre Wirkung. Aber sie bleiben doch eingebunden in das stets zu erkennende Grundkonzept, den Text und seine inneren Bewegungen zu vermitteln und damit das Wunder der Weihnacht musikalisch zu meditieren, das Paul Gerhardt in einem Weihnachtschoral so in Sprache gebracht hat: „Gott wird Mensch dir, Mensch, zugute, / Gottes Kind, das verbind / sich mit unserm Blute.“ (EG 36,2).

Amen.

Flüchten oder standhalten

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Weihnachten ist die Familienzeit schlechthin. Mit allem Glücklichen, aber auch Schmerzhaften, was Familien(er)leben so bereithält. Weihnachten und Familie: ein unerschöpflicher Stoff für tragische, lustige und v.a. tragikomische Filme, die uns die TV–Programme alle Jahre wieder zu Weihnachten präsentieren. Es geht uns eben sehr komplex mit unseren Familien. Und was schwierig ist, erfahren wir zu Weihnachten, wegen der hochgespannten Erwartungen, es möge doch alles gut werden, besonders schmerzhaft. Ungewollte Kinderlosigkeit, unfreiwilliges Singledasein, Konflikte, Verluste empfinden wir in diesen Tagen tiefer als sonst. So gesehen passt der eben gehörte Predigttext, mit seinem eigentlich wenig „weihnachtlichen“ Sound, dann doch ganz gut. Weil er Familie nicht idealisiert, weil er Ängste und vertrackte Situationen anspricht. Und: weil er offenlegt, dass gerade am Beginn der „Heiligen Familie“ eine richtig unheilige Konstellation steht.

I.


Um Josef, den Träumer geht es in diesem Text. Jetzt an Weihnachten denkt man bei diesem Stichwort wohl schon an den Josef von Maria, den im Katholizismus so genannten „Nährvater“ Jesu. Aber sonst würden die, die sich in der Bibel etwas auskennen, beim Stichwort „Josef der Träumer“ wohl eher an den anderen Josef in der Bibel denken. Nämlich an „Josef den Ägypter“, aus der großen Erzählung im Alten Testament. Die Geschichte von diesem Josef, dessen 11 Brüder ihm übel mitgespielt und verhökert hatten, und der einen atemberaubenden Aufstieg vom in die Fremde verschleppten Hirtenjungen zum zweitmächtigsten Mann Ägyptens hinlegt, hat Thomas Mann zu einem epischen Roman inspiriert. Dieser Josef ist Träumer, Traumdeuter, Visionär. Und: ein Alphatier, eine in Höhenflügen wie Abstürzen herausragende Figur. Der weihnachtliche Josef dagegen ist all das überhaupt nicht. Unscheinbar, still, blässlich steht er völlig im Schatten seiner Maria, der „Muttergottes“.

Aber immerhin – anders als in der allerweltsbekannten Weihnachtsgeschichte bei Lukas bleibt Josef hier bei Matthäus nicht stumm. Hier ist er nicht die etwas tumbe Randfigur, die mit dem Weltgeschichte machenden Ereignis der Geburt Jesu nichts weiter zu tun hat. Diese fragwürdige Sichtweise ist im protestantischen Bereich bis heute wirkmächtig. Der Name Josef etwa war für Evangelische über Jahrhunderte ein No go. Es ist dem Evangelisten Matthäus wirklich anzurechnen, dass er Josef seinen Auftritt schenkt. Der führt zwar dazu, dass er sich mit einer Nebenrolle zufriedengibt. Aber eben: eine Rolle ist es. Anders als bei Lukas. Während der die Vorgeschichte der Geburt Jesu ganz aus der Perspektive Marias anlegt, mit dem Erscheinen des Engels bei ihr, ihrer Wanderung zu ihrer ebenso unerwartet schwanger gewordenen Cousine Elisabeth, wählt Matthäus die Sicht Josefs. Der Schattenmann wird, für eine kurze Zeit, zum Protagonisten.


II.


Ich stelle mir vor: angesichts der mysteriösen Schwangerschaft seiner Verlobten muss sich Josef wie im falschen Film gefühlt haben. Die Alternativen sind trübe: Entweder die Verlobte „in Schande bringen“, wie es im Text heißt. Konkret hieß das, dass er sie wegen Ehebruch angezeigt hätte. Was damals die Todesstrafe nach sich ziehen konnte. – Oder, wozu Josef offenbar tendiert, Maria „heimlich zu verlassen“. Das bedeutete, ihr einen Scheidungsbrief auszuhändigen. Eine vertrackte Lage.

Aber gerade weil Josef in so einem heillosen Dilemma steckt, kann er für uns zu einer Orientierungsfigur werden. Schon Kinder werden mit Dilemma–Geschichten konfrontiert, weil sie daran lernen, dass das Leben uns nicht nur Win-win-, sondern auch Lose-lose-Situationen beschert. Er hatte sich ja schon beinahe für den zweiten Ausweg aus dem Dilemma entschieden, also Maria die Scheidungsurkunde auszuhändigen. Durch dieses formal geregelte Prozedere käme sie wenigstens mit dem Leben davon, und es würde auch weniger Aufsehen erregen. Vielleicht kann sein Leben ja irgendwann mit einer anderen Frau ja wieder heil werden. Aber dann macht Josef die Erfahrung von Psalm 127, wo es heißt: „Seinen Freunden gibt es der Herr im Schlaf“. Schlafend und träumend bekommt er eine dritte Alternative vorgeführt. Ihm wird zugetraut, die Schande auszuhalten, der vermeintlich untreuen Verlobten die Treue zu halten, dem Kind, das nicht seines ist, ein verlässlicher Vater zu werden. Großes Zutrauen – und mindestens so große Zumutung! Zwar weiß er nun aus Engelsmund, dass die Verlobte ihm keine Hörner aufgesetzt hat. Aber klar ist auch, „die Leute“ werden eben das denken! Erst einmal muss es für Josef so aussehen: Er soll von zwei miesen Möglichkeiten die allermieseste dritte wählen.

III.


Aber ebenso entscheidet er, als er vom Traum erwacht: er bleibt. Als Nebenfigur. Matthäus nennt Josef in unserem Text „fromm und gerecht“. Das meint wohl, dass Josef sich dazu durchringt, den Skandal dieser anrüchigen Schwangerschaft irgendwie auf sich zu nehmen. Ist das couragiert? Ist es eher ängstlich? Oder einfach bequemer Fatalismus? Wie ist das, wenn das Leben lang gehegte Pläne durchkreuzt? Wenn man lange schwanger gegangen ist mit einer Idee, einem großen Vorhaben, das fast zur Geburtsreife gebracht ist – und dann grätscht etwas brutal dazwischen: eine ungeplante Schwangerschaft, eine Trennung, ein Wahlergebnis, eine Kündigung? Gehen oder bleiben, flüchten oder standhalten? Raus aus einer Geschichte, die mich dem Leben entfremdet hat? Oder mich nun erst recht darin einwurzeln? In unserem Text bekommt Josef seinen Platz zum Einwurzeln zugewiesen: „Fürchte dich nicht, Maria zu dir zu nehmen“. Es ist möglich, nicht zu flüchten, sondern standzuhalten, lautet die engelhafte Devise. Engel sind immer Anwälte für und Hinweiser darauf, dass mehr möglich ist im Leben. Das Standhalten, es ist für Josef deshalb möglich, weil er erfährt, dass nicht nur sein, sondern alles Leben ausgerichtet ist auf den Sohn seiner Verlobten. „Sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten“. So lässt Josef sich ausrichten auf dieses Zentrum, das zum Zentrum der Welt werden soll. Damit wird die Randfigur Josef doch irgendwie zum Partner auf Augenhöre zu Maria, deren Schwangerschaft geistgewirkt ist. Der „gehörnte“ Bräutigam wird zum Vater für den menschgewordenen Gott. Und das alles durch einen Traum! Träume sind nicht bloß Schäume, wie ein dümmliches Sprichwort meint. Träume können sehr heilsam sein, wo wir mit Reden, Nachdenken, Kopfzerbrechen nicht mehr weiterkommen, immer wieder an derselben Wand hängenbleiben. Am Anfang eines ganz neuen Weges kann ein Traum stehen. Das war nicht nur bei Josef so, es gibt viele berühmte Beispiele dafür.

IV.


Ein letztes noch. An einer Stelle ist dieses spröde Weihnachtsevangelium bei Matthäus reicher als die populäre Lukas–Weihnachtsgeschichte. Dort bleibt „das Kind“ ja namenlos! Matthäus dagegen nennt es beim Namen. Sogar mit zweien: Jesus – und der ist auch der Immanuel. Zu Deutsch: Gott mit uns! Durch meinen Namen erhalte ich meine Identität, werde ich von einem Typen zur unverwechselbaren Person. Durch den Doppelnamen Jesus-Immanuel erhalten wir alle unsere Identität als Christ*innen. So wird, weil Josef der Peinlichkeit standhält, aus einer heillosen Konstellation echtes Heil. Aus einem Skandal-Kind wird Immanuel, Gott–mit–uns. Für alle, die nicht flüchten, sondern standhalten. Der Evangelist Matthäus zeigt sich hier als Seelsorger: er spricht der jungen, zu seiner Zeit noch ganz kleinen Gemeinde zu, dass Jesus mit ihr ist. Bereits von dem Moment an, wo er „elend, nackt und bloß in einem Krippelein“ (EG 27,2) liegt – weil er als der Immanuel kommt. Und: er bleibt es für alle Zeit, weil er als der Auferstandene am Ende dieses Evangeliums, „Matthäi am Letzten“, den Seinen verspricht: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“.

„Ich bin bei dir“: so trösten Eltern ihr Kind. „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“: An Weihnachten tröstet ein Kind damit uns.

 

Amen.

 

Friedensrealistisch werden – Predigt über das Weihnachtsevangelium

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

Liebe Schwestern und Brüder,

Auch dieses Jahr, wo der Schrecken von Magdeburg noch in uns nachzittert und sich dadurch ein breiter Schatten vor das Licht der Weihnacht legen will, spüren wir es, vielleicht sogar noch intensiver als zu „normalen“ Zeiten: Weihnachten hat eine unglaubliche Kraft. Alle Jahre wieder strömen Menschen auf der ganzen Welt an diesem Abend aus ihren Häusern in die Kirchen, um die Weihnachtsbotschaft zu hören, sie in den alten Liedern zu besingen, sie in den Lichtern zu finden. Um Weihnachten müssen wir uns keine Sorgen machen! Es mag bei manchen umstritten sein. Aber gleichgültig lässt es niemanden. In der Unruhe und Hektik, die Weihnachten voraus geht, spiegelt sich die Ahnung, dass Gott mit der Geburt Jesu unsere Welt in Bewegung gebracht hat, dass mit ihr etwas grundstürzend Neues, in diese alte Welt gekommen ist: Wer kann da ruhig bleiben? Treffend spiegelt das eine kleine Geschichte. Sie spielt in New York und endet so:

Unser Taxi schaffte in jener Vorweihnachtszeit in 20 Minuten zwei Häuserblocks. „Dieser Weihnachtsverkehr ist eine Katastrophe“, schimpfte Bob, „er nimmt mir das ganze bisschen Weihnachtsstimmung, das ich habe.“ — April dagegen war philosophischer. „Es ist unglaublich“, sinnierte sie, „ganz und gar unglaublich. Denk doch bloß: Da ist vor über 2000 Jahren irgendwo in der palästinischen Wüste, mehr als achttausend Kilometer von hier ein Kind zur Welt gekommen — und das verursacht auf der Fifth Avenue in Manhattan ein Verkehrschaos!“  (Nach C. S. Lewis)

Ja, das ist wirklich unglaublich. Oder anders gesagt: Weihnachten ohne Stress, Hektik und vielleicht auch blank liegende Nerven: irgendwie geht das gar nicht. Es wäre wie Dresden ohne Frauenkirchenkuppel und wie die Kirche ohne Amen.

I.

 

Warum hat Weihnachten diese Kraft, auch bei solchen, die ansonsten keine Kirche von innen sehen? Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, neben dem Vaterunser wohl der populärste Text der Bibel, ist zunächst mal einfach eine Geschichte, vor fast 2.000 Jahren zuerst mündlich weitererzählt und dann etwa 40 Jahre nach Jesu Tod verschriftlicht. Ein Meisterwerk, ein Stück Weltliteratur, auch durch Luthers Übertragung ins Deutsche. Sie ist uns so vertraut, dass viele sie über weite Strecken mitsprechen können - und doch wirkt sie alle Jahre wieder taufrisch, nie veraltend. Zwei ganz unbedeutende Menschen sind in ihr unterwegs, so namenlos, dass niemand ihnen die Tür öffnet. Josef und seine hochschwangere blutjunge Verlobte finden in der kalten Winternacht in den judäischen Bergen kein Dach über dem Kopf. In jener Nacht kommt ihr Kind zur Welt, und die Umstände werden so geschildert, dass wir uns den Ort heute in unseren Weihnachtskrippen als einen Viehstall vorstellen. Allerhand Tiere sind mit dabei. Besonders exponiert seit jeher der störrische Esel und der tumbe Ochse, zwei Tiere also, denen der Volksmund nicht eben gehobene Intelligenz attestiert. Das ist der Stallgeruch des Stallgeborenen. Aber auch Weise kommen, mit einiger Verspätung. Sie haben schließlich einen viel weiteren Weg als die Hirten. Und sie kommen auf Umwegen, wie es bei Intellektuellen oft so ist. Hier also, nicht in einem Palast oder auf einem Prachtboulevard kommt der Himmel auf der Erde an.

Manch ein „moderner Mensch“ sagt: schöne Geschichte! Märchen sind wirklich schön. Aber es sind eben Märchen, Traumwelten. Dies ganze Weihnachtsgesäusel vernebelt den Leuten so den Verstand, dass sie es für Realität halten. Die aber sieht ganz anders aus. Ich halte dagegen: Glaube und Vernunft sind, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, kein Widerspruch. Sie gehören untrennbar zusammen. Der Glaube sucht immer die nach-denkende Vertiefung. Rein wissenschaftlich gesehen ist die Geburtsgeschichte kein historischer Bericht, sondern eine wunderhafte, aber eben auch wunderbare Erzählung vom dem, was der Engel eine „große Freude“ nennt. Eine Legende. Die zauberhafte Erzählung vom offenen Himmel überm Hirtenfeld antwortet auf die Frage der ersten Christen: Woher kam eigentlich, der unser Leben so auf den Kopf gestellt hat?

II.

Also zielt die Weihnachtsgeschichte nicht auf fotografierbare Ereignisse, sondern auf eine Wahrheit in den Bildern. Die Hirten in der Nacht, Maria und Josef ohne Herberge, Gottes Kind in einer Futterkrippe, die Botschaft der Engel und die sie umleuchtende Herrlichkeit Gottes: das alles ist Zeichensprache. Und alle diese Zeichen besagen: Große Freude für die, die sie brauchen! Am meisten brauchen sie die, die sie am wenigsten für möglich halten - in ihrer Krankheit, ihrer Einsamkeit, in ihrer Verhärtung gegen die Anderen und Andersartigen, in ihrer Unfähigkeit, sich zu öffnen und beschenken zu lassen. Diese legendarische Weihnachtsgeschichte ist nicht am Elend der Welt vorbei erzählt. Bei der lakonischen Aussage „Sie hatten keinen Raum in der Herberge“ schließt sich der Graben von 2.000 Jahren ja ganz schnell. Das Elend der Menschen, die vor den Folgen der auch durch unseren way of life mitverursachten Erderwärmung ihre Heimatländer verlassen. Das viel zu wenig beachtete Schicksal der Christen in islamischen Ländern, die von Glück sagen können, wenn sie überhaupt Flüchtlinge, also mit dem Leben davongekommen sind: das erreicht uns längst nicht mehr nur über TV-Bilder, sondern hautnah. Mit allen Problemen, die das eben auch mit sich bringt - darunter auch die wachsende Zahl der Einheimischen, die nun ihrerseits Angst um ihre Herbergen haben. Daraus erwächst Wut gegen die hierher Gekommenen - und „die da oben“, die, so heißt es oft, „alles für die Fremden und nichts für uns tun“. Das schreckliche Verbrechen von Magdeburg hat diese Wut jetzt erneut angefacht.

 

Was die Engel damals über dem Hirtenfeld gesungen haben, waren jedenfalls keine leeren Versprechungen - auch wenn der Gang der Weltgeschichte seit den Tagen des Kaisers Augustus ja nicht wirklich anders, besser geworden ist. Und doch haben die unsterblichen Worte aus dem Lukasevangelium immer wieder sehr konkrete, manchmal unglaubliche Folgen gehabt. Der Weihnachtsfrieden etwa zwischen englischen und deutschen Soldaten im 1. Weltkrieg an der Westfront. Hunderttausende Soldaten in den Schützengräben harrten aus, im Schlamm, in Angst, zwischen den Linien die Gefallenen der vergangenen Tage. Und dann, an einigen Stellen, auf einmal Friede. Weihnachtsfriede. Waffen schweigen, Tote werden geborgen, sogar Kerzen werden angezündet. Etliche, die sich tags zuvor noch bekämpft hatten, tauschen Weihnachtsgaben aus. Stille Nacht, Holy Night, klingt es über den Schützengräben. Menschen, die darauf getrimmt sind, sich zu töten, halten inne, lassen sich anrühren von den Engelsworten vom Frieden auf Erden, legen die Waffe aus der und nehmen Geschenke in die Hand. Für kurze Zeit war die Kraft der Versöhnung stärker als der tiefe Hass zwischen Völkern. Der 1. Weltkrieg war damit nicht zu Ende. Nach den Weihnachtstagen ging das Töten weiter. Aber kurzzeitig war das Irdische vom Himmlischen überkleidet. Diese Weihnachtserfahrung blieb. Aus der Welt herausschießen konnte man sie nicht mehr. Wo Menschen die Weihnachtsbotschaft in ihr Herz hineinlassen, wird die Welt anders. Auch wenn Briten und Deutsche leider nicht mehr zusammen in einem Parlament sitzen - keiner kann sich heute noch vorstellen, dass die Soldaten beider Länder aufeinander schießen. Ob so ein kleines Wunder wenigstens für diese eine Nacht heute auch an den Frontlinien der Ukraine vorstellbar ist? Es sind ja auf beiden Seiten Soldaten derselben Religion.

Jedenfalls, was damals an Weihnachten zwischen deutschen und englischen Soldaten geschah, hat sich am Ende als Larve für etwas viel Größeres erwiesen. Europa ist immer noch ein einzigartiges Friedensprojekt, das alle Mühe endloser Brüsseler Nachtsitzungen lohnt. Und uns seit fast 80 Jahren im Bereich der EU eine vorher nie dagewesene Epoche an stabilem Frieden beschert hat. Die weihnachtliche Botschaft gehört zur DNA des Friedensprojekts Europa. Die wirklichen Realisten sind die, die auch in schlimmsten Gewalterfahrungen die Hoffnung auf die Botschaft Engels nicht aufgeben: „Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens!“

III.

Liebe Gemeinde,

lassen wir uns durch die Weihnachtsbotschaft anrühren und verwandeln! Indem wir die Sehnsucht nach Frieden auch dann im Herzen bewahren, wenn sie nach menschlichem Ermessen aussichtslos erscheint. Die Weihnachtsgeschichte erzählt ja gar nicht von einer schlagartigen Veränderung. Sie erzählt von einer ganz normalen Geburt unter etwas ungewöhnlichen Umständen. Sie erzählt von Landarbeitern, die zur Krippe laufen und irgendwann tief in der Nacht wieder umkehren. Sie gehen zurück an ihre Arbeit, hüten Schafe, frieren in kalten Nächten, kämpfen mit den Widrigkeiten des Lebens. „Und die Hirten kehrten wieder um“: eine nüchterne Notiz, und doch schwingt in ihr irgendwie mit, dass das nicht nur eine räumliche Rückkehr war. Etwas ist anders geworden, sie gehen verändert zurück. Der Friede, von dem die Engel gesungen haben, den verlieren sie nicht mehr, den nehmen sie mit in ihre alte Welt. Sie haben den Heiland gesehen. Und sie haben die Welt wieder lieben gelernt, weil sie nun wissen: Gott ist drin in dieser Welt.

Genauso, liebe Weihnachtsgemeinde in der Frauenkirche, gehen wir heute Nacht in unsere Häuser zurück. Mit der Geschichte im Herzen, die da passiert ist und die uns so trifft in unserer Sehnsucht nach Frieden, unserer Sehnsucht nach Liebe, nach Zusammengehören, dass wir jedes Jahr wieder verzaubert werden von den alten Liedern, von den Lichtern an den Tannenbäumen, von den Worten des Evangeliums, die von einer neuen Wirklichkeit erzählen.

Von der Krippe in Bethlehem, an der sie sich alle versammeln - Fröhliche wie Traurige, Tiere wie Menschen, Weise wie Arme - zieht sich eine Spur des Gottvertrauens, der Beharrlichkeit und der Solidarität durch die Geschichte. Jetzt wissen wir, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen. Es ist Gottes Liebe, die das Geheimnis unseres Lebens ans Licht bringt: wir alle sind geliebter, als wir wissen! Ja, es gibt wirklich nichts Schöneres als Weihnachten!

Amen.

 

Predigt gehalten von Landesbischof Tobias Bilz
zu Lukas 2, 13f

13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen,
die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.


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Liebe Vespergemeinde auf dem Neumarkt und am  Bildschirm,

mein Wort für die Predigt ist ein kleiner Ausschnitt aus der Weihnachtsgeschichte, die wir gerade als Lesung gehört haben. Nicht irgendeiner, sondern der Schlusspunkt. Wir zoomen gewissermaßen einen besonderen Augenblick heran und betrachten ihn etwas genauer.

Aus einem Verkündigungsengel sind viele geworden. Sie wenden sich nun nicht mehr vom Himmel den Hirten zu, sondern Gott selbst. Sie ändern die Blick- und Sprechrichtung. Aus der Botschaft an die Menschen wird das Lob Gottes in der Höhe!
Auf diese Weise werden sie zu „Brückenengeln“. Sie agieren zwischen den Welten. Brückenengel gibt es tatsächlich auf vielen Brücken der Welt. Vielleicht ist der berühmteste Brückenengel „Custodio“ in Valencia, der „Hüter der Brücke“ über den alten Flusslauf des Turia. Es ist keine barocke Figur, sondern ein kraftvolles Flügelwesen, von dem Macht ausgeht.

Brückenengel haben die Aufgabe, über Menschen zu wachen, die die jeweiligen Brücken begehen und die Brücken selbst zu schützen. Denn wer sich auf einer Brücke befindet, begibt sich in Gefahr: Brücken können einstürzen. Wir sind uns dessen normalerweise nicht bewusst. Wenn aber eine Brücke einstürzt, ist das eine große Erschütterung.  Was für eine Bewahrung, wenn dabei niemand zu Schaden kommt!

Heute, am Vortag des Heiligenabends möchte ich besonders betonen, dass Menschen, die Brücken bauen und diejenigen, die sich auf Brücken wagen, unter dem besonderen Schutz der Engel stehen.

Sie merken, ich rede schon nicht mehr von Flussüberquerungen im buchstäblichen Sinne, sondern von dem Mut derer, die sich auf anderes und andere einlassen. Es ist ein großer Trost für mich, dass Menschen nach so schrecklichen Ereignissen, wie auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg ihre Scheu überwinden und helfen; Fremde sich in den Arm nehmen und gemeinsam weinen; einander Halt geben, wo die Fassung verloren geht. Wir sind Menschen und wollen leben. Das verbindet, egal, wer du bist oder woher du kommst. Aber braucht es wirklich erst solcher schrecklichen Ereignisse, ehe wir Brücken über unsere Verschiedenheit bauen? Ja, es ist so, und es wird morgen wieder genauso sein, wenn die Not uns nicht mehr zwingt:

Wer eine Brücke zu anderen Menschen bauen will, muss etwas riskieren. Der setzt sich einer Situation aus, die er nicht unter Kontrolle hat. Er exponiert sich vor dem anderen mit seiner Meinung und mit seinem Wesen. Er setzt sich dem anderen aus.
Das geschieht auch, wenn wir etwas aussprechen, was nach menschlichem Ermessen nicht nur Begeisterung auslöst. Bei mir stellt sich dann ein Herzklopfen ein, ganz weit oben, fast im Hals. Meine Gedanken schießen hin und her: Soll ich oder soll ich nicht? Zugleich weiß ich, dass das ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass es jetzt gilt: der Raum der Sicherheit muss verlassen werden!

Liebe Vespergemeinde,

die Christgeburt will uns ermutigen, unseren ganz persönlichen „Raum der Sicherheit“ zu verlassen.  Gott verlässt den Himmel und exponiert sich in diesem kleinen Kind. Er setzt sich maximal den Menschen aus, wird hilflos und abhängig. Er erobert nicht aufgerüstet diese Welt, sondern will sie in Gestalt eines Babys für sich einnehmen. Darüber staunen selbst die Engel und preisen Gott voller Ehrfurcht. Zugleich sehen sie darin ein Bekenntnis zum Frieden.

Ich traf letzte Woche einen führenden Theologen unserer Landeskirche, der jetzt ein Greis ist. Wir unterhielten uns nur wenige Sätze. Er sagte unter anderem: „Unabhängig davon, wie es gelingen kann, dass in der Ukraine Frieden geschlossen wird – ich weiß es auch nicht – ist das doch der Kern der Weihnachtsbotschaft, dass durch ein kleines Kind der Frieden auf die Erde kommt.“ Sind wir nicht genau aus diesem Grund heute hier auf dem Neumarkt in Dresden? Viele suchen den Frieden. Vielleicht mit Gott, der uns in diesen heiligen Tagen besonders nahe ist. Vielleicht mit anderen, mit denen wir in letzter Zeit unversehens in Streit geraten sind. Vielleicht auch mit uns selbst, wenn uns innere Konflikte zerreißen. Frieden schließen, das ist möglich, wenn wir uns herauswagen.

Für einige wird es heute Überwindung gekostet haben, auf den Neumarkt zu kommen. Könnten wir auch hier in Dresden in Gefahr geraten, wenn wir uns in einer großen Menschenmenge zusammenfinden? Aber sie sind gekommen! Dann lasst uns auch einander ein Zeichen des Friedens und der Zusammengehörigkeit geben.

Gott will, dass wir Menschen des Friedens sind und werden. Deshalb hat er mit dem Christkind ein Friedensangebot gemacht, dass wir nicht ausschlagen können, oder? Es ist schon so, dass er uns damit für sich einnehmen will. Er geht ein hohes Risiko und wir wissen, dass er auch nicht zurückgezogen hat, als er dreißig Jahre nach dieser besonderen Geburt selbst zum Opfer wurde. Dafür verehren wir Christen Gott und vertrauen ihm. Daraus schöpfen wir Mut zum Frieden stiften. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Menschen seines Wohlgefallens. Darf ich mich dazu zählen? Sind das die mit einem besonders tiefen Glauben? Oder jene, die sich mit guten Taten auszeichnen? Ich vertraue darauf, dass es die sind, die sich Gottes Brückenschlag zu uns in einem Kind gefallen lassen, seine Friedensinitiative annehmen. An ihnen hat Gott Freude.
Das meint „Wohlgefallen“ wörtlich: zufriedene Freude an jemandem haben.
Und ich halte mich an die Brückenengel. Aus ihrem Gesang lese ich zwei Dinge heraus: Gott verehren und Frieden schließen – das macht Menschen zu Gotteskindern. Das hat Jesus in der Bergpredigt bestätigt. Daran erkennt man die Geschwister des Christkindes. Ihnen gehört ebenso die zufriedene Freude Gottes.  

Wollen wir uns auf diesen Weg begeben? Uns hinauswagen, mit klopfendem Herzen, unsicher ob die Brücken tragen werden? Es ist ein Weg, der über dem Gehen entsteht, eine innere Absicht und tastende Schritte, die daraus folgen.
Es kann aber eine Bewegung des Gottvertrauens und Friedens werden, wenn viele sich uns anschließen.
Eins ist gewiss: Die Engel Gottes werden über uns wachen.

Amen.

Sich die Welt neu singen

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

„Weißt Du noch, wie, als wir ein zweites Mal von Gott sprachen in unserem Haus, der goldene Schimmer auf der Wand stand?“ So steht es in einem Brief von Paul Celan an seine damalige Freundin Ingeborg Bachmann. So von Gott und seinem Kommen in unsere Welt reden können, dass goldener Schimmer aufglänzt: das wäre etwas, wenn wir das an Weihnachten erleben könnten! Ob uns der Predigttext dazu helfen kann, den wir eben gehört haben?

I.

Wir sehen Bilder großer Künstler vor uns, die gemalt haben, wie Maria im Gebirge ihre ältere Cousine Elisabeth besucht und von ihr fürstlich begrüßt wird: „Gepriesen seist du unter den Frauen, und gesegnet sei die Frucht deines Leibes”. Ein Engel hat Maria gerade erst die unglaubliche Botschaft überbracht, dass sie gewürdigt ist, Gottesmutter zu werden, den Erlöser der Welt zu derselben zu bringen. Das kann sie nicht fassen. Wie sollte sie auch? Aber sie tut intuitiv das Richtige. Gegen das eigene Erschüttertsein stimmt sie das Magnifikat an, diesen wunderbaren Gesang der Christenheit, seit Jahrhunderten täglich im Stundengebet gesungen, von vielen Komponisten vertont. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Das klingt robust und kämpferisch. Aber das sagt kein Revolutionsführer. Das sagt eine blutjunge Frau aus der tiefen Provinz. Maria gehört nicht zur Elite. Sie ist ein 15 oder 16 Jahre altes Mädchen aus Galiläa.

Und nun singt sie, oder besser: es singt aus ihr heraus. Manchmal bringt Singen Glanz, etwas wie goldenen Schimmer ins Leben, wo vieles erloschen erscheint. Wenn etwa alte Menschen, die stumm und abwesend geworden sind, eine Melodie mitsummen und sogar mühsam den Text mitsprechen. Maria soll Mutter des Messias werden. Das war für sie kaum zu fassen. Und kaum zu fassen ist doch auch für uns, dass der Gottessohn wie andere Kinder von einer jungen Mutter unter Blut und Tränen mit Pressen und Stöhnen zur Welt gebracht wurde, dass Gott nicht anders uns nahe kommen wollte. Als Theologe empfinde ich es von Jahr zu Jahr schwerer, dieses Wunder, dass der große unendliche Gott ein kleiner endlicher Mensch wurde, in Worte zu fassen. Aber Gottseidank gehört zu Weihnachten wie zu keinem anderen Fest das Singen dazu: nicht um Stimmung zu machen, sondern um uns aus Sprachlosigkeit zu holen und das Geheimnis der Weihnacht wenigstens ahnen zu lassen. „Wenn aus dem Himmel / eine Freude den Menschen kommt, / dass sie sich wundern, / wie lacht das Herz in Liedern die Wahrheit an“ (F. Hölderlin).

„Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“. Das klingt mitreißend, mutmachend. Wie sehr wünschte man diese Erfahrung den gepeinigten Menschen in der Ukraine oder in Gaza und Libanon. Aber schnell ist die eigene Skepsis zur Stelle: So beschwingt kann doch nur singen, wer naiv und realitätsblind ist. Zu Marias Zeit ist nämlich nichts zu sehen von Befreiung und Gerechtigkeit. Die römischen Besatzungstruppen halten mit eiserner Faust law and order aufrecht. Aber es gibt eine im Singen geweckte Wahrheit, die gilt, auch wenn für unser deprimiertes Erleben alles dagegen spricht. Wir erleben fast vor unserer Haustüre Ruchlosigkeit, Vernichtungswillen, Flüchtlingsnot. Für die Menschen in der Ukraine kurz vor dem dritten Kriegsweihnachten gefühlt ein nicht enden wollender Karfreitag. Und auch bei uns ist vorgestern Abend für viele aus der Weihnachtsfreude Karfreitagsstimmung geworden. Der Anschlag von Magdeburg hat einen schwarzen Schatten über den „goldenen Schimmer“ geworfen, den Paul Celan an der Wand aufscheinen sah. Ist diese Realität die letzte Wahrheit? Fast alles scheint dafür zu sprechen. Eins aber spricht dagegen. Das ist die Tatsache, dass Menschen nicht aufhören zu singen, und wenn es noch so finster um sie herum ist. Töne, Melodien sind kraftvolle Licht- und Hoffnungssignale, dass das Leben am Ende stärker ist als der Tod - auch in seinen vielen elenden Verkleidungen, mit denen er sich immer wieder bei uns einschleichen will.

II.

Ich stelle mir das mit Marias Lied vor wie bei den Sklaven vor 200 Jahren in den USA. Unter der sengenden Sonne des amerikanischen Südens, während der Fronarbeit auf den Baumwollfeldern, haben sie sich gegen die Trostlosigkeit ihrer Lage Glaubenslieder zugesungen, voll von den großen Hoffnungs- und Befreiungsbildern des Alten Testaments. Das war die Geburt der Gospels, deren Melodien und Texte uns das Herz anrühren. Und das zu einer Zeit, wo noch keiner an ein Ende der Sklaverei gedacht hat. „Er stößt die Gewaltigen von Thron und erhöht die Niedrigen“: Marias Magnificat wird zum Protestlied gegen die Heillosigkeit ihrer und unserer Zeit. Wer singt, gibt die Hoffnung für diese Welt nicht auf. In einem unserer Adventslieder heißt es: „Er kommt mit Frieden. Nie mehr Klagen, / nie Krieg, Verrat und bittre Zeit! / Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, / weil Stiefel auf das Pflaster schlagen“ (EG 20,3). Diese Wahrheit vertröstet nicht, sie hat Menschen fähig gemacht, unsere Welt nicht nur düster zu sehen, sondern Mut und Entschlossenheit zu finden, sie mit denen ihnen gegebenen Möglichkeiten friedlicher zu machen.

Je älter wir werden, desto häufiger kommen die Gänge auf den Friedhof. Die alten Trostlieder, die wir bei Beerdigungen singen, sind vielfach in leidvollen Situationen entstanden. Sie haben Marias spontanen Impuls, zu singen, was mit dem Verstand kaum fassbar ist, auch auf die dunklen Erfahrungen angewandt. Paul Gerhardts Text aus einem Weihnachtslied fast die Wahrheit von Weihnachten in Worte und Töne: „Ich lag in tiefster Todesnacht, / du warest meine Sonne, / die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben Freud‘ und Wonne“. Ich denke, Maria hat oft in ihrem Gesangbuch, in den Psalmen geblättert, so dass sie jetzt singen kann: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes“. Tun Sie es jetzt an Weihnachten Maria nach, blättern Sie im Gesangbuch oder im Gotteslob, singen Sie mit, wenn in den Gottesdiensten die alten und doch immer wieder taufrischen weihnachtlichen Lieder aufklingen, und entdecken Sie die uns oft verborgen bleibende Wahrheit, die trägt und Lebensmut gibt. Dann schimmert ein bisschen Gold an der Wand auf.

Maria will Gott groß machen: „Meine Seele erhebt den Herrn“. Ganz schön vermessen für ein 16 Jahre altes Mädchen aus der Provinz. Aber Maria singt sich sozusagen über sich selbst hinaus, sie macht Gott groß, und damit wird ihr auch das eigene Leben anders und groß. Die Muttersprache des Dankens und des Lobens ist das Lied. In den Liedern kann unser Mund oft schon mehr, als unser Herz kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde, verdrossene Herz einfach hinter sich her, bis es wieder fest auf den eigenen Beinen steht. Deshalb sind Musik und Lieder wichtiger als alle Predigten und Lehren. Denken Sie an David: Der hat den in Depressionen versunkenen König Saul nicht durch religiöse Reden und therapeutische Ratschläge von seiner Umdunkelung geheilt, sondern durch sein Harfenspiel. So auch jetzt: Gerade weil uns nach Magdeburg die Brust eng wird, ein Kloß im Hals sitzt und die Gedanken Karussell fahren, ist es gut, nach den Worten und Tönen anderer zu greifen. Sie nachzusprechen, nachzusingen.

III.

„Der Herr hat große Dinge an mir getan”, jubelt Maria. Ob sie an das Geheimnis ihrer Schwangerschaft denkt? Wir tun uns schwer mit der „Jungfrauengeburt“. Ich ahne, ohne sie wirklich erklären zu können, was sie bedeutet. Wo Gott als Retter in die Welt kommt, da können wir nur Empfangende sein. Wir wissen doch, wie schnell menschliche Eingriffe, Aktionen und Ideale ins Unmenschliche kippen können. Was Rettung bringt, ist von anderer Qualität. Dietrich Bonhoeffer hat das Lied der Maria das leidenschaftlichste, wildeste Adventslied genannt. Hier begegnet uns nicht die andächtige, gottergebene Maria, wie sie in der Kunst so oft erscheint, sondern eine hingerissene, vitale junge Frau. Sie hält sich nicht mit der Frage auf: Was macht das alles mit mir? Maria macht Gott groß, indem sie Gott nicht nur bei sich am Werk sieht, sondern überall dort, wo Ohnmächtige aufleben können. „Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen”. Der Gottessohn, der verheißene Messias, mit dem sie schwanger geht, wird Hungrige speisen und Kranke heilen, er wird Verstoßenen und Geschändeten Ehre erweisen und Gerechtigkeit bringen. Er wird Menschen in seine Nachfolge rufen, damit sie diesen Glanz in die Welt hinaustragen, auch gegen dumpfe Ängste und Hass auf Andere(s).

Kündigt Maria hier einfach einen Austausch der Machtverhältnisse an? Oft genug haben Revolutionen unter umgekehrtem Vorzeichen nur neue Unterdrückung hervorgebracht. So schlicht kann Maria es nicht meinen. Was es heißen kann, dass die Reichen leer ausgehen, haben viele aus der Nachkriegsgeneration erfahren. Als wir Kinder waren, haben uns unsere Eltern gern von den sog. Care-Paketen erzählt. Eines Tages brachte der Briefträger der Familie meines Vaters so ein Paket. Sie kannten den Absender nicht. Sie packten es aus und staunten: Schokolade, Kaffee und, für sie bis dahin ganz unbekannt, Erdnussbutter und Kaugummis. Das Care-Paket kam aus Amerika von weit entfernten Verwandten, zu denen es nie Kontakt gegeben hatte. Sie hatten über Jahre auf ein Auto gespart. Als es so weit war, ging der Krieg zu Ende. Sie lasen von den zerstörten Städten und vom Hunger in Germany. Da setzten sie das ersparte Geld in Care-Pakete um für unbekannte Verwandtschaft in Deutschland. Das Auto musste warten. Ich überlege, was mein Care-Beitrag heute sein könnte. Für die Menschen in den Kriegsregionen unserer Welt. Für die vielen, die geflohen sin auf der Suche nach Schutz und einem menschenwürdigen Leben. Für die Menschen, die in Magdeburg ihre Liebsten verloren haben oder um sie bangen. Für alle, denen Angst und Kummer das Herz starr gemacht hat. Ich will es machen wir Maria. Erst einmal singen. Mein Herz füllen lassen mit dem goldenen Schimmer, der von den wunderbaren alten Liedern ausgeht. Und dann – dann könnten wir diesen goldenen Schimmer nach außen tragen. Mitten rein in die Konflikte dieser Welt, in die Ängste unserer Zeit, in die Spaltungen unserer Gesellschaft, mitten hinein nach Magdeburg, damit Besonnenheit nach Nachdenken die Oberhand behalten.

Machen wir’s wie Gott selbst: Werden wir Menschen und bringen wir Gott in die Welt, damit wieder gilt: „Weißt Du noch, wie, als wir ein zweites Mal von Gott sprachen in unserem Haus, der goldene Schimmer auf der Wand stand?“  


Amen.

 

Mittagsandacht 21.12.2024 – Nach dem Anschlag von Magdeburg

Begrüßung & Geistlicher Impuls von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt
Fürbitten Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke

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Begrüßung

Friede sei mit euch! Mit diesem Gruß des auferstandenen Christus an seine Jünger, der seit 19 Jahren auch der Gruß dieses Hauses, der wiederaufgebauten Frauenkirche ist, hinaus in eine friedlose Welt und an die vielen Menschen, die Tag für Tag hier hineinströmen, heiße ich Sie sehr herzlich willkommen zu den kommenden Minuten „Wort & Orgelklang“ an diesem Samstagmittag vor dem 4. Advent.

„Friede sei mit euch“: Dieser Gruß ist an diesem Tag besonders not-wendig. Die Friedlosigkeit, die unsere Welt gerade so sehr zeichnet, ist gestern Abend mit Wucht in unser Land, nicht allzu weit von hier, hereingebrochen. Die Meldungen verändern sich immer wieder. Die Zahl der Opfer ist über Nacht gestiegen. Was über den Mann, der das mutmaßlich ersonnen und getan hat, bisher bekannt wurde, ist verwirrend und passt überhaupt nicht in das bisher gängige Raster solcher Anschläge. Die Social Media spielen wieder einmal verrückt.

Viele erinnern sich an das, was vor acht Jahren, auch wenige Tage vor Weihnachten, in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt vor der Gedächtniskirche geschehen war. Ich arbeitete damals in Freiburg, und wir haben uns als ev. Kirche zunächst gefragt: Wie können wir jetzt aus vollem Herzen in unseren Kirchen und Gottesdiensten Weihnachten feiern: das Fest des Friedens, der Liebe und des Lichts? Aber nach einer ökumenischen Gebetsandacht aller Kirchen im Freiburger Münster haben wir gemerkt, dass die Frage gerade andersherum lautet: Wie könnten wir Weihnachten jetzt, gerade jetzt, nicht feiern?! Wer aufrichtig über Weihnachten nachdenkt, und was dieses schönste, uns am meisten berührende aller Feste eigentlich bedeutet, wer die allerweltsbekannte weihnachtliche Geschichte der Bibel aufmerksam auf sich wirken lässt, der merkt ja: Weihnachten ist kein weltfernes Idyll! Ganz im Gegenteil: diese Geschichte von den Mächtigen in der Ferne und den Ohnmächtigen vor Ort, von Unbehaustheit, von einer Geburt unter elenden Umständen, von der Angst ums nackte Überleben und der Flucht in die Fremde - all das ist überhaupt nicht am Elend, am Leid dieser Welt vorbei erzählt.

„Auch wer zur Nacht geweinet, / der stimme froh mit ein. / Der Morgenstern bescheinet / auch deine Angst und Pein“ (EG 16,1) – heißt es in einem viel gesungenen Adventslied, das in dunkler Zeit entstanden ist. Dieses Versprechen gilt hier und jetzt auch uns. Und all den Tränen, die in dieser Nacht geweint wurden und weiter geweint werden. Bei Gott wiegen sie schwer.

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Geistlicher Impuls

Nachher singen wir „Tochter Zion“, eines der weltweit populärsten Advents- und Weihnachtslieder. Auf den ersten Blick „passt“ das überhaupt nicht zu unserem heutigen Empfinden. Wir singen es dennoch - aus einem banalen, pragmatischen Grund: Unsere Programmzettel für diese Orgelandacht waren längst gedruckt, und da war für diesen letzten Adventssamstag, drei Tage vor Heiligabend, nun einmal dieses festlich-fröhliche Lied vorgesehen. Wir hätten es heute nicht mehr möglich gewesen, mehrere 100 Programmzettel mit einem „passenderen“, verhalteneren Adventslied zu drucken.

Aber lassen wir es mal drauf ankommen, ob es auf den zweiten, tieferen Blick nicht doch etwas Wichtiges sagt in die jetzige Lage hinein. „Tochter Zion“ handelt nicht von Krippe, Licht und Engeln, sondern von einem konkreten, einschneidenden Ereignis im Leben des erwachsenen Jesus. Jesus zieht endlich, nach drei Jahren in der Provinz, in Jerusalem ein, dem Zentrum seiner jüdischen Religion. Einen Mega-Hype löst das aus in der Stadt. Jesus wird von Jubel, Liedern, geschwenkten Palmenzweigen und begeisterten Parolen begrüßt. Aber wie das so ist: Massenhysterie ist wetterwendisch und ein leicht beeinflussbares Phänomen. Die Hosianna-Rufer kommen schnell auf andere Gedanken und schreien wenige Tage später bereits ihr „Kreuzige ihn!“ Die Folgen kennen wir alle. Ohne sie gäbe es uns als Christ*innen nicht.

Das ist die Grundmelodie der Adventszeit – nicht nur eine wachsende Vorfreude auf ein kerzenschimmerumleuchtetes Jesuskind im lockigen Haar. Deshalb ist diese Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem, die eigentlich zum Palmsonntag gehört, seit alters her auch das Evangelium zum 1. Advent. Damit von Anfang an klar wird, wohin die Reise dieses Gottes geht, der als brüllender Säugling zur Welt kommt wie wir alle. Damit wir sehen, was es auf sich hat mit dem Krippenkind, auf das wir uns so kindlich freuen. Nämlich dass die Krippe und das Kreuz aus demselben Holz geschnitzt waren.

„Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe!“. Mit ihrem Jubel tun die Leute ahnungslos genau das Angemessene. Sie preisen den Christus Gottes, und wissen nicht, was sie damit eigentlich sagen. Und der nimmt die Huldigung an - obwohl er weiß, was daraus werden wird. Beides ist erstaunlich. Denn der da kommt, kommt ja so ganz anders, als es die alten Schriften, die die jubelnden Leute im Sinn haben, erwarten lassen. Nicht mit Krone, Pomp und großem Geschwader zieht Jesus ein. „Er ist gerecht, ein Helfer wert, / Sanftmütigkeit ist sein Gefährt“ (EG 1,2): eine Eselin erbittet Jesus für den Einzug nach Jerusalem. Wahrlich kein königliches Tier! Ein Esel ist klein an Wuchs, dem Erdboden und den Menschen nah. Esel gelten, bis in unseren Sprachgebrauch, als etwas blöde und einfältig. Aber sie haben einen untrüglichen Sinn für den richtigen Weg. Deshalb sind sie im Gebirge, im unwegsamen Gelände so unentbehrlich. Der Esel, das Tier, das die Lasten trägt, kann auch dich und mich tragen. Und auch das: Mit einem Esel kann man nicht Leid und Tod anrichten wie mit einem Auto. Der Esel kennt den Weg: nicht nur in die Stadt, auch hin zur Krippe. Denn die heilige Last lag ja schon 33 Jahre davor auf seinem Rücken, als Maria schwanger war. Schon da, an der Krippe in Bethlehem war er Zeuge, und Lasttier dann auch schon für Mutter und Kind auf der Flucht nach Ägypten. Und jetzt ist er der Hoffnungsträger beim Einzug nach Jerusalem. Schau auf den Esel: Den er auf seinem Rücken trägt, der zeigt, wie Heil und Frieden in die unheilige Stadt, in die friedlose Welt zieht.

Aber wie irrsinnig schwer ist es für uns immer wieder, das anzunehmen. Weil es sich nicht so einfach verträgt mit unseren Bildern von einem allmächtigen Gott, der Leid und sinnlose Gewalt doch „nicht zulassen“ kann und darf. So ist es menschlich nur zu verständlich, dass nur Stunden nach dem Jubelrausch der allgemeine Kater in Jerusalem ausbricht: Ist dieser Eselreiter wirklich der, den die Propheten angekündigt, auf den wir so lange gewartet haben? Einer, der nicht hier im Palast zur Welt kam, sondern im öden Umland in einem Viehstall. Einer, der so eigenwillige Wege ging, dass sogar die eigene Familie an seinem Verstand zweifelte. Der auf staubigen Landstraßen unterwegs war, zu Fuß. Der nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte. Die einzigen, die wirklich zu ihm standen, waren eine kleine Gruppe einfacher Leute ohne Prestige. Und dass er raumgreifend Recht und Gerechtigkeit hergestellt hätte, wie man das vom verheißenen Messias erwartete, kann man auch nicht sagen. Und so wird sich in den Tagen nach dem triumphalen Einzug der Zweifel wie Gift immer tiefer einträufeln: So einer soll ein Nachkomme Davids, des großen Königs sein, der Israel eine Epoche einmaliger Größe und Macht beschert hatte?

Wie schon gesagt, das Ende ist bekannt. Aber auch, was aus diesem Ende wiederum wurde, das sich in Wahrheit als ein Anfang, ein Neuanfang, wie er radikaler nicht vorstellbar ist, erwiesen hat. Darin liegt auch unsere Hoffnung. Das unsagbare Leid, das heute Nacht in Magdeburg viele Menschen getroffen hat, wird am Ende nicht das letzte Wort behalten. Die zu Tode gekommenen sind nun bei Gott, wo sie sich und ihr Leben auf ewig neu empfangen - mit einer Klarheit, in einem Licht, wie das in diese Welt gar nicht möglich ist. Und Hoffnung liegt auch darin, dass seit 2.000 Jahren das Licht, das in der Heiligen Nacht in diese Welt gekommen ist, seither auch durch noch so fanatische und brutale Versuche nicht mehr in ihr zu auslöschen ist, sondern immer wieder neu Spuren in die Welt gräbt, auf denen Menschen, die sich für dieses Licht öffnen, sich aufmachen: Spuren zu Gerechtigkeit, Zuwendung, Frieden, Menschenwürde – die in der Nacht von Bethlehem allen Menschen gleich zuteilgeworden ist. Das ist unsere Hoffnung - auch zu Weihnachten 2024.

Amen.

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Fürbitten

Herr, unser Gott,
wo wir auch sind,
du bist niemandem von uns fern,
den Toten nicht und nicht den Lebenden.
Was uns auch bewegt,
du weißt es.

Gott, wir denken voller Entsetzen an die Geschehnisse in Magdeburg.
Wir legen dir die Menschen ans Herz,
die um ihre Angehörigen trauern und um die Verletzten in den Kliniken bangen.
Wir bitten dich für all jene, deren Überleben in diesen Stunden höchst gefährdet ist.

Wir beten für alle, die durch diese Geschehnisse zutiefst verunsichert und verängstigt sind,
für die, die die schrecklichen Bilder und Geräusche des gestrigen Abends
nicht aus ihrem Kopf bekommen.
Mögen Menschen an ihrer Seite sein,
die sensibel neue Bilder, tröstende Bilder –
und stärkende Klänge, zugewandte Melodien
über die Erinnerungen legen.

Wir bitten dich für alle, die als Seelsorger und Krankenschwestern,
als Ärztinnen, Rettungskräfte und Polizisten in Magdeburg im Einsatz sind.
Wir bitten für alle, die politische und gesellschaftliche Verantwortung tragen:
Mögen sie zuerst genau hinhören – auf ihr Herz, ihr Gewissen – und dann besonnen handeln.
Bewahre uns vor Panik und blindem Aktionismus.

Nur du kannst ins Herz des Menschen schauen,
nur du kennst unsere Abgründe, unsere Widersprüche und Grenzen.
Lass uns dem Sterben zum Trotz
auf das Lebenslicht in der Krippe schauen.
Gib du uns, dass wir im Kleinen und nach unseren Möglichkeiten
die Botschaft deines Friedens leben und weitertragen.

Alles, was uns in diesen Momenten bedrückt,
legen wir hinein in das Gebet,
das dein Sohn uns geschenkt hat,
der selbst Schmerz und Tod gelitten hat.
Gemeinsam beten wir:

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld;
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Amen

Vom Gott der Hoffnung im Advent 2024
Oder: Die müde Brücke und der älteste Schwibbogen

Predigt gehalten von Prof. Dr. Alexander Deeg, Leipzig

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Die Carolabrücke, meine Hoffnungslosigkeit und der Apostel Paulus

Drei Monate ist es nun her, liebe Gemeinde. Es war die Nacht vom 10. auf den 11. September 2024. Da wurde eine Brücke hier in Dresden müde – und stürzte einfach so ein, mitten in der Nacht, nicht weit von hier. Und das, was noch übrig ist, steht seither in der Elbe als ein Symbol für die marode Infrastruktur in diesem Land. Und noch mehr: schon auch als ein Symbol für meinen Gefühlszustand in diesen Tagen und Wochen.

Da sitze ich in diesem Advent 2024 – und habe das Gefühl: Die Welt wird enger von Tag zu Tag. Und
eckiger wird sie auch, wo sie doch mal rund war und ich dachte, sie wäre in Schwung und irgendwann, ganz bald, da endeten dann auch die Kriege und die Waffen würden vernichtet. Keine atomare Bedrohung mehr, mit der ich noch aufwuchs in Nordostoberfranken an der Grenze zur DDR und zur Tschechoslowakei. Dann wurde abgerüstet seit den 1980er Jahren, dann kam die Friedliche Revolution, dann entstand diese Frauenkirche wieder. Aber das ist lange her; jetzt leben wir in Zeiten des Krieges und der multiplen Krisen. Und in den Resten der Carolabrücke hier in Dresden spiegelt sich meine zunehmende Hoffnungslosigkeit. Aber da höre ich Paulus, den Apostel. Wie er unruhig wird und sagt: Hör doch hin. Und schau doch: Da ist er doch: der Gott der Hoffnung! Und alles, alles, was in der Bibel steht, das ist geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. – Ach, Paulus, denke ich mir … Und irgendwie dringt er nicht durch.

Denn: Enger wird sie, die Welt, und eckiger und dunkler. Es kommt mir so vor, liebe Gemeinde, als hätten die Mächte der Finsternis ein wenig pausiert, um nun umso mächtiger zuzuschlagen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen, wie es Euch geht, aber ich will es noch immer nicht glauben, dass er es wirklich geschafft hat – und wiedergewählt wurde und zum zweiten Mal ins Weiße Haus einziehen wird. Der pathologische Narzisst und verurteilte Straftäter, der zerstören will, um so vermeintlich „great“ zu machen, was doch „great“ sein könnte, wenn es Menschen wie ihn nicht gäbe. Ich möchte es nicht glauben, dass rund 2.000 km von hier entfernt nun auch koreanische Soldaten kämpfen in einer beispiellosen Aggression, die 1027 Tage andauert und bei der der russische Angreifer augenscheinlich den längeren Atem hat und weiter gen Westen vorrückt. Ich möchte es nicht glauben, dass es einen 7. Oktober 2023 gab, ein Pogrom in Israel – und dass die Welt es so schnell vergaß. Und ich möchte nicht glauben, was seither geschah: Millionen Flüchtlinge in Gaza, Zehntausende Tote und unvorstellbare Zerstörung. Ach … Ich will es gar nicht glauben.

Und ich höre Paulus, den Apostel, dem es spätestens jetzt reicht. Der lange genug geschwiegen hat. Paulus widerspricht und redet vom „Gott der Hoffnung“.

   Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und
   Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an
   Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Und ich sitze drin in einer herbstlichen Welt auf dem Weg in den Winter. Und „Hoffnung“ scheint mir ein großes und ziemlich fernes Wort. Schau doch mal die Nachrichten, denke ich mir, lieber Paulus. Ja, mag sein, der Sturz von Assad vor gut einer Woche, vielleicht ist das ein Zeichen der Hoffnung. Aber ob die islamistischen Gruppen, die dafür Verantwortung tragen, ein freies Syrien hervorbringen? Hoffnung? Und das Komische ist ja, liebe Schwestern, liebe Brüder, bei aller Fragmentierung und Polarisierung, die wir erleben, scheint uns das zu vereinen, die Menschen in Deutschland, in Ost und West und Nord und Süd, bei allen Unterschieden: Es kam uns irgendwie die Hoffnung abhanden. Die Linken der ‚letzten Generation‘ und die Rechten, die seit vielen Jahren Bilder des Untergangs des Abendlandes malen, sind irgendwie vereint in Hoffnungslosigkeit. 76% der Deutschen meinen, wir leben in einer „ziemlich schwierigen Zeit“. Und mit einem Augenzwinkern können wir hinweisen auf eine Deutsche Bahn, die es inzwischen aufgibt, Fahrzeiten zu berechnen, sondern diese nur noch schätzt. Und dann stehen da, nicht weit von hier, die Reste der Brücke in der Elbe …

Aber Paulus gibt nicht auf. Jetzt erst recht nicht. Und jetzt endlich, liebe Gemeinde, lasse ich ihn ausreden. Wir hören aus dem Brief des Paulus an die Römer im 15. Kapitel:

Röm 15,4–13

Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.

Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.

Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: »Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.« Und wiederum heißt es: »Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!« Und wiederum: »Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen ihn alle Völker!« Und wiederum spricht Jesaja: »Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen.« Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Hoffnung mit Israel

Soweit die Hoffnungsbotschaft des Apostels Paulus, liebe Gemeinde – für die Gemeinde in Rom vor 2000 Jahren und für uns hier in Dresden heute am dritten Advent. Über die Zeiten hinweg ruft Paulus uns zu: „Der Gott der Hoffnung erfülle euch …“ „Erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung.“

Wenn es um den Glauben geht, geht es um Hoffnung. Wenn es um Gott geht, geht es um Hoffnung. Wenn es um Christus geht, geht es um Hoffnung. Warum, Paulus? So frage ich. Und er antwortet: Weil die Verheißungen nicht erledigt sind. Weil das, was in der Bibel verheißen ist, noch auf seine Erfüllung wartet. Weil Advent heißt, dass Ihr darauf zugeht. Weil Christus Jesus in diese Welt kam, um die Verheißungen zu bestätigen, nicht zu erfüllen.

Weil er kam, damit auch wir, ja auch wir, die Menschen aus den Völkern, die Heiden, wie Paulus sagt, Hoffnung haben, damit auch wir Gott loben – mit seinem Volk. Uns freuen – mit seinem Volk Israel. Ja, immer nur mit seinem Volk Israel. Das schreibt er nach Rom, wo das augenscheinlich Mitte des ersten Jahrhunderts nicht mehr allen selbstverständlich war.

Und heute hören wir’s in Dresden. Es beschäftigt mich, bedrückt mich und bringt mich beinahe zur Verzweiflung, wenn ich erlebe, wie der Antisemitismus bei uns zunimmt. Aktuelle Studien zeigen, dass auch in christlichen Gemeinden antisemitische Einstellungen existieren, teilweise sogar heftiger als bei den Menschen, die nicht zu einer Kirche gehören. Etwa ein Viertel der Christenmenschen hier bei uns sagt z.B., durch die gegenwärtige Politik des Staates Israel würden ihnen die Juden immer unsympathischer. Die Juden – das ist genau die Denkbewegung des Antisemitismus. Niemand bestreitet ja, dass Politikerinnen und Politiker in Israel Fehler machen und falsch handeln; und niemand hat jemals verboten, dass das auch benannt und kritisiert wird. Aber wenn wegen der Politik des Staates Israel die Juden, also: alle Juden immer unsympathischer werden, dann ist das genau das problematische Denkmuster des Antisemitismus.

Ich habe vor fast 30 Jahren in Israel studiert und habe viele jüdische Freundinnen und Freunde – in Israel und auch hier. Es bedrückt mich und treibt mir Tränen der Scham und der Verzweiflung in die Augen, wenn mir ein jüdischer Freund in Leipzig erzählt: „Ja, ich habe Angst. Ich bin vor einigen Monaten noch ganz selbstverständlich durch Leipzig gelaufen: mit schwarzem Anzug, weißem Hemd und meiner schwarzen Kippa auf dem Kopf. Das mache ich nicht mehr. Die Kippa zeige ich nicht mehr. Ich trage eine Mütze, um nicht gleich als Jude aufzufallen …“ Und eine Freundin, die auch in Leipzig lebt, eine Jüdin aus Israel sagt: „Wo sollen wir denn hin? In Israel flogen in den letzten Monaten ständig Raketen; hier traue ich mich nachts nicht mehr alleine auf die Straße. Und ich rede auch nicht mehr Hebräisch in der Öffentlichkeit. Nirgendwo Sicherheit für uns.“ – Ich hätte nicht gedacht, dass wir – wir hier in Deutschland, mit unserer Geschichte – einmal wieder solche Worte von Jüdinnen und Juden hören. – Und ich höre, wie Paulus sagt: Ihr Christen aus den Heiden – Hoffnung habt ihr immer nur mit Israel. Und daher: Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk.

Eintauchen in die Bibel

Und, Paulus, so frage ich, was also sollen wir tun? Damit wir hineinfinden in die Hoffnung – mit Israel, Gottes bleibend erwähltem Volk? Am besten: Lest die Bibel, würde Paulus sagen. Denn da stehen sie, die Verheißungen: „Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“

Lest die Bibel, taucht ein in die Worte, die zuerst Jüdinnen und Juden gelten – und dann auch euch. Nehmt die Bibel als die beste Medizin gegen resignative Hoffnungslosigkeit. – Na, denn. Dann tun wir’s – und tauchen ein in die Verheißungen … Hören die großen Worte der göttlichen Gegengeschichte gegen alle Hoffnungslosigkeit und Resignation; gegen die Gewalt und die Kriege.

Die Völker werden kommen – zum Berg des HERRN, nach Jerusalem, lese ich da. Weil sie dort – und nirgendwo anders – lernen wollen, wie sie leben können. Dort wird Gott richten und zurechtweisen, das Unrecht dieser Welt nicht einfach auf sich bewenden lassen. Und die Völker werden verstehen; sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben. Und sie werden hinfort nicht mehr lernen Krieg zu führen.

Und für einen Moment sehe ich das vor mir, liebe Gemeinde. Ich sehe, wie sie unterwegs sind. Die Syrer vom Norden und die Menschen aus dem Libanon – unterwegs in Richtung Israel, in Richtung Jerusalem; keine Raketen bringen sie mit, keine Bomben und keine Drohnen. In Frieden ziehen sie nach Jerusalem. Eine große, riesige Menge. Und wenn ich recht hinsehe, dann läuft da auch Wladimir Putin – und neben ihm Wolodimir Selenskyj – und sie reden miteinander. Und es sieht so aus, als hätte der Aggressor verstanden. Und ist das nicht auch, ja, da läuft Donald Trump, unverkennbar. Aber er redet mal nicht, sondern hört der Familie zu, die neben zum Zion zieht: Einwanderer in die USA aus Mittelamerika, die von der Gewalt in ihrem Land geflohen sind und dem wiedergewählten Präsidenten so einiges zu erzählen haben. Und ich blättere weiter – und lese von einem großen Licht, das scheinen wird über dem Volk, das im Finstern wandelt – und über denen, die da wohnen im finstern Land, scheint es hell. Und ich denke an uns, an mich, eingeschlossen in so manche Finsternis. Und ich hebe den Blick, weil da das Licht durchbricht. Ich blinzele, weil ich an die Helligkeit gar nicht mehr gewöhnt bin. Aber ich merke, wie sie mir gut tut, wie sich die Stimmung verändert, wie meine wankenden Knie fest werden und die Müdigkeit für einen Moment verschwindet.

Und ich blättere weiter und lese: Und der HERR wird den Tod verschlingen auf ewig – und die Tränen von allen Angesichtern abwischen. – Ihr alle wisst, wie viele Tränen geweint werden, ständig, Tag für Tag auf dieser Welt. Und Ihr kennt Eure Tränen … Und dann kommt Gott – und er wischt selbst die Tränen ab mit seinem großen Taschentuch der Liebe.

Gott in den Ohren liegen

Advent – wir sind drin, liebe Gemeinde, in der Geschichte von Gottes Verheißungen. Wir tauchen ein in die Worte der Bibel – und werden für einen Moment Teil dieser Geschichte. Nicht um uns aus den Realitäten dieser Welt zu verabschieden. Nicht um das Wegschauen zu trainieren. Im Gegenteil: Im Licht der göttlichen Verheißung wird umso deutlicher, was auf dieser Welt nicht in Ordnung ist.

Aber im Licht der Hoffnung finde ich mich nicht damit ab. Im Gegenteil: Ich liege Gott in den Ohren, erinnere ihn an seine Verheißungen. Du, Gott, du hast doch Frieden verheißen und ein Ende der Kriege. Licht verheißen gegen alle Dunkelheit, Leben gegen den Tod. Du, Gott, mach Frieden auf dieser geschundenen Erde. O Heiland, reiß die Himmel auf, damit dein Licht den Verzweifelten scheint! Gib Leben, das stärker ist als der Tod.

Hoffnung lebt nicht in Worten, sondern in Praktiken

Hoffnung, liebe Gemeinde, ist immer mehr als ein Wort. Es gibt Praktiken der Hoffnung. Das Gebet, die Klage, die leidenschaftliche Bitte. Dieser Gottesdienst mitten in dieser Welt, mitten im Advent ist eine. Die Lieder, die wir singen – und damit nicht allein bleiben.

Es ist der dritte Kriegswinter in der Ukraine. Und es gibt sie, die Künstlerinnen und Künstler, die für Soldaten an der Front singen. Es gibt sie, die Briefträgerinnen und Briefträger, die sich bis an die Front wagen und den Menschen dort Grüße vorbeibringen und kleine Pakete mit Süßem und einem Bild vom dreijährigen Kind gemalt für den Vater im Krieg. Es gibt Frauen und Männer, die sich treffen in den Städten und Dörfern, um Gemüse zu schnipseln und Trockensuppe zu bereiten für die, die nichts zu essen haben, und auch für die Soldatinnen und Soldaten.

Und es gibt mindestens ein Altenheim, von dem ich las – und dort Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht wussten, was sie denn noch tun könnten. Zu schwach sind die meisten, um noch Suppe zu kochen oder Päckchen zu packen. Aber, so sagte eine der Nonnen, die das Heim leitet, aber beten können wir. Und das tun sie – und beten für den Frieden und ein Ende des Krieges. Jeden Tag, mehrmals täglich. Und wenn man sie fragt, wann der Krieg endet, dann sagen sie: „Mit Gottes Hilfe ganz bald.“

Jede Kerze, die wir anzünden im Advent, liebe Gemeinde, ist ein Zeichen der Hoffnung gegen die Dunkelheit dieser Welt.

Der älteste Schwibbogen und die paradiesische Hoffnung

Und in Dresden, da gibt es ja nicht nur die Carolabrücke – Symbol der Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit.Hier im Museum für Sächsische Volkskunst gibt es z.B. auch noch den ältesten Schwibbogen der Welt. Er stammt aus Johanngeorgenstadt aus dem Jahr 1740 – und zeigt in der Mitte Bergarbeiter (wie sie sich bis heute auf vielen Schwibbögen finden). Interessant ist aber vor allem: Rechts und links zeigt er Adam und Eva – im Paradies. Er zeigt den Baum, von dem die beiden aßen – von der verbotenen Frucht. Er zeigt, dass unser Leben jenseits des Paradieses verläuft. Aber da ist auch ein Engel zu sehen, der einen Schlüssel in der Hand hält und diesen den Bergleuten bringt. Denn: „Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis …“ Das zeigt der Schwibbogen. Weihnachten, da öffnet sich für einen Moment das Paradies wieder neu. Und jede der – interessanterweise – elf Kerzen, die auf dem Bogen brennen, weist genau darauf hin: auf den Gott der Hoffnung und auf Christus, der die Verheißungen bestätigt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Heilige Wege

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

 

„Kopf hoch!“ Oft ist das eine hilflose Floskel, die uns gegenüber einem tief niedergeschlagenen Menschen aus Verlegenheit, weil wir nichts Besseres zu sagen wissen, über die Lippen geht. Aber eben nicht immer! Es kann auch eine passende Ermutigung sein, wenn man vor lauter Elend oder Traurigkeit sich immer mehr in sich vergräbt und nur noch eine Runde nach der anderen um sich selbst dreht. In diesem guten, hilfreichen Sinn ist der 2. Advent der Kopf-hoch-Sonntag im Kirchenjahr. Denn er ist unlöslich mit der Aufforderung Jesu des heutigen Wochenspruchs verbunden: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil eure Erlösung nahe ist“ (Lk 21,28). Also: Kopf hoch! Dass Gott nicht in majestätischer Entrücktheit bei sich selber verbleibt, sondern sich auf den weiten Weg macht zu uns, will uns sagen: Bei allem, was uns auch in diesen adventlichen Wochen niederdrücken kann, es gibt dennoch keinen Grund, nur noch nach unten oder in mich selber zu sehen. Seht auf, erhobenen Hauptes, weil Hilfe, ja Erlösung nahe ist! Das ist auch die Botschaft unseres heutigen Predigttextes aus dem Propheten Jesaja.

I.

Gott kommt: Die Erwartung darauf will der Prophet wecken, auch bei Müden und Gebeugten, die nur noch Angst und weiche Knie kennen. Das Volk Israel hatte eine bleierne Zeit hinter sich: ein über 50 Jahre währendes Zwangsexil in Babylon. Man kann sich das vorstellen wie bei denen, die nach jahrelanger russischer Gefangenschaft in den 1950er Jahren heimgekehrt waren. Die Folgen jener Zeit in der Fremde, die Traumata und Angst ließen viele dieser Spätheimkehrer nicht mehr los. Müde Menschen mit zerstörten Erwartungen gehen mit gesenktem Haupt und schleppendem Schritt. Sie können gar nicht mehr über das hinausblicken, was gerade Realität ist. Wie kann man Menschen erreichen, die über lauter enttäuschten Hoffnungen alle Spannkraft verloren haben?

In unserem, im Weltmaßstab, immer noch sehr stabilen, wohlhabenden Land gibt es dennoch eine wachsende Zahl von Menschen, die sich – zu Recht oder nicht – abgehängt und von den „Eliten“ verraten fühlen. Die Globalisierung mit all ihren Begleiterscheinungen scheint viele tief zu verstören. Fällt meine Arbeitsstelle der Digitalisierung, dem Vordringen der KI, der Rezession zum Opfer? All dies erzeugt eine Grundstimmung, oszillierend zwischen depressiver Wehleidigkeit und wütender Aggression. Sie verdichtet sich in der Hochkonjunktur des Wortes „Heimat“. Lange mit Musikantenstadl, Schlagermusik und Trachtenjanker konnotiert, also eher im Spießbürgerwinkel gehalten, erlebt dieses Wort einen Boom. Auch das Bundesinnenministerium hat sich vor Jahren offiziell zum „Heimatministerium“ benannt. Heimat, das ist heute eine Chiffre für vieles, was sich mit einem idealen Leben verbindet. Heimat ist da, wo ich angstfrei leben kann. Wo ich wahrgenommen, wertgeschätzt bin. Wo das Fremde fern und das Vertraute nah ist. Wo ich der sein kann, der ich wirklich bin, oder doch sein will. Je schneller sich die Welt dreht und wandelt, desto stärker die Sehnsucht nach einer Alternative dazu. Nach Sicherheit, Überschaubarkeit, Frieden ohne Bedrohung und echter Freude. Bei aller Unvergleichbarkeit der Kontexte, hier liegt der Link zwischen den visionären Bildern, die der Prophet hier zeichnet, und den flirrenden Heimatfantasien unserer „postmodernen“ Welt

II.

All denen, die unerfüllte Sehnsucht müde und leer gemacht hat, ruft der Prophet zu: „Seid getrost, fürchtet euch nicht, da ist euer Gott.“ Mut versucht der Prophet in den Trostlosen zu wecken, indem er starke Bilder beschwört, die er dann in eine eigenartige Formulierung münden lässt: „Es wird Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Land. (…) Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten.“ Ein „heiliger Weg“ wird hier aufgezeigt. Seltsamer Ausdruck. Klingt so etwas katholisch für protestantischen Ohren. Aber es leuchtet ein, dass man einen heiligen Weg nur erhobenen Hauptes gehen kann. Das Heilige ist ja das schlechthin Andere, Besondere, das uns über uns selber hinaushebt. Deshalb: Kopf hoch! Im Licht der zwei Adventskerzen, die jetzt brennen, höre ich die prophetische Botschaft so: Gott führt uns aus der kleinteiligen Vorstellung heraus, wir seien in unserem Leben permanent Sachzwängen ausgesetzt. Die kleinkarierten Denkmuster werden auf einmal relativ, der Horizont weitet sich. „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Land.“ Die biblischen Verheißungen machen keine halben Sachen. Das sind Bilder von elementarer Kraft, die uns anrühren und unsere Seele nach oben ziehen können. Das, was wir sehen, erfahren, das kann noch nicht alles sein. Adventlich, also in der Erwartung leben, dass Gott zu uns unterwegs ist, das heißt, sich nicht an das Wahrnehmbare, Vorfindliche zu ketten, nach der törichten Devise „Ich glaube nur, was ich sehe“. Sondern das Wirkliche zu transzendieren, aus ihm heraus das Mögliche zu erfinden.

Eine solche Haltung, ja überhaupt Verheißungen, haben heute einen schweren Stand. Vor 50 Jahren, nach der Durchlüftung der muffig gewordenen Gesellschaft durch die 68er, wurde inflationär von Visionen geredet. Irgendwann ging das dem damaligen Bundeskanzler auf den Wecker, er bellte pampig: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“ Nun ja, mit der Zeit wurden wir bescheidener; statt Visionen wurde „Reform“ das neue Zauberwort. Inzwischen ist auch dieser Begriff ein Muster ohne Wert und geradezu verhasst. Jedes Spar- jedes Reduktionsprogramm wurde irgendwann hübsch in das so schick klingende Wort Reform verpackt: Hartz-Reform, Gesundheitsreform, Strukturreform allerorten, auch in der Kirche. Und inzwischen sogar eine Staatsreform.

Wenn Jesaja das Wasser in der Wüste und Ströme im dürren Land fließen sieht, dann sind damit keine hochfliegenden Utopien und Reformpläne gemeint. Die haben manchmal ja auch etwas Anmaßendes. Im Advent geht es nicht um unsere Zukunftsentwürfe, sondern eher darum, dass wir uns leerer, durchlässiger machen, um empfänglicher zu werden für Gottes Kommen. Erwartungsvoll, aufnahmebereit, geistesgegenwärtig, mit einem Wort: überraschungsoffen: das ist die Haltung des Advents. Und weil das auch eine Grundhaltung des Glaubens ist, ist es wahr, was der berühmte Karl Barth gesagt hat: „Für Christen ist nicht nur vor Weihnachten, sondern immer Advent.“ Deshalb kommen im Advent zwei Haltungen zueinander: steigende Vorfreude, und angespannte Vorbereitung. Wir sind doch deshalb in diesen Wochen so betriebsam, weil es diese Vorfreude ist, die uns munter macht. Weshalb wir über den „Weihnachtsstress“ auch nicht jammern sollten, sondern ihn als das nehmen, was er eigentlich ist: Eu-Stress, wie man heute sagt, Stress, der uns mehr Energie gibt als er nimmt. Wenn wir einen lieben Menschen bei uns erwarten, den wir ganz lange nicht mehr gesehen haben und auf dessen Besuch wir so richtig hinleben, dann lassen wir uns das ja auch viel Anstrengung in der Vorbereitung kosten, und tun das gerne. Hektik, Unruhe – und Besinnlichkeit, Stille: Beide gehören mit demselben Recht zur Adventszeit. Deshalb braucht es auch beides im Advent: offene, volle Geschäfte, und offene, volle Herzen.

III.

Abschließend ein Blitzlicht, das mir ein wenig erschließt, was das sein könnte mit diesem merkwürdigen „heiligen Weg“, von dem Jesaja spricht. Vor 14 Jahren lief in den Kinos ein französischer Film, der mich damals sehr berührt hat. „Von Menschen und Göttern“ war der Titel des mit internationalen Preisen überhäuften Streifens. Er erzählt die wahre Geschichte eines kleinen Konvents von Trappistenmönchen, die sich im algerischen Atlas-Gebirge niedergelassen hatten. Über viele Jahre leben sie in enger Nachbarschaft mit der einheimischen muslimischen Bevölkerung. Die Dorfbewohner konsultieren Bruder Luc, der Arzt ist, oder lassen sich von den Mönchen im Umgang mit den Behörden helfen. Aber dann kommen radikale Islamisten und machen die Gegend unsicher. Ihre Forderung: Alle Ausländer müssen hier weg! Als sie eine Gruppe kroatischer Arbeiter niedermetzeln, stellt sich für die Mönche die Frage: bleiben oder gehen? Das Angebot der Behörden, das Kloster militärisch zu bewachen, lehnen sie ab. Eine schwierige Zeit beginnt, in der die Mönche immer wieder abwägen zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Wunsch, die Menschen hier nicht im Stich zu lassen. Am Weihnachtstag tauchen islamistische Kämpfer auf und führen sieben Mönche ab; zwei können sich noch verstecken. Die sieben verschleppten Mönche werden später tot aufgefunden. Die stärkste Szene des Films ist der Vorabend vor der Verschleppung. Schweigend, wie es ihrer Regel entspricht, essen die Mönche miteinander. In dieser Mahlgemeinschaft scheint etwas auf, was das irdische Geschehen durchlässig macht für eine himmlische Wirklichkeit. Sie atmet den Frieden Christi, der all unser Tun und Verstehen übersteigt. Nach diesem Abend, fühlen sich die Brüder gestärkt: Was immer auch kommen mag, wir nehmen es aus Gottes Hand.

Dieses Bild, macht für mich anschaulich, was ein heiliger Weg sein könnte. Es ist ein zeitloser gewissermaßen, der aus dem Systemkarussell herausführt, weil ich ihn ohne Angst gehen kann, weil mich in der Tiefe nichts bedroht, ich mich nicht verteidigen, und nicht rechtfertigen muss. Weil ich ahne: ich kann gar nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand. Auf diesem Weg kann ich vielleicht doch erfahren, was in einem alten Adventschoral so ausgedrückt war: „Ewigkeit, in die Zeit, leuchte hell hinein! / Dass uns werde klein das Kleine, / und das Große groß erscheine.“ Dasselbe anders gesagt: Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt. Und darum: Kopf hoch!

 

Amen.

Komm, o Tod, du Schlafes Bruder…

Impuls zur Geistlichen Sonntagsmusik am Ewigkeitssonntag
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,

nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.

Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

 

Allein im Nebel tast‘ ich todentlang

und lass mich willig in das Dunkel treiben.

Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

 

Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr -

und die es trugen, mögen mir vergeben.

Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur;

doch mit dem Tod der anderen muss man leben.

 

Worte der Dichterin Mascha Kaléko – sie treffen die Gestimmtheit an diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr, der so novemberschwer ist wie kein anderer Tag. Jedenfalls für den Menschen, dem an diesem Tag die Seele erdenschwer ist vor Kummer, weil er/sie in diesem Jahr den geliebten Partner hat loslassen müssen, und ihn doch gar nicht loslassen will und kann.

„Seufzer, Tränen, Kummer, Not, / Ängstlichs Sehnen, Furcht und Tod / Nagen mein beklemmtes Herz, / Ich empfinde Jammer, Schmerz.“ So haben wir es vorhin in der ersten der vier Bach-Arien vernommen, die die Sopranistin Dorothea Wagner heute zu Gehör bringt. Diese Arie entstammt Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (BWV 21), die zu den größten, bewegendsten Kantaten gehört, die der Thomaskantor geschaffen hat. Bach hat sie zwar nicht für den heutigen Totensonntag komponiert - aber eigentlich passt sie heute absolut.

Den heutigen Totensonntag nennen die Kirchen, in der Sache treffender, aber womöglich weiter weg vom allgemeinen Empfinden, inzwischen Ewigkeitssonntag. In den Gottesdiensten an diesem Sonntag stehen die sog. „Letzten Dinge“ im Mittelpunkt. Es geht darum, dass das Leben endlich ist. Der 90. Psalm, der Bibeltext, der wie kein anderer die Vergänglichkeit alles Geschaffenen umkreist, macht die berühmte Aussage: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Mit unseren Worten: Lass nicht zu, dass wir den Gedanken an unseren Tod oft so gekonnt verdrängen; gib, dass wir ihm standhalten und Raum geben. An Wissen fehlt es ja nicht. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen. Nichts wird in der Zeitung aufmerksamer studiert als die täglichen Anzeigen, die uns vor Augen führen, dass keiner vor dem Tod sicher ist. Wir wissen, dass niemand von uns seinem Leben, wie es in der Bibel heißt, „eine Elle zusetzen“ kann.

Aber wissen, dass wir sterben müssen, und bedenken, dass wir sterben müssen: das ist nicht dasselbe. Wir sind immer wieder in der Gefahr, das Wissen zu verdrängen – damit es nicht zu einem Bedenken, dass wir sterben müssen, kommt. Wir versuchen immer wieder, unser alltägliches Leben so einzurichten, als gebe es den Tod nicht. Aber: „Der Tod ist groß / Wir sind die Seinen, / Lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Ja, wir können dem Tod kein Schnippchen schlagen. Er wartet auf uns alle. Soll er doch! Denn der Sieger über den Tod, Jesus Christus, wartet ja auch. Er wird da sein, wenn der Tod kommt. Und er kann und wird helfen – da, wo kein Mensch mehr helfen kann: Er hilft uns beim Sterben. Er ganz allein.

Michael Ende, der berühmte Kinder- und Jugendbuchautor, hat, was uns angesichts des Todes als Hoffnung bleibt, in dichterische Worte gekleidet. Nicht explizit christlich, aber doch zutiefst religiös:

Es gibt einen See in der Anderwelt,

drin sind alle Tränen vereint,

die irgend jemand hätt weinen sollen

und hat sie nicht geweint.

 

Es gibt ein Tal in der Anderwelt,

da gehen die Gelächter um,

die irgend jemand hätt lachen sollen

und blieb statt dessen stumm.

 

Es gibt ein Haus in der Anderwelt,

da wohnen wie Kinder beinand’

Gedanken, die wir hätten denken sollen

und waren’s nicht imstand.

 

Und Blumen blühn in der Anderwelt,

die sind aus Liebe gemacht,

die wir uns hätten geben sollen

und haben’s nicht vollbracht.

 

Und kommen wir einst in die Anderwelt,

viel Dunkles wir sonnenklar,

denn alles wartet dort auf uns,

was hier nicht möglich war.

 

Um dasselbe in die christliche Sprache der Barockzeit zu überragen, mit dem Schlusschoral aus Bachs berühmter Kreuzstabkantate (BWV 56):

Komm, o Tod, du Schlafes Bruder,

komm und führe mich nur fort.

Löse meines Schiffleins Ruder,

bringe mich an sichern Port

Es mag, wer da will, dich scheuen.

Du kannst mich vielmehr erfreuen.

Denn durch dich komm' ich herein

zu dem schönsten Jesulein.

 

Amen.

Media morte in vita sumus

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

 

Der Tod ist groß / Wir sind die Seinen / Lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Mit diesen wenigen Zeilen, großartig in ihrer elementaren Knappheit, bringt Rainer Maria Rilke die zeitlos gültige Menschenerfahrung auf den poetischen Punkt, die ein alter Hymnus so ausgedrückt hat: Media vita in morte sumus – Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.

I.

Das ist unheimlich, und macht Angst. Nicht nur Goethe, der sich nicht einmal fähig fühlte, die eigene Frau zu Grabe zu tragen, hatte lebenslang diese existentielle Todes-Furcht. Auch die Münchner Komiker-Original Karl Valentin war dafür stadtbekannt. Wo er nur konnte, ging er Friedhöfen, Beerdigungen und Leichenwagen aus dem Weg. Eines Tages rollt ein solches Gefährt hinter ihm her. Er biegt darauf in eine Seitenstraße ein. Der Kutscher macht sich einen Spaß daraus, ihm zu folgen. Wohin Karl Valentin auch abbiegt, der Kutscher kommt hinterher. Und als er schließlich zu laufen anfängt, beschleunigt auch der Kutscher die Gangart der Pferde.

Man kann darüber schmunzeln. Aber eigentlich ist das ein beklemmendes Bild: Ein Mann läuft durch die Straßen, aber es gelingt ihm nicht, den Totenwagen abzuschütteln. Das Bild beschreibt unsere Lage. Vom ersten Atemzug an verfolgt uns der Tod. Wir können viele Strategien erfinden, um vor ihm wegzulaufen. Aber letztlich ist es buchstäblich nur eine Frage der Zeit, wann er uns eingeholt hat. Jeder weiß das. Und doch fliehen wir. Warum eigentlich? Jeden Herbst erleben wir, wie sich die Blätter verfärben und zu Boden fallen. Werden und Vergehen, das eherne Gesetz aller Natur: eigentlich müsste uns der Tod als etwas Natürliches erscheinen. Aber das tut er nicht. Und er ist es auch nicht. Zu vieles reimt sich da einfach nicht zusammen. Unser Verlangen nach Dauerhaftigkeit, einem Stück Ewigkeit und der Schmerz des Abschieds. Unsere Sehnsucht nach Erfüllung und der Abbruch aller Beziehungen, den der Tod mit sich bringt. Unser Wissen um uns selbst - und die Frage, ob das alles irgendwann einfach nur ausgelöscht ist.

Nein, der Tod ist nicht unser Freund. Wenn wir manchmal davon sprechen, dass der Tod eines Menschen, der lange gelitten hat, „eine Erlösung“ war, dann ist das zwar ein stimmiges Empfinden. Aber eigentlich meint es nicht den Tod an sich, sondern das Sterben, das ein Ende mit dem elenden Leiden gemacht hat, und mit der quälenden Ohnmacht der anderen, die nichts mehr tun können. Der Tod als solcher bleibt unendlich schmerzhaft und bedrohlich. Weil er Beziehungslosigkeit bedeutet und bewirkt. Weil er stumm ist und stumm macht. Weil das „Nie mehr“ wie eine dunkle Wolke über allem steht. Deshalb ist der Tod nicht unser Freund, sondern unser Feind. Ich finde es gut, dass der Apostel Paulus das so klar gesagt hat: „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod“ (1. Kor 15,26).

Das ist eine zutiefst realistische Aussage. Weil sie beidem gerecht wird: uns Menschen, die wir Ohnmacht dem Tod gegenüber empfinden; und Gott, der anders als wir diese Übermacht des Todes brechen kann. Deshalb möchte ich gegenüber vielen auch christlichen Beschwichtigungen und Verharmlosungen daran festhalten, dass selbst der leidenschaftlichste, heftigste Protest gegen den Tod Gott als Schöpfer und Liebhaber des Lebens mehr ehrt als fromme Einverständnis- und Ergebenheitserklärungen zu Werden und Vergehen. Die Bibel verharmlost den Tod nicht. Er ist und bleibt für die biblischen Autoren im Wortsinn skandalös. Sie trennt den Menschen auch nicht wie es auch viele Gläubige tun in einen geistigen unsterblichen Teil, dem der Tod nichts anhaben kann, und einen leiblichen vergänglichen Teil, der dem Tod unterworfen ist. Für die Bibel ist der Mensch als Ganzer eine nicht aufteilbare Einheit.

II.

Deshalb betrifft uns der Tod auch immer ganz. Das macht ihn so unheimlich. Er scheint, nach allem menschlichen Ermessen, der unumschränkte Fürst dieser Welt zu sein. Aber der Glaube bestreitet ihm diese Herrschaft. Nur, wie realistisch ist das? In seinem berühmten Roman „Alexis Sorbas“ schildert der Schriftsteller Nikos Kazantzakis, wie sein Titelheld Furchtbares erlebt. Grausamkeit von Mitmenschen, der Tod von engen Freunden, schließlich der Zusammenbruch all seiner Pläne. Am Ende steht er da, unter der stechenden Sonne. Er könnte verzweifeln. Alexis aber tanzt Sirtaki. Und bestätigt mit diesem Tanz das Leben gegen alles, was es vernichten will. Mir imponiert dieser Protest gegen den Tod. Zugleich bin ich nicht sicher, ob es nicht auch lächerlich ist. Der Tanz des Alexis zur Beschwörung des Lebens könnte, auch wenn er das gar nicht merkt, schon der Anfang des Totentanzes sein, der am Ende auch ihn unrettbar mitzieht.

Geht es uns mit unserem Glauben auch so? Hat er einen festen Grund? Ist unsere Hoffnung auf die Auferstehung, die die Übermacht des Todes bricht, mehr, anderes als ein Totentanz? Die Worte, die Paulus in dem vorhin gehörten Predigttext aus dem Römerbrief findet, sprechen von diesem Grund. „Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. (…) Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei“. Große, berührende Worte. Aber auch steil! Paulus meint damit: Die Bilder, die man von uns gemacht hat, vergilben.

Der Einfluss, den wir ausgeübt haben, verblasst. Unser Name wird irgendwann einmal vergessen sein. Aber Gott vergisst uns nicht. Er hat, um es menschlich zu sagen, ein Elefantengedächtnis. Dem entfallen wir nicht. Das ist der Grund, weshalb der Glaube von der Auferstehung spricht. Wir tun das nicht, um die Härte und Bitterkeit des Todes zu verniedlichen oder sie durch Illusionen zu verdrängen. Wir wagen vielmehr, in dieser Welt des Todes vom Leben zu reden, weil wir uns darauf stellen, dass wir wie Paulus hier sagt bei allem, was geschieht, Gott gehören.

In Heidelberg, wo ich aufgewachsen bin, wurden wir als Kinder, wenn man unseren Nachnamen wissen wollte, in breitem Kurpfälzisch gefragt: „Wem g‘hersch’n du?“ Wem gehörst Du? Damit war die Familienzugehörigkeit gemeint. Solch ein „Gehören“ meint eben nichts Besitzanzeigendes. Zu einem Menschen gehören, und erst recht zu Gott gehören: da wird man nicht zum Objekt, dem Gutdünken des Besitzers ausgeliefert sondern da drückt sich aus, dass einer mit einem anderen sein Leben teilt. Wo solches geschieht, ist das etwas Geheimnisvolles und allemal Großes. Die Betroffenen selber staunen am meisten darüber. Junge Leute, wenn sie das Glück der Liebe erfahren, spüren das unmittelbar. Und ein älterer, selbst ein alter Mensch wird dann noch einmal den Jungen ähnlich, wenn ein anderer Mensch bereit ist, sein Leben mit ihm zu teilen. Dass ein Mensch sein Leben mit einem anderen teilen kann, das ist unser Geheimnis, unser großes Geheimnis. Aber als Menschen können wir unser Leben nur mit Lebenden teilen.

Sein Leben mit einem Toten teilen zu können: das ist Gottes Geheimnis. Und es gehört zu diesem Geheimnis, dass es sich in einer von so vielen Todesspuren durchzogenen Welt durchsetzen will. Seit Ostern teilt Gott sein Leben mit einem Menschen. Und dieser eine, Jesus Christus, will nicht der einzige sein. Er lebt, und wir sollen auch leben. Und dazu kann man sich nur beglückwünschen. Jesus Christus lebt. Die Welt könnte aufleben. Man könnte mit ihm leben. Denn über ihn, so sagt es Paulus im Römerbrief an anderer Stelle, „herrscht der Tod nicht mehr“ (Röm 6,9).

III.

Nicht mehr: das klingt nach Unwiderruflichkeit. Nicht mehr, das heißt oft genug: es ist aus. Menschen kennen sich nicht mehr. Generationen verstehen sich nicht mehr. Regierungen zerbrechen. Staaten verkehren nicht mehr miteinander. Regierungen zerbrechen, man redet nicht mehr mit-, sondern nur noch böse übereinander. Nicht mehr – das signalisiert den Abbruch von Beziehungen. Briefe werden verbrannt, Chats und Erinnerungen gelöscht. Nicht mehr – diese beiden Worte gehören zu den Begriffen aus dem Wörterbuch des Todes. „Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Denn der Tod herrscht ja nicht erst, wenn kein Mensch mehr helfen kann. Sondern schon dort beginnt seine vernichtende Herrschaft, wo man nicht mehr helfen will. Alten zum Beispiel, die nur noch nehmen und nicht mehr geben können. Nicht mehr helfen zu wollen ist tödlich. Und auch da herrscht der Tod bereits, wo man sich nicht mehr helfen lassen will, weil man der Hilfe mißtraut, oder weil man einfach zu stolz ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Weil man ein Menschen- und Selbstbild hat, mit dem es unvereinbar ist, auf andere angewiesen zu sein. Sich nicht helfen lassen ist tödlich.

Es stimmt ja nicht, dass der Tod erst dann da ist, wenn das Leben biologisch endet. Der Tod bemäntelt sich mit so vielen Gewändern. Immer wieder schleicht er sich ein bei uns, treibt sich herum, wo er nichts verloren hat. Wo Beziehungen zerbrechen, wo man kein Wort mehr füreinander hat, wo man am selben Tisch – vielleicht sogar im selben Bett – beziehungslos nebeneinander lebt, da hat sich der Tod eingeschlichen. Media vita in morte sumus Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben. Das ist unsere Geschichte. Eine alte Geschichte – Todesgeschichte.

Dagegen aber nun Paulus mit seinem Wording in unserem Text: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei“. Eine neue Geschichte Siegesgeschichte. Vom Sieg über den Tod erzählt sie, der uns so sichtbar beherrscht und irgendwann irgendwie auf uns alle wartet. Soll er doch! Denn der Sieger über den Tod, Jesus Christus, wartet ja auch. Er wird da sein, wenn der Tod kommt. Und er kann und wird helfen da, wo kein Mensch mehr helfen kann: Er hilft uns beim Sterben. Er ganz allein. „Darum wir leben oder wir sterben, sind wir des Herrn.“ Aber der Auferstandene ist nicht nur für das letzte Stündlein, sondern für alle Stunden unseres Lebens da. Wer im Tod hilft, der hilft erst recht im Leben. Er will auch in dem, was wir denken, reden und tun, Spuren seiner Auferstehung hinterlassen, Spuren, die nach vorn, in die Zukunft weisen: ihm hinterher.

Der Glaube, liebe Gemeinde, ist die deutlichste Spur des auferstandenen Jesus Christus. Und unsere Fragen, Zweifel, unsere tausend Bedenken der Glaube weist sie nicht ab, er nimmt sie alle mit, um sich unterwegs mit ihnen auseinanderzusetzen. Keine Frage, und sei sie noch so kritisch, wird dabei abgewiesen. Sie alle werden mit der Spur des Auferstandenen konfrontiert, der in seinem irdischen Leben all unseren Unglauben auf sich hat laden lassen und dafür gestorben ist.

„Der Tod ist groß / Wir sind die Seinen, / Lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / Wagt er zu weinen / Mitten in uns.“ Wohl wahr wenn wir uns selber leben. Wenn wir aber werden, was wir als Getaufte sind, nämlich solche, die einem anderen leben, dann lauten die Verse so:

Mein bist du!,
spricht der Tod
und will groß Meister sein.
Umsonst!
Mir hat mein Herr versprochen:
Du bist mein.
(Albrecht Goes)


Amen.

 

Visionärer Realismus

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen.“ Für die unter uns, die nicht mehr so jung sind, bewirkt dieses visionäre Bild von den zu einem lebensdienlichen Werkzeug umgeschmiedeten todbringenden Waffen viele Erinnerungen. Vor allem hier in der damaligen DDR hatte diese biblische Vision vor 40 Jahren eine ganz starke Wirkung: Die kirchliche Friedensbewegung ist letztlich aus dieser Losung entstanden. Die Worte „Schwerter zu Pflugscharen“ und der Verweis auf die Bibelstelle Micha 4,3 rahmten in einem berühmt gewordenen Bild die Gestalt eines kräftigen Schmieds, der den Hammer hebt, um ein an seinem unteren Ende schon in die Form eines Pflugs gebrachtes Schwert zu bearbeiten. Dem vor wenigen Wochen verstorbenen bekannten Theologen Friedrich Schorlemmer verdanken wir das ikonische Bild von dieser unvergessenen Aktion, die dieser glaubensmutige Pfarrer 1982 in Wittenberg initiiert hatte. Viele Jugendliche bekamen dadurch den Mut, die Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ als Aufnäher auf ihren Jacken zu tragen. Manche hat das den Schul- und Studienplatz gekostet. Da stand dann nicht, wie Helmut Schmidt mit seinem berühmt-berüchtigten Diktum über Visionen meinte, ein Arztbesuch an, sondern die Stasi vor der Tür. Der damalige Brandenburgische Bischof Gottfried Forck reagierte darauf auf seine wunderbare Art. Aus Solidarität zu den jungen Leuten zierte er seine Aktentasche mit diesem Aufnäher und erschien damit demonstrativ zu Terminen mit SED-Bossen.

I.

„Schwerter zu Pflugscharen“: Freilich hat das auch so etwas das Fluidum von Jutetasche und Jesuslatschen, Latzhosen und lila Tüchern. Was in den 1980er Jahren halt so en vogue war und meine Generation damals beeinflusst hat. Das klingt nach moralischer gegen militärische Aufrüstung, nach Betroffenheit, Entrüstung und, wie man es heute verächtlich nennt, „Gutmenschen“. Oder noch ungnädiger: „linksgrünversifft“. Gesichter der Friedensbewegung fallen einem ein: in der BRD Gerd Bastian und Petra Kelly etwa, das seltsame Paar aus grüner Aktivistin und Bundeswehrgeneral, die leidenschaftlich gegen die Raketen und für Abrüstung stritten und sich selbst ein so tragisches, gewaltsames Ende bereiteten. Hier in Ostdeutschland erinnern sich viele an kirchliche Friedensaktivisten wie Friedrich Schorlemmer oder hier in Sachsen Harald Bretschneider. Aber all das scheint aus der Zeit gefallen — nicht erst seit dem 24. Februar 2022, als wir, wie es die Außenministerin damals sagte, morgens in einer anderen Welt aufgewacht waren. Die Weichen weg vom Pazifismus waren schon lange vorher gestellt. Aus „Nie wieder Krieg“ wurde vor 25 Jahren „Nie wieder Auschwitz“, wie Joschka Fischer es 1999 beim NATO-Einsatz gegen Milosevics Völkermord als Parole ausgab. Eine moralisch aufgeladene Rechtfertigung von Auslandseinsätze deutscher Soldaten. Das Problem hatte bereits Dietrich Bonhoeffer beschäftigt. Kann man die Hände in pazifistischer Unschuld waschen, wenn das Naziregime mit industrieller Präzision Juden ausrottet? Bonhoeffer kam für sich nach langem inneren Ringen zur Antwort: Nein, man muss dem mörderischen Rad in die Speichen greifen. Konnte man vor 10 Jahren die Hände in pazifistischer Unschuld waschen, als damals der „Islamische Staat“ Christen, Jesiden und andere abschlachtete? Kann man es jetzt, wenn russische Raketen und Drohnen auf Krankenhäuser, Kindergärten und andere zivile Ziele gelenkt werden? Margot Käßmann sagt Ja, Wolfgang Huber sagt Nein. Unsere Kirche hat da keine einheitliche Linie. Auch das ist evangelische Freiheit.

Muss der Prophet Micha nun zum Arzt? Oder muss man Helmut Schmidt, die ihn wohl da hin geschickt hätte, entgegenhalten, was in den Sprüchen Salomos zu lesen ist: „Ohne prophetische Weisung wird ein Volk zügellos“ (Spr 28,18). Ginge es uns besser, wenn wir in den Kirchen die Visionen der Propheten oder die Gewaltlosigkeit Jesu als lebensfremd ad acta legen? Ginge es der Politik besser, wenn sie sich nicht mehr mit einer Verheißung auseinandersetzen müsste, mit der Micha vor 2.800 Jahren Israels Führung warnen wollte, die Gewaltpolitik zu kopieren, deren Opfer Israel im Machtkampf mit den Assyrern und Babyloniern geworden war? „Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Eines hätten doch wohl auch die „Verantwortungsethiker“ von Bismarck bis Schmidt nicht bestritten: Ohne Visionen können Menschen auf Dauer nicht sein. Ohne furchtlosen Nonkonformisten wird gesellschaftliches Leben starr. So hat denn unser früherer Bundespräsident Johannes Rau, ein tiefgläubiger Protestant, die Meinung, man könne mit der Bergpredigt keine Politik machen, lapidar so kommentiert: „Ohne die Bergpredigt könnte ich noch weniger Politik machen.“

II.


Natürlich: Was Micha hier als Vision formuliert, wird weder morgen noch übermorgen Wirklichkeit sein. Und ganz gewiss wird es nicht erreicht durch die Mittel, die Micha mit seiner Vision abräumt: Waffen und Kriegshandlungen. An dieser Stelle kommt man in diesen Zeiten um ein Wort nicht herum zu der besonders in Ostdeutschland heftig umstrittenen Frage nach Waffenhilfe für die Ukraine. Klar muss sein: Hierbei geht es nicht darum, einen dauerhaften Frieden in Osteuropa zu schaffen. Das gelingt, wenn überhaupt, immer nur mit Diplomatie. Es geht allein darum, ob man unter dem egoistischen Motto „Was geht es uns an? Das ist nicht unser Krieg!“ tatenlos zusieht, wie ein Land, das im Vergleich zu seinem Nachbarn ein David ist, in seiner Existenz vernichtet wird, oder ob man auch hier dem mörderischen Rad in die Speichen greift und einem souveränen europäischen Staat hilft, seine Existenz zu retten. Schillers Wort „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ ist ja leider wahr. Wir leben nun einmal, theologisch ausgedrückt, diesseits von Eden, in der noch unerlösten Welt. Pazifismus, der unbedingte Verzicht auf Waffengewalt, ist in ihr eine moralisch hoch respektable Haltung — aber sie kann immer nur eine ganz persönliche sein. Und: man muss sie sich leisten können. Sahra Wagenknecht kann sie sich leisten. Die Ukrainer, brutal überfallen, nicht. Von dem Willen der Menschen dort, ein unabhängiges Land zu bleiben, ihre eigene Kultur zu retten, davon erzählt unsere aktuelle Ausstellung „Stronger than bombs“, um die es nachher noch einmal gehen wird. Wer sind wir, dass wir diesem Volk aus unserem bequemen Sessel ausrichten, es möge jetzt endlich friedlich werden, die Waffen aus der Hand legen und sich mit Putins Leuten an den Tisch setzen (und dann über denselben ziehen lassen)? Das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ schließt doch auch das Gebot ein: Du sollst nicht töten lassen! Viele bei uns sagen, wir würden uns durch Waffenlieferungen schuldig machen. Aber werden wir nicht erst recht schuldig, wenn wir durch verweigerte Hilfe die Ukraine dem bösen Nachbarn überlassen? Wer kann das verantworten? —

Es gilt aber eben auch: nur mit einer solchen Vision — darin waren Micha und Jesaja gewiss — werden wir ausbrechen können aus der Kurzsichtigkeit, die uns bis heute Kriege und Gewaltexzesse beschert. Si vis pacem para bellum — Willst du Frieden sichern, musst du den Krieg vorbereiten. Seit über 2.000 Jahren muss dieser Satz von Cicero dafür herhalten, die Notwendigkeit von Rüstung und Militär zu rechtfertigen. Die Frage ist nun: wollen wir uns weiter in diesem Teufelskreis bewegen, wollen wir uns weiter zu Sklaven einer Naturgesetzlichkeit des Krieges machen und die prophetischen Visionen als naiv und weltfremd abtun? Micha stand vor dieser Frage. Er sieht den Druck der realen Bedrohung Israels durch die mächtigen Assyrer im Osten. Und er analysiert die Lage sehr nüchtern: wer im Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt verbleibt, wird zwar — möglicherweise — kurzfristig Machtverhältnisse verändern können. Aber er geht nicht an die Wurzel, die wirklichen Ursachen von Gewalt und Krieg. Denn er lässt außer Acht, was Gott dieser Welt, seiner Schöpfung verheißt. Darum schaut Micha die Wirklichkeit von der Zukunft her an — und sieht in diesem visionären Blick nicht den Ausfluss eines krankhaften Denkens, sondern die einzige Möglichkeit, sich aus den krankhaften Mechanismen der Gewaltpolitik zu befreien.

III.

Micha erzählt vom endzeitlichen Handeln Gottes, mit dem er seine Herrschaft auf Erden durchsetzt. Ein wuchtiges Geschehen bis ins Geologische. Der Jerusalemer Zionsberg ist tatsächlich nur ein Hügelchen, er wird schon vom gegenüberliegenden Ölberg überragt. Einmal aber, so sieht Micha, wird der Zion ein geschichtemachender Everest sein. Das Dach der Welt, auf dem Gottes Thron steht, an dem die Völker nicht vorbeikommen. „Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.“ Gott rüstet also seine Menschen ab, indem er sie aufrüstet mit Sicheln, Rebmessern und Pflugscharen. Der Prophet malt das Bild einer Zukunft, die frei ist von Schrecken und Angst. Keine Völkergemeinschaft mehr, die naturgesetzlich dazu verurteilt wäre, einander zu vernichten. Er setzt sein ganzes Vertrauen auf Gott, der am Ende der Tage für einen Ausgleich unter den Völkern sorgen und die Waffen zum Schweigen bringen wird. Micha widerspricht allen religiösen Endzeitvorstellungen, die zur Rechtfertigung für terroristische oder kriegerische Gewaltexzesse herhalten müssen — wie wir das Mal um Mal von islamistischer Seite erleben, vor 13 Jahren aber auch christlich motiviert, bei dem Massenmörder von Oslo Anders Breivik.

Und doch werden weiterhin viele sagen: das sind klebrigsüße Phantastereien! Die kann man sich in vielleicht in der Kirche leisten, die die Menschen ja zu Gott und zum Seelenheil führen soll — die Welt möge man damit bitte verschonen. Ja: wer die letzten Jahre erinnert, der mag über solche Bibelworte nur müde lächeln. Aber wir wissen doch aus eigenem Erleben, wie vergiftend sich Müdigkeit und Sarkasmus auswirken können, wenn sie sich in uns breitmachen. Das schafft eine Befindlichkeit in uns, die uns irgendwann wirklich zum Arzt bringen kann. Darum hat es und wird es immer Christen, Gemeinden, Kirchen geben, die vor aller sog. Realpolitik an dieser Botschaft Maß nehmen, und nicht bereit sind, sich auf das angebliche Dogma von der Unvermeidlichkeit kriegerischer Gewalt einzulassen. Denn wenn wir in die Geschichte blicken: von wem sind die echten Umwälzungen, Erneuerungen ausgegangen, die Leben ermöglicht haben? Nicht von den Waffen strotzenden Mächten, sondern von den Friedenskräften, von denen, die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet haben und die Menschen und Völker zusammenführen.

IV.


Das gilt für die friedliche Revolution 1989, es gilt für den Fall der Mauer, deren Bau vor 63 Jahren auch zu einem Weltkrieg hätte führen können, die aber schließlich nicht durch Bomben zerstört, sondern von Menschen friedlich abgetragen wurde. Und es gilt etwa für das Wirken von Nelson Mandela in Südafrika und von Gandhi in Indien. Es gilt für die kleinen, ungenannten Friedensgruppen im Nahen Osten, die abseits der Scheinwerferlichter Brücken zwischen verfeindeten Menschengruppen bauen. Es gilt für die Norweger, die sich nach dem Massaker auf Utoya bewusst zu dem bekannt haben, was Anders Breivik zerstören wollte: ein Miteinander verschiedener Kulturen und Religionen. Es gilt für Daniel Barenboim, der mit seinem „West-östlichen Diwan-Orchester“ aus jungen israelischen und palästinensischen Musikern an der waffenstrotzenden Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea Beethovens Neunte aufführte.

Angesichts solchen visionären Handelns in der Wirklichkeit stellt sich die Frage: wer muss wohl zum Arzt? Wer muss geheilt werden? Wirklich ein Barenboim oder ein Gandhi, ein Micha oder ein Jesus (auch wenn der sogar von seiner eigenen Familie für krank erklärt wurde)? Es ist ein Glück, dass wir die Bibel mit ihrem roten Faden der Gewaltlosigkeit haben, die uns inmitten einer kriegerischen Welt die Vision von einem Frieden zwischen den Völkern, von einem gerechten Miteinander der Verschiedenen zuspielt. Und so bleibt uns als Kirche alternativlos vor die Füße gelegt, wozu wir von Jesus gerufen werden: „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen“. Solche können wir werden, wenn wir uns Gott zuwenden, seine Gebote nicht überfahren, und wenn wir zuerst und zuletzt an dem Maß nehmen, der uns nicht nur friedensfähig macht, sondern selbst unser Friede ist: Jesus Christus.

 

Amen.

 

Glaube und Politik

Predigt gehalten von Pastorin Andrea Wagner-Pinggéra Theologische Geschäftsführerin der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal

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Liebe Schwestern und Brüder!

Glaube und Politik, Kirche und Staat. Darum soll es heute gehen. Ist ja nur allzu naheliegend. Übermorgen wird in den USA gewählt – Schicksalswahl. Die politische Stimmung ist erhitzt wie selten. Nicht nur in den USA. Auch bei uns. Glaube und Politik. Das ist nun weder ein Randthema, noch eines, das nebenbei abgehandelt werden könnte. Vielmehr ist es ganz wesentlich. Verbirgt sich doch dahinter auch die Frage, wie politisch die Kirche sein kann, darf, sein soll. Auch so eine Frage, die die Gemüter erhitzt. Menschen zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen kommen lässt. Die einen sagen: Die Kirche versteht nichts von Politik. Sie ist für religiöse, spirituelle, existenzielle, kulturelle Fragen zuständig. Damit hat sie genug zu tun und dabei soll sie auch bleiben. Andere halten die Botschaft Jesu, die Botschaft der Bibel im Ganzen für so eminent politisch, dass für sie die Kirche gar nicht anders kann als politisch zu sein.

Nun wird man zumindest sagen müssen, dass Jesus (die Bibel überhaupt) sich politischer Äußerungen nicht enthält. Das heutige Evangelium zeigt dies: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Und Gott, was Gottes ist!“ Das ist eine klare politische Aussage. Deutlich. Geradeaus. Es braucht den Staat, um das Zusammenleben zu gewährleisten. Ihm muss man Tribut zollen, im Sinne des eigenen Beitrags Steuern zahlen. Gleichzeitig hat der Staat aber eine deutliche Grenze. Was einen Menschen zutiefst und unbedingt angeht. Da hat er nichts zu suchen. Wenn der Staat Verehrung, Unterwerfung gar fordert, sind alle Grenzen überschritten. Das ist es, was Jesus mit wenigen Worten sagt.

Ähnlich deutlich, was die Grenze zwischen Glauben und Staat angeht, ist der Apostel Petrus. Vom Rat der Stadt Jerusalem wird er hart zur Rede gestellt, warum er trotz des unmissverständlichen Verbots zu predigen, genau dieses tut: öffentlich von Jesus reden. Die Antwort von Petrus: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Ganz schlicht, überraschend und unmissverständlich. Jesus. Petrus. Was sie sagen, legt eine eindeutige Distanz nahe. Der Staat muss in die Grenzen gewiesen werden um des Glaubens willen.

Hier die Kirche – dort die Politik. Wäre es so einfach, wären wir nun fertig. Allerdings, Sie ahnen es: Ganz so simpel ist es nicht. Einen völlig anderen Ton nämlich schlägt der Apostel Paulus an im Brief an die Gemeinde in Rom. Da heißt es im 13. Kapitel, dem heutigen Predigttext:
„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.“ 
„Jedermann sei untertan der Obrigkeit“. Wenn ich die Augen zumache und diese Worte höre, wähne ich mich im 19. Jahrhundert. Männer in schwarzen Anzügen und Vatermördern. Backenbärten und Monokel. Beflissen, humorlos.

„Untertan“, „Obrigkeit“: Da spricht das alte Preußen. Mit dem die Sachsen und Bayern immer ziemlich gefremdelt haben. Und so ihre Schwierigkeiten hatten; auch wenn sie genauso obrigkeitshörig und untertan gewesen sind. Ein Staat, der seine Untertanen streng und kleinlich reglementiert, die Meinung der Bürger unterdrückt. Am liebsten gleich verbietet. Der auf die homogene Masse zielt, die sich leicht beherrschen und lenken lässt. Das ist natürlich ziemlich pointiert, womöglich überspitzt. Aber diesen Staat hat es gegeben. Im 19. Jahrhundert. Mit einem kleinen Intermezzo in der Weimarer Republik. Bruchlos perfektioniert in den autoritären Staaten im 20. Jhdt auf deutschem Boden: der NS-Diktatur und dem SED-Staat.

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit – sie ist Gottes Dienerin“. Spätestens seit dem Ende des Nationalsozialismus klingt dieser Satz deswegen entsetzlich falsch. Denn wer behauptet, dass dieser Staat von Gott eingesetzt gewesen sein sollte, muss entweder ein Zyniker sein oder ein völlig verdrehtes Bild von Gott haben. Also: Weg mit Römer 13, in die Mottenkiste der Geschichte? Oder muss man sich diesen Briefabschnitt ein bisschen genauer zu Gemüte führen, womöglich sogar ins griechische Original schauen? Überlegen, ob die Übersetzung in allem glücklich ist? Oder vielleicht auch einfach Spiegel ihrer Zeit?

Denn natürlich hat Martin Luther, dessen Übersetzung im Gottesdienst benutzt wird, auch seine Zeit und seine Sicht in die Übersetzung mit eingetragen. Seine Person blitzt in der Übersetzung durch jedes Knopfloch: Sein pessimistisches Menschenbild. Immer wieder verweist Luther auf die Schwäche, ja die Bosheit des Menschen. Unbedingt, und mit allen Mitteln, muss diese in ihre Schranken gewiesen werden, um Schlimmeres zu verhindern. Deswegen bedarf es starker Zuchtmeister. Allem voran den Staat. Davon ist er überzeugt. Gerade in seinen Schriften gegen die aufständigen Bauern der Bauernkriege nimmt er einen Ton an, der ohne Maß und Ziel die Grenze des Erträglichen übersteigt. In seinem Pamphlet „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ von 1525 haut er richtig drauf: "Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein. Das wusste Gott wohl; drum gab er der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert in die Hand… steche, schlage, würge hier, wer da kann. …“.

So brutal geht’s natürlich nicht! Denn der Weg von rohen Worten zu rohen Taten ist ein kurzer! Auch wenn zum Zeitpunkt der Bauerkriege das Neue Testament bereits übersetzt war, kann man davon ausgehen, dass Luthers pessimistisches Menschenbild bereits gefestigt ist. „Jedermann sei der Obrigkeit untertan. Sie ist Gottes Dienerin, im Sinne einer Zuchtmeisterin. Dir zugut“. Dieser Gedanke ist Ausdruck von Luthers Menschenbild. Und seiner Sicht auf den – freilich vorneuzeitlichen – Staat.

Es scheint mir sinnvoll, die Entstehung des Römerbriefs in den Blick zu nehmen und ins Original zu schauen. Keine Sorge: Die Predigt gerät nun nicht zur Übersetzungsübung. Aber der wissenschaftliche Blick hilft. Also, in aller Kürze: Etwa um das Jahr 56 n.Chr. schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom. Er kennt die Gemeinde – wahrscheinlich eher: die Gemeinden – nicht persönlich. Da er vorhat, ins Zentrum der Macht – eben nach Rom – zu reisen, um dort zu missionieren, schreibt er einen Brief. Vorsichtshalber. Um sich anzukündigen. Um sich vorzustellen. Weniger sich selbst als vielmehr seine Mission. Was ihm theologisch wichtig ist. Den Spitzensatz kennen Sie alle: Wir sind gerechtigtfertigt von Gott, ohne eigenes Zutun, aus Gnaden. Das erkennt der Glaube.

Auf den theologischen Teil des Briefes folgt ein zweiter, in dem der Apostel ganz allgemein darlegt, wie er sich das Verhalten der Christusgläubigen vorstellt. Im täglichen Leben, in der Gemeinde, in der Welt. Hier kommt auch der Staat ins Spiel.
Wenn man das griechische Original zu Rate zieht, stellt man fest: Paulus spricht weder von der Obrigkeit noch vom untertan-sein. Vielmehr beschreibt er ganz schlicht, was heute als „staatliche“ Gewalt beschrieben wird. Im Sinne von Ordnung, gewährleistet durch Behörden und behördliches Handeln. Denken Sie nun bitte nicht an die deutsche Bürokratie, die Bürgerinnen und Bürger gelegentlich zur Verzweiflung treibt. Denken Sie lieber daran, dass es staatlicher Ordnungen bedarf, um ein Gemeinwesen zusammen und am Laufen zu halten. Gesetze, die Justiz, Polizei.

Selbstverständlich braucht der Staat auch Geld, um all das vorzuhalten und zu finanzieren. Deswegen – so der Apostel – ist es Christenpflicht, Steuern zu zahlen. Und zwar ohne Knurren und Murren. Sie merken: Hier spricht einer, der ein positives Bild vom Staat hat. Ausdrücklich ist hier nicht der tyrannische Staat gemeint, in dem Willkür und Terror herrschen. Menschen im ihres Glaubens und ihrer Überzeugung willen verfolgt werden. Im schlimmsten Fall getötet. Deswegen ist es müßig, darüber zu diskutieren, ob diese Zeilen auch für den autoritären Unrechtsstaat Geltung haben.

Nein! Natürlich nicht! Der Staat, der in allem, was er tut, Gott entgegensteht, darf nicht als Gottes Dienerin bezeichnet werden. Der Staat, der seine Aufgaben und Grenzen kennt: nur in dieser Weise kann positiv von der Obrigkeit in paulinischen Sinn gesprochen werden. In bemerkenswerter und bemerkenswert nüchterner Weise führt dies ein Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland aus. Es stammt aus der Mitte der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts. Noch immer – wahrscheinlich, weil es so nüchtern ist – ist es noch aktuell.

Es handelt sich um die Denkschrift mit dem Titel: „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“. Das erste und eindeutige Bekenntnis des deutschen Protestantismus zum freiheitlichen Staat, zur Demokratie. Wenngleich vor der Wiedervereinigung entstanden, ist es gesamtdeutsch gültig. Man neigt ja zum Vergessen: Die 80-er Jahre waren im Westen schwierige Jahre. Hohe Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Unsicherheit, Angst vor Aufrüstung und Krieg, Waldsterben und Zerstörung der Umwelt, kräftige politische Auseinandersetzungen.

In diesem Kontext entsteht diese Denkschrift, in deren Überlegungen und Ausführungen Römer 13 eine wesentliche Rolle spielen. Die Ordnungsaufgabe des demokratischenStaates. Das Recht des Staates, Gehorsam zu verlangen. Weil ein Gemeinwesen ohne Ordnung und die Akzeptanz verloren ist. Nicht alles, was der demokratische Staat entscheidet und fordert, muss kritiklos hingenommen werden. Jeder macht Fehler: jeder Mensch. Der Staat natürlich auch. Wer damit allerdings eine grundlegende Skepsis begründen möchte, liegt grundfalsch. Dass der Staat nicht perfekt ist und nicht alles in der Demokratie vollkommen – geschenkt. Das ist längst kein Grund, ihn zu verachten, zu verunglimpfen, ihn abzulehnen. Ganz im Gegenteil: Alle sind aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen. Aus Respekt vor dem Gemeinwesen Unterschiede auszuhalten und Konflikte angemessen auszutragen. Verantwortung. Respekt. Toleranz.

Das gilt für alle, die in der freiheitlichen Demokratie leben. Für Christinnen und Christen gilt in besonderer Weise, für Schwache zu sorgen und für sie einzutreten. Ihnen eine Stimme zu verleihen: Arme, Obdachlose, alte Menschen. Geflüchtete. Menschen mit Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen. Das gebietet die Nächstenliebe. Immer und überall vornehmste Pflicht von Christenmenschen. Diese Liebe zu anderen Menschen gebietet es auch, dass der Ton der politischen Auseinandersetzung weder grell noch zu schrill werden darf. Dort, wo er umschlägt in blanken Hass, der politische Gegner zum Feind wird – da ist die Demokratie selbst in Gefahr.

Soweit die Denkschrift der Evangelischen Kirche über die freiheitliche Demokratie. Die ihren Ausgang nimmt bei Römer 13. Viel wäre noch zu sagen. Wie das ist, wenn innerhalb der Kirche die Meinungen soweit auseinandergehen, dass die Gemeinschaft auf dem Spiel steht. Wo die Grenzen sind hinsichtlich der Vereinbarkeit von politischer Überzeugung und christlichem Glauben. Und die Antwort auf die Frage, ob die Kirche sich politisch äußern darf, soll, muss, werde ich Ihnen auch schuldig bleiben.

Sie können sich meine Meinung dazu denken. Manches habe ich angedeutet. Anderes lässt sich nur im Gespräch klären und schlecht von der Kanzel predigen. Für eine Gastpredigerin verbietet es sich ganz. So kann ich nur mit einem Plädoyer enden: Wenn Sie es nicht ohnehin tun – bleiben Sie im Gespräch über Gott und Welt, Glaube und Politik, Kirche und Staat. Um Gottes Willen. Und um all derer willen, für die wir Verantwortung tragen. Wie für dieses Kind, das heute getauft wird. Für das sich die Eltern eine gute Zukunft wünschen: Behütet vor allem Übel. Begleitet in ein lebenswertes Leben. In dem es sich entfalten kann. In einem Land, in dem sie irgendwann frei Verantwortung übernimmt.

Amen.

Im Anfang war das Wort

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

für die Christenheit ist der 31. Oktober immer noch ein sehr spezieller Tag. Der Reformationstag erinnert an den Ursprung der Kirchen, die sich im 16. Jahrhundert von der römisch-katholischen Kirche in einem langen, schmerzhaften, oft auch gewaltsamen Prozess abgespalten haben. Das ist die katholische Lesart dieses epochalen Geschehens. — Nach reformatorischem Selbstverständnis sind die damals entstandenen evangelischen Kirchen nur back to the roots, zu den Ursprüngen des Christlichen zurückgekehrt, von denen die katholische Kirche sich immer mehr entfernt hatte. So etwa war über Jahrhunderte der ziemlich unversöhnliche Sound zwischen den Konfessionen. — Vor sieben Jahren war dann das große Reformationsjubiläum. Hochfliegende Erwartungen daran, nach einem Neuaufbruch für Kirche und Glaube, haben sich nicht erfüllt. Leider. Eins aber ist anders, besser geworden. Man hat damals das Reformationsjubiläum entschlossen mit einem starken ökumenischen Akzent begangen, als gemeinsames Christusfest, und nicht wie über Jahrhunderte als Inszenierung eines protestantischen und dazu noch deutschnationalen Triumphalismus. Dadurch wurde jene fruchtlose Alternative „Reformation als Abspaltung vs. Reformation als Rückkehr zu den wahren Quellen“ einigermaßen überwunden. Gottseidank.

I.

Für die Weltgeschichte machende Reformation gilt in einem tiefen Sinn der erste Satz des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort.“ Gottes Wort nämlich, also die Bibel. Die stand am Beginn dessen, was wir Reformation nennen — und keine heldische „Tat“ von Martin Luther oder sonst wem. Auch nicht sein „Thesenanschlag“ an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg, obwohl diese Tat, weil sie so schön theatralisch war, als Auslöser der Reformation populär geworden ist. Aber was die 95 Thesen Luthers aussagten, war nichts anderes als die inhaltliche Konsequenz aus dem, was Luther im selben Jahr — 1517 — nach langem, ihn quälenden, kopfzerbrechenden Bibelstudium mit einem Mal befreiend aufgegangen war. Und zwar im Römerbrief des Apostels Paulus. Ein Abschnitt daraus bringt besonders verdichtet und elementar in Sprache, woran sich Luthers sog. „reformatorische Entdeckung“ entzündete. Es ist die Epistel des Reformationstages und heute auch der Predigttext.

Ein Jahr vor seinem Tod, 1545, schreibt Martin Luther einen sehr persönlichen Text — heute würde man sagen: eine Art Mission Statement —, in dem er auf 1517 zurückschaut: auf jenen Anfang, in dem das Wort war, und was das mit ihm gemacht hat. Eine längere Kostprobe daraus:

„Mit brennender Leidenschaft war ich davon besessen, Paulus im Brief an die Römer kennen zu lernen. Ein einziges Wort war mir bisher dabei im Wege: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart.‘ Denn ich hasste dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, weil ich durch den Brauch aller Lehrer unterwiesen war, es von der aktiven Gerechtigkeit, wie sie es nannten, zu verstehen, nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich heimlich gewaltig gegen ihn: Als ob es noch nicht genug wäre, dass die elenden und durch die Erbsünde ewig verlorenen Sünder durch das Gesetz der zehn Gebote mit jeder Art von Unglück beladen sind. Musste denn Gott auch noch durch das Evangelium Jammer auf Jammer häufen und uns seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen? So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an; ich dürstete zu wissen, was Paulus wollte.
Da erbarmte sich Gott meiner. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.‘ Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gnade lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben.‘ Da fühlte ich mich wie neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht.“

Soweit Martin Luther in diesem denk-würdigen Selbstzeugnis. Es kann beeindrucken wegen dieser Aufrichtigkeit mit sich selbst. Aber man spürt doch auch, wie irrsinnig breit der Graben zwischen heute und damals ist. Wovon redet der da? Überhaupt, das kann sich doch kein Mensch mehr vorstellen, dass uns ein Bibelwort so umhaut, das uns ist, als würde es uns ins Paradies eintreten lassen, als würden wir von einer gefühlten Hölle in den Himmel auf Erden gebeamt…

II.


Was war los zur Zeit Luthers und mit ihm selbst, dass es ihm so mit der Bibel erging? Der Erfurter Augustiner-Mönch fühlte sich immer mehr in die Enge getrieben — nicht von Menschen, sondern von Gott. Gott erschien ihm wie das, was für uns das Inbild eines guten, gerechten Richters ist: unbestechlich, cool und ohne Ansehen der Person strikt auf deren Taten bezogen, um diese so objektiv wie möglich juristisch zu beurteilen. Mit so einem Gottesbild konnte Luther Gott nur als gnadenlos erfahren. Er hatte in den Jahren im Kloster selbstquälerisch Askese geübt. Er zweifelte existenziell, ob Gott ihm wirklich gut sein könne, so ungut wie er sich selbst erlebte. So wollte er es Gott recht machen und sich vor Gott ins rechte Licht setzen. Er stand unter einem ungeheuren Rechtfertigungsdruck. Waschen, Fasten, Rosenkränze beten, Pilgern, Studieren, auf nacktem Fußboden schlafen. Geistliche Selbstoptimierung, buchstäblich bis zum Gehtnichtmehr.

Denn irgendwann spürt Luther: so geht es nicht mehr, ich kann es nicht mehr! Täglich aufs Neue empfindet er, dass er auf der Strecke bleibt: unendlich weit zurückbleibend hinter Gottes gefühlten Erwartungen an sein Frommsein. Und darüber wird alles finster in ihm. Er schreit nach einem ihm gnädigen Gott. Einem Gott, der ihm gerecht wird, wo er doch rund um die Uhr die Erfahrung macht Gott niemals (ge)recht werden zu können. Er hatte oft von Gottes Gerechtigkeit gehört. Sie war für Luther wie eine dunkle Maske, weil er sie sich nicht anders vorstellen konnte als nach irdischen Maßstäben, in denen die Gerechtigkeit nach dem Prinzip suum cuique, jedem das Seine läuft. So blieb ihm nur Hass auf Gott und Selbsthass wegen des gefühlten eigenen Dauerversagens.

Und da kommt mir der Graben zwischen Luther damals und mir heute gar nicht mehr breit vor. Stichwort Selbstoptimierung. Die hat sich von dem damaligen geistlichen Kontext eigentlich nur in den leiblichen verschoben. Beispiel Gesundheit: Wer raucht oder sich wenig bewegt oder täglich sein Glas Wein trinkt, braucht ein gnädiges Umfeld. Oder Ernährung: Wer nicht vegetarisch, besser noch vegan lebt, regional auswählt und verpackungsfrei einkauft, hat in bestimmten Milieus verloren. Oder Arbeit: Wer noch sagt, dass seine Arbeit ihn erfüllt, auch emotional, und dass ihn die Hingabe an seinen Beruf glücklich macht, erntet in dieser Zeit der „Work-Life-Balance“ ganz schnell Kopfschütteln. — Und jetzt noch mal eine Ebene tiefer gegraben: Wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, weiß ich ja, dass ich, so „wie ich bin“, Gott nicht von ferne gerecht werden kann. Ich werde ja oft genug nicht einmal meinen Nächsten gerecht! Dieses überall hin zerbrechliche Beziehungsgeflecht macht unser eigentliches Drama aus. Sein Kern ist wohl, dass ich mir selbst nicht gerecht werde. Meine Angst um ein gelingendes Leben. Mein manchmal zehrendes Verlangen nach Anerkennung, Glücklichsein. „Wer bin ich? Der oder jener? / Vor Menschen ein Heuchler / und vor mir selbst ein wehleidiger Schwächling?“, fragt sich Dietrich Bonhoeffer in der doppelten Dunkelheit der Gefängniszelle und der vergeblichen Suche nach dem eigenen Ich.

Mitten in dieser seelisch desaströsen Gemengelage, oder besser: aus ihr heraus macht Martin Luther 1517 dann diese große, grundstürzende Entdeckung seines Lebens, aus der alles, was wir mit dem Wort Reformation verbinden, erwachsen sollte. Im Anfang war das Wort: Obwohl Luther längst in Wittenberg Professor für Bibelwissenschaft ist, studiert er zum x-ten Mal den Römerbrief, so intensiv, als hätte er ihn noch nie gelesen. Wieder und wieder brütet er über einer für ihn dunklen Stelle aus dem 1. Kapitel. Dort sagt Paulus: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alles, die daran glauben. Denn darin wird offenbar die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘“ (Röm 1,16). Bis Luther aufgeht: Wenn in der Bibel von der Gerechtigkeit Gottes die Rede ist, dann ist damit gerade nicht gemeint, dass Gott ein unbestechlich gerechter Richter ist und ich mich darum bemühen muss, vor ihm untadelig dazustehen. Vielmehr ist gemeint: Gott macht mich überhaupt erst gerecht. Ohne jede von mir zu erfüllende Vorbedingung. Genau so, wie Paulus es zwei Kapitel danach, im heutigen Predigttext in Worte fasst: „Sie sind allesamt Sünder und nicht so, wie sie vor Gott sein könnten. So werden sie ohne Verdienst gerecht allein aus seiner Gnade durch die Erlösung, die Christus gebracht hat. (…) So halten wir nun dafür, dass der Menschen gerecht wird ohne Werke, allein durch den Glauben.“

III.


Für unser Verständnis von Recht und Gerechtigkeit klingt das allerdings obskur. Ich mache dazu einen Vergleich aus der Politik: Ein bisschen muss man sich das so vorstellen, als hätte bei dem Ende der 1990er Jahre laufenden Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen US-Präsidenten Clinton wegen jener schlüpfrigen Causa mit der „Praktikantin“ der Oberste Richter erklärt: „Du bist uns der rechte Präsident, weil wir dich, gerade so wie du als Mensch bist, in dieser Funktion wollen! Deine Eskapaden hindern mich nicht daran, dies höchstrichterlich festzustellen!“ Eine solche juristische Behandlung wäre ein Skandal gewesen. Denn das war eine Angelegenheit irdischer Gerechtigkeit, und die muss strikt ohne Ansehen der Person und ihrer Rolle urteilen. Auch ein Präsident darf nicht über dem Gesetz stehen. Deshalb wird Justitia mit verbundenen Augen dargestellt Aber in Sachen der himmlischen Gerechtigkeit gehen die Uhren anders! Eben dies hat Luther als überwältigenden Durchbruch in die Freiheit erfahren. Noch einmal der entscheidende Satz Luther aus seinem Selbstzeugnis: „Hier fühlte ich mich wie neugeboren, und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten.“ Er fühlt sich bis in die dunkelsten Abgründe des eigenen Selbst von Gott bejaht. Er entdeckt, dass es dieses Bejahtsein durch Gott gibt, längst vor allem eigenen Tun. Er erkennt, dass Gottes Gerechtigkeit spiegelverkehrt zur menschlichen Gerechtigkeit läuft, nämlich indem sie gerade nicht ohne Ansehen der Person zur Wahrheit kommt, sondern indem sie die von ihren Taten belastete Person voll ins Visier nimmt. Aber eben nicht mit zornigen, sondern mit liebenden Augen.

Das ist es, was ganz am Anfang den Christenfresser Saulus vor Damaskus, und 1.500 Jahre später Luther im Erfurter Kloster buchstäblich umgehauen hat. So läuft es eben bei Gott, und das macht den innersten Kern der Reformation aus: Er macht uns heil, ganz und schön — nicht weil wir das, so wie wir sind, verdient hätten, sondern einfach aus eigenem Gusto, aus Liebe. Den Augen der Liebe wird auch das unansehnlichste Du ein schönes Du. „Wenn du mich anblickst, werd‘ ich schön, / schön wie das Riedgras unterm Tau“ — heißt es in einem Gedicht der Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral. Dasselbe theologischer gesagt, mit einer von Luthers tiefsten Aussagen: „Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön wären, sondern die Sünder sind schön, weil sie von Gott geliebt sind“. Bei ihm also sind und bleiben wir geliebt, komme was will. Diese Würde kann uns keiner nehmen. Jeder von uns ist Gottes geliebtes Blümlein Rühr-mich-nicht-an!

 

Amen.

 

Predigt zum Abendgottesdienst des Kirchweihensonntags der Frauenkirche Dresden

Predigt gehalten von Superintendent Christian Behr

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Liebe Gemeinde,


der König Salomo baut dem Herrn, seinem Gott, dem Gott seines Volkes; unserem Gott (?) einen prächtigen Tempel.
Mit viel Zedernholz und viel Gold und viel Platz für viele Menschen.
Mittendrin das Allerheiligste als Wohnung Gottes. Dort kein Zugang für die vielen Menschen. Dort durfte nur der Hohepriester einmal im Jahr hinein. Das Allerheiligste — die Wohnung Gottes?!
Etwas skeptisch blieb selbst der König Salomo — und fragt: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen — wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“
Wozu dann der ganze Aufwand — wenn Gott sich doch nicht einfangen lässt in einem Haus — so prächtig es auch sein mag?
Wozu der Wiederaufbau der Frauenkirche? Wozu die prächtige Hofkirche in der Dekan Büchner mehr zu Hause ist? Wozu die etwas nüchterne große Kreuzkirche, in der ich mehr zu Hause bin?
Tempel des Geistes? Stätten der Hochkultur?
Das sind sie alle drei bestimmt auch. Und dazu nutzen sie viele Menschen. Die Dresdnerinnen und Dresdner, die Touristen. Die Fans des Chores der Frauenkirche oder die Fans der Kapellknaben oder die des Kreuzchores. Die Anhänger toller Kirchenmusik.
Es muss doch aber noch etwas anderes dahinterstecken, was wir suchen und hoffentlich auch manchmal finden?
Vor drei Wochen war ich mit einer größeren Pilgergruppe in Rom. Wir waren nicht zu Fuß dorthin gepilgert. Aber mit dem Bus langt es auch schon — 20 Stunden Busfahrt nach Rom auch eine kleine Büßerfahrt?!
Ein Tag war den vier päpstlichen Basiliken, den Hauptkirchen Roms gewidmet. Der Tag fing mit dem Besuch des Petersdoms an. Pracht und eindrückliche Größe. Auf der Scala der Größenverhältnisse anderer Kirchen zum Petersdom auf dessen Fußboden kommen die Dresdner Kirchen gar nicht vor. Die Frauenkirche könnte man wahrscheinlich in eine Ecke des Petersdoms stellen, ohne sie groß zu bemerken. Eindrücklich — die Niedrigkeit des Menschen vor der Größe — ja vor welcher Größe? Doch der Größe Gottes in diesem von Menschen gebauten Haus?
Es schlossen sich noch Santa Maria Maggiore, die Lateranbasilika und die Paulusbasilika „vor dem Mauern“ an. Danach waren alle Pilger doch etwas geplättet. Es war anstrengend — und es war schiere Größe, die uns hier begegnete. Mit sakraler Kunst und sakraler Wucht. Das Zentrum der Römisch–Katholischen Weltkirche.
Die Kirchen der Reformation stellten später Bänke in die Kirchen. Bauten Kanzeln für die Predigt — für die Lehre des Volkes. Besonders die reformierten Kirchen schmissen alle Kunst aus den Kirchen — alles was vermeintlich vom Wort Gottes ablenken konnte. Von der „reinen“ Begegnung mit dem Herrn der Welt. Der eben nicht in Tempeln und nicht in Kirchen wohnt?!

Die Grimmaer Gemeinde, wo wir viele Jahre lebten, hatte eine reformierte Partnergemeinde in Harmelen bei Utrecht. Die Kirche dort — ein schlichter moderner Zentralbau aus den siebziger Jahren. Ohne jeglichen Schmuck. Bei einer Begegnung vor Ort borgten wir den Niederländern einen religiösen Wandteppich von beeindruckender Größe. Nach einigen Wochen wollten sie ihn fast nicht wieder hergeben. Doch irgendwie auch schön, wenn Kirchen auch schön sind.
Wie eben die Frauenkirche. Oder die Hofkirche. Oder die Kreuzkirche. Oder Ihre Stadt— oder Dorfkirche! Und wenn sie nicht so schön sind, oder langsam der Zahn der Zeit an ihnen nagt, oder sie sogar vom Verfall bedroht sind — dann setzen sich die Menschen ein. Für „Ihre“ Kirche. Weil sie sie zur Identität im Ort benötigen. Weil sie sie auch für die eigene Identität brauchen. Aber wollen sie — wollen wir hier oder in anderen Kirchen Gott begegnen?! Suchen wir sie deshalb auch auf? Oder nur der Schönheit wegen; der Ruhe wegen; der guten Musik wegen?!
Vielleicht oder hoffentlich auch wegen des Gebetes, wegen des Wortes Gottes, das uns hier begegnen kann. Welches wir vielleicht zu Hause etwas vernachlässigen. Weil wir doch nicht immer daran denken, dem Wort und damit Gott dort zu begegnen, wo wir gerade sind. Deshalb doch auch diese Orte, weil sie uns an die Begegnung mit dem Heiligen, dem Numinosen, dem Fremden, dem Unergründlichen erinnern. Weil wir uns hier Zeiten und Orte schaffen, die uns auch an unsere eigene Stellung in der Welt erinnern. Die uns auch Demut im guten Sinne lehren können.
Aber — es ist eben nicht das Einzige. Es ersetzt nicht das Handeln. Es ersetzt nicht die anderen Arten der Begegnung mit Gott und mit den Menschen.
Im Lukasevangelium wird von der Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus berichtet. Der Abschnitt gehört auch mit zu den Texten zu Kirchweih. Nicht, weil es dort auch um den Tempel oder um große Kirchen oder Gebäude ginge. Nein — nachdem Zachäus sagt, dass er den von ihm angerichteten Schaden bei den Menschen wieder gut machen möchte — da sagt Jesus: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren!“ Das Öffnen der Herzen, die Begegnung mit den Menschen, das Hören auf Zuspruch, die Umkehr im Leben — das sind Momente des Heiligen. Auch die Frauenkirche ist nicht an sich ein Heiliger Ort. Auch der Altarraum hier oben ist nicht heiliger als andere Orte — auch wenn es die Erhöhung und güldene Abgrenzung fast suggeriert. Wenn, dann gilt eine Abgrenzung nur der Ordnung, aber nicht der Heiligung.
Die Predigt und die Lesungen gelten allen. Wir singen gemeinsam. Und beten miteinander zu Gott. Salomo betet: „Du wollest hören das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte betet und wollest erhören das Flehen deines Knechts und deines Volkes Israel, wenn sie hier bitten werden an dieser Stätte; und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein.“
Das Gebet hier hört Gott. Das Gebet am Morgen oder am Abend zu Hause — das hört Gott. Das Stoßgebet unterwegs — er wird es hören. Und damit sind diese Orte, an denen wir uns befinden genauso geheiligt wie diese Kirche.
Sie ist wiederum etwas besonderes dadurch, dass sich hier die communio sanctorum — die Gemeinde der Heiligen versammelt. Wenn sie das nicht mehr tut — ja dann wird auch diese Kirche, so schwer es uns innerlich fallen würde, eigentlich auch einfach ein profaner Ort.
Die Holländer haben dazu meist eine viel pragmatischer Einstellung als wir. Dort werden Kirchen, die nicht mehr von der Gemeinde genutzt werden, schneller umgenutzt, als bei uns. In der alten Kirche unserer Partnergemeinde, die einmal zu klein geworden war, zog bald ein Milchladen ein. Und ob sie die Kirche, die nun nach Jahrzehnten wiederum zu groß geworden ist, da die Gemeinde wieder kleiner geworden ist — ob sie diese Kirche noch halten als Gemeinde, weiß ich nicht.
Selbst Salomo erkannte, nachdem er den prachtvollen Tempel gebaut hatte, bzw. bauen ließ, dass er damit Gott nicht fassen kann. Auch wir  werden es nicht können. Aber wir können ihm immer wieder begegnen — an diesem schönen Ort und an vielen anderen schönen Orten der Welt — in Rom oder in Harmelen, in der Kirche oder im stillen Kämmerlein zu Hause. Er will sich von uns finden lassen.

 

Amen

 

Einseitige Abrüstung

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde!

Wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun dasselbe nicht auch die Heiden?“, fragt Jesus rhetorisch in diesem Predigttext. Wenn wir das ernst nehmen, heißt es: Der Friedensgruß, den ich gerade gesprochen habe, kann nicht nur uns als christliche Gemeinde gelten. Sondern Gnade und Friede auch der ganzen Welt! Gnade und Friede also auch denen, die davon nichts wissen wollen, weil sie gnaden— und friedlose Verhältnisse verantworten. Gnade also auch Putin in Moskau und den Bossen der Hamas in Gaza. Und Friede auch Erdogan in Ankara und Kim Jong-Un in Nordkorea, unter dessen Herrschaft die Menschen elend an Hunger sterben. Aber Gnade und Friede auch dem Menschen in meiner Nähe, der mir manchmal ganz schön zusetzt. Gnade und Friede ihnen allen von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.

I.

Jesus Christus erwartet also Besonderes. Das ist es, was seine Bergpredigt so provozierend macht. Und mit einer ganz besonderen Autorität wird hier ein Einspruch laut gegen das, was uns von vielen Autoritäten gesagt wird. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist — Ich aber sage euch...“ Wir, protestantisch bescheiden, halten dagegen: etwas Besonderes sein wollen? Als Christen? Wir werden doch gerade in der Bergpredigt zu Demut und Sanftmut aufgefordert. Es ist ja auch nicht freundlich gemeint, wenn wir von einem sagen: Der will etwas Besonderes sein! Verständlich also, dass es an Misstrauen gegenüber den im Namen Jesu versammelten Menschen nie gefehlt hat. Aber eigentlich ist das gut so. Denn immer, wenn dieses Misstrauen der Welt gegen die Kirche Jesu Christi fehlte, war mit der Kirche ganz bestimmt etwas nicht in Ordnung. Wie das konkret aussieht, kann man in Russland beobachten, wo die Orthodoxe Kirche zur kriegstreibenden, Hass verbreitenden Nationalkirche geworden ist.

Aber was ist denn nun das Besondere, das die Gemeinde Jesu in der Welt darstellen soll? Die Bergpredigt ist auch im tieferen Sinn eine Rede von einem Berg aus: Denn ihr Anspruch ist schwindelerregend hoch, er greift bis zum Himmel. „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“. Anders gesagt: Das Besondere, das die Kirche darstellen soll, ist Gott selbst. Seine Vollkommenheit soll unsere Vollkommenheit sein. So will es Jesus. Wer so ausgezeichnet ist, gerät aber unvermeidlich in einen Gegensatz zu dem, was er sonst auf Erden zu hören bekommt. Denn wer Gott selbst auf Erden darstellt, führt ja der Welt vor Augen, dass alle anderen Rollen, die auf Erden so gespielt werden, gegenüber diesem „Ich aber sage euch“ in Wahrheit ziemlich unwichtig sind. Das fing schon mit den frühen Christen an, die sich weigerten, den Kaiser in Rom als Gottheit zu verehren und diese Treue zum Ersten Gebot mit dem Leben bezahlen mussten. Und es ist bis 1989 bei vielen Christen hier so gewesen, die sich der Erziehung zum Hass auf den „Klassenfeind“ im Westen in den Schulen und im Waffendienst in der Volksarmee verweigert haben und dafür Ausgrenzung und gravierende berufliche Nachteile in Kauf nahmen.

II.

Und nun erwartet Jesus von uns diese riskante Darstellung von Gottes Vollkommenheit ausgerechnet im Blick auf Feinde und Verfolger. „Gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Und betet für eure Verfolger!“ Was für eine Zumutung: die Feinde lieben, für die beten, die mir ans Leben wollen! Wer das ernst nimmt, läuft Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden. Das mindeste ist, dass er, wie das heutzutage als „Gutmensch“ bezeichnet wird, und das ist nicht freundlich gemeint. Ich denke an den vor wenigen Monaten hochbetagt gestorbenen Berliner Pastor Uwe Holmer. Im Spätherbst 1989 nahm er die durch die Dynamiken der Wende wohnungslos gewordenen Honeckers bei sich im Pfarrhaus in Lobetal auf. Bei einer Pastorenfamilie also, die immer wieder unter den Diskriminierungen des DDR-Regimes gegen Christen gelitten hatte. Der Staat hatte sich hilflos an die Kirche gewandt, die er 40 Jahre lang bekämpft hatte, weil er selbst die Sicherheit der Honeckers vermeintlich nicht mehr garantieren konnten. Die Geschichte dieser denkwürdigen Wochen war vergangenes Jahr in einer eindrucksvollen Verfilmung im Fernsehen zu sehen. Mit den beklemmenden Szenen, wie sich ein pöbelnder Wutbürger-Mob vor dem Lobetaler Pfarrhaus zusammenrottete und eine Eskalation drohte. Da wurde er sehr konkret und anschaulich, der Gegensatz zur Welt, in den Christen geraten können, die die Bergpredigt ernst nehmen. — Oder ich denke an Angela Merkel. Immer wieder wurde sie seit der sog. Flüchtlingskrise 2015 als „Gutmensch“ beschimpft. Seltsame Logik: sind denen, die gegen „Gutmenschen“ sind, böse Menschen lieber?

Jedenfalls, wer Feindesliebe praktiziert, riskiert die Feindschaft anderer. Er macht sich angreifbar. Hanns-Dieter Hüsch, der evangelische Kabarettist, hat das Jesuswort so gedeutet: „Liebe deine Feinde — nichts wird sie mehr ärgern!“ So hat es Jesus wohl nicht gemeint. Aber Hüsch hat damit das Moment des Bezwingenden erfasst, das in der Feindesliebe liegt. Auch da können wir nach 1989 zurückdenken, an das berühmte Wort eines SED-Häuptlings nach der gewaltlosen Revolution: „Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet — nur nicht auf Kerzen und Gebete“.

III.

Aber Jesus meint es eben doch noch anders. Seine Feinde lieben heißt nicht, eine besonders raffinierte Gegenoffensive der Großmut und Sanftheit starten, sondern es heißt: dem, der mein Verderben will, ohne Rüstung und ohne Waffen entgegen gehen. Es heißt: ein Freund—Feind—Verhältnis einseitig für beendet erklären. Was wir ihnen gegenüber sagen und tun, soll eben nicht böse, auch nicht listig oder taktisch sein, sondern: liebevoll. Als christliche Gemeinde sind wir dazu aufgefordert. Das ist und bleibt eine Herausforderung sondergleichen an uns. Man kann verstehen, dass deshalb immer wieder bedeutende Politiker gesagt haben, man könne mit der Bergpredigt nicht in der Welt regieren. Bismarck, ein frommer Christ, der seine Tage mit den Losungen begann, hat das behauptet. Und in den 1980er Jahren auch Helmut Schmidt via Friedensbewegung.

Alle Erfahrung spricht dafür, ihnen Recht zu geben. Ich habe auch Zweifel, ob man mit der Bergpredigt Politik machen kann. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“: die Sentenz von Schiller bestätigt sich ja auf deprimierende Weise seit bald drei Jahren hier in Europa. Das hat auch die friedensethischen Positionen, die unsere Evangelische Kirche in der Vergangenheit entwickelt hat, schwer erschüttert. Uns ist neu bewusst geworden: Pazifismus, d.h. auch, mit Gewaltlosigkeit auf selbst erlittene Gewalt zu antworten: das ist eine Haltung, die man sich leisten können muss. Das Volk der Ukraine, brutal überfallen, kann sie sich nicht leisten. Und wer sind wir, dass wir diesem Volk von oben herab mitteilen, es möge jetzt doch bitte friedliebend werden, die Waffen aus der Hand legen und sich mit Putins Leuten an den Tisch setzen (bzw. von denen über denselben ziehen lassen)? Das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ schließt doch auch das Gebot ein: Du sollst nicht töten lassen. Wenn wir, wie besonders hierzulande viele sagen, uns durch Waffenlieferungen an die Ukraine schuldig machen, dann werden wir erst recht schuldig, wenn wir durch verweigerte Hilfe die Ukraine dem bösen Nachbarn überlassen. Wer kann das verantworten?

IV.

Ein weltfremder Phantast, ein naiver Gutmensch ist der Jesus der Bergpredigt jedenfalls nicht. Etwas in unserem Text lässt mich aufhorchen. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. M.a.W.: Gott selbst geht mit gutem Beispiel voran! Er gewährt der ganzen Welt, und nicht nur seinen Freunden, die nötigen Mittel zum Leben. So gibt er uns unaufdringlich zu verstehen, dass er nicht unser Vater sein will, ohne zugleich der Vater aller Menschen zu werden — auch derer, die gar nicht seine Kinder sein wollen. Was uns unmöglich erscheint, Gott leistet sich das: Nichts kann ihn darin beirren, dass er Gott der Vater ist, der für alle seine Kinder sorgt. Mit übermenschlicher, eben göttlicher Geduld bleibt er denen nah, die meinen, es ginge auch ohne ihn.

Aber das demonstriert er uns nicht nur natürlich, durch Sonnenschein und Regen, sondern erst recht höchst persönlich! An uns selber nämlich hat Gott anschaulich gemacht, was es heißt, seinen Feind zu lieben. Denn was ist die Gemeinde Jesu, was sind wir alle anderes als die Versammlung der begnadigten Feinde Gottes? Darauf will Jesus eigentlich hinaus: In ihr, der Christengemeinde, soll sich Gottes Feindesliebe darstellen. Das ist das Besondere, worin wir uns von der Welt unterscheiden. Und deshalb ist diese Aufforderung nicht eine Zumutung, sondern eine Auszeichnung. Warum? Weil Gott ja selbst das an uns vorgemacht hat, was es heißt, ein Freund—Feind—Verhältnis einseitig für beendet zu erklären. Das hat er nicht mit großen Worten proklamiert. Sondern er hat es an sich selbst erlitten, was das heißt: seine Feinde lieben und für seine Peiniger beten. „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“: Am Kreuz wird Feindesliebe konkret. Da sieht man, was einseitige Abrüstung ist. Das ganze Neue Testament ist eine große Abrüstungsverlautbarung.

Liebe Schwestern und Brüder: So wie Sonne und Regen natürliche Gleichnisse für Gottes Liebe zu allen Menschenkindern sind, so soll unser Leben als Christen ein persönliches Gleichnis für Gott sein. Und so grüßt die Gemeinde Jesu als die Versammlung der begnadigten, ja geliebten Feinde Gottes die feindliche oder gleichgültige Welt und wünscht ihr das, was sie wirklich braucht: nämlich Gnade und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn und Bruder Jesus Christus.

 

 

Amen.

Gott schreibt mit unserem Fleisch und Blut

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

vor einiger Zeit habe ich sie mal hervorgeholt, die alten Briefe, die ich vor 40 Jahren von meiner damaligen Freundin erhielt. Wir studierten damals an weit voneinander entfernten Orten. Jede Woche schrieben wir uns bis drei Mal, immer mehrere handgeschriebene Seiten. Telefonieren war zu teuer für unsere kargen Studentenbudgets, und hätten wir uns damals so etwas wie digitale Kommunikation ausmalen können, wäre uns das wie Science-Fiction vorgekommen. Als ich die alten Briefe jener Freundin nun mal wieder in der Hand hielt, hat mich am meisten bewegt, dass mir das wie aus einer anderen, komplett untergegangenen Welt vorkam. Und wenn mich heute mal noch ein persönlicher Brief erreicht, dann empfinde ich fast ein bisschen Herzklopfen. Weil das so selten geworden ist, und mich irgendwie in jene längst vergangene Zeit zurück beamt.

I.

Der heutige Predigttext beginnt mit einem eigenartigen Satz: „Es ist offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid.“ Menschen werden mit einem Brief verglichen! Was meint Paulus damit? Das hat mit sog. Wanderpropheten zu tun, die sich durch Empfehlungsbriefe von den Gemeinden ihre geistliche Kompetenz bescheinigen und auch ganz gut bezahlen lassen. Kompetenz meint hier ein Gesamtpaket ihrer Performance, wie wir heute sagen. Geschliffene Rhetorik, charismatische Ausstrahlung, auch die rhetorische Fähigkeit, die Leute emotional mitzureißen. Solche Leute schlugen auch in der jungen Christengemeinde in der pulsierenden Hafenstadt Korinth auf. Sie machten dort ganz schön Furore – brachten aber auch Unfrieden in die Gemeinde, weil sich um die einzelnen Wanderpropheten regelrechte Fanclubs bildeten, die einander alles andere als grün waren. Paulus weist diese Typen schroff zurück. Er macht geltend, dass er seine Kompetenz von Gott bekommen hat, und zwar in der Aufforderung zum Dienen. Sein Empfehlungsbrief ist die Gemeinde selbst. Er ist verfasst „nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“. Der Inhalt dieser Niederschrift ist die von Paulus gegründete korinthische Gemeinde.

Und weil nicht wir die eigentlichen Autoren unserer Lebensgeschichte sind, nennt Paulus uns einen Brief. Christus hat unsere Lebensgeschichte geschrieben. Darum sind wir ein Brief von ihm. Nicht auf Ton- oder Steintafeln, nicht auf Pergament oder Papier, sondern in die Herzen geschrieben. Das ist ein kühnes Bild, wenn Paulus die Gemeinde, also auch uns, einen Brief von Christus an alle Menschen nennt. Es gibt das Bonmot: „Wir sind die einzige Bibel, die heute noch gelesen wird. Aber leider ist das eine ganz schlechte Übersetzung.“ Wir müssen keine super Glaubensvorbilder sein. Mit unseren Fehlern und Peinlichkeiten, mit unserem Scheitern können wir, meint Paulus, dennoch ein Brief Christi sein. „Meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung“, schreibt Paulus einige Kapitel später (2. Kor12,3).

II.

Ich habe mich oft gefragt, warum Jesus, als er auf Erden war, nicht einen einzigen Satz aufgeschrieben hat, um ihn der Nachwelt zu überliefern. Das hätten wir garantiert anders gemacht. Wir hätten doch, was uns wirklich wichtig ist, für die Kinder und Enkel aufgeschrieben. So aber ist uns alles, was Gott uns durch Christus sagen wollte, nur durch das Zeugnis der ersten Christen bekannt. Deswegen wird über die Auslegung des Überlieferten diskutiert bis heute. Von diesen nicht leicht zu verstehenden Paulus-Sätzen fällt aber noch ein anderes Licht auf die Tatsache, dass wir Jesu Botschaft nur durch die Gemeinde kennen. Es gibt eben nicht nur die zahlreichen Briefe der Apostel, die fast zwei Drittel des Neuen Testaments ausmachen. Es gibt auch einen Brief Christi. Christus hat der Welt einen Brief geschrieben – und der sind wir, das ist seine Gemeinde. Das umwerfend Neue ist: Dieser Brief ist aus Fleisch und Blut. Es ist ein Herzensbrief, uns in die Herzen geschrieben. Diese Art der Mitteilung ist stärker als die durch das pure Wort. Gott teilt mit, indem er mit uns von Herz zu Herz kommuniziert. Das geht tiefer, als es bloße Worte vermögen.

Christus teilt sich mit, indem er Menschen prägt und mitten in dieser Welt in Bewegung bringt. Mit ihrem Leben und ihrem Reden sind sie Überbringer seiner Botschaft. Durch sie wird sein Evangelium publik. Denn dieser Brief Christi wird „gelesen von allen Menschen“, wie Paulus hoffnungsvoll schreibt. Zugleich bleibt diese Bekundung des Evangeliums nicht einfach zugreifbar und beweisbar, denn sie ist „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“. Dieser Brief Christi erschließt sich nicht durch Buchstaben, sondern durch persönliche Kommunikation, die am Herzen ansetzt und den ganzen Menschen mit einbezieht. Die Befähigung dazu erlangt man nicht durch Schulungen und Workshops, nicht durch Zeugnisse und Dokumente, überhaupt nicht aus seinen eigenen Möglichkeiten – sondern nur durch Gott.

„Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln der Herzen.“ Damit will Paulus sagen: Gottes Liebe ist in unsere Herzen geschrieben. Nicht die Buchstaben seines Wortes sind es, die uns zu Christen machen, sondern der Geist Gottes schafft den Glauben. Und so werden wir Christen selbst zum Empfehlungsschreiben für unseren Glauben. Die meisten Christen wurden das durch andere Menschen, an deren Art, deren Leben etwas von der Art Christi aufscheint. Und das nicht durch fromme Worte! Es sind eigentlich immer solche, die den einfachen Satz beherzigen: „Rede nur von Christus, wenn du gefragt wirst – aber lebe so, dass man dich nach Christus fragt!“ (Paul Claudel).

III.

Demnächst feiern wir wieder Reformationsfest. Ich möchte deshalb heute an zwei, im Paulus-Sinn, lebendige Briefe aus der Zeit der Reformation erinnern. Beide waren der lutherischen Häresie angeklagt und mussten bei Verurteilung mit dem Tod rechnen. Die Paulusworte aus unserem Predigttext „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ zogen beide in ihr Leben und machten sie so verstehbar. Beide wurden sie durch das Studium der Bibel zu solchen lebendigen Briefen Jesu Christi. Beide standen in Momenten, die Geschichte gemacht haben, Face to face vor dem mächtigsten Mann der damaligen Welt: Kaiser Karl V., der zu Recht von sich sagte: „In meinem Reich geht die Sonne nie unter“. Der eine lebendige Brief war Martin Luther. Es war – ähnlich wie heute – eine Zeit der Unruhe und Zerrissenheit in Deutschland. Bauern, Zünfte, Reichsritter rebellierten. Die größte Unruhe aber ging von Luther und der beginnenden Reformation aus. Der Kaiser forderte den Wittenberger Mönch 1521 auf, sich vor dem Reichstag in Worms zu erklären. Wir wissen, wie diese hoch dramatische Geschichte verlaufen ist. Luther widerrief seine 95 Thesen nicht und wird von Karl V. mit der Reichsacht belegt. Vogelfrei, jeder kann ihn ungestraft umbringen. Da greift Luthers Landesherr, der Kurfürst Friedrich der Weise beherzt ein. Er lässt ihn zum Schein entführen. In Wahrheit bringt er ihn auf die Wartburg. Dort ist er sicher, und übersetzt in drei Monaten das Neue Testament ins Deutsche. Wohl diejenige seiner Taten, die Luther am wirkmächtigsten zum lebendigen Brief Christi hat werden lassen.

Der zweite lebendige Brief ist ein spanischer Dominikanermönch. Der gleiche Jahrgang wie Martin Luther, aber begegnet sind sich die beiden nie, und wahrscheinlich hat Luther niemals von ihm gehört. Sein Name: Bartolomé Las Casas (1483-1566). Sein Leben ist ein großer Roman und wäre eine ganze Predigt wert. Wie bei Luther, nur ganz anders, gab es grundstürzende Wenden in seinem Leben und Denken. Als er 14 war, brachte sein Vater einen Indio-Jungen nach Hause, der versklavt und nach Spanien gebracht worden war. Die beiden wurden Freunde. Der alt gewordene Las Casas berichtete rückblickend, das Leben mit diesem jungen Indio in Spanien habe den Grund für sein ganzes späteres Leben gelegt. Der „Durchbruch“ (wie Las Casas seine Bekehrung nannte) geschah bei der Arbeit an der Pfingstpredigt 1514 in Trinidad über einen Text aus dem Buch Sirach, wo es heißt: „Kärgliches Brot ist das Leben der Armen, wer es ihnen raubt, ist ein Blutsauger. Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt wegnimmt, und Blut vergießt, wer einem Lohnarbeiter den Lohn raubt“ (Sir 34,25-27). So wurde der Priester, Soldat und Sklavenhalter mit 40 Jahren zum wirklichen Missionar. Vom anfangs überzeugten Vertreter der Conquista, der gewaltsamen Unterwerfung und Christianisierung der Völker in Lateinamerika, wurde er zum leidenschaftlichen Anwalt der Rechte der Indigenen dort.

Seine, wie er selbst es nannte „Hinwendung zum lebendigen Gott“ hatte für Las Casas gewaltige Folgen. Seine Predigten erzeugen Unruhe in der Bevölkerung. Seine Forderung, dass die spanischen Conquistadores ihr Vermögen den Indios zurückzugeben hätten, weil sie es geraubt hatten, führt schließlich dazu, dass er sein Kloster auf Santo Domingo verlassen muss. Er wird der absurderweise „lutherischen Häresie“ angeklagt, nach Spanien zurückgebracht, wo er sich vor Kaiser Karl V. verantworten muss. Las Casas lehnt das aus dem heidnischen griechischen Denken kommende Herrschaftsmodell Herr-Sklave entschieden ab. Er beruft sich auf die Bibel, auf den Galaterbrief, wo Paulus schreibt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus“ (Gal 3,28). Und in einem Brief an Karl V. 1544 schreibt er für seine Zeit Revolutionäres: „Die natürlichen Gesetze und Regeln sind allen Völkern gemeinsam, den christlichen und heidnischen, ohne Unterschied und gleich welches ihr Stand, ihre Hautfarbe und Herkunft sein mag“. Ein ganz früher Menschenrechtler zu einer Zeit, als es den Gedanken allgemeiner Menschenrechte noch gar nicht gab. Damit gab er entscheidende Impulse für den Holländer Hugo Grotius, der ein Jahrhundert später als erster diesen damals kühnen Gedanken und die Vorstellung entwickelte, dass die Völker und Nationen eine internationale Gemeinschaft bilden sollten, wo alle die gleichen Rechte haben. Vor allem aber hat Las Casas die Mission der Kirchen in der später sog. Dritten Welt grundlegend beeinflusst, zum Besseren. So wurde er zu einem lebendigen Brief Christi. Bis heute.

Ja, es stimmt, was Paulus in unserem Text schreibt: „Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, sondern dass wir tüchtig sind, das ist von Gott“.

 

Amen.

Glauben ernüchtert

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Es ist nahe gekommen das Ende aller Dinge“. Düster, bedrohlich klingt der Beginn des vorhin gehörten Predigttextes. Aber passt doch wie angegossen in das aktuelle Lebensgefühl vieler, das von Krise bis Apokalypse reicht. „Wir haben noch zwei bis drei Jahre, in denen wir den fossilen Pfad der Vernichtung noch verlassen können. Finde deinen Platz in der Letzten Generation an diesem einzigartigen Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte. Denn wir alle sind die letzte Generation, die den völligen Erdzusammenbruch vielleicht noch aufhalten kann, ob wir es wollen oder nicht.“ So klingt Apokalyptik. Zu lesen auf der Homepage der „Letzten Generation“. Aus dieser Sicht der Dinge ziehen ihre Vertreter das Recht, Straßen zu blockieren. — Krise und Untergang aber nicht nur bei Klimaaktivisten. Populismus und Faszination durch autoritäre Führer und Systeme haben die westlich-liberale Demokratie schwer in die Defensive gebracht. Die Wahlen der letzten Wochen haben es gezeigt. Nicht mehr das für die Demokratie charakteristische glanzlose, aber eben auch tragfähige Ringen um Kompromisse, sondern apokalyptisches Empfinden in schwarz und weiß, in gut und böse steht hoch im Kurs. — Der russische Überfall auf die Ukraine hat jahrzehntelange friedensethische Überzeugungen als trügerisch entlarvt. — Und ja, in den Kirchen selbst greift auch resignierte Untergangsstimmung um sich. „Kirche am Ende“ betitelt ein Theologe (T. Haberer) sein jüngst erschienenes Buch. Er erklärt darin, warum die Kirche eine „sterbende Institution“ sei, warum die vielen gut gemeinten Reformbemühungen gar nichts bringen.

I.

Da kann man schon mal ins Sinnieren kommen: Sind wir in einer Endzeit? Jedenfalls durchleben wir krisenhafte Zeiten wie seit 80 Jahren nicht mehr. Manches geht definitiv zu Ende. Wenn man es nüchtern und unaufgeregt nehmen will, kann man es „Zeitenwende“ nennen. Wenn aber negativ, dann eben Endzeit. Unser Predigttext macht nach seinem depressiven Auftakt deutlich, dass er nicht in wohlig-schaurigen Untergangsfantasien machen will. Vielmehr gibt er konkrete Ratschläge, nüchtern zu bleiben. Große alte Worte bietet er auf: Besonnenheit, Gebet, Gastfreundschaft, und vor allem: Liebe. Sie ist das Band, das alles beieinander hält.

Beim Nachdenken darüber kam mir ein alter Pfarrer in Erinnerung, der mir mal dieses erzählte: „Unser Pfarrhaus im Schwarzwald wurde mit Holz beheizt. Dreimal im Jahr brachte ein Fuhrwerk eine Ladung Holz und lud sie vor dem Pfarrhaus ab. Dort lag der Haufen, bis ich und ein paar junge Leute aus der Gemeinde Zeit fanden, die großen Stücke zu spalten. Eines schönen Tages — ein Haufen Holz lag noch unangetastet da — klingelte es an der Pfarrhaustür. Ich öffnete, vor mir stand, früher hätte man gesagt: ein Landstreicher und bot seine Dienste an: Ob er sich wohl etwas Geld und eine Suppe verdienen könne? Da liege ja noch das Holz. Axt und Säge, das könne er. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Vom Amtszimmer aus hörte ich so nebenbei, wie Axt und Säge ihr Werk taten. Nach geraumer Zeit klingelte die Glocke wieder. Ich sah dem Mann an, dass er ganz schön geschafft hatte. Mit Heißhunger machte er sich über die Suppe her, erhielt den vereinbarten Lohn und zog davon. Glücklich und zufrieden sah ich den Haufen handlicher Scheite. Deren Aufsetzen würde noch Arbeit machen, aber die Hauptsache war getan. Doch welch unangenehme Überraschung, als ich Tage später daranging, das gespaltene Holz aufzuschichten: Die oberste Schicht war zwar ordentlich bearbeitet, aber darunter — war überhaupt nichts angerührt. Der Nichtsesshafte hatte mich voll reingelegt.“

Und dann fügte jener Pfarrer an diese Geschichte noch an, dass er sie in dem Seniorenheim, wo er Tür an Tür mit einem ehemaligen Bankdirektor lebte, gerne als ein Gleichnis für das Wesen eines Bankdirektors und eines Pfarrers erzähle. Man könne sogar sagen: als Gleichnis für das Wesen der Welt und das Wesen des Himmels. Die Moral von der Geschichte laute: „Das ist der Unterschied zwischen den beiden: Der Bankdirektor muss den Menschen misstrauen, bis er vom Gegenteil überzeugt ist. Ich aber, ich darf von der Liebe nicht nur große Worte machen, ich muss die Liebe zum Nächsten leben und den Menschen vertrauen, bis ich vom Gegenteil überzeugt bin.“ Der alte Pfarrer wusste wohl, auch als Essenz seiner Lebenserfahrungen: Liebe steckt Enttäuschungen weg und investiert, manchmal gegen alle Hoffnung und Prognose, erneut Vertrauen.

II.

Darum geht es wohl, liebe Gemeinde, wenn es im Predigttext heißt: „Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe“. Merke: Vor allen Dingen! Nichts also ist wichtiger als die Liebe, und zwar „beständig“. Nicht ausnahmsweise mal, sondern beharrlich, sozusagen unbelehrbar. Besagter Pfarrer war natürlich enttäuscht und verärgert, dass er so hintergangen wurde. Aber „die Liebe deckt auch der Sünden Menge zu.“ Da denkt man an den sprichwörtlichen „Mantel der Liebe“, den man über manches legt, was lieber unsichtbar bleibt. Ja, wenn schon der schöne Schein der obersten Holzschicht der Sünden Menge zudeckt — wieviel mehr dann eine Liebe, die alles erträgt und glaubt, alles hofft und duldet?! So lautet das berühmte Wording von Paulus in seinem Hohelied der Liebe. Und: „Die Liebe hört niemals auf“ (1. Kor 13,8). Für mich heißt das vor allem: Die Liebe gibt niemals auf. Wer wollte Paulus widersprechen? Und doch lässt sich die Frage ja nicht unterdrücken, ob das denn menschenmöglich, und gut ist. Und ob jener Pfarrer wirklich nicht damit gerechnet hat, dass sein Vertrauen auch enttäuscht werden könnte. Also um ehrlich zu sein, ich habe dem, was mir früher an der Pfarrhaustür so erzählt wurde, nicht immer geglaubt.

Der Predigttext reiht mehrere Stichworte auf wie Perlen auf einer Schnur: Auf die beständige Liebe untereinander folgen die Gastfreiheit füreinander und der Dienst aneinander. Was diese drei Stichworte als roter Faden zusammenbindet, ist das Füreinander—Dasein. Gastlich aufgenommen zu werden, das Gefühl, auch als Fremder willkommen statt unerwünscht zu sein: das ist eine Wohltat. Seit alters her bemisst man die Kultur eines Landes daran, wie Gäste aufgenommen und behandelt werden. Ich bin vor dreieinhalb Jahren aus dem äußersten Südwesten, wo man sich Italien und Frankreich näher fühlt als Ostdeutschland, hierher gekommen. Ich kann mich da nicht beklagen, ich erlebe hier ganz überwiegend Freundlichkeit und Wohlwollen. Fremde aufzunehmen kostet auch Zeit und Mühe. In Norddeutschland gibt es die Redensart: „Besuch und große Wäsche sollen nicht länger als drei Tage dauern.“ Das gilt nicht nur für den Besuch der lieben Verwandten, sondern, wie wir alle wissen, auch im gesellschaftlichen Kontext: Wenn die Gastfreiheit über das „untereinander“ hinausgeht, dann stellen sich Schwierigkeiten ein. Nicht nur in Deutschland längst das Mega—Thema. Ich erinnere noch gut, wie in 2016, auf dem Höhepunkt der sog. „Flüchtlingskrise“, in Freiburg, wo ich damals lebte, eine junge Medizinstudentin nachts auf dem Heimweg brutal ermordet wurde. Der Täter konnte bald ermittelt werden — ein Flüchtling aus Afghanistan. Maria, die ermordete Studentin, war gläubige Christin und selbst in der Flüchtlingsarbeit aktiv. Und der junge Täter, als er in Freiburg angekommen war, war von einer Arztfamilie privat in deren Haus aufgenommen worden. Was für eine Tragödie! Aber beide, die Familie von Maria wie auch jene Arztfamilie, haben danach gesagt, dass sie sich dennoch weiter für geflüchtete Menschen engagieren würden. So wird die Aussage unseres Textes von der beständigen Liebe ganz konkret.

III.

Dient einander!“ Was steckt in diesen nur zwei Wörtern alles drin — man kann am Feierabend durch unsre Dörfer gehen und sehen, wie Eigenheime entstehen. Ein entscheidender Faktor ist die wechselseitige Hilfe. Ohne sie könnten viele Familien sich ein neues Haus gar nicht leisten. Hier in Ostdeutschland ist das besonders ausgeprägt, weil in der Mängelwirtschaft der DDR diese gegenseitige Solidarität bei den Menschen tief verankert war. Hilfst du mir, so helf ich dir — eine Hand wäscht die andere. Das gilt nicht nur beim Bauen; es ist ein Grundgesetz menschlichen Zusammenlebens. Eine jüdische Redewendung lautet: „Gefährten oder Tod“. Das bringt es auf den Punkt: Am Ende haben wir Menschen wirklich nur die Alternative: Entweder wir sind Gefährten und helfen einander zu leben, oder wir bereiten uns den Tod, offen oder unterschwellig.

Wenn wir vor uns hin wurschteln, jedes nur auf sein Interesse bedacht, dann sind wir den Herausforderungen dieser komplexen Welt nicht gewachsen. „Gefährten oder Tod.“ Das gilt auch für die aktuelle bedrohliche Lage in Europa. Die Bilder der Ausstellung „Stronger than bombs“, die wir zur Zeit unten in der Krypta hängen haben und von denen Sie zwei auch hier oben als bewusst störender Kontrast zur barocken Pracht dieser Kirche sehen, zeigen das eindrucksvoll. Sie dokumentieren den Schrecken, den jeder Krieg bedeutet. Aber sie erzählen auch von der Kraft und dem nicht kleinzukriegenden Willen einer Bevölkerung, nicht nur zu überleben, sondern eine kulturelle Identität zu bewahren. Das alles geschieht quasi vor unserer Haustür. Wer da allen Ernstes sagt: „Das ist nicht unser Krieg, wir haben damit nichts zu tun“: der ist nicht nur blind für die Folgen, die ein Zusammenbruch der Ukraine auch für uns bedeuten würde. Der würde angesichts der Alternative „Gefährten oder Tod“ für den Tod votieren.

Der Verfasser des 1. Petrusbriefs begründet seinen Appell, einander helfen, von Gott her. Oder genauer: von dem her, was Gott uns mitgegeben hat. „Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der bunten Gnade Gottes!“ Dieser Vers des Predigttextes ist in der Lutherbibel fett gedruckt. Er ist für mich auch ein besonders schöner in der Bibel. Gottes Gnade wird als bunt bezeichnet. Jeder hat aus ihr seinen Anteil bekommen. Darum gibt es kein Glied am Leib Christi, von dem nichts zu erwarten wäre. Und eben darum sind wir aufeinander angewiesen.

IV.

Zum Schluss komme ich noch einmal zum Anfang zurück.  „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge: So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.“ Jesus hat gesagt, dass wir Zeit und Stunde nicht wissen und der Tag des Herrn kommt „wie ein Dieb in der Nacht“. Es ist also müßig, ja eigentlich ist es Unglauben, wenn man über eine „Endzeit“ räsoniert, die wir angeblich gerade erleben. Besonnenheit, Nüchternheit, von der unser Text spricht, sind wichtige Tugenden. Sie bedeuten Beruhigung von Geist und Seele. Gegen Panik, gegen laute und schlichte Parolen, gegen aufgeheizte Untergangsstimmungen braucht es Nüchternheit. Vielleicht war das der tiefere Grund, warum Angela Merkel, obwohl viele sie immer auch lauthals kritisiert haben, dennoch viermal nacheinander eine Wahl gewonnen hat. Weil die Menschen sich ihre auch in Krisen besonnen gebliebene, unaufgeregte Art doch als wohltuend empfunden hatten. „Seid besonnen und nüchtern fürs Gebet“: In aufgewühlten Zeiten braucht es das Gebet. Martin Luther sagte gerne: „Ich habe heute viel zu tun, deshalb muss ich heute viel beten.“ Beten hat eine retardierende Wirkung. Es hilft mir, Abstand zu gewinnen von der Macht der eigenen Stimmungen, nüchtern und besonnen zu bleiben. Wer betet, wird still. Er kann da nicht schreien.

Der große Theologe des vergangenen Jahrhunderts Karl Barth sagte gerne: „Der Heilige Geist ist der beste Freund des gesunden Menschenverstands.“ Das heißt natürlich nicht, dass wir im Vertrauen auf Gott und seinen Geist die Hände in den Schoß legen. Im Gegenteil. Aber wenn wir uns und andere verrückt machen, wird nichts besser. Aber vieles schlechter. Deshalb tut mir diese Ermunterung des Predigttextes gut: „So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet“.

 

Amen.

 

Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt.“ (Matthäus 6,25-34)

Predigt gehalten von Pfarrer Christian Wolff.  

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

25 Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? 27 Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? 28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. 30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? 31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. 33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. 34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Matthäus 6,25–34


Sorgt euch nicht um euer Leben …

Wie bitte? Wir sollen uns keine Sorgen machen? Geht’s noch? Keine Sorgen um die europäische Friedensordnung? Keine Sorge ums Klima? Keine Sorge um Zuwanderung und Migration? Keine Sorge um das Erstarken des Rechtsextremismus in den Parlamenten? Keine Sorge um den Niedergang der Kirchen? Keine Sorgen um die schwere Krankheit der Ehefrau und die Depression des Partners?

Und wie war das vor 10 Jahren hier in Dresden? Da verging ab Oktober 2014 kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Politiker erklärte, man müsse die Sorgen und Ängste der Menschen draußen im Lande ernst nehmen. Ja, auch die Kirchen meinten in der Hochzeit von „Pegida“ vor neun Jahren, Räume anbieten zu sollen, wo Menschen ihre Sorgen aussprechen können. So organisierte man Runde Tische, wunderte sich aber darüber, dass das gar nicht so einfach ist, den Menschen zuzuhören, sie in ihrem Außersichsein zu verstehen. Denn Zuwendung, miteinander sprechen bedeutet ja nicht, das einfach hinzunehmen oder nachzuplappern, was einen frustrierten 60–jährigen Mann, erwerbslos, im kleinen erzgebirgischen Eigenheim allein wohnend, geschieden, Kinder international unterwegs, kaum noch Kontakte, dank Lutz Bachmann montags auf die Straße getrieben hat: Für die Asylanten wird alles getan, aber um mich kümmert sich keiner. Da empfindet eine gekränkte Seele die Liebe zum fernen Nächsten als einen Angriff auf das verletzte Selbst. Zuwendung heißt aber, sich mit Problemen anderer auseinanderzusetzen und sie zu lösen – also den Problemen, die Menschen mit sich und
anderen, aber auch andere mit ihnen haben; also sich mit ihren Sorgen, Niederlagen, Zerwürfnissen, ihren verqueren Ansichten und berechtigten Bedürfnissen zu beschäftigen.

Notwendig dafür ist aber auch, sich selbst über das eigene Lebensgerüst Gewissheit zu verschaffen: Wie gehe ich selbst mit meinen Sorgen um? Was verleiht mir in Krisenzeiten Halt und was ermöglicht mir Haltung? Sorgen haben ja nicht nur die, die diesen in welcher Form auch immer freien Lauf lassen, die schnell dabei sind, für alles einen Sündenbock zu benennen und ihr Heil in denen suchen, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. Sorgen haben auch die, die die Probleme anderer zu lösen versuchen – wie zum Beispiel die in Regierungsverantwortung stehenden Politker:innen; wie die Menschen, die sich den Mühseligen und Beladenen in unserer Gesellschaft zuwenden, ob bei der Bahnhofsmission oder im Pflegeheim, ob im Jobcenter oder in der Asylunterkunft, ob bei der Polizei oder den Streetworkern. Sorgen haben seit Sonntagabend auch viele Menschen, die wie wir – und ich sage sehr bewusst „wir“: wir, die wir uns unter Gottes Wort versammeln – die freiheitliche Demokratie und kulturelle Vielfalt erhalten wollen (dazu gibt es für alle, die sich auf das erste der Zehn Gebote berufen, keine Alternative!); die sich den Kopf darüber zerbrechen, was wir dem digitalen Feldzug von Hass und Hetze, Lüge und Fake, Bösartigkeit und Häme auf Instagram, Telegram und TikTok entgegensetzen können.

Ja, ich könnte nun so weiter machen, Sorge um Sorge auftischen. Doch bringt uns das weiter? Bei einem meiner ersten Hausbesuche zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit in Mannheim vor 47 Jahren gab mir eine alte, gebrechliche Frau, die gerade ihre Tochter zu Grabe getragen hatte, die folgende Lebensweisheit mit auf den Weg: Wenn alle Menschen ihre Sorgen auf einen Haufen werfen würden, und jeder hat die Möglichkeit, sich nun eine Sorge aus dem Haufen auszuwählen – er oder sie würde wahrscheinlich die eigene Sorge wieder herausfischen. Will sagen: Die Sorge des anderen relativiert das eigene Leid. Jedoch hat eine solche Sicht eine Voraussetzung: Wir benötigen ein inneres Krisenmanagement, also die Fähigkeit, mit den eigenen Sorgen und Problemen produktiv umgehen, sie einordnen zu können, anstatt uns von ihnen unser Leben diktieren zu lassen, ihnen die Herrschaft über Geist und Sinne zu überlassen, und eine Ahnung von dem, was uns jenseits dieser irdischen Welt bevorsteht. Darum ist der Ruf Jesu
Sorgt euch nicht um euer Leben
alles andere als ein Ablenkungsmanöver oder eine billige Beruhigungspille. Nein, es ist ein Weckruf, der uns frei machen soll von der beherrschenden, der erdrückenden Kraft der Sorgen. Er ist ein Angebot, einen Perspektivwechsel zu vollziehen: von der Sorge zum Vertrauen, vom Vertrauen zur Hoffnung auf Gottes neue Welt:

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen …

Ich lasse jetzt einmal alles beiseite, womit Jesus seine Aufforderung unterfüttert: die Vögel, die ohne Vorsorge immer genug zu essen haben, und die Lilien, die wie von selbst wachsen. So schön sich das anhört, es leuchtet uns nicht sofort ein. Was ist, wenn Trockenheit und Dürre die Vögel verhungern und die Lilien eingehen lassen? Doch wichtiger als die Infragestellung dieser Vergleiche ist, dass wir die Prioritäten sehen, die Jesus neu setzt:
Bevor ihr euch um alles Mögliche sorgt: Werdet euch erst einmal klar über die Zielvorstellung eures Lebens. Sind es das prall gefüllte Konto, das Eigenheim, der Genuss? Oder ist nicht viel wichtiger, zuerst einmal über den Tellerrand der eigenen Bedürfnisse zu schauen, den Gartenzaun der eigenen Gedankenwelt zu überwinden, das Morgen zu überspringen und Gottes neue Welt, seine Gerechtigkeit in den Blick zu nehmen?

Welches Fundament hat mein Leben, und an welchem Ziel richte ich dieses aus? Die von Jesus geforderte Sorglosigkeit bedeutet ja nicht, alles einfach laufen zu lassen, sich um nichts mehr zu kümmern. Sorglosigkeit im Sinne Jesu heißt zuerst und vor allem: Vertrauen, auf Gottes Fügung und Führung vertrauen. Darauf setzen, dass dieses Vertrauen tragfähiger ist als alle materiellen Absicherungen, die wir im Leben vornehmen: „Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, / der hat auf keinen Sand gebaut.“ werden wir nachher singen.

Diesen, durch Gottvertrauen ermöglichten neuen Blick auf das Leben und über die Grenzen des irdischen Daseins hinaus sollen wir nicht als Weltflucht und Menschenverachtung missverstehen. Das Gegenteil ist der Fall: Wer sich nicht mehr ausschließlich um sein materielles Wohlergehen kümmert, wer im Bewusstsein lebt, dass uns das Beste noch bevorsteht, der schafft freie Kapazitäten an Zeit, Empathie und materiellen Möglichkeiten für sich selbst und für den bedürftigen Nächsten, sieht im Nächsten keine Konkurrenz. Wer Gott vertraut, der kommt dem fremden Anderen ganz nahe – so wie Jesus den Menschen zu Beginn der Bergpredigt auch ganz nahe gekommen ist mit den Seligpreisungen. Da hat er all die Probleme, die Menschen beschäftigen, zermürben, niederdrücken aufgegriffen, zur Sprache gebracht – aber nicht, um Menschen billig zu vertrösten, ihre Schwäche auszunutzen, sie gegeneinander aufzubringen. Vielmehr hat er den Armen, Verzweifelten, den unter ungerechten Verhältnissen Leidenden, den Friedensstiftern, die an der Wirklichkeit des Krieges zu zerbrechen drohen, das Rückgrat gestärkt, sie in ihrer Not anerkannt und damit eine Basis geschaffen für die andere Sicht auf das Leben und für eine neue Widerstandsfähigkeit, neudeutsch: Resilienz. Wodurch gelang ihm das? Durch die Zielmarke Reich Gottes und die daraus abgeleitete Idee, die Utopie der Gerechtigkeit:

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

sagt Jesus. Wenn ihr euch an diesem Reich Gottes ausrichtet, wenn ihr in dieser Welt in der Hoffnung auf Gottes neue Welt lebt und wirkt, dann wird euch das, worauf jeder und jede angewiesen ist, zufallen: Bildung, Arbeit, Einkommen, Wohnen. Das bedeutet zunächst: All das, worum wir uns nicht sorgen sollen, ist auch in den Augen Jesu lebensnotwendig: Essen, Trinken, Kleidung. Aber das darf den Alltag nicht allein bestimmen. Das Streben nach dem Besitz und Sicherheit darf uns nicht blind machen für die Zukunft.
Für mich ist das, was Jesus ausführt, heute für zwei Sorgenfelder wegweisend:
1.    Derzeit sorgen wir uns in der Kirche vor der Zukunft, die laut der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) und der sog. Freiburg–Studie ziemlich düster aussieht. Danach wird sich in absehbarer Zeit die Zahl der Kirchenmitglieder halbiert haben, also statt knapp 20 Millionen gehören dann der Evangelischen Kirche höchstens noch 10 Millionen Menschen an. Die Folge: In allen Landeskirchen werden seit einigen Jahren Szenarien nach dem ziemlich selben Drehbuch entworfen: In fünf oder zehn Jahren stehen uns nur noch soundso viel Kirchensteuermittel zur Verfügung, davon können noch soundso viele Stellen, Kirchen, Gebäude finanziert werden. Also müssen soundso viele Gemeinden zusammengelegt, Pfarrstellen gestrichen, Häuser verkauft werden. Inzwischen sind das keine Planspiele mehr, sondern es wird per Verordnung auf den Weg gebracht. Das wird von vielen Kirchenmitgliedern als Diktat verstanden. Entsprechend breitet sich unter den Treuesten der Treuen Frust aus. Im Sinn der Bergpredigt bedeutet dies: Wir sorgen derzeit nur noch für den institutionellen Selbsterhalt, verbunden mit vielen Ängsten und wenig Vertrauen. Aber warum es in 10 Jahren noch Kirchgemeinden, also den Zusammenschluss von Christ:innen vor Ort, geben soll, und an welchen Zielen Kirche ihre Arbeit ausrichtet, darüber herrscht beredtes Schweigen. Bevor wir uns sorgen um Stellen und Gebäude, müssen wir doch fragen: Warum soll es denn in Leipzig und Dresden, in Meißen und Görlitz überhaupt noch Kirche geben? Was heißt es denn für eine Kirchgemeinde in Olbernhau oder Pödelwitz, nach dem Reich Gottes zu trachten und das gemeindliche Leben an Gottes Gerechtigkeit auszurichten? Diese Fragen müssen doch im Mittelpunkt all unserer Bemühungen stehen. Sie können aber nicht per landeskirchlicher Verordnung im preußischen Verwaltungsstil des 19. Jahrhunderts beantwortet werden, sondern nur vor Ort durch die Menschen. Derzeit scheint mir aber, dass wir wie Gefangene der Strukturen und des Geldes agieren und darüber ganz viel Freiheit, Gottvertrauen, Zuversicht und vor allem die Menschen aus den Augen verlieren. Dabei erweist sich eine Erfahrung immer wieder als Realität: Wer seine Arbeit an Zielen ausrichtet, dem fällt tatsächlich viel Notwendiges zu. Also: Statt Frust benötigen wir neue Lust an den Zielen, die Jesus benennt.

2.    In den letzten Wochen habe ich viele Gespräche mit Bürger:innen auf der Straße geführt. Da wurden einem die zu Beginn benannten Sorgen als Versagensfelder der Politik geradezu um die Ohren geschlagen: Klimawandel, bezahlbare Energie, der Krieg in der Ukraine, der Umgang mit Geflüchteten und die Zuwanderung. All das ist für leider zu viele Menschen Anlass, ihrer Verachtung gegenüber Politiker:innen und ihrem Verdruss freien Lauf zu lassen. Schon die Körperhaltung und ein traurig–verbitterter Blick von so manchem Zeitgenossen signalisieren eine angespannt–aggressive Wut, eine erstaunliche Erwartungslosigkeit, die im Inneren rumoren. Sie stehen zum einen im krassen Gegensatz zur tatsächlichen Lage, persönlich wie gesellschaftlich. Zum andern offenbaren sie: Viele Menschen können mit persönlichen und gesellschaftlichen Krisen, mit Umbrüchen und diffusen Ängsten nicht mehr umgehen. Ihnen mangelt es an dem schon erwähnten inneren Krisenmanagement, also der Möglichkeit, Niederlagen, Verwerfungen des Lebens, Sorgen und Probleme in Zuversicht wenden, Widerstandsfähigkeit und eine Hoffnungsperspektive jenseits des Materiellen gewinnen zu können. Diese Gemütsverfassung ist ein fruchtbarer Nährboden für die Rattenfänger mit den ganz einfachen Antworten. Deren Strategie besteht aus nichts anderem, als Menschen dadurch zu beruhigen, dass andere abgewertet, zu Sündenböcken gemacht werden – nach dem Motto: Wenn es die, die mich stören, nicht gäbe, würde es mir besser gehen. Problemlösung durch Problemvernichtung. Doch das ist das genaue Gegenteil von dem, wie Jesus den Menschen begegnet, die sich um ihn scharen. Er will sie aufrichten, trösten, stark machen, damit sie nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten können – im Bewusstsein, dass das Leben von uns Menschen begrenzt, vergänglich, fehlbar und darum der Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit bedürftig ist.

Das also ist das Geschenk des Glaubens: Durch die Aussicht auf Gottes neue Welt erhalten wir einen neuen Kompass, in welcher Richtung wir im Hier und Jetzt leben, wie wir mit unseren Sorgen umgehen können. Gleichzeitig werden wir davon befreit, nur noch auf das zu blicken, was uns jetzt verunsichert, bedrückt. Diese gute Nachricht jeden Tag durch Wort und Tat in den Diskurs einzubringen, das ist unsere Aufgabe als Kirche, als Christen in der säkularen Gesellschaft. Lasst uns durch diesen Perspektivwechsel unseren Alltagsverstand und unsere Agenda neu ausrichten: von den Sorgen zum Vertrauen, zum Gottvertrauen. Lasst uns also mitten in einer Welt voller Widersprüche vertrauen auf den Frieden Gottes.     Er ist höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

 

Amen.

„Wirf dein Anliegen auf den Herrn“   –   Zu Mendelssohns „Elias“

Impuls im Rahmen der Geistlichen Sonntagsmusik am 15. Sonnatg nach Trinitatis | 08.09.
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Gerade haben wir Mendelssohns bekannten Choral „Wirf dein Anliegen auf den Herrn“ gehört. Er gehört für mich, in seiner berückenden Schlichtheit und Innigkeit, zum Schönsten, was nicht nur Mendelssohn geschaffen hat. Er kommt aus einem seiner berühmtesten, meistaufgeführten Werke, dem großen Oratorium „Elias“, das die Geschichte des großen alttestamentlichen Propheten Elias aus dem 1. Buch der Könige erzählt. Wer die Bibel ein bisschen kennt, weiß, dass das ein sehr dramatischer, auch gewaltgesättigter Stoff ist. Ein Stoff jedenfalls, der eigentlich auf die Opernbühne gehörte: Ein Mann, der die anderen vor Unheil, Zerstörung und Armut warnt, der die Wahrheit sagen will, doch keiner möchte sie hören, keiner glaubt ihm. Mendelssohns „Elias“ ist natürlich keine Oper, auch wenn der Komponist immer gerne eine komponieren wollte. Aber dazu kam es leider nie.

Der biblische Elia–Stoff faszinierte Mendelssohn schon lange. Als er 1845 den Auftrag bekam, für ein Chorfestival in Birmingham in seiner zweiten Heimat England ein Oratorium zu schreiben, sah er die Chance gekommen, diese Geschichte endlich in Töne zu bringen. Sie ist eine Zeitreise etwa 2.800 Jahre zurück. Ahab ist König des Nordreichs Israel; er und sein Entourage schwelgen in Macht, Luxus und Selbstherrlichkeit. Sie verehren Baal, den Wetter– und Fruchtbarkeitsgott, bauen ihm Tempel und Altäre. All diesem widerspricht Elias, mit schroffer Härte und großem persönlichen Mut. Er tritt ein für Jahwe, den einen und einzigen Gott und prophezeit, dieser werde aus Zorn Dürre und Armut über das Land bringen. Im ersten Teil des „Elias“, dessen Libretto ausschließlich aus biblischen Texten gestaltet ist, wird beschrieben, wie der Prophet den Baal–Anhängern entgegentritt, wie er auf wundersame Weise ein Kind rettet und die Dürre beendet. Im zweiten Teil stellt sich Elia direkt gegen den König und bringt das Volk erneut gegen sich auf. Elia flieht in die Berge und gerät in tiefe Verzweiflung und Depression, weil er erleben muss, dass sein Bemühen, das Volk zur Umkehr zu bringen, gescheitert ist. Am Tiefpunkt seiner Existenz, an dem er Gott nur noch bitten kann, ihn sterben zu lassen, kommt ein Engel zu ihm und gibt ihm neue Lebenskraft. Und genau an dieser Stelle hat Mendelssohn den Choral „Wirf dein Anliege auf den Herrn“ verortet.

Darauf kehrt Elia nach Israel zurück, um die Anhänger Baals–Kultes doch noch vom Glauben an Jahwe zu überzeugen. Am Ende fährt er in einem Feuerwagen gen Himmel. Die Ankunft des Messias wird angekündigt, der Elias’ Wirken fortführen soll. „Stark, eifrig, auch wohl bös‘ und zornig und finster“: so hat Mendelssohn „seinen“ Elia einmal charakterisiert. Dass er ihn nicht als Autorität, als Heiligen darstellt, zu dem man aufschaut, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut, der auch (ver)zweifelt und durch Gott wieder auf den rechten Weg kommt, ist vielleicht einer der Gründe, warum dieses Oratorium so erfolgreich wurde.

Durch die Besetzung mit, wie er sie selbst nannte, „recht dicken, starken, großen Chören“ hat Mendelssohn außerdem neues Repertoire komponiert für die Chorfeste und die seinerzeit immer mehr prosperierenden Sing– und Chorvereinigungen. Passagenweise erinnert sein Chorklang an Händels „Messias“. Und er beeindruckt mit der Vielzahl an Formen, die Mendelssohn wählt: Mal schreibt er einen schlichten Chorsatz – wie eben bei „Wirf dein Anliegen auf den Herrn“ – mal mehrstimmig mit Solopartien, als Kanon oder noch komplexer mit kontrapunktischen Passagen oder ganzen Fugen. Es ist kein Zufall, dass man Mendelssohn auch den romantischen Wiedergänger Bachs nennt. Er hat den zu seiner Zeit zunächst fast vergessenen Bach ja auch wiederentdeckt und mit der Berliner Wiederaufführung der Matthäuspassion die große Bach–Renaissance eingeleitet, die im Grunde bis heute anhält. Wer Mendelssohns geistliche Chorwerke interpretiert, muss gewissermaßen einen Fuß in der Barockmusik haben, und mit dem anderen dem romantischen Gestus gerecht werden, dass Dinge intensiv erlebt werden wollen.

Als der Auftrag für das Chorfestival in Birmingham kam, blieb ihm nur ein Jahr Zeit, die Skizzen und Entwürfe für seinen „Elias“ in die große Form zu bringen. Alles wurde knapp fertig, am Ende mussten nur noch die Texte ins Englische gebracht werden. 400 Musiker, eine heute gigantische Zahl, brachten eine umjubelte Uraufführung zustande. „Die letzte Note des 'Elias' ging unter in einem Unisono von nicht enden wollenden Applaussalven", schrieb ein Kritiker der Times. „Es war, als hätte der lang gestaute Enthusiasmus sich endlich Bahn gebrochen und die Luft mit wilden Schreien der Begeisterung erfüllt.“

Nicht nur der „Elias“, auch schon seit 10 Jahre früher komponiertes Oratorium „Paulus“ zeigt, wie tief Mendelssohn, aus einer berühmten jüdischen Berliner Familie stammend und als Jugendlicher getauft, verwurzelt war im evangelischen Glauben und wie genau er die Bibel kannte. „Befiel dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen“: dieses Wort aus Psalm 37 hat Mendelssohn in seinem Choral umgedichtet.

Wirf dein Anliegen auf den Herrn! Der wird dich versorgen,
und wird den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen.
Denn Seine Gnade reicht, so weit der Himmel ist,
und keiner wird zuschanden, der Seiner harret.

Gott erhalte uns in bedrängender, von viel Misstrauen durchzogener Zeit ein Stück dieses Vertrauens.

Amen.

 

Serva ordinem et ordo te servabit

Abschied von Frauenkirchenküster Tobias Lochmann

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Liebe Gemeinde, und in ihrer Mitte: Lieber Bruder Tobias Lochmann,

der frühere Bischof dieser Landeskirche Johannes Hempel hatte die Gabe, auf knappe, prägnante Art pointierte Wahrheiten zu formulieren, die sich vielen eingeprägt haben. Einer dieser Sätze von ihm ging so: „Zeige mir, wie deine Sakristei aussieht, und ich sage dir, wie es um deine Gemeinde bestellt ist!“ Ups – ganz schön steil! Und wenn das stimmt, dann hätte Hempel unserer evangelischen Kirche eine ziemlich unschöne Diagnose ausgestellt. Denn evangelische Sakristeien wirken ja oft eher wie eine pastorale Rumpelkammer. Nun haben wir an der Frauenkirche bekanntlich keine Gemeinde. Also lässt sich – tief durchatmen! – das Hempelsche Diktum auf uns gar nicht anwenden.

I.

Bzw. man müsste es für uns variieren. Dann würde es so lauten: Zeige mir, wie deine Sakristei aussieht, und ich sage dir, was du für einen Küster hast! Das würde allerdings ins Schwarze treffen. Übrigens in jeder Hinsicht – denn keine Orgelandacht, und schon gar kein Gottesdienst, wo Tobias Lochmann, dem wir nun nach 19 Jahren Lebewohl sagen, nicht im protestantischen Schwarz seinen Dienst verrichtet hätte. Jedenfalls: Unsere Sakristei, und wie es in ihr aussieht, ist ein exzellenter Verweis auf die Güte unseres Küsters, ja aller drei Küster, die wir haben. Als ich im November 2020 hier zum Bewerbungsgottesdienst aufschlug, habe ich gestaunt. Ich habe viele Sakristeien gesehen, aber so etwas, eine so unglaubliche Ordnung, wo alles an seinem ihm gemäßen Platz ist, nichts Flüchtiges, Herumliegendes: das kannte ich bisher nicht. Was im Wort Sakristei als Wurzel steckt, das lateinische sacer, heilig, das durchweht diesen Raum, in dem sich die Atmosphäre einer Kapelle ausbreitet.

Warum sagt das viel über den Frauenkirchenküster Tobias Lochmann aus? Dazu möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine der vier biblischen Figuren lenken, die in unserem Hochaltar verewigt sind. Neben den beiden Stars auf der linken Seite, Mose und Paulus, die jeder irgendwie kennt, finden sich rechts, naja, eher zwei Schattenmänner, die keine Hauptrolle in der Bibel spielen. Der Diakon Philippus – und eben ganz rechts Aron, der ältere Bruder von Mose und der erste Hohepriester des Gottesvolks. Wie gesagt, er spielt keine herausragende Rolle. Aber man kann sagen, dass Mose ohne Aron nicht Mose hätte sein können. Aron war das Bindeglied zwischen dem ganz normalen Volk und Mose, der überragenden, aber auch unberechenbaren, manchmal zu Höhenflügen und Extratouren neigenden und daher auch umstrittenen Führergestalt. Aron hatte die Gabe, Mose immer wieder runterzuholen, ihn wieder einzunorden, zu erden. Vor allem aber: Aron hat Mose immer wieder an die Ursprünge des Glaubens an Jahwe, den Gott Israels, und an seine Gebote erinnert. Nicht zuletzt, indem er für die Verwaltung und Pflege der Stiftshütte und der Bundeslade zuständig war, die beiden Heiligtümer, die die Israeliten mit sich nahmen auf ihrem Wüstenweg, frühe Vorläufer dessen, was später der Tempel in Jerusalem werden sollte.

II.

Ich finde, Aron, diese selten wahrgenommene Altarfigur rechts außen, eignet sich vorzüglich als ein ferner, aber ganz anschaulicher biblischer Spiegel für das, was Sie, lieber Bruder Tobias Lochmann, für uns gewesen sind und wie Sie Ihren Dienst verstanden haben. Natürlich, Sie sind kein Priester wie Aron. Aber erstens gibt es in unserer Kirche der Reformation sowieso kein Priesteramt, das uns Pfarrer*innen zu einem eigenen „Stand“ machen würde. Es gibt, so sagen unsere Bekenntnisschriften, nur unterschiedliche Dienste, die funktional, nicht sakramental strukturiert sind. Diese Dienste sind voneinander zu unterscheiden – und doch unauflöslich darin verklammert, dass sie alle in je ihrer Ausprägung das Evangelium Christi zum Leuchten bringen und die Menschen, die zur Kirche kommen, zur Freundschaft mit Jesus verlocken wollen. So gesehen sind in der evangelischen Kirche alle Dienste am Ende in gleicher Weise geistlich. Deshalb hat Martin Luther vom allgemeinen Priestertum aller Getauften gesprochen.

III.

Und für dieses sind Sie, lieber Bruder Frauenkirchenküster, ein fleischgewordener Beleg. Nicht nur als Pfarrerssohn und sächsischer Lutheraner bis ins Mark haben Sie Ihren Dienst nie nur praktisch-organisatorisch, sondern immer als ein geistliches Amt gesehen. Sie haben gewusst, dass nicht nur Pfarrer*innen und Kirchenmusiker*innen das Evangelium verkündigen, sondern dass das schon mit der stummen Predigt des Kirchenraumes beginnt, den die Menschen betreten. Die Verantwortung eines Küsters, einen Kirchenraum einladend, menschenfreundlich und zugleich als Gottes-Haus erfahrbar zu halten: da schlug ganz Ihr Herz. Porta patet, cor magis! – Die Tür steht offen, das Herz noch mehr: Diesen Leitspruch der Benediktiner, über den Eingängen vieler Klöster zu lesen, haben Sie mit viel Leben gefüllt. Und in der Regel des Benediktinerordens findet sich der steile Satz: Operi Dei nihil praeponatur – dem Gottesdienst darf nichts vorgezogen werden. Das ist schon sehr katholisch gesagt, es versteht sich für Evangelische nicht von selbst. Und in dem eigenartigen Hybrid Frauenkirche schon zwei Mal nicht. Aber das ist Ihnen aus dem Herzen gesprochen, und dafür sind Sie immer eingestanden. Durchaus auch kämpferisch.

IV.

An den Mosebruder Aron erinnern Sie, lieber Bruder Lochmann, auch darin, dass Sie (obwohl Sie Sachse durch und durch sind) keine falsche Ehrfurcht vor Königs-, Politiker- und anderen Thronen hatten. Das ist in unserem Frauenkirchenfall ganz wörtlich zu nehmen, denn es waren viele gekrönte Häupter, hohe Politiker vom US-Präsidenten abwärts und andere „Prominente“, die Sie in dieses Haus haben kommen und wieder gehen sehen. Während sich bei uns in der Stiftung, wenn sich mal wieder eine Durchlaucht angekündigt hatte, oft eine etwas beflissene Aufgeregtheit breitmachte, nahmen Sie das alles mit der Bierruhe des Erfahrenen und des unbestechlichen Demokraten. „Das sin och nur Menschen wie Sie und ich“, war Ihre stehende Rede, begleitet von Ihrem unverwechselbaren ironischen Lächeln und sächsischem Mutterwitz. Der steckt tief in Ihnen und hat immer dafür gesorgt, dass Sie zwar streng und wenn es um die Einhaltung von Regeln und Ordnungen ging, manchmal auch unerbittlich sein konnten, dabei aber nie ins Rigorose gekippt sind. – Auch vor Pfarrersthronen hatten Sie keine falsche Scheu. Ich kann es bezeugen: Wenn Ihnen die Predigt des Pfarrers mal wieder zu lang war, haben Sie ihn das hinterher mit einer robusten Ansage auch wissen lassen.

V.
Ich sagte es schon: Der Priester Aron war ein Mann der Ordnungen, der seinen abgehobenen, charismatischen Bruder immer wieder daran erinnerte, dass es verbindliche Regeln gibt. Das ist die tiefste Gemeinsamkeit, die ich zwischen dem biblischen Aron und Ihnen, lieber Bruder Lochmann, entdecke. Ordnung ist das halbe Leben, sagt man so. Im Fall dieses Hauses muss man das ergänzen: …und die ganze Frauenkirche. Ohne law and order, eingespielte Ordnungen und ihre gewissenhafte Einhaltung, wäre dieser überkomplexe Ort irgendwann vom Chaos bedroht. Das wussten Sie genau. Und sind zu einem entschiedenen Sachwalter der Frauenkirchenordnungen geworden. Das war nicht jedes Mal und nicht für jeden immer so ganz nachvollziehbar, das will ich als Badener, die zu Regeln und Ordnungen ein eher pragmatisches Verhältnis pflegen, gerne einräumen. Aber es erfüllt mich mit Respekt, wie Sie (um einen letzten großen Satz der Benediktiner zu nennen) die Wahrheit des Satzes zum Leuchten gebracht haben: Serva ordinem, et ordo te servabit. Bewahre die Ordnung, und die Ordnung wird dich bewahren und tragen. Das haben Sie über 19 Jahre hier gelebt und selbst erfahren.

Und über insgesamt 31 Jahre sind Sie so ein Baumeister der Frauenkirche gewesen. Erst in Ihrer ursprünglichen Profession als Maurer im Wiederaufbau dieses Hauses von seiner Grundsteinlegung an. Dann als Baumeister des Hauses der lebendigen Steine, das, so sagt es die Bibel im 1. Petrusbrief, die Kirche ist. Und in diesen drei Jahrzehnten haben Sie beide Steinarten, die toten des Bauwerks und die lebendigen der Menschen, die es mit Leben füllen, zueinander gebracht. Dafür von ganzem Herzen Vergelt’s Gott! Und wie könnte es anders sein als dass Sie als sicht- und fühlbares Zeichen unseres Dankes nun auch einen Stein bekommen! Es ist ein Originalstein aus unserer Unterkirche. Nordtonne, Reihe 17, Stein 34 – es muss ja alles seine Ordnung haben! „Ordne meinen Gang, Jesu, lebenslang“ heißt es in dem bekannten Lied von Zinzendorf (EG 391,4). Bleiben Sie, lieber Bruder Lochmann, in dieser Ordnung unseres Herrn Jesus Christus gehalten und bewahrt!

 

Amen.

 

„Als nun Jesus sie sah, rief er sie herbei und sagte zu ihr: Frau, du bist von deiner Krankheit erlöst.“ (Lukas 13,10-17)

Predigt gehalten von Prof. Dr. Christoph Sigrist Titularprofessor für Diakoniewissenschaft an der Universität Bern und Zürich

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Liebe Gemeinde,

Was sah er, als er sie sah? Diese Frage lenkt meinen Blick weg vom biblischen Text ins Grossmünster Zürich vom 3. März dieses Jahres.

Ich nahm nach gut 20 Jahren Abschied von meiner Gemeinde. Politische und kirchliche Mitglieder aus Kanton und Stadt, aus reformierten und katholischen Kirchen waren da. Imame und Rabbiner, Buddhisten und Hinduisten beteten miteinander und füreinander für den Frieden. Am Abend zuvor geschah mit der Messerattacke auf einen orthodoxen Juden eine der schlimmsten antisemitischen Attacken, die Zürich seit langem erlebte.

In meiner Predigt von Zwinglis Kanzel sah ich meine Schwestern und Brüder aus Synagogen und Moscheen im Kirchenschiff – und wusste es: Die Predigt geriet in Resonanz zum Schrei der Klage. Die Klage verschmolz mit dem interreligiösen Gebet zur mitmenschlichen Solidarität gegen Gewalt, Rassismus und Antisemitismus.

Was geschah an diesem Samstagabend im März in Zürich? Yanis und seine beiden Kollegen besuchten den Kampfsportunterricht in Zürich. Es war Zufall – war es Zufall? -, dass sie just in einem Restaurant sassen im Kreis, wo viele Juden und Jüdinnen wohnen.

Yanis, eingebürgerter Westschweizer mit tunesischen Wurzeln, erzählte später: „Als wir gerade am Essen waren, rannte eine Frau ins Restaurant. Sie schrie, dass auf der anderen Strassenseite gerade ein Überfall stattfindet. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum, aber ich bin sofort aufgestanden und ging raus. Ich spürte, dass ich helfen kann.“  

Er beobachtete die Situation. Er sah, dass der Täter keine Waffe hatte. Durch seine Sportart, dem brasilianischen Jiu-Jitsu, packte er seinen Arm, brachte ihn zu Boden. Sein Kollege kam zur Hilfe. Der Täter suchte sein Nastuch. Er hat sich beim Angriff verletzt. Das Opfer lag daneben am Boden.

Yanis redete mit ihm. So blieb er wach. Wenn er die Augen schloss, berührte Yanis mit den Händen seine Knie und sagte immer wieder: „Sie dürfen nicht einschlafen!“. Nach fünf Minuten kam der Rettungsdienst.

Die Frau sah, und sie wusste es – sie rannte um Hilfe. Ist sie eine Heldin? Yanis sah, und wusste es – er ging sofort hinaus. Ist er ein Held? Später präzisierte Yanis im Radio: „Ich bin kein Held, sondern ein Bürger, der seinem Nächsten zu Hilfe gekommen ist. Und ich hoffe, dass jemand dasselbe für mich getan hätte, wäre ich das Opfer.“

Blättern jetzt einige von Ihnen, liebe Gemeinde, in der Bibel und schlagen das Gleichnis des barmherzigen Samariters auf (Lukas 10, 25-37)? Ich tue es auch. Da braucht es keine Pfarrer und Pfarrerinnen, kein professorales Wissen um biblische Texte, um auszulegen die brennende Frage von Ihm: „Wer ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden?“ (Lukas 10,36). „Ich bin kein Held, sondern ein Bürger, der seinem Nächsten zu Hilfe gekommen ist.“, sagte Yanis.

Durch den Umweg über das Grossmünster und Zürich sind wir da gelandet, wo geholfen wird. Wer jetzt glaubt, ich sei vom Weg der Auslegung des heute vorgesehenen Predigttextes abgekommen, täuscht sich. Ich lasse Grossmünster und mein Abschied nun auf der Seite. Ich gehe nicht weiter auf den barmherzigen Samariter ein.

Da taucht sie nun wieder auf. Die Frage, die ihr Fragezeichen hinter alles setzt, wo geholfen und Hilfe erfahren wird: Was sah er, als er sie sah, die Frau, seit 18 Jahren krank und gekrümmt? Er sah, und wusste es.

(1) Wenn dies passiert, also – wenn ich sehe, und dann intuitiv weiss – was geschieht mit mir? Ich spüre es, im Bauch, durch die Haare, die sich stellen. Das Herz beginnt, zu klopfen. Das verbindet mich mit den höher entwickelten Tieren. Ich erlebe die Szene. Ich werde von dem, was passiert, erfasst. Mit Haut und Haar werde ich hineingezogen und sehe, was fehlt und was im Überschuss da ist.

Wenn ich so sehe, so wahrnehme, geschieht das unmittelbar: Der Impuls, zu helfen, kommt, bevor ich bewusst nachdenke: Was ist meine Überzeugung? Was will ich? Wenn ich so sehe, wenn ich so wahrnehme, dann werde ich so in das hineingezogen, was passiert, dass ich mich damit identifiziere; ich werde identisch mit dem, was sich vor mir abspielt. Das, was faktisch ist, setzt das, was soll, in Resonanz. Beides fällt zusammen.

Hans Jonas, der bekannte Philosoph, sieht hier etwas vom Prinzip Verantwortung aufscheinen. Er war zutiefst überzeugt, dass es das gibt: Was faktisch ist, fällt zusammen mit dem, was faktisch soll. Er orientiert sich nicht an der Szene der kranken und gekrümmten Frau. Er weist auf das „Allvertrauteste“ hin: „das Neugeborene, dessen blosses Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen. Sieh hin und du weisst es.“

Die kranke Frau. Sie stand mit ihrem gekrümmten Rücken in der Synagoge. Ihr blosses Atmen richtet unwidersprechlich ihren Anspruch, dieses unwidersprechliche Soll an ihn. Was sah er, als er sie sah? Er sah dieses „Soll“. „Sieh hin, und du weisst es.“ Sagt der Philosoph. Er sah hin und wusste es. Und der Rabbiner rief sie herbei.

(2) Was schwingt in diesem Rufen mit? Ich kann mir nicht anders vorstellen, als dass er affektiv auf die Not der Frau reagiert. Er fühlte mit ihr. Er spiegelte das Gefühl der Frau in seiner Seele. Er erbarmte sich: Er rief sie herbei. Wer jetzt glaubt, endlich kommt der Pfarrer auf das Christliche zu sprechen, irrt sich zum zweiten Mal.

Seit den 90er Jahren können Neurowissenschaftler und Biologinnen die biologische Basis des Mitgefühls in den sogenannten Spiegelneuronen, also Nervenzellen einer bestimmten Gehirnregion, nachweisen. Bonobos wie Schimpansen, sie sind die nächsten Verwandten Primaten von uns Menschen, empfinden genauso Mitgefühl.

Indem ich das Gefühl des andern in mir spiegle, fühle ich mit, bevor ich beginne, nachzudenken darüber, ob ich soll oder nicht. Körperlich verständige ich mich mit dem andern, ohne, dass es mir bewusst ist.

Also: Die Gabe, mitzufühlen, unterscheidet uns Menschen nicht von Schimpansen. Diejenigen von Ihnen bekommen jedoch jetzt recht, die schon lange auf „Christliche“ der Predigt warten.

Der griechische Begriff, den ich mit Mitfühlen übersetze, bezeichnet in der Bibel fast ausschliesslich das Mitgefühl, das Jesus von Nazareth anderen erweist. Als er im Dörfchen Nain ankam, wurde ihm der Sohn einer Witwe hingetragen, der soeben gestorben ist. Jesus sah ihn, und wusste es. Er hatte Mitleid, Mitgefühl mit der Mutter und sagte zu ihr: Weine nicht! (Markus 7,13).

Die Leute wussten, wer so mitleidet mit der Frau, wer sich so erbarmt, wer so mitfühlt, in dem schwingt die Kraft Gottes mit. Sie haben gelernt: Gott ist es ja, der sich erbarmt den Kranken, Elenden, Witwen und Waisen. Das griechische Wort übersetzt das hebräische Wort „rächam“, das den Mutterschoss und die darin eingenisteten Gefühle beschreibt.

In der Synagoge wurden prophetische Schriften gelehrt, so auch der Satz Gottes aus dem Jesajabuch: „Würde eine Frau ihren Säugling vergessen, ohne Erbarmen mit dem Kind ihres Leibs. Selbst wenn diese es vergessen würden, werde doch ich dich nicht vergessen.“ (Jesaja 49,15). Das philosophische Prinzip beim Anblick des Neugeborenen: „Sieh hin und du weisst es.“ zeigt sich im jüdisch-christlichen Glauben als fundamentale Haltung Gottes.

Wer von uns Vätern jetzt glaubt, er sei beim Mitfühlen fein raus, irrt sich. Die Leute damals lehrten in der Synagoge: „Wie ein Vater sich der Kinder erbarmt, so erbarmt der Herr sich derer, die ihn fürchten.“ (Psalm 103,13). Kein Mensch kann sich davor entziehen, mitzufühlen. Der Samariter fühlte mit, als er das Opfer sah. Er erbarmte sich seiner.

Mitfühlen ist Mass aller Dinge für eine christliche Gemeinde und für eine christliche Haltung. Wer mitfühlt, steht in Resonanz zu Gott, der mitfühlt. Wer sich erbarmt, schwingt durch das Erbarmen Gottes. Wer aus dem Bauch heraus weiss, wenn er sieht, sieht mit dem Augen Gottes, und weiss es.

Wundern wir uns, dass die Leute um Jesus von Nazareth sagten, dass er Gottes Sohn sei? Und wundern Sie sich noch, dass ich ein Bauchgefühl habe, nicht als Pfarrer, sondern als Christoph, also als Christusträger oder als einer, der durch Christus getragen wird. Ich spüre tief in mir, was Christus mir zeigt, wenn er die Frau sieht, und sie zu sich ruft: Schau, Gott ist wie eine Mutter oder ein Vater: Er fühlt mit seiner Welt, die er geschaffen hat.

Er macht sich dem Schmerz von uns Menschen eigen. Du bist sein Geschöpf. Du bist sein Kind. Fühle mit. Mach Dir die Not des andern zur eigenen Not. Die Würde von Dir und dem andern liegt darin, dass sie immer verletzlich ist. Wenn Du mitfühlst, wenn der andere verletzt ist, anerkennst Du seine Würde. Die Würde meines Nächsten anerkennen?  Wie geht das?

(3) Liebe Gemeinde, ich bin durch die Auslegung eines Predigtverses aus der Geschichte der Heilung einer verkrümmten Frau am Sabbat mitten in die Frage geführt worden, wie geholfen wird. Zuerst sah Jesus, weil er wusste (1). Dann rief er sie herbei, weil er mitfühlte (2). Und jetzt hilft er, und wie! „Frau, Du bist von Deiner Krankheit erlöst.“ Er legte ihr die Hände auf. Sofort, auf der Stelle richtete sie sich auf. Erkenne ich die Würde des Andern darin, dass der andere sich aufrichtet, sich aufrichten kann?

In der Tat glaube ich das: Helfen heisst handeln. Handeln heisst, aufrichten. Aufrichten heisst, die Würde des anderen anerkennen. Die Würde den andern anerkennen heisst, auf Augenhöhe miteinander mitfühlen, wenn mit Messer attackiert und mit Worten fertig gemacht wird. Wer auf Augenhöhe mit anderen redet, ist schöpferisch, kraftvoll, ist aufrecht.

Schöpferisch: Das haben mich Frauen gelernt in ihrer Auslegung unseres Predigttextes mit dem Kontext unserer Geschichte im Lukasevangelium: „Jesu Zuwendung zu der Frau ist wie das Umgraben und Düngen des Feigenbaums, damit er Frucht tragen kann. Jesu Wärme und Nähe ist wie das kleine Senfkorn verborgenen Lebens, das wachsen lässt.“

Kraftvoll: Das haben mich die zwölf jüdischen Patriarchen gelernt, die in ihrem Testament, ca. 200 v. Christus geschrieben, hinterliessen, dass das Mitfühlen als Eigenschaft Gottes dem menschlichen Verhalten entsprechen soll. Dieses Verhalten reibt sich jedoch gewaltig an der Macht der Institutionen von Religion, Kirche und Staat.

Sebulon, der eine Patriarch, spricht glasklar: „Ich sah einen im Winter Not leiden wegen fehlender Kleidung. Und aus Mitgefühl mit ihm stahl ich ein Gewand aus dem Haus meines Vaters und gab es heimlich dem Notleidenden.“ Wenn Menschen in Not sind, können Gebote, Kirchenordnungen, Volksentscheide falsch sein. Fragt sich einer noch, ob die Bibel politisch und aktuell ist? Wundert sich einer, dass alle Gegner von Jesus sich schämten (Lukas 10,17).

Aufrecht: Das hat mich Hans Rudolf Hilty gelernt, ein Schweizer Schriftsteller und Publizist. Er übersetzt den Beginn der Bergpredigt: „Als er sah, wie viele es waren, erklomm er einen erhöhten Platz, damit ihn alle verstehen konnten. Seine Jünger baten um Ruhe. „Leute“, rief er, „Gott will den aufrechten Gang.“ Und als das Volksgemurmeln abgeklungen war. „Aufrecht gehen sollen alle, die Gewalt ablehnen. Ihnen gehört die Erde.“

Ich frage Sie: Ist diese Anweisung wörtlich zu nehmen? Führen sie im öffentlichen Leben nicht zu unhaltbaren Zuständen. Und regieren lässt sich damit schon gar nicht!

„Aufrecht gehen sollen alle, die sich mit dem Leiden des Menschen solidarisch fühlen. Ihnen die Solidarität aller.“

Ich frage Sie: Kann das für uns gelten, die wir als Bürgerin, als Bürger, für einen Staat verantwortlich sind? Kann von unserem Volk erwartet werden, dass es die gleichen Risiken auf sich nimmt wie die Jünger Jesu? Politisch gesehen war das Kreuz eine Niederlage.

Vom christlichen Glauben her war das Kreuz jedoch - auf der Stelle - der Sieg des Lebens mit seinem aufrechten Gang. Auf der Stelle richtete sie sich auf – und pries Gott! Was hindert uns, es ihr gleichzutun? Uns aufrichten, sofort? Gott zu preisen? Mit unserem Lied: Wer nur den lieben Gott lässt walten?

 

Amen.

Tauschgeschäft unseres Lebens

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Gottes Gnade wird uns, wie Martin Luther gerne sagte, umsonst zuteil – aber billig ist sie deshalb nicht! Anders gesagt: Manchmal müssen wir uns unseren Glauben schon etwas kosten lassen. Davon handelt der eben gehörte Predigttext dieses Sonntages. Die zwei Geschichten, die er – sehr knapp – erzählt, könnten in einer der vielen Regionen dieser Welt spielen, wo das Land nur wenigen gehört, die damit sehr reich geworden sind, während umso mehr Menschen in Armut leben.

I.

Ein Landarbeiter arbeitet auf seinem Acker. Wie jeden Tag. Der Acker gehört ihm nicht. Er arbeitet für einen anderen, den Landbesitzer. Hart ist die Arbeit und schlecht bezahlt dazu. Im steinigen Boden kann der Pflug nur langsam und mit Mühe seine Furchen ziehen. Der Schweiß rinnt dem Arbeiter von der Stirn. Eines Tages bleibt der Pflug stecken. Immer an derselben Stelle. Wohl ein großer Stein unter der Erdoberfläche. Der Arbeiter flucht lauthals. Es hilft nichts, jetzt muss er graben. Den harten Stein mit bloßen Händen aus der Erde herausbuddeln. Aber dann geht es leichter als gedacht. Er stößt nicht auf Fels, sondern auf Ton. Ein Krug kommt zum Vorschein. Er lässt sich nur schwer hochheben. Leer ist er sicherlich nicht. Der Landarbeiter öffnet den Deckel – es haut ihn um: Münzen aus purem Gold bis obenhin! Wenn der ihm gehörte, er hätte ausgesorgt bis ans Lebensende. Und der Patron müsste sich nach einem neuen Arbeiter umsehen.

Jetzt bloß keinen Fehler machen, kühlen Kopf bewahren! Niemand hat das hier gesehen. Also alles wieder so herrichten, wie es war: Deckel auf den Krug, Krug in die Erde. Und mit der Hand noch eine Furche drübergezogen. Niemand wird etwas merken. Und dann schnell nach Hause und nachgerechnet. Das wenige, was er hat, und vieles wenige von vielen anderen geliehen: das müsste ausreichen. Er geht zum Landbesitzer: „Diesen Acker, auf dem ich schon so viel geschuftet habe, den will ich haben. Du kannst gut auf ihn verzichten. Aber ich habe ihn mit meinem Schweiß und mit Herzblut getränkt.“ Der Patron hat heute einen guten Tag und willigt ein. Zumal er schnell kalkuliert, dass die Summe, die sein Arbeiter ihm zur Ablösung des Ackers bietet, höher ist als der zu erwartende nicht sehr üppige Ernteertrag. Auf dem Heimweg kann der Arbeiter kaum an sich halten. „Ich hab einen Schatz gefunden. Der ist genug für mein ganzes Leben“, hämmert es in seinem Kopf. „Jetzt hab ich‘s geschafft! Endlich und für immer!“

Noch eine zweite Geschichte. Im Orient mag sie sich zugetragen haben. Irgendwo in einem Bazar, wie wir ihn vielleicht schon im Urlaub erlebt haben. Händler an Händler. Alle orientalischen Düfte. Gewürze, süße Köstlichkeiten, Tee und Kaffee. Mittendrin ein Kaufmann. Er handelt mit Schmuck. Alles, was man sich nur vorstellen kann. Kostbares Geschmeide. Glitzernde Armreifen. Perlen und Edelsteine aller Art. Er kauft und verkauft. Wird reingelegt und haut selber andere übers Ohr. Die Jahre haben ihn abgezockt werden lassen. Er hat viel Ahnung von Schmuck. Sieht, was sich lohnt. Weiß, wovon man besser die Finger lässt. Vom ganz großen Coup träumt er, seit er Kaufmann ist. Tun sie alle, wenn sie abends beieinandersitzen. Sagenhaft schöne Perlen soll es geben. Ein Vermögen wert. Aber keiner hat je eine solche Perle gesehen.

Dann, irgendwo bei einem anderen Händler, als er wieder einmal auf der Suche ist nach neuem Geschmeide, traut der Kaufmann seinen Augen kaum. Mitten unter vielen Mainstream-Stücken sieht er sie liegen. Eine Perle, noch schöner, als er sie sich je hat ausmalen können. Der andere Händler ist noch jung und unerfahren. Aufgefallen ist ihm die Schönheit dieser Perle schon. Aber ihren Wert erahnt er nicht. „Die Perle will ich“, sagt der Kaufmann. Der andere nennt ihm einen Preis. Zwar ein Betrag, wie er noch nie einen hat zahlen müssen; zugleich aber klar weniger, als diese Perle wert ist. Der Kaufmann schlägt in das Angebot ein, auch wenn er noch nicht weiß, wie er das finanziell dargestellt kriegt. Seine Augen sehen nur die Perle. Und in seinem Kopf ist nur der eine Gedanke: Ich muss sie haben. „Gut“, sagt der andere, „sie gehört dir. Aber dass du nur ja zügig zahlst!“ – Himmlisch, das Gefühl, so eine Perle sein Eigen zu nennen, denkt der Kaufmann und macht sich auf den Weg, um das geforderte Geld zu beschaffen. Allein wegen dieser Perle hat es sich schon gelohnt, Kaufmann zu werden. Verkaufen aber würde er diese Perle so schnell nicht.

II.

Wie mit diesen beiden Geschichten, wie mit dem Schatz im Acker und wie mit der kostbaren Perle, ist es auch mit dem Himmelreich.“ Mehr als diesen lapidaren Satz sagt Jesus nicht. Zwei Gleichnisse Jesu haben wir gehört, die zu seinen kürzesten gehören. Gleichnisse sind Geschichten, die in Bildern von Inhalten reden, die wir mit Sprache allein nicht erfassen können. Bilder sind die Sprache der Seele. Sie sind verständlicher, einprägsamer als abstrakte Satzgebilde. Weil sie bei unseren Erfahrungen ansetzen. Und besser als pure Worte können sie vermitteln, dass wir uns unseren Glauben manchmal etwas kosten lassen müssen. Der Verstand sagt uns ja: Diese beiden Menschen, der Landarbeiter und der Kaufmann, die sind durchtrieben, moralisch zweifelhaft. Sie behalten ein Wissen für sich. Erwerben sich den Acker bzw. die Perle unter fragwürdigen, ja unlauteren Bedingungen. Wer heute so agiert, macht sich möglicherweise sogar strafbar. Der unverhofft gefundene Krug mit dem Gold gehört entweder dem, der den Acker besitzt. Oder vielleicht sogar der Allgemeinheit. Heute würde dieser Krug wohl im Museum landen. Der Besitzer des Ackers bekäme eine Abfindung. Und sein Arbeiter, der den Krug entdeckt hatte, höchstens einen Finderlohn. Nicht viel anders wäre es mit der kostbaren Perle. Käme der Vorbesitzer dahinter, dass sein Kunde ihn kaltblütig übervorteilt hat, zöge er wohl gegen ihn vor Gericht.

Und so, liebe Gemeinde, soll im Himmelreich zugehen? Solche Gestalten stellt Jesus uns als lebenskluge Vorbilder vor Augen?! Aber man kann noch einen etwas anderen Blick auf die beiden Männer werfen. Die dieses Gleichnis von Jesus damals gehört haben, waren auf jeden Fall solche, denen Schweißperlen vertrauter waren als Perlenschmuck. Und doch konnten sie mit dem Gleichnis sicherlich viel anfangen. Gerade weil sie wegen ihres dürftigen Lebensalltages nüchterne Hörer waren, ohne Illusionen über ihre Lage. Und so sind die beiden Figuren des Gleichnisses ja auch: Sie verhalten sich nüchtern und sind cool. Von einem Großkaufmann wie dem Perlenhändler kann man das auch erwarten. Er hat einen Blick dafür, wo sich ein Geschäft lohnt. Perlen wurden zur Zeit Jesu noch mehr geschätzt als Edelsteine. Dem Perlenhändler im Gleichnis bot sich der Deal seines Lebens an. – Im ersten Teil des Gleichnisses geht es noch weniger korrekt, aber auch sehr nüchtern zu. Juristisch ist das Verhalten des Tagelöhners ein klarer Verstoß gegen das damals gültige Fundrecht. Wir haben es hier mit einem durchtriebenen, genau kalkulierenden Typen zu tun. Aber Jesus rechnet offenbar damit, dass seine Zuhörer zumindest insgeheim Verständnis für ihn empfinden. Sie hätten es doch wohl auch nicht anders gemacht.

Jesus spricht in diesem Gleichnis vom Himmelreich also nicht wie in einem orientalischen Märchen, sondern wie von einem Vorgang in der Geschäftswelt, der nüchternes Kalkulieren erfordert. Das Himmelreich hebt sich nicht wie ein Märchen, zu schön um wahr zu sein, von unserer schnöden Realität ab, sondern es bricht mit Jesu Hilfe in unsere schnöde Wirklichkeit ein: in der jeder nach seinem Vorteil schaut. Gott weiß also, zu wem er kommt. Und deshalb scheut Jesus dieses Gleichnis auch nicht. Beide Male wird die Lage nüchtern eingeschätzt. Ein enormer Mehrwert bietet sich an, etwas aus sich zu machen, was bis dahin unmöglich war. Diese Chance lohnt es, alles herzugeben, was man hat: Geld und Gut, sogar eine (vielleicht gar nicht mehr so) reine Weste.

III.

Aber nun entfaltet Jesus dieses sehr irdische Bild, um seinen Zuhörern und heute auch uns zu sagen: So nüchtern also sollten auch wir unsere Lage im Blick aufs Himmelreich einschätzen. Denn mit ihm, dem Himmelreich, verhält es sich wie mit einem im Ackerboden verborgenen Schatz und einer unfassbar wertvollen Perle. Die beiden Menschen, die sie entdecken, tun alles dafür, sie zu erwerben. Das Himmelreich ist also zu haben. Jesus bietet es an. Jeder, der ihn hört, kann es erwerben. Den beiden Gleichnis-Protagonisten fällt ihr Schatz ja nicht einfach so zu. Sie haben ihn nur unverhofft entdeckt. Gehören tut er ihnen deshalb noch lange nicht. Wenn der glückliche Fund zum Glücksfall ihres Lebens werden soll, dann muss man alles andere drangeben. Der Lohnarbeiter, der Händler – sie bekommen ihren Schatz nicht als Gratifikation. Sie erhalten ihn gleichsam im Tausch – auch wenn das, was ihnen winkt, das, was sie drangeben, um ein Vielfaches übertreffen mag. Mitten im Leben hat sie plötzlich etwas angerührt, was der große Schatz ihres Lebens sein könnte. Das ist das eine. Das Wunderbare, Beglückende. Diesen Schatz dann aber auch umzutauschen in die Münzen des eigenen Lebens, alles andere dafür dran zu geben: das ist das andere. Und auf jeden Fall der schwierigere Teil unserer lebenslangen Schatzsuche.

Mittlerweile gibt es einen nicht mehr zu überblickenden Markt, auf dem Menschen sich als Wegbegleiter bei der eigenen Schatzsuche anbieten. Das Ziel, glücklich zu leben, ist längst zum ausgetüftelten Programm geworden. Die Verdienstmöglichkeiten auf diesem Feld sind immens. Wir in den Kirchen stehen manchmal hilflos und wie gelähmt daneben. Dabei können wir doch aus einem Schatz austeilen, der hilft, dem Leben auf die Spur zu kommen. Denn das Himmelreich, das wir laut Jesu Worten erwerben können wie der Tagelöhner den Schatz und der Händler die Perle, ist ja Gott selbst. Gott bietet sich als die Chance unseres Leben an. Und das, so will uns Jesus sagen, lohnt jede nüchterne Kalkulation. Was haben wir? Was bringen wir mit in so ein Geschäft? Was wir haben und einbringen können, reicht jedenfalls nicht, um den Mehr-Wert des Himmelreichs zu erwerben. Wie wenig das alles ist, erkennen wir, wenn Gott mit seinem Reich, seinen Schätzen sich uns zu erkennen gibt. Wir bringen in der Regel ein Leben mit, in dem manches gut und manches böse war, in dem eher selten Siege zu feiern, und öfter Niederlagen zu betrauern waren. Was wir mitbringen, ist eine Welt, in der Menschen einander viel zu viel Unrecht und Böses tun. Ja, wenn Gott vor uns tritt, dann sind wir Bettler, wie Martin Luther gerne sagte.

IV.

Aber eben darum hat Jesus seine Gleichnisse von Gottes neuer Welt erzählt. Gerade weil wir Bettler sind, hält er daran fest, dass das Himmelreich für uns zu haben ist. Und zwar so, dass Jesus all das, was uns berückt, belastet, womit wir nichts anfangen können, für sich haben will. Unser Versagen und unsere Schuld, alles, was uns in unseren Händen missraten ist, was wir an Altlasten so mit uns schleppen, kurz: was uns kein anderer abnehmen kann und will: Jesus will’s für sich haben. Jesus ist an diesem seltsamen Geschäft mit unseren Negativposten interessiert. Was er damit anfangen kann? Nicht viel. Aber eines doch: Jesus kann unsere Schuld uns wegnehmen, indem er sie auf sich nimmt. Und das kann nur er allein. „Seht das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29): mit diesem Wort weist Jesu Täufer Johannes bereits zu Beginn von Jesu Weg auf dieser Welt auf das tiefe Geheimnis dieses Weges hin.

Das ist das Evangelium, im Wortsinn die frohe Botschaft von Jesu Kommen zu uns und seines Gleichnisses: Gottes Himmelreich geht nicht an unserer rauen Wirklichkeit vorbei, sondern nimmt es mit ihr auf und verarbeitet sie. Wo ein Leben mit all seiner Schuld, seinen Abgründen ihm überlassen wird, da ist das Himmelreich dabei, mit unserer Wirklichkeit fertig zu werden. Und das ist ein super Geschäft! Rein fiskalisch für Gott ein Verlustgeschäft, weil es für ihn ein Geschäft der Gnade ist. Wir dagegen können bei diesem göttlichen Deal nur gewinnen. Zahlen tun wir mit unserer Schuld – und erwerben damit Gottes Barmherzigkeit. Wir geben in Zahlung, was wir aus uns gemacht haben. Und bekommen dafür uns selbst zurück – als Menschen nämlich, aus denen Gott etwas machen will. Und was Gott macht, was Gott tut, das ist wohlgetan.

 

Amen.

 

Gott ehren – Frieden machen – Gefallen.

Im Gedenken an Sigrid Kühnemann
Impuls im Rahmen der Orgelandacht, gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Als Wochenspruch, das ist eine Art biblisches Leitmotto, steht in der ev. Kirche über dieser Woche ein Vers aus dem Epheserbrief: „Nun seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ Da wird in einem einfachen Bild etwas Grundlegendes ausgesagt, das die Bibel von A bis Z durchzieht. Aus Gästen, ja Fremden werden Mitbürger, sogar Mitbewohner. Das ist schon im ganz normalen Leben eine bedeutsame Bewegung und Veränderung. Und in einer Gesellschaft erst recht. Wir und etliche andere Länder Europas erleben das ja seit 10 Jahren sehr konfliktreich.

I.

Fremdling – Gast – Mitbürger – Hausgenosse: Für Sigrid Kühnemann, derer wir heute dankbar gedenken, ist das eine existentielle Lebenserfahrung geworden. Und darüber wurde es ihr dann zum bewusst gestalteten Lebensthema. 1939 unmittelbar vor Ausbruch des großen Welt-Infernos in Breslau zur Welt gekommen, hat sie als kleines Kind schreckliche Erfahrungen mit dem Krieg und vor allem dessen handfesten persönlichen Folgen gemacht: Die Zerstörung der wunderbaren Heimatstadt, die bedrohliche Flucht nach dem norddeutschen Westen, in eine gänzlich unbekannte Region und Kulturkreis. Die Familie war dort erst einmal Fremdlinge, noch nicht einmal Gäste, von geachteten Mitbürgern ganz zu schweigen. Sigrid Kühnemann muss in jenen frühen Kindheitsjahren des Krieges und der Vertreibung Alptraumhaftes erlebt haben, worüber sie auch später kaum je sprach. Hier wurde sicherlich ein tiefer Grund dafür gelegt, dass ihr Frieden und Versöhnung, und dass das nicht einfach von Himmel fällt, sondern hart erarbeitet und auch erbetet werden muss, zum Lebensthema wurden. Nicht nur, aber vor allem und besonders sichtbar für ihr Lebens-Engagement für dieses Haus, den Friedens- und Versöhnungsort Frauenkirche.

Der Frieden auf Erden war ihr, die sie, gerade als er der Erde verloren gegangen war, auf dieselbe kam, gleichsam in die Wiege gelegt worden. Durch den Gesang der Engel über dem Hirtenfeld aus der Weihnachtsgeschichte des Lukas: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Dieses Engelswort, das wir Christen in jeden Gottesdienst im Gloria singend aufnehmen, haben ihre Eltern Sigrid Kühnemann als Taufspruch gegeben. Gott die Ehre geben – für Frieden auf Erden arbeiten – Menschen Wohlgefälliges tun: dieser Dreiklang wurde, man kann es ohne Übertreibung sagen, zum Soundtrack ihres Lebens.

II.

Der erste Ton: Ehre sei Gott! Ihre tiefe Verwurzelung im Glauben, speziell in seiner lutherischen Form, hatten bereits ihre Eltern bewirkt, und auch die streng orthodoxe Altlutherische Kirche, in der sie groß wurde und den Glauben leben lernte, von der sie Jahrzehnte später, nach ihrer Heirat mit Wolfgang Kühnemann indes in die weitere, liberalere Landeskirche konvertierte. Dem Gott, von dem sie sich von Kindesbeinen an behütet und bewahrt erfahren hatte, die Ehre zu geben, das wurde dann ein entscheidender Antrieb für das fast ihre gesamte zweite Lebenshälfte prägende Engagement für die Frauenkirche: ihren Wiederaufbau, und nachdem der vollendet war, das Leben in ihr. Erschüttert stand sie unmittelbar nach der Wende mit ihrem Mann hier vor der Ruine. Saxa loquuntur – Steine können sprechen: die Trümmer wurden für die beiden zur stummen, aber unwiderstehlichen Aufforderung, den gerade in die Welt geschallten „Ruf aus Dresden“ auch als an sich persönlich gerichtet zu hören. Was daraus geworden ist, hat Sigrid Kühnemann zu einer lebenden Frauenkirchen-Legende werden lassen. Dieses Haus in seiner ja nicht wirklich protestantisch anmutenden überschießenden Barockpracht und Herrlichkeit, die sie an ihre Herkunft aus dem Habsburgisch geprägten Breslau erinnert haben mag, wieder erstehen zu lassen und eben darin Gott, für den auch die prachtvollste Darstellung aus Menschenhand nur ein ferner Abglanz sein kann, die Ehre zu geben: das war ihr über 34 Jahre Lebensinhalt und -aufgabe. Manchmal sagte sie, dass das Projekt Frauenkirche für sie und ihren Mann, denen Kinder nicht geschenkt waren, ihr Kind geworden sei. Das verschmitzte Augenzwinkern konnte dabei nicht gänzlich verdecken, dass da auch ein Schmerz mitschwang.

Als die Frauenkirche dann im neuen Glanz wiedererstanden war, hat sie das Gloria in excelsis, das „Ehre sei Gott in der Höhe“ durch ihren unermüdlichen Lektorendienst in unseren Gottesdiensten gelebt. Mindestens vier Mal jedes Jahr kam sie mit ihrem roten Audi nach Dresden gebraust, um die Freunde wiederzusehen, die sie hier gewonnen hatte, und um mit Freude und großem geistlichen Ernst diesem liturgischen Dienst nachzukommen. Es war nur 10 Tage nach ihrem plötzlichen Tod, der Sonntag, zu dem sie sich wieder als Lektorin eingetragen hatte. Und auch aus der norddeutschen Ferne nahm sie regen Anteil am geistlichen Leben hier. Oft schrieb sie mir per Mail eine schöne Resonanz auf eine Predigt, die sie auf unserer Homepage nachgelesen hatte.

III.

Der zweite Ton: Friede auf Erden. Ich deutete schon an, wie sehr es biografisch bestimmt war, dass für Sigrid Kühnemann die Ehre Gottes und der Frieden in der Welt, man kann auch ganz einfach sagen: Glauben und Handeln, Kontemplation und Aktion, zusammengehörten, ohne einander nicht zu denken waren. Deshalb suchte sie bald Verbindung zu Dresdens Partnerstadt Coventry und reiste dorthin, tief berührt von dem zu Dresden spiegelverkehrten Schicksal, das deutsche Bomber dieser Stadt bereitet hatten. Und von der Kraft der Versöhnung, die von der dort neu aufgebauten Kathedrale in die Welt ging. So sollte es in der Frauenkirche auch sein, sie müsse ein Ort des Friedens, der gelebten Versöhnung werden: davon war sie durchdrungen. Ob wir dieser Sehnsucht, die ja auch einen hohen Anspruch in sich trägt, gerecht geworden sind?

Jedenfalls nahm sie das Motto des Wiederaufbaus „Brücken bauen – Versöhnung leben“ beherzt auf und entfaltete mit dem von ihr gegründeten Frauenkirchen-Freundeskreis Celle eine unglaubliche Aktivität im Fundraising und Spendensammeln. Zahlreiche Benefizkonzerte mit der Trompeten-Legende Ludwig Güttler, dem prominentesten Gesicht der Wiederaufbau-Bewegung hat sie organisiert, und schließlich hatte der Celler Freundeskreis so viel gesammelt, dass mit diesen Mitteln einer der acht Pfeiler der Frauenkirche finanziert werden konnte – der Pfeiler B, der als „Kühnemann-Pfeiler“ in unsere Annalen eingegangen ist. Und vieles andere mehr, das zu erinnern diesen Rahmen hoffnungslos sprengen würde. Jedenfalls: der 30. Oktober 2005, der Tag der feierlichen Indienstnahme der neuen alten Frauenkirche, wurde für sie zu dem archimedischen Fixpunkt ihres Lebens. Natürlich war dabei auch entscheidend wichtig, dass sie auf dem Weg dorthin ihren geliebten, 18 Jahre älteren Mann hatte hergeben müssen. Der Einsatz für das Gelingen des Projekts war für sie also auch die Erfüllung eines Vermächtnisses. So wurde Sigrid Kühnemann zu der Säule der Wiederaufbau-Community schlechthin.

IV.

Und noch der dritte Ton: Den Menschen ein Wohlgefallen. Ich sagte es schon, neben all den inhaltlichen Gründen hat auch die pure Schönheit, der Glanz und die Anmut dieses barocken Gotteshauses das Projekt Frauenkirche für Sigrid Kühnemann so bedeutsam gemacht. Sie war nicht nur die zupackende Macherin; sie war vor allem auch ein Mensch des Sinnlichen, Ästhetischen. Mit ihrer farbenfrohen, eleganten Kleidung, ihrer souveränen Vornehmheit, war sie das Inbild einer „Dame von Welt“ – ein in diesem Hause immer besonders geschätzter Typus. Wo sie auftrat, füllte sie den Raum aus. Sie wollte Schönheit um sich, an der andere ihr Wohlgefallen haben; sie gefiel und wollte auch gefallen. Natürlich war sie da nicht frei von kleinen Eitelkeiten; aber wer, außer puritanischen Hardcore-Protestanten, ist das schon? Und doch war sie bei aller vornehmen Aura, die sie verströmte, von umwerfender Menschlichkeit und Herzlichkeit. Bewegte sie sich einerseits wie ein Fisch im Wasser in den sog. ersten Kreisen, eng befreundet mit Musiker-Legenden wie Peter Schreier oder Herbert Blomstedt, begegnete sie doch auch uns Normalsterblichen, bis zu den Küstern, den Einlasshelfern der Frauenkirche ganz zugewandt und auf Augenhöhe.

V.

Ehre sei Gott – Frieden auf Erden – den Menschen ein Wohlgefallen: Das ist die biblische Entsprechung zum Frauenkirchen-Dreiklang „Glauben stärken – Versöhnung leben – Brücken bauen“. Sigrid Kühnemann hat ihn in ihrem ganzen Menschsein mit Leben gefüllt. Und so einen unschätzbaren Beitrag geleistet, dass die Frauenkirche, in die so viele als Gäste, ja auch als Fremdlinge hineinkommen, für viele über kurz oder lang ein Ort geworden ist, wo sie sich als Mitbürger und Gottes Hausgenossen erfahren haben.

Goethes Türmer Lied in seinem Faust II mündet in die staunende Feststellung, die man manchmal über Traueranzeigen lesen kann: „Ihr glücklichen Augen, / Was je ihr gesehn, / Es sei wie es wolle, / Es war doch so schön!“ Das hätte Sigrid Kühnemann, wäre der Tod nicht so unerwartet gekommen, sondern hätte sie sich vorbereiten, Abschied von dieser Welt nehmen können, ganz gewiss als Saldo unter ihr Leben gezogen! Wie wird sie, die sich so freuen konnte an den vielen kleinen und großen Schönheiten, mit denen uns Gott täglich beschenkt, jetzt erst staunen, da sie sich von allen Seiten umgeben erfährt von dem schönen Licht des barmherzigen Gottes. Sie kann nun schauen, woraufhin sie gelebt und geglaubt hat.


Amen.

Zwischen Klarheit und Grauzonen

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

es ist noch Nacht in Ephesus, einer Stadt an der Küste Kleinasiens, etwa auf der Höhe von Athen auf der anderen Seite der Ägäis gelegen. Eine Gruppe von Menschen macht sich im Schutz der Dunkelheit auf den Weg zu dem kleinen Fluss, der etwas außerhalb liegt. Schweigend gehen die etwa zwei Dutzend Menschen durch die engen Gassen. Männer und Frauen. Sogar einige Kinder sind dabei. Angst haben sie keine. Aber sie wollen nicht gesehen werden. Man weiß ja nie! Erst in einigem Abstand zur Stadtmauer lassen sich Wortfetzen vernehmen. „Ich freue mich“, hört man eine junge Frau sagen. „Du gehörst jetzt dazu!“, lässt sich eine andere Stimme vernehmen. „Du wirst ein anderer Mensch werden!“ Ein alter Mann sagt das. Weisheit und Lebenserfahrung geben seiner Stimme einen vertrauenerweckenden Sound.

Unten am Fluss ordnet sich die Gruppe neu. Eine Handvoll Menschen hat sich vom Rest etwas separiert. Sie haben ihre Kleider abgelegt, sind nur noch mit einem Tuch bekleidet. Daneben formiert sich eine weitere Gruppe. Sie summt eine eingängige Melodie. Wie ein Chor. Zwischen beiden Gruppen steht der alte Mann. Er gibt ein Zeichen, es wird still. Dann fängt die größere Gruppe an zu singen: „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“ Immer wieder singen sie diese Strophe, so wie heute bei den Taizé-Gesängen. „Wach auf, der du schläfst“. Aufwachen, das müssen die meisten tatsächlich erst noch. Es ist noch ganz früh am Tag. Und sie sind noch müde. Auch wenn das Lied etwas ganz anderes meint.

Die ersten Sonnenstrahlen sind zu erahnen. Es reicht, um lesen zu können. Der alte Mann liest Texte aus der Hebräischen Bibel vor. Von der großen Flut, die die Erde fast hätte untergehen lassen. Vom Exodus, dem Auszug aus der Sklaverei in Ägypten. Dann wendet er sich an die kleine Gruppe derer, die nur noch ein Tuch tragen. Nacheinander legen sie das Tuch ab. Steigen mit dem Alten in den Fluss. Der packt jeden von ihnen nacheinander an den Schultern und drückt ihn unter Wasser. Jeweils dreimal hintereinander. Dabei ruft er über ihnen den Namen des dreieinigen Gottes aus. Wieder dem Wasser entstiegen, reicht ihnen einer ein Stück Stoff, damit sie sich abtrocknen können. Dann bekommt jeder der Untergetauchten ein schneeweißes Kleid gereicht. Das werfen sie sich über. Weiß leuchtet das Leinen in der jetzt schon stärker aufstrahlenden Sonne. Alle stehen sie wieder nebeneinander. Jetzt strahlen sie. „Wie neugeboren!“, sagt einer. Dann setzt der Chor wieder ein. „Bis jetzt wart ihr Finsternis. Nun aber seid ihr Licht. Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts! Die Frucht des Lichts ist Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“

Alle spüren: Das ist ein besonderer Moment. Etwas Großes ist gerade geschehen. Die Menschen, die dem Wasser entstiegen sind, die sind nicht mehr die alten. Mit und in ihnen ist etwas anders geworden. „Bis jetzt wart ihr Finsternis. Nun aber seid ihr Licht.“ Voller Glanz strahlen die weißen Kleider der Neugewordenen jetzt in der Morgensonne. Nicht nur der Tag ist heller geworden. Die ganze Welt, so ist es allen Beteiligten, ist ein wenig heller geworden.

I.

Liebe Gemeinde, natürlich haben Sie längst gemerkt, was ich da erzählt habe: von einem Taufgottesdienst zur Zeit der ersten Christen. So sehr anders als vor 2.000 Jahren laufen Taufgottesdienste heute auch nicht ab. Der, den ich eben erzählt habe, hat tatsächlich vor 2.000 Jahren stattgefunden. Vor den Toren von Ephesus. Genau mit den eben zitierten Liedern aus der Taufliturgie. Ein Unbekannter hat deren Texte aufgeschrieben. Diese Niederschrift ist erhalten geblieben – denn sie hat Eingang ins Neue Testament gefunden. Der das damals aufschrieb, ist ein Schüler des Apostels Paulus. Paulus selbst ist da nicht mehr am Leben. Aber seine Predigten und Briefe werden immer noch gelesen. Sie zirkulieren in den Gemeinden,  werden bearbeitet, mit neuen Erfahrungen angereichert. Der heutige Predigttext stammt aus einem solchen Rundschreiben. Irgendwann landet auch eine Kopie in Ephesus. Es ist kein klassischer Brief. Eher eine Taufpredigt, die zu einem Brief umgestaltet wurde. Und ergänzt durch Lieder und Texte aus der Taufliturgie. Vermutlich haben die Christ*innen in Ephesus das alte Tauflied schon gekannt.

2.000 Jahre dauert sie schon, die Geschichte der Kirche. Und damit auch 2.000 Jahre Geschichte der Taufe. 2,5 Milliarden Menschen auf dieser Erde sind zurzeit getauft. Damit ist das Christentum weltweit die verbreitetste Religion, vor Islam und Hinduismus. Keine Ahnung, wie groß die Zahl wäre, wenn man alle Menschen summiert, die in diesen 2.000 Jahren getauft wurden. Auf jeden Fall etliche Milliarden Menschen, die, mit unserem Predigttext zu sprechen, einst Finsternis waren und zu Licht wurden. Und ihr Licht – wie der Epheserbrief klar sagt – dann auch leuchten lassen sollten. Wie diese Welt aussähe, wenn sie alle ernst gemacht hätten mit dem, wozu ihre Taufe sie einst berufen hatte? 2,5 Milliarden Menschen heute, die ihre Früchte des Lichts aufleuchten lassen: „Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit“. Irgendwie, denke ich, müsste man das doch merken! Bei den Opfern von Hunger, Krieg, Gewalt und Missbrauch. Bei den Resignierten und Hoffnungslosen. Den Zynikern und den Wutbürgern. Diese Welt ist ja kein guter, friedlicher Ort. War sie noch nie, und ist sie aktuell schon gar nicht.

II.

Unser Predigttext besteht aus den beiden Taufliedern am Anfang und am Schluss – und dazwischen einer kleinen Predigt. Diese kleine Taufermahnung, die mit der Aufforderung beginnt: „Nun lebt auch als die, ihr jetzt seid, nämlich Kinder des Lichts!“ Und weiter: „Fallt nicht zurück in die Finsternis und haltet euch von denen fern, die Kinder der Finsternis sind“. Aber wer sind das eigentlich, die Kinder der Finsternis? Sind das die Kinder, die man „Systemsprenger“ nennt, über denen ständig eine dunkle Wolke aus Wut und Aggression zu stehen scheint, bei denen ihre Eltern mit ihrem Latein am Ende sind? – Sind das die Verzweifelten, die sagen: Nie gelingt mir etwas, immer habe ich das Nachsehen?! – Sind das die, die nicht mehr an Gott glauben können, weil sie so Schlimmes erlebt haben, dass ihnen alles Licht wie ausgeknipst erscheint? Sind das verschwörungsgläubige Untergangspropheten, die überall nur Niedergang, Zusammenbruch sehen und hinter all dem einen bösen Masterplan weltumspannender geheimer, jüdisch gesteuerter Mächte?

Was auch immer wir da eintragen bei der Finsternis und ihren „Kindern“, eins ist gewiss: Jesus hat von Anfang bis Ende, von der schäbigen Futterkrippe bis zur Verlassenheit am Kreuz, die Finsternis nie gescheut. Er ist zu ihnen gegangen, den Kindern der Finsternis, zu denen, um die die anderen einen weiten Bogen machten. Von denen sie sagten: Das sind Sünder! Zu den Mädchen, die auf dem Straßenstrich landeten. Zu denen, die aufgrund von Krankheit als „unrein“ galten. Zu denen, die als Geldeintreiber verhasst waren. Jesus ist zu denen gegangen, die Hunger hatten nach Brot und Durst nach Gerechtigkeit, weil sie beides nicht erfuhren. – Und am Ende ging er frontal in die totale Finsternis. Es wurde stockdunkel über dem Kreuz, mitten am Tag. Und Jesus, vom Dunkel besiegt, rief: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er ließ sich verschlucken von der Finsternis, damit keiner mehr auf Dauer von ihr verschluckt bleibt.

Derselbe Jesus sagt von sich: Ich bin das Licht. Und du kannst auch Licht sein für diese Welt. Lebe als Kind des Lichts! Du musst das Licht in dir nicht erst selbst entzünden. Es ist schon da, es leuchtet aus Gottes Augen, die dich liebevoll anschauen. Sei ein Kind des Lichts: nicht als Held, sondern als Mensch, der darum ringt, das Licht zu hüten und dem es nicht immer gut gelingt. Als Mensch, der sein Leben nicht leicht meistert und Fehler macht. Auf solchen ruht das Licht Gottes.

III.

Und dann geht es in unserem Abschnitt noch um eine andere Wirkung des Lichts. Um die aufdeckende. Da wird auch etwas „ans Licht gebracht“. Da werden die Werke des Lichts von den Werken der Finsternis unterschieden. Ach, wenn das so einfach wäre! Was Licht ist, und was Finsternis – so leicht lässt sich das ja oft nicht entscheiden. Unser Leben spielt vielfach in komplizierten, manchmal diffusen Grauzonen, zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen. Oft bleibt uns nach langem Abwägen nur, zwischen zwei gefühlten Übeln das kleinere zu finden.

Keine Gewalt, nie wieder Krieg – ja! Denn nichts ist gut – nicht nur in der Ukraine und in Nahost, sondern an vielen Orten dieser Welt, die nicht im Licht unserer Aufmerksamkeit sind. Aber wenn’s zum Schwur kommt, wenn es um die Abwehr von verbrecherischen Angriffskriegen, um Willkür und die brutale Durchsetzung des Rechts des Stärkeren geht, können wir unsere Hände nicht so leicht in pazifistischer Unschuld waschen. Das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“, schließt doch auch ein: Du sollst nicht töten lassen! Du sollst nicht zusehen, wenn Dein wehrloser Nachbar vernichtet werden soll. Was ist hier Finsternis? Was ist hier Licht? Oder: Keine genetischen Eingriffe in unser Erbgut und in unsere Lebensmittel – ja! Aber wenn dann ein solcher mein Leben rettet oder das eines geliebten Menschen?! Wenn auf dieser Basis ein neues Medikament, ein Impfstoff entwickelt wird, oder irgendwo in Afrika der Mais gegen Schädlinge resistenter wird, so dass die Menschen zu essen haben: Was ist hier Finsternis? Was ist hier Licht? Immer die Wahrheit sagen – ja! Immer unsere Türen offen halten für Fremde, die Schutz suchen – ja! Keine Geschäfte mit einem Diktator machen – ja! Vom PKW konsequent auf öffentlichen Verkehr umsteigen – ja, schon! Die Liste kann sehr lang werden. Aber dann brauche ich Herrn Erdogan für einen Flüchtlingsdeal. Dann nehme ich doch wieder das Auto, um Zeit zu sparen. Unter der Hand wird aus dem Ja ein Ja, aber! Was ist dann Finsternis? Was ist dann Licht?

IV.

Ja, auch unser Leben als Getaufte spielt sich in all diesen Grauzonen ab. Die feine Unterscheidung von Licht und von Finsternis: manchmal ist sie einfach unmöglich. Aber manchmal werden wir auch ertappt. Weil das Licht der Taufe aufdeckt, ans Licht bringt, was wir lieber unter den Teppich gekehrt hätten. Getauft sein, im Licht leben, das heißt: sich dem Licht aussetzen. Und die Welt in diesem Licht neu sehen. Grauzonen sind manchmal unvermeidlich – aber sie sollen kein Normalzustand werden. Dazu haben wir uns in der Taufe verpflichtet. Und wenn wir dann doch wieder in den Grauzonen landen? Oder gar in der Finsternis? Dann kommt die andere Zusage ins Spiel, die bei der Taufe auch eine Rolle spielt. Nämlich: Unser Scheitern vernichtet uns nicht. Gott nimmt uns wegen unserem Zurückbleiben hinter unseren Möglichkeiten nicht aus dem Spiel.

In der Sprache des Glaubens nennen wir das Vergebung. Auch sie wird uns in der Taufe zugesprochen. Gerade deshalb können wir ein Leben lang, wie Martin Luther es ausdrückte, zu unserer Taufe zurückkehren. Also jedes Mal wieder neu anfangen. Auch im ganz Kleinen. In den alltäglichen Entscheidungen und Abläufen unseres Alltags. Wir müssen die Welt nicht alleine aus den Angeln heben. Denn: Wir waren einst Finsternis. Jetzt aber sind wir Licht! Und wo wir es noch nicht wirklich sind, da können wir es allemal noch werden. Ohne Altersbegrenzung. Eben das feiern wir in jedem Gottesdienst, wenn Gott uns Vergebung für unser Zurückbleiben im Graubereich oder gar in der Finsternis zusagt. So wie jetzt gleich an seinem Tisch. So viel können wir gar nicht kaputt gemacht, verdunkelt haben wie dort wieder gut gemacht, ins Licht gestellt wird.

 

Amen.

Ungeheurer Reiseproviant

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich noch? Die Welt hält den Atem an und erstarrt. „Großer Gott, steh uns bei!“, titelt in riesigen Lettern die Bildzeitung. Im Fernsehen sind jubelnde Menschen zu sehen, die auf den Straßen orientalischer Städte „Gott ist groß“ rufen. In den USA singen sie immer wieder „God bless America“. Im Fernsehen rät ein Kommentator, der amerikanische Präsident möge das Neue Testament vergessen und sich an das Alte halten: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Dagegen setzt Bischof Huber in einem Trauergottesdienst die Mahnung: „Keine Religion hat das Recht, im Namen ihres Gottes Menschen zu quälen“. – Es waren die Tage nach „9/11“, vor 23 Jahren. Und es war wie immer: In Not- und Dürrezeiten hat die Vereinnahmung Gottes Hochkonjunktur.

I.

Wie immer! Denn ja, so ist es vor mehr als 3.000 Jahren auch schon gewesen. Das führt uns der vorhin gehörte Predigttext eindrucksvoll vor. Die 40jährige Odyssee der Kinder Israel durch die Wüste, die hier beginnt, steht in einem tiefen Sinn für das, was uns Wüstenzeiten sind. Er beginnt mit einer nüchternen Ortsangabe, die es aber in sich hat: „Von Elim zogen sie aus in die Wüste Sin“. Elim war eine fruchtbare Oase am Sinai-Ufer des Schilfmeeres. Oasen geben Schutz und Zeit zum Durchatmen. Aber sie bieten keine dauerhafte Bleibe, sie sind Durchgangsstationen. Auch die Oasen unseres Lebens. Leben ist unverfügbar, nach Oasen-Zeiten kann jederzeit wieder Wüste kommen.

Wüste. Das ist die Welt in ihrer Heimatlosigkeit und Einsamkeit. Wo man wenigstens Wasser und Brot braucht, um zu überleben. Dort fällt alles von einem ab, was banal und überflüssig ist, und es bleibt das, was wirklich wichtig ist. In der Wüste erfahren wir die abgründigen Kräfte, die an uns zerren. In der Wüste können wir aber auch erleben, wie sich mit einem Mal der Himmel öffnet. Wüste ist für die Bibel der Raum, in dem man ganz und gar angewiesen ist auf Gott – oder man geht zugrunde. Es ist nicht von ungefähr, dass das Mönchtum seinen historischen Ursprung in der Wüste hat. „Großer Gott, steh uns bei!“: Es ist ungewöhnlich, in der Kirche die Bildzeitung zu loben. Aber mit dieser Schlagzeile am 12. September 2001 traf sie den Nerv, hat sie das eigentlich Unsagbare in Sprache gebracht und ausgedrückt, was einem bleibt, wenn man in der Wüste ist.

Anders als Johannes der Täufer und Jesus, die bewusst in die Wüste gegangen sind, ist es hier die ganze Gemeinde, die nicht von sich aus in die Wüste ging. Sie ist von ihren Leadern dorthin geführt worden. Aber worüber schimpfen sie eigentlich? Sie sind doch gerade erst den Häschern des Pharao glücklich entkommen. Sie haben die Verheißung des Landes, in dem Milch und Honig fließen sollen. Dass es bis dahin 40 Jahre dauern wird, das ahnt noch keiner. Auch Mose nicht.

II.

Aber so schnell geht das oft. Wenn sich hochfliegende Hoffnungen nicht erfüllen wie erwartet, wenn erst einmal lange Mühen der Ebene warten, bis es der Gipfel sichtbar wird: dann vollzieht sich in unserem Inneren ein Perspektivenwechsel. Wenn der Magen knurrt und die Aussichten schlecht sind, dann spielt die Erinnerung Streiche. Baut Fleischtöpfe vor dem inneren Auge auf. Und Brot. In einer Fülle, die es so nie gab. Aber egal – die Vergangenheit wird zur Zuflucht, indem sie vom Glorienschein umhüllt wird. „Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des Herrn Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen“. Mit unseren Worten: Früher war alles besser! So füllen sich in der Rückschau die Töpfe mit saftigen Fleischstücken, auch wenn sie nur mit Zwiebeln und Bohnen gefüllt waren. Aber den knurrenden Mägen ist das egal – denn Fleischtöpfe stehen im Irrgarten unserer Erinnerungen an vielen Ecken. In den 1990er Jahren, die die Turbo-Umstellung von sozialistischer Planwirtschaft auf Kapitalismus keineswegs ins Gelobte Land führte, sondern erst einmal zu enormen sozialen Verwerfungen, konnte man dieses Phänomen bei vielen Menschen erleben.

Und so werden die Israeliten zu richtigen Wutbürgern, auch ihren Führern gegenüber. Gerade noch als Freiheitshelden gefeiert, müssen sich Mose und Aron jetzt anhören, sie hätten ihre Leute aus Ägypten rausgeholt, um sie in der Wüste elend verenden zu lassen. Die Führer werden in den Augen ihrer Leute zu Verführern. Auch das ist zu allen Zeiten so: Wer Verantwortung für viele und damit Macht erhält, der muss Unpopularität in Kauf nehmen. Oben, auf einem Gipfel wird man einsam und die Luft dünn und kalt. Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel: Wie immer man jeweils zu ihnen steht, sie alle können ihre Lieder davon singen.

Was ist nun mit Gott in dieser verworrenen Lage? Er wendet sich nicht gekränkt ab von diesem undankbaren Haufen. Nein, er bleibt so zugewandt, ja empathisch, dass er noch aus dem Dauer-Gezeter den Hilfeschrei seiner Kinder heraushört. Wie eine Mutter aus dem Gebrüll ihres Babys, das für andere nervtötend ist, hört, dass das Kleine einfach nur hungrig ist. Was hier geschieht, darin liegt etwas sehr Grundsätzliches. Das Neue Testament, besonders der Hebräerbrief, hat das durch die Wüste ziehende Israel als Bild für die Kirche Christi gesehen, als das durch die Wüsten der Zeit wandernde neue Gottesvolk. Was Gott hier tut, wie er dann den Himmel öffnet und das Manna herabregnen lässt, das ist auch eine Botschaft für uns: Gott erhält seine Kirche, auch in dürren Zeiten, wie wir sie ja gerade haben. Und das nicht, weil wir so tolle Christen wären, weil diese Kirche, wie sie ist, es wert wäre – sondern sola gratia, wie Luther sagte, allein aus Gnade.

Dafür steht in einer tiefen Symbolik das Manna. Die Verblüffung der Leute gibt ihm seinen Namen: „Als es die Israeliten sahen, sprachen sie: Man hu? Das heißt: Was ist das?“ Man kennt es nicht und mag es deshalb als eine Art Zauberspeise erlebt haben. Dabei gibt es das Manna auf der Sinai-Halbinsel bis heute, von den Beduinen gern verzehrt. Es ist der süße, milchige Ausfluss der Tamariske, einer dort typischen Wüstenpflanze. Die Sonne lässt es auf die Erde tropfen, über Nacht wird es hart. Man sammelt es am frühen Morgen ein, und isst es dann.

III.

1924, vor 100 Jahren ist der wohl größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Franz Kafka, mit nur 39 Jahren gestorben. Überall wird er dieses Jahr gefeiert. Ich tue es jetzt auch – indem ich ihn auf unseren Predigttext antworten lasse:

Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitest du, Herr?“ – „Ich weiß es nicht, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ – „Du kennst also dein Ziel?“ fragte der Diener. „Ja,“ antwortete ich, „ich sagte es doch: Weg-von-hier, das ist mein Ziel.“ – „Du hast keinen Essvorrat mit,“ sagte er. „Ich brauche keinen,“ sagte ich, „die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“

„Der Aufbruch“ heißt die Erzählung von Franz Kafka, deren Anfang ich gerade gelesen habe. Etwas auf dem Weg bekommen. Sich in eine Abhängigkeit begeben, sich dem Risiko aussetzen. Das ist das Thema dieser Geschichte. Oder auch, subkutan: sich dem Vertrauen in Gott aussetzen.  Wie würde Kafkas Reiter handeln, wenn so richtig heftiger Hunger sich meldet? Kaum vorstellbar, dass er kehrt machen würde. Oder den Tag seines Aufbruchs verfluchte. Ich stelle mir vor: der Reiter steigt ab und macht sich ein Schild, mit dem er durch die Straßen des nächsten Ortes geht. Darauf steht: „Bitte um Rettung. Nur für heute.“

Die Israeliten, auf ihrer ungeheuren Reise, erfahren Rettung. Wachteln und Manna: Nahrung mitten in der Wüste. Gar kein übernatürliches Wunder, denn beide sind ja natürlichen Ursprungs. An Gott glauben heißt nicht, dass Gott gegen die Natur wirkt. Er sorgt für uns mitten im natürlichen Geschehen. Das ist das eigentliche Wunder. Deshalb beten Christen bei Tisch, obwohl sie ja erklären können, wo das herkommt, was auf dem Tisch steht. Matthias Claudius hat es auf den Punkt gebracht: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, / doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: / Der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf / und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf“. So tut Gott seine Wunder: „mild und heimlich“. Also im Alltäglichen, in dem, was uns oft selbstverständlich erscheint, und von dem wir erst merken, wie wenig selbstverständlich es ist, wenn wir einmal nicht mehr so können wie gewohnt. Wie viel Manna wohl auf unseren (Lebens)Wegen schon für uns bereit gelegen hat?

Den Kindern Israel wird es für die 40 Jahre der ungeheuren Wüstenreise zum Brotersatz. Es lässt sich sammeln, aber immer nur gerade so viel, wie die Person für den einen Tag braucht. Und dann wieder für den nächsten. Etwas anzusparen ist unmöglich, denn was übrig bleibt, verdirbt. So zu leben, schärft den Blick für das, was ist und was werden kann. Es spricht zurzeit vieles dafür, dass wir als Gesellschaft, und auch als Kirche, am Beginn einer solchen ungeheuren Reise stehen. In der wir aufgeben müssen, was uns lange Zeit als normal erschien, aber vielleicht schon lange für viele nicht mehr sättigend war. In einer solchen Zeit leben wir von der Hand in den Mund, sozusagen. Können keine Reichtümer anhäufen oder üppige Rücklagen bilden. In solchen Zeiten geht es darum, unterwegs zu sein. Das Weg-von-hier“ aus Kafkas Geschichte so zu gestalten, dass daraus auch ein Hin-nach-dort werden kann. Und zwar so, dass alle dort ankommen können. Die, die viel brauchen und die die wenig brauchen.

IV.

Das also ist Wüste auch, liebe Gemeinde: Zeit, in der man lernt, vom Manna zu leben. Gottes Nahrung, die nicht im Gaumen explodiert wie Hummer oder Kaviar, aber vor dem Verderben bewahrt. Und uns Kraft gibt, nicht auf der Stelle zu treten, sondern weiterzugehen. So ist Israels Führung durch die Wüste ein Urbild für das Leben im Glauben. Das ist nicht billig, Zumutungen bleiben uns nicht erspart. Luther sagt: „Wer nicht unterwegs ist aus dem Land Ägypten durch die Wüste, das heißt auf dem Weg des Kreuzes und des Leidens zum Land der Verheißung, den halte du für keinen Christen“. Aber unsere Wüstenwege stehen unter der Zusage, dass Gott uns nicht verhungern lässt, bis die Türen seines Hauses endgültig aufgehen und uns endgültige, unverlierbare Heimat geben. Und dann werden wir satt.

 

Amen.

Im Anfang war die Pop-up-Church

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

wir sind auf einer staubigen Straße, auf der man aktuell nicht mehr so unterwegs sein kann:  von Jerusalem hinunter an die Küste nach Gaza. In einer Kutsche sitzt ein vornehmer Mensch. Er ist der Finanzminister der Königin von Äthiopien. In der Sprache der alten Lutherbibel wird er „Kämmerer aus dem Mohrenland“ genannt. (Ginge heute natürlich gar nicht mehr.) Was tut er hier in Palästina? Diplomatische Gespräche mit den Eliten in Jerusalem hat er nicht geführt. Er ist privat unterwegs. Aber nicht als Tourist, sondern als – Pilger. Er war im Tempel. Irgendwann muss er irgendwie mit dem Gott Israels in Berührung gekommen sein. Das muss etwas Tiefes in ihm ausgelöst haben, so dass es ihn nach Jerusalem gezogen hat. Dort hat er eine Schriftrolle erstanden, mit der Botschaft des großen Propheten Jesaja. Nun sitzt er in der Kutsche und liest darin. Von einer ominösen Gestalt ist die Rede. An ihr ist nichts Imponierendes, nichts Charismatisches. Sie erscheint klein, ja lächerlich. Und doch wird ihr eine überragende Bedeutung zugeschrieben. „Knecht Gottes“ wird sie genannt. Der Mann zerbricht sich den Kopf über diese dunkle Bibelstelle.

Da taucht plötzlich einer am Wegesrand auf. Er heißt Philippus und gehört zu jenen, von denen dieser Minister in Jerusalem gehört hat: zu den Anhängern jenes kürzlich hingerichteten Jesus von Nazareth, die sich Christen nennen. Philippus sieht den Mann aus Afrika in der Schrift lesen. Er wird neugierig, und fragt ihn rundheraus: „Verstehst du denn auch, was du da liest?“ Der Äthiopier stört sich nicht dieser oberlehrerhaften Anrede. Gut, dass da einer auftaucht, der offenbar Ahnung hat. So lädt er Philippus zu sich in die Kutsche ein und löchert ihn mit seinen Fragen. Philippus antwortet unerwartet: indem er ihm von diesem Jesus erzählt. Seinem Leben, das Menschen auf der Schattenseite so viel Licht gebracht hat. Aber auch vom Hass der Leute, die es skandalös fanden, dass Jesus grenzenlos geliebt hat. So dass sie ihn zum Verbrechertod am Kreuz verurteilten. Und er erzählt auch die unglaubliche Sache mit seiner Auferstehung, wodurch seinen Leuten irgendwann wie Schuppen von den Augen fiel: Jesus war nicht nur ein unvergleichlicher Mensch. Er war Gottes Sohn, in ihm hatten sie Gottes Gesicht gesehen! Da fällt es auch dem Minister wie Schuppen von den Augen: Jesaja weist mit diesen rätselhaften Worten von dem leidenden Gottesknecht auf den voraus, den er noch nicht kannte, in dem aber seine Worte sich erfüllten. Dann geht es plötzlich ganz schnell. Die Kutsche fährt an einem Bach vorbei, und pragmatisch, wie Politiker sind, fragt er: „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ Gefragt, getan. Philippus tauft ihn.

I.

So weit, so schön und erbaulich. Aber diese Story von einem schönen missionarischen Erfolg birgt auch einige Brisanz. Denn was hier erzählt wird, kann in den Landeskirchenämtern (und nicht nur dort) für Schnappatmung sorgen. Unsere Kirchen, ob katholisch oder evangelisch, sind ja nach ihrer sichtbaren Seite hin, als Organisationen enorm verrechtliche und bürokratisierte Gebilde. Behörden halt. Unsere kirchlichen Strukturen sind immer noch der preußischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts nachgebildet. Wir haben Pfarrämter, Konsistorien, Landeskirchenämter. Wir haben Leitungspositionen mit ehrfurchtgebietenden Namen wie Generalsuperintendent, Oberkonsistorialpräsident, Kirchenoberrechtsrat etc. Klingt allerdings mehr preußisch wie biblisch. Elementare geistliche Vollzüge wie Taufen, Trauungen, Bestattungen sind sog. „Amtshandlungen“, die bürokratisch penibel zu bearbeiten sind. Wenn Eltern ihr Kind zur Taufe bringen, aber nicht in ihrer Ortsgemeinde, sondern in einer anderen Kirche, weil sie mit der dortigen Pfarrerin persönlich verbunden sind, geht das nur, wenn sie zuvor in ihrem zuständigen Pfarramt ein Dokument mit dem sehr zeitgemäß klingenden Namen „Dimissoriale“ beantragen, mit dem der Heimatpfarrer sein Einverständnis mit der Taufe an einem anderen Ort dokumentiert. Ob solche Bürokratisierungen geeignet sind, in der heutigen Zeit Menschen noch bei der Kirche zu halten oder überhaupt erst für Glauben und Kirche zu gewinnen: darüber kann man nachdenken.

Aus diesem Nachdenken sind in den letzten Jahren Bewegungen entstanden, die in den bürokratischen Landeskirchen-Monstern eine Revolution bedeuten. In etlichen Orten entstehen sog. Segensbüros und Kasualagenturen, die Namen wie „St. Moment“ oder „Segensreich“ tragen und Menschen unbürokratisch und niedrigschwellig erreichen wollen. Der Grundgedanke ist immer gleich: Statt zu warten, dass die Menschen zur Kirche kommen, geht die Kirche dorthin, wo die Menschen in ihrem Alltag unterwegs sind. Ohne amtliche Vorgaben, die erst erfüllt werden müssen. Ohne Rituale, deren Sprache verstaubt klingt und von vielen nicht mehr verstanden wird. „Du möchtest gerne spontan getauft werden? Dann bist du bei unserem ‚Goldmoment‘ am 6. September 2024 in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi genau richtig! Du kannst an diesem Tag einfach vorbeikommen und musst vorher nichts tun.“ Oder, noch ein Beispiel aus Hamburg, wo man besonders mutig mit diesen Ideen ist: Pastor*innen haben auf dem feinen Jungfernstieg im Talar die Menschen gefragt, wofür sie beten sollen. Manche, die so angesprochen wurden, haben irritiert oder abweisend reagiert. Aber die große Mehrzahl äußerte sich sehr positiv und berührt dazu.

Pop-up-Church ist der Leitbegriff für diese in den Großkirchen völlig neuen Initiativen. Sie reagieren darauf, dass - vor allem in den Städten - eine immer größere Zahl an Menschen zwar durchaus noch religiös empfindet, aber mit kirchlich organisierter Religion nichts mehr anfangen können und sich in die Verbindlichkeit einer Gemeinde nicht mehr einpassen wollen. Auf solche fluide Religiosität wollen diese Pop-up-Aktionen eingehen, indem sie den Menschen in deren Lebensbezügen begegnen und sie dort mit der „Anderwelt“ des Christlichen in Berührung bringen.

II.

Und hier nun schon vor 2.000 Jahren: Pop-up-Church auf der Straße von Jerusalem nach Gaza! Philippus, der Jesusjünger, ist dort, wo die Menschen auf dieser wichtigen Verbindungstraße von der Hauptstadt an die Küste unterwegs sind. Und tauft einen unbekannten, hochgestellten Ausländer, den er eben erst kennengelernt hat. Spontan. Open air. Ohne institutionellen, rechtlichen Ballast. Und nach seiner Taufe verweist Philippus den Kämmerer, anders als unsere kirchliche Gepflogenheit, nicht an eine Gemeinde, in der er seinen Glauben nun bewähren muss. Er hat offenbar das Vertrauen, dass der Frischgetaufte seinen neuen Glauben in eigener Verantwortung in seinem heimischen und beruflichen Umfeld leben wird. So wird dieser Kämmerer zu einem biblischen Vorläufer der modernen Sinnsucher unserer Zeit. Einer, der sich nicht mehr in eine Institution einpasst, sondern sucht, was für ihn persönlich stimmig ist.

Ein Sinnsucher - der erst einmal an Grenzen gestoßen war. Wie schon gesagt, der Mann aus Äthiopien hat eine wochenlange Pilgerreise hinter sich. Die Aufnahme in die jüdische Kultgemeinschaft im Tempel blieb ihm verwehrt. Wahrscheinlich, weil er ein Kastrat war. Im griechischen Urtext wird er fünfmal als ευνυχος bezeichnet, Eunuch. Das Wort klingt heute altertümlich. Damals war das eine Bezeichnung für hohe politische Beamte. Deshalb hat Luther in seiner Übersetzung daraus einen „Kämmerer“ gemacht. Es war aber in etlichen antiken Ländern so, dass man, um eine so hochgestellte Position zu bekleiden, Kastrat sein musste. Das ist deshalb wichtig zu wissen, weil nach dem jüdischen Gesetz Kastraten vom Gottesdienst ausgeschlossen waren. Möglicherweise schwingt das bei dem Äthiopier mit, als er Philippus unbefangen fragt: „Was hindert’s, dass ich getauft werde?“ Also in dem Sinne: Ist meine körperliche Besonderheit auch bei euch Christen ein Hinderungsgrund?

Philippus geht auf die Frage gar nicht ein, sondern tauft ihn einfach, und subito. Für den Finanzminister war das wohl eine überwältigende Erfahrung, nach den Erfahrungen von Ausschluss, die er in Jerusalem wahrscheinlich gemacht hat. Bibelausleger weisen darauf hin, dass das Eunuchentum eine Form von Queerness war. Das ist naheliegend, und queere Menschen gab es ja immer, nicht erst heute, seit es ein öffentliches Thema ist. So erzählt uns diese Geschichte von einer doppelten Integration: Der erste Nichtjude, also der erste echte Heide - und ein queerer Mensch, der keinen Zugang zur jüdischen Gemeinschaft hat, wird durch die Taufe aufgenommen in die Gemeinde Jesu. Philippus überschreitet eherne Grenzen und nimmt hier die Öffnung des Christusglaubens zum Heidentum vorweg, die erst später zur Strategie erklärt wird.

III.

Wie gesagt, der afrikanische Minister hatte weder zum Gottesdienst noch zur Bibel, in der er liest, Zugang gefunden. Da geht es ihm wie den meisten heute auch. Ob wir heute diesen steilen Jesaja-Vers von dem Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht auftut, besser verstehen als der Pilger aus Afrika? Wohl kaum. Umso kostbarer der Moment, in dem Philippus dem ratlosen Pilger begegnet. Ihn wahrnimmt und anspricht: Was brauchst du? Kann ich etwas für dich tun? Und dann bereit ist, in dessen Wagen zu steigen und eine Strecke mit ihm mitzufahren. Als Theologe würde ich natürlich gerne wissen, wie es Philippus gelungen ist, den Fremden zu erreichen. Aber wahrscheinlich ist das keine Frage dogmatischer Sätze und tiefschürfender theologischer Wahrheiten. Wahrscheinlich hat Philippus einfach von dem gesprochen, was ihn selbst bewegt, wie die Begegnung mit Jesus von Nazareth sein Leben grundlegend verändert hat. Klar und einfach, ohne heiliges Rauschen und gespreizte Kirchensprache. So dass der Kämmerer nicht nur mit dem Kopf versteht, sondern im Herzen berührt wird. Und sie dann angesichts des Bachs, der sich in der wasserarmen Gegend plötzlich vor ihnen auftut, wie von selbst aus ihm heraussprudelt, die entscheidende Frage: „Was hindert’s, dass ich getauft werde?“

Und nach vollzogener Taufe heißt es nur noch lapidar und erfrischend über den Getauften: „Er zog seine Straße fröhlich“. In dem berühmten Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse heißt es: „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, / mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ Der afrikanische Beamte ist ein eindrückliches Beispiel, dass es sich lohnen kann, sich mit ganzer Kraft auf die Suche zu begeben. Und am Ende des Tages hat er gefunden: indem er die Erfahrung macht, von dem Gott, den er suchte und selbst nicht finden konnte, gefunden zu sein! Christus hat durch seinen Apostel Philippus eine Tür weit geöffnet für jemand, der nicht dazugehörte. Und diese Tür lässt sich nach dieser Öffnung nicht mehr schließen. So, nur so geht Christentum und Kirche.

 

Amen.

Vom suchenden Vater

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

eine allerweltsbekannte Geschichte. Aber sie ist unverwüstlich. Dieses Gleichnis spricht – vielleicht nicht alle Morgen, aber doch alle sechs Jahre, wenn es als Predigttext dran ist – ganz frisch und neu zu uns. Es ist kein Stück Brot, das trocken oder schon schimmelig geworden hätte. Es schmeckt immer noch wie knusprig gebacken. Es macht Hunger und stillt ihn zugleich.

Hunger worauf? Ich sage: Neben allem Hunger auf Leben, von dem diese Geschichte ja erzählt, macht sie auch Hunger auf Gott. Dieser Hunger steckt vielleicht mehr in uns als uns bewusst ist. Wer jetzt bald in Urlaub geht und versucht, fernab von der Alltagshektik zum Durchatmen zu kommen, der wird vielleicht auch erleben, wie da manchmal eine etwas unheimliche Unruhe in einem aufsteigen kann. Man schnürt die Bergstiefel oder geht an den Strand, man kocht lecker oder liest ein spannendes Buch: die Unruhe, der innere Hunger bleiben. Gerade durch das äußerlich Unangestrengte der Urlaubszeit kann tief im Innern etwas aufbrechen, was einen nicht zur Ruhe kommen lässt. Darin steckt auch Hunger nach Gott, auch wenn wir es nicht so nennen. Jesus kennt diesen Hunger. Darum erzählt er eine Geschichte, die nicht nur den Hunger nach Gott stillt, sondern auch auf neue Weise nach Gott hungrig macht.

I.

Fangen wir einmal mit dem Ende an. Während der Duft des gebratenen Mastkalbes aufsteigt, die Musikkapelle zu spielen begonnen hat, stehen der Vater und sein älterer Sohn abseits, draußen vor der Tür. Denn der ältere Bruder pfeift auf das Fest. Statt sich auf den schmorenden Braten zu freuen, schmort er im eigenen Saft. Er versteht die Welt nicht mehr. Nicht mal so sehr auf den Bruder ist er wütend, der ist für ihn eh längst gestorben. Er ist fassungslos über seinen Vater. Habe ich ihm nicht zeitlebens treu gedient, alles für ihn getan, habe ich nicht immer das vierte Gebot hochgehalten: „Du sollst Vater und Mutter ehren“? Und das ist der Dank?! Hat mein Vater auch nur einmal für mich so ein rauschendes Fest gegeben? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?

Dieser große Bruder denkt verständlich – und er ist uns damit sehr nah. Er hat ein moralisches Menschenbild, er wertet die Menschen nach ihren charakterlichen Stärken und Schwächen. Das fällt ihm nicht schwer, denn seine eigene Bilanz kann sich sehen lassen. Er hat gewissenhaft und engagiert gearbeitet, und im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder, der alles sinnlos verpulvert hat, damit auch was fürs Gemeinwohl getan. Leistung muss sich lohnen, sie darf nicht bestraft werden! Und sind es nicht wirklich solche Typen wie der jüngere Sohn, die ein Gemeinwesen kaputt machen? Dieser Filius ist ein echter Filou. Er hatte sich auszahlen lassen seinerzeit, sich vom Acker gemacht, um so richtig die Sau rauszulassen, wie man so sagt. Dabei ist er mit der Zeit selber zur Sau geworden, egoistisch und asozial. Da ist es fast folgerichtig, dass er am Ende bei den Säuen landet. Wie sagt doch Jesus einmal: Wer sein Leben um jeden Preis selbst finden, sich selbst verwirklichen will, der wird’s am Ende verlieren.

Aber nun sieht es ja so aus, als hätte dieser Hallodri im letzten Moment, bevor er buchstäblich im Morast versinkt, doch noch die Kurve gekriegt. Er entdeckt, dass sein selbstgewähltes autonomes Dasein ein Tanz auf dem Vulkan, dass es auf Sand gebaut ist. Aber Achtung! Was ist es denn, was ihn zum reumütigen Rückzug treibt? Es ist, wenn man genau hinsieht, ganz einfach sein leerer Magen: „Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner!“
Auf den ersten Blick kommt das gut. So viel Einsicht und Selbstkritik! Das ist schon was. Wie viele würden sich eher die Zunge abbeißen, als einmal vor andere hinzutreten und ehrlich zuzugeben: Ich habe Mist gebaut, Schuld auf mich geladen, ich stehe dazu und ziehe Konsequenzen daraus! Zwar kommt es oft vor, dass Politiker nach einem gravierenden Fehler zurücktreten. Selten aber kommt vor, dass der Rücktritt ungeschminkt mit dem eigenen Fehler begründet wird. Meistens heißt es: Das ist auf keinen Fall ein Schuldeingeständnis, es ist der Druck der Öffentlichkeit, so dass ich Schaden von meiner Partei, meiner Familie abwenden will.

Also, demgegenüber erscheint die Zerknirschung des jüngeren Sohnes allemal bemerkenswert. Aber bei Licht besehen täuscht er sich selbst hier, auf seinem Tiefpunkt, noch über sich selbst. Er glaubt immer noch, die Dinge in die eigene Hand nehmen, aus eigener Kraft das Unheil wenden zu können. So ist seine Entscheidung zur Reue letztlich doch wieder Ausdruck seines Selbstvertrauens. Er will sich, diesmal sozusagen mit entschlossener Reue, aus eigener Kraft aus dem Sumpf ziehen. Nach dem Motto: Einen Schuss hab’ ich noch frei, eine letzte Chance bleibt mir noch. Kein Sohn mehr, nicht mal Sklave, nur noch Tagelöhner: damit verlange ich doch nicht zu viel! Und dabei merkt er nicht, wie er – zwar nicht zu viel, aber doch schon wieder etwas verlangt.

Und so erweisen sich die beiden prima vista grundverschiedenen Brüder unterm Strich irgendwie doch als Brüder im Geiste, gleichen sie sich an der entscheidenden Stelle: in diesem unerschütterlichen Glauben, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Was zählt, sind die Bilanzen, das eigene Tun. Und noch etwas verbindet die beiden: Sie haben keine Ahnung, wer und wie ihr Vater ist. Jeder meint auf seine Weise, es sei Anstand und Moral, womit sie sich seine Liebe verdienen.

II.

Es ist aber ganz anders. Das macht aus einer rührenden Familienstory ein bewegendes Gleichnis für Gottes Reich. Die wirkliche Hauptfigur in diesem Drama, das sind nicht die beiden nur scheinbar so verschiedenen Brüder, sondern das ist ihr Vater. Das liegt freilich nicht gleich auf den ersten Blick zutage. Denn dieser Mann –darin liegt seine Größe – ist einer, der es nicht darauf anlegt, immer die alle beherrschende Person zu sein. Er kann zurücktreten. Zwei Mal wird das deutlich. Das erste Mal, als der jüngere Sohn sich auf den Weg macht. Er beherrscht da ganz die Szene, freut sich seiner Freiheit, ist stolz, auf eigenen Füßen zu stehen. Der Vater tritt in den Hintergrund. Dass er seinen Sohn so ziehen lässt, offenbart ein enormes Vertrauen in ihn. Und dann gegen Ende verlässt er noch einmal seine Mittelpunktsrolle, als er quasi hinter die Kulissen zu dem älteren Sohn geht, um ihn aus seinem Schmollwinkel herauszuholen.

Liebe Gemeinde, ich sprach vom Hunger auf Gott, den dieses Gleichnis stillt und auch weckt. Gott, wie ihn Jesus uns hier nahebringt, ist kein alles beherrschender Big Brother, der uns ständig so auf den Fersen ist, dass er uns ein schlechtes Gewissen macht. Das gehört zu den Geheimnissen unseres Lebens, dass Gott uns mit unendlichem Vertrauen freigibt. Er will, dass wir unbefangene Leute werden, Menschen auf eigenen Füßen. Als der Junior dann zerknirscht zurückkommt, rennt ihm der alte Vater schon entgegen. Und bevor der Filius sein einstudiertes „Pater peccavi“ hersagen kann, fällt ihm der Vater einfach um den Hals und küsst ihn. Auf die Reuebekundung steigt er gar nicht ein, sondern lässt den Wiedergefundenen gleich neu einkleiden, richtig festlich. Der Sohn soll nicht bloßgestellt werden. Er lässt ihm Schuhe bringen: der Sohn soll fest und sicher auftreten können, wieder Boden unter die Füße bekommen. Er steckt ihm auch einen Ring an, ein Zeichen der Vollmacht: der Sohn kann rechtskräftig handeln im Namen des Vaters.

Aber wir, mit unseren moralischen Maßstäben von Anstand und Bürgerlichkeit, wir bleiben skeptisch: Ist dieser Vater denn verrückt und blind geworden? Tatsächlich, das ist er! Wir haben einen Gott, der unsere Maßstäbe im Wortsinn ver-rückt, weil bei ihm anderes zählt. Und wir haben einen Gott, der blind ist aus Liebe. Aber eben nicht im Sinn jener seltsamen Weisheit „Liebe macht blind“, sondern weil er das tut, was uns so selten gelingt: die Augen von der Fixierung auf unsere Fehler und Peinlichkeiten wegzuwenden und uns ganz neu anzuschauen. Als solche, die wir schon dadurch, dass wir da sind, dass es uns gibt, ein Grund zur Freude sind. So einer ist dieser Gott, und deshalb kann der Vater in unserer Geschichte nicht anders, als den älteren Sohn in seinem kleinkarierten Schmollwinkel zu bitten: „Komm doch mit und feier’ und freu dich mit mir!“

III.
Wir sind gewohnt, diese Geschichte das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ zu nennen. Aber eigentlich stimmt das gar nicht, sogar doppelt nicht. Einmal, weil der Vater die eigentliche Hauptperson ist. Zum zweiten, weil für den Vater der Sohn nie verloren war. Dieser Junge, wie er ist, ob in Lumpen oder im Cut, auf einem Galaball oder am Schweinetrog, er ist und bleibt sein Junge, unbedingt geliebt. Right or wrong – it’s my child! Deshalb sollte man das Gleichnis anders nennen: Vom hoffenden und suchenden Vater. Darin steckt, dass niemand Gott verloren geht, ich nicht und du nicht. Wir können Gott verlieren, und tun das ja auch immer wieder. Gott aber verliert uns nicht. Er hat sich für dich und mich entschieden. Das hält er durch. In einer Kinderbibel heißt es in der Nacherzählung unseres Gleichnisses: „Aber vor dem Haus stand der Vater und suchte mit den Augen die Straße ab. Irgendwann, das wusste er, würde sein Sohn wiederkommen. Abend für Abend stand er so da, wenn die Arbeit getan war.“

Nach diesem Gott, liebe Gemeinde, habe ich Hunger! Jesus bringt ihn uns nahe. Und dann können wir, nicht verdruckst und mit gesenktem Blick, sondern unverkrampft, mit offenem Visier sagen: „Vater, ich habe gesündigt!“ Ein entscheidender Satz in unserem Gleichnis ist dort gar nicht gesagt, schwingt aber unausgesprochen in dem zurechtgelegten Sprüchlein des jüngeren Sohnes mit: „Mein alter Herr, ich habe Pech gehabt! Die Verhältnisse waren schuld, die anderen, die falschen Freunde, die leichten Mädchen...“ – Nein, so nicht. „Vater ich habe gesündigt“: Vor Gott braucht keiner von uns sein persönliches, ureigenes Versagen bemänteln. Keiner muss sich mehr angestrengt selber rechtfertigen. Wir können nackt vor Gott dastehen – weil Jesus uns verspricht, dass wir nicht bloßgestellt bleiben. Gott hat ein neues, festliches Gewand bereit, das er uns umlegen wird. Denn der da das Mastkalb schlachtet für seine Kinder, der hat ja noch ein ganz anderes Lamm geschlachtet – sein Lamm, das unsere Sünde trägt.

 

Amen.

 

Keine Gottesvertraulichkeit!

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Ein Predigttext wie ein Wumms! „Ist mein Wort nicht wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Ja, wie mit einem Schmiedehammer drischt Jeremia hier auf seine Prophetenkollegen ein, die er als falsche Fuffziger brandmarkt. Heftige Polemik: Alle in einen Sack! Trifft auf jeden Fall immer die richtigen. Das ist nicht nur ein Szenario vor 2.600 Jahren. Es passt beklemmend auch in die jetzige Zeit. „Den anderen“ mal so richtig zeigen, wo der Hammer hängt! Den Landeskirchenlangweilern, die immer entlang einer gefühlten Mitte reden und tun, um bloß bei niemandem anzuecken. Den moralinsauren Apokalyptikern, die wegen „Gender-Wahn“ und „Homo-Ehe“ den Untergang des christlichen Abendlandes an die Wand malen - oder wegen der Erderwärmung, gegen die wir zu wenig tun, gleich die ganze Welt untergehen sehen, als deren „letzte Generation“ sie sich sehen. Oder die Fakenews-Produzenten. Die Putin-Versteher. So ein Text erscheint sehr brauchbar in diesem politisch brisanten Jahr 2024. - Zugleich geht es mir so, dass mich die pauschale Polemik dieser Kollegenschelte irritiert. Es gibt das Diktum: Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.

Seit 830 Tagen tobt der Krieg in der Ukraine. Trotz enormer Verluste, Rückschläge und zu wenig Hilfe des Westens weigert sich das Volk der Ukraine beharrlich, das Joch eines Despoten auf sich zu nehmen. Geschweige denn - wie das die Kirche in Russland findet - ihn als Werkzeug Gottes anzuerkennen. Eine halbe Million sind in diesem elenden Krieg bereits gestorben. Prophet*innen streiten erbittert um die Deutungshoheit. Ist es das wert? Kann der Diktator doch noch zur Raison gebracht werden? Oder muss man realpolitisch so klug sein, sich der Weltmacht zu beugen?

I.

Das jüdische Volk hat sich vor 2.600 Jahren ähnliche Fragen gestellt. Wir schreiben das Jahr 594 v. Chr. Der babylonische König Nebukadnezar, mächtigster Mann der damaligen Welt, hat wenige Jahre vorher Jerusalem eingenommen und die goldenen Tempelgeräte geraubt. Was für ein Frevel! Wo ist Gott geblieben? Da schlagen Propheten auf und beruhigen das Volk: Das ist nicht euer Krieg! Haltet still und bleibt unbesorgt, dann wird kein Unheil über euch kommen! Solche Töne hört man gern. In dieser Lage tritt Jeremia auf den Plan. Was er sagt, verstört die Leute. Eure Propheten, erklärt er, sind falsche, verlogene Propheten. Er nennt Gründe für dies harte Urteil. „Ich höre, was die Propheten reden, die Lügen weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt.“ Jeremia lehnt Träume als Quellen für prophetische Ansagen kategorisch ab. Zu schnell werden sie für ihn zu Wunschprojektionen des eigenen Herzens, die nicht „Wort des Herrn“ sind. So vernebeln die falschen Propheten die politische Landschaft. Sie muten dem Volk keine bitteren Wahrheiten, keine Veränderungen zu. Alles soll bleiben, wie es so lange war. Vor 100 Jahren zu Zeiten der ersten deutschen Demokratie, die so viele, vor allem die meisten Protestanten, innerlich ablehnten, hat man auf Familienfesten und an Stammtischen nostalgisch gesungen: „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben! / Sie liegt so fern und weit, die alte Kaiserzeit. / Doch war sie wirklich besser, die gute alte Zeit. / Mein Opa schwörte Stein und Bein, dass noch vor hundert Jahren / der Rheine noch so gar, die Luft durchsichtig war. / Und Oma sagte ohne Scherz, dass sie als junge Dirn / noch aus der Elbe trinken konnte, ohne krank zu wer'n.“ Heute kehrt diese Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ wieder in einem Parteislogan, der uns verspricht: „Wir holen unser altes Deutschland zurück!“

So auch mit diesen Propheten zu Jeremias Zeit. Sie denken gar nicht an eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede, wie sie Churchill beim Amtsantritt 1940 hielt. Stattdessen reden sie den Leuten nach dem Mund und erklären: Hört auf uns, dann habt ihr nichts Schlimmes zu befürchten, es wird schon alles bleiben, wie es war! Diese selbsternannten Propheten inszenieren sich als Geheimräte Gottes und wissen auf alles eine einfache Antwort. Sie machen Gottes Wort zur harmlosen Werbebotschaft. Und klar, sie finden Resonanz damit. „Alles wird gut“ hört man lieber als „Bis hierher und nicht weiter“. „Macht ruhig weiter so“ kommt immer besser als das beunruhigende „Du musst dein Leben ändern“. Bei der einzigen Bundestagswahl, in der jemals eine Partei die absolute Mehrheit errang - 1957 war das -, lautete ihr Wahlslogan: „Keine Experimente!“

Echte Propheten aber haben immer gestört. Und wie! Die Wahrheit des Sprichworts „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“ hat von allen biblischen Propheten Jeremia am härtesten erfahren. Wie gut hört sich das an, wenn seine Kollegen von Heil und Frieden säuseln. Vielleicht haben sie dem Jerusalemer König den Rat gegeben, den kriegerischen Konflikt mit dem übermächtigen Nebukadnezar „einzufrieren“. Und da hinein kommt Jeremia und verkündigt in drastischen Zeichenhandlungen und mit Hammerworten, dass Jerusalem zerstört werden wird und ruft das Volk und die Mächtigen zur Umkehr. Die einen hören gar nicht erst hin, tun ihn als apokalyptischen Spinner ab. Die anderen kämpfen gegen ihn mit Worten, mit Strafen, mit sozialer Isolation. Jeremia stört die Gottesvertraulichkeit, die sie predigen.

II.

Das Bedürfnis nach solcher Gottesvertraulichkeit ist uns auch nicht fremd. Wir wollen Gottes Nähe dicht bei uns fühlen; wir wollen uns mit Gott wohlfühlen. Eine solch harmlose, ängstliche Religion bleibt bei sich selbst und der eigenen Befindlichkeit. Sie trägt aber nicht, wenn wir massiv Gottesfinsternis erfahren. Zu viel geschieht in dieser Welt, was einem den Himmel wie zugemauert erscheinen lässt. Oder wir erleben tiefe persönliche Krisen und Krankheiten. Wir fragen: Hat sich Gott von unserer Welt verabschiedet? Wo ist Gott in meinem Leben?

Da werden wir durch diesen Predigttext mit einer Gegenfrage konfrontiert: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ - Bin ich ein Nahgott nur und ein Ferngott nicht auch? Glaubt ihr, dass ich nur dort zugange bin, wo ihr meine Nähe fühlt? Wir machen Gott klein, zu einer Art Maskottchen, wenn wir unseren Glauben daran hängen, dass seine Nähe für uns auf Schritt und Tritt unbestritten ist. Gott ist auch dort am Werk, wo wir ihn nicht fühlen, wo er nicht die Erklärung für das Dunkel in unserem Leben und in der Welt ist, wo wir mit leeren Händen dastehen. Kurz, wo er ganz fern ist.

Wie kommen wir auf die richtige Spur? Eine wichtige Voraussetzung: indem wir die Bibel nicht zum erbaulichen Poesiealbum mit harmlosen Sprüchen machen! „Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Das Wort Gottes bringt Glut und Leidenschaft. Neulich sah ich in einer Talkshow den 85jährigen früheren SPD-Chef Franz Müntefering. Er erzählte, dass er jeden Morgen kalt duscht, und zwar so lange, bis er bis 100 gezählt hat. An sich eine banale Mitteilung. Aber mir wurde sie zu einem guten Bild. Nämlich dafür, dass das, was uns wirklich belebt und in Bewegung bringt, nicht billig zu haben ist, sondern zunächst durchaus etwas schockierend wirken kann. Wenn wir etwas erfahren, das uns heftig trifft, sagen wir: „Das war eine kalte Dusche“. Aber eigentlich ist eine kalte Dusche ja etwas Gutes, sie bringt das Blut in Wallung und belebt uns wie kaum etwas. Unsere saloppe Alltagssprache trifft das gut, wenn sie abschätzig von „Warmduscherei“ spricht. In der Tat: Wenn es um Gottes Wort geht, dann sollten wir das Warmduschen sein lassen.

III.

Vor einigen Jahren sprach ich mit einem Kollegen. Er war an einer schlimmen Krebsart erkrankt und schließlich wie durch ein Wunder wieder gesund geworden. Sein Arzt hatte ihm gesagt, dass bei dieser Krankheitsform nur zehn von Hundert durchkommen. Der Kollege sagte mir nachdenklich: „Ich habe allen Grund zu danken. Aber der Dank gegenüber dem gütigen Gott, den ich erfahren habe, wird schal angesichts all der anderen, die nicht mehr gesund werden.“ Das hat mich nachdenklich gemacht. Zu vieles geschieht in dieser Welt - das Erdbeben von Lissabon 1755 und der Tsunami in Ostasien 250 Jahre später -, wo ein fürchterliches und unerklärbares Schicksal unterschiedslos Gerechte und Ungerechte trifft. Und wo man sich nicht damit rausreden kann, das seien letztlich menschengemachte Katastrophen gewesen. Luther hat dieses Dilemma umkreist, indem er von der Erfahrung des deus absconditus, dem verborgenen Gott sprach. Wenn Gott ist, als den wir ihn bekennen, „allmächtig“ nämlich, dann muss er auch im Bösen, im Abgründigen irgendwie am Werk sein. Der Prophet Amos geht so weit, zu fragen: „Geschieht ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut?“ (Am 3,6). Dem Beunruhigenden, das in solchen Fragen liegt, müssen wir uns mehr aussetzen. Es ist eine Verharmlosung unseres Glaubens, wenn Gott für uns nur wichtig ist, wenn er Streicheleinheiten austeilt. Bis in die Anrede unserer Gebete zeigt sich diese Spiritualität. Wie oft sagen wir da „guter Gott“. Gott aber ist eben nicht einfach nur „gut“

„Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Bei diesem Bild hilft die Auslegung jüdischer Rabbinen weiter. Wie der Hammer Funken erzeugt, wenn er auf den Fels schlägt, so funkelt Wort Gottes auf vielfältige Weise. Gottes Wort ist glühender und funkelnder als unsere Ansichten, mit denen wir es - fromm oder zweifelnd - domestizieren. Liebe Gemeinde, es gibt vieles, was uns freut: Der Gang durch Wiesen und Wälder in der sächsischen Schweiz, ein Kunstwerk drüben in der Gemäldegalerie, die Fußballspiele jetzt bald bei der EM. Aber noch mehr freut uns ein gutes Wort, vielleicht in einem Gedicht aus dem „Ewigen Brunnen“ oder aus einem Paul-Gerhardt-Lied, vielleicht aus dem Mund eines Kindes oder beim abendlichen Gespräch mit Freunden. Am tiefsten berührt uns Gottes Wort, weil es sich nicht erst dann Gehör verschafft, wenn uns danach zumute ist, wenn wir auf Gottesvertraulichkeit gestimmt sind, sondern weil es uns manchmal ganz unvermittelt ins Innerste treffen kann.

Wenn wir nachher das Lied mit dem Text von Jochen Klepper singen „Ja, ich will euch tragen“, werden manche von Ihnen vielleicht an Zeiten denken, da Sie Gott in der Ferne dunkler, verzweifelter Stunden gesucht haben. Und wo Sie, auch wenn Sie das Gefühl hatten, Gott in solchen Zeiten nicht gefunden zu haben, später rückschauend entdeckt haben, dass Sie von Ihm getragen waren und blieben, auch im finsteren Tal. So dass Sie dankbar mit demselben Jeremia aus dessen „Klageliedern“ sagen können: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern ist alle Morgen neu“ (Kgl 3,22).


Amen.

 

"Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine"

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der eben gehörte prophetische Predigttext bietet ganz großes Kino. Er lässt uns einem Mann über die Schulter schauen, der auf der Erde sitzt und in eine Buchrolle schreibt. Sein Name ist Hesekiel, zu Deutsch: Gott möge stark machen. Sympathisch – nach dem, was man von ihm weiß – wäre er uns wohl nicht. Wir wissen nicht, ob er einer ist, den eine innere Glut für seinen Gott schier verbrennt, oder eher ein kalter Doktrinär, der wie ein Großinquisitor über die Reinheit der Lehre wacht. Aber das ist jetzt zweitrangig. Wichtig ist: Dieser Mann hat ein Gesicht, eine Vision von Gott empfangen. Vielleicht die ungeheuerlichste Vision, die je ein Prophet in der Bibel empfangen hat. Visionen entwerfen ja Gegenwelten zu dem, was vor Augen ist, was wir als Realität erfahren. Aber auch für Israels Propheten waren solche Visionen alles andere als alltäglich.

I.

Was wird Hesekiel, und uns heute, in dieser Vision geboten? Er sieht eine weite Ebene vor sich. Und er, rätselhaft als Doppelgänger seiner selbst, befindet sich mitten darauf, auf diesem Feld, von dem es nun heißt: „Und es lag voller Totengebeine, und sie waren ganz verdorrt.“ Ein grausames Bild! Was Hesekiel sieht, ist die totale, definitive Übermacht des Todes. Sofort steigen Schreckensbilder in uns auf. Die Hunderte tagelang auf den Straßen liegenden bestialisch Getöteten im ukrainischen Butscha. Die Ermordeten auf dem Feld in der Negev-Wüste. „Und sie waren ganz verdorrt.“ Ja, und sie sind verdorrt geblieben, all die Gebeine unserer Kriege. Viele sind vergessen. Andere bekamen wenigstens ein Grabfeld gegen das Vergessen und wurden ein kleiner Teil unserer Erinnerungskultur. Das macht sie nicht wieder lebendig. Aber die Nachgeborenen legen mit den Kriegsgräbern ein Veto gegen das Vergessen ein.

Aber dass die Toten wieder lebendig werden: Das ist wirklich großes Kino, weil es ein Bild ist, das unsere Vorstellungskraft so weit übersteigt. Hesekiel sieht, wie sie zusammenrücken, die zerstreuten, verdorrten Knochen auf dem Feld. Die Skelette werden mit Blutgefäßen durchzogen, mit Sehnen und Muskeln stabilisiert und neu mit Haut überzogen. Ein unglaubliches Bild. Wie eine Filmanimation, die pulsierende Lebensadern wachsen lässt. Sie lassen staunen: Wie aus dem Tod neues Leben erwachsen kann! Ein Gegenbild zu den schrecklichen Kriegen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart mit ihren Bergen an Totengebeinen. Das Bild will mir die Hoffnung zuspielen: Es ist mehr möglich, als ich für möglich halte. Aber was, oder wer ist hier der Er-Möglicher?

II.

In Hesekiels Vision ist es das, was in den meisten Übersetzungen mit „Odem“ oder „Lebensatem“ wiedergegeben wird. Im Hebräischen steht hier das feminine Wort ruach. Es hat ein breites Bedeutungsspektrum von „Wind“, „Hauch“ über „Lebenssubstanz“ bis hin zu „Geist“. Gott offenbart dem Hesekiel, er solle dieser Geist-Kraft in seinem Namen gebieten zu kommen und die neu zusammengesetzten Körper wieder mit wahrem Leben zu füllen: „Weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der Herr: Blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden!“ Sicherlich ist das der Grund, weshalb man seit einigen Jahren diesen gewaltigen Text, der in der früheren liturgischen Ordnung ein Schattendasein im Off des Karsamstags fristete, am Pfingstfest verortet hat. Pfingsten, das Fest der 3. Person der Dreifaltigkeit, des Heiligen Geistes, ist uns ja das abstrakteste, am wenigsten geerdete der großen Feste im Kirchenjahr. Zugleich ist es für uns aber auch sehr positiv besetzt, weil wir es mit dem Frühsommer verbinden, mit Sonne, Wärme, Urlaub auch und der explodierenden Natur. Da ist so viel Dynamik, Bewegung drin! Und das ist auch der innerste Kern dessen, was die Bibel mit dem für uns so schwer zu fassenden Heiligen Geist meint. Seine Kraft und Dynamik sind gar nicht zu unterschätzen – eben weil er göttlich und nicht nur menschlich ist. Bereits ganz im Angang, im mythischen Bericht von der Schaffung der Welt, wirkt er, und so erscheint diese pfingstliche prophetische Vision wie eine grandiose Variation des Themas, das die Bibel schon auf ihrer ersten Seite anschlägt. Hier wie dort ein schöpferischer Akt. Hier wie dort sind Mächte und Gewalten wirksam, die aus purem Staub Leben schaffen. Oder anders gesagt: die aus Chaos Kosmos, aus Verworrenheit etwas Geordnetes kreieren. Aus Staub etwas Konstruktives zu schaffen, ist ja noch schwieriger als aus dem puren Nichts. Denn dem Schöpfungsakt liegen die verdorrten Knochen voraus. Sie klagen an, verweisen auf das Grauen und den Tod, auf das abgrundtief Böse, was menschliche Herzen ersinnen können. Wenn dann Gott hier die vier Winde herbeiruft und ihnen sagt: „Blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden!“, dann ist das ein durch und durch kreativer schöpferischer Akt.

Aber nun geht es in dieser Vision nicht um den Tod „an und für sich“ – sondern um den Tod in einer besonderen Gestalt: „Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel.“ Das beziehe ich zunächst einmal ganz wörtlich und direkt auf Israel. Auf das Gottesvolk damals in seiner Not der Entwurzelung im Exil in Babylon, also die Situation, in der Hesekiel seine Vision empfangen hat. Ich will es aber auch auf das Israel heute beziehen, das vor acht Monaten so schwer getroffen wurde und dem so elend viele Menschen das Recht auf Existenz, auf ein Dasein in Frieden bestreiten. Und das nicht nur die muslimischen Nachbarn, sondern viel zu viele Menschen in aller Welt, die Christen sind. Das ist beschämend und schreit zum Himmel. Das Gottesvolk hat vor 80 Jahren ein von uns Deutschen beackertes Totenfeld bevölkert, mit Millionen verdorrten, verbrannten Gebeinen. Dass dieses Feld nur drei Jahre nach dieser Apokalypse mit der Gründung Israels eine Neubelebung erfahren hat, ist ein kaum geringeres Wunder als das in der Vision des Hesekiel. Es liegt an uns, an jeder und jedem von uns, ob Israel ein weiteres Mal zum Totenfeld wird – im buchstäblichen, oder auch „nur“ im übertragenen Sinn durch den Hass, der Juden auf der ganzen Welt entgegenschlägt –, oder ob Israel ein Lebensrecht behält.

Gottes Geist ist also, auch wenn wir ihn in unserem Glaubensbekenntnis als eine der drei Personen der Trinität bekennen, zuerst Israels Geist, weil er im alten Gottesvolk wirksam ist. Das uns bewusst zu machen ist gerade an Pfingsten wichtig, dem Fest, das wir gerne zum „Geburtstag der Kirche“ verklären, obwohl das rein historisch so gar nicht stimmt. Denn an eine Kirchengründung dachten die Jünger Jesu, die damals in Jerusalem Zeugen des Sprachwunders waren, noch keineswegs. Erst viel später hat die frühe Kirche das rückwirkend in dieses Ereignis hineingedeutet, um eine Art Ursprungsmythos zu schaffen. Anders gesagt: Was wir an Pfingsten feiern, die alle geografischen und kulturellen Grenzen sprengende Universalität des Christusglaubens, das ist mitnichten etwas „ganz Neues“. Sondern es ist die Ausweitung der Erfahrung und Verheißung von Jüdinnen und Juden auf die Heiden, also auf alle Völker.

III.

Das einmal klar gemacht, dürfen wir diese Vision, wenn sie zunächst den Tod des Gottesvolkes beschreibt, in einem erweiterten Sinn aber eben auch als ein Bild vom Tod der Kirche, der Gemeinde Jesu verstehen. Da mag man gleich einwenden: Hör mir bloß damit auf! Von der Ohnmacht, der Kläglichkeit unserer Gemeinden wissen wir weiß Gott genug. Die brauchst du uns nicht noch zu predigen! Aber stimmt das? Wenn wir unsere kirchlichen Blätter aufschlagen, soweit es die noch gibt, oder die Erklärungen der diversen kirchlichen Leitungsgremien lesen – zum unaufhaltsamen Mitliederschwund, zur Aufgabe von Gebäuden und Gemeinden, zu den furchtbaren Dingen, die die ForuM-Studie ans Licht gebracht hat –, kann man da nicht fragen: Sehen wir denn das Feld mit den völlig verdorrten Totengebeinen nicht? Und muss man vielleicht so antworten: Vielleicht kann wirklich nur ein Prophet die Todesstarre der Gemeinde wirklich sehen!?! Mir kommt Elia in den Sinn, einer der größten Propheten überhaupt, der in totaler Verzweiflung in die Wüste hinaus wandert, sich unter einem Ginsterbusch legt und Gott bittet, dass er ihn sterben lässt. „Es ist genug Herr, so nimm nun meine Seele. Sie haben deinen Bund verlassen, deine Altäre zerbrochen, deine Propheten mit dem Schwert erwürgt, und ich bin allein übrig geblieben.“

Müsste man da nicht vielleicht einfach sagen: Ja, so ist es!? Eben so, und nicht besser steht es um die Gemeinde. Wir sind die Letzten! Wo sind die Gnadengaben, die in der ersten Christenheit lebendig waren? Machen wir uns nichts vor: auch unsere kirchliche Art, Gottesdienst zu feiern, in den Sonntag für Sonntag immergleichen Abläufen und Riten, die sich über die Jahrzehnte kaum verändert haben, unsere Art, in einer Predigt als monologische Rede buchstäblich „von oben herab“ auf die Menschen einzureden – ist das nicht etwas hoffnungslos Gestriges? Ich weiß, das sind keine geburtstäglichen Töne, die ich da anstimme. Aber wenn ich das Bild unseres Predigttextes wirklich versuche ernst zu nehmen, und das nicht nur mit religionsgeschichtlichem Blick, sondern mit der Frage: Hat, was Hesekiel da sieht, auch uns heute noch etwas zu sagen? –, dann kann ich auch an solchen Bestandsaufnahmen nicht einfach vorbei.

IV.

Und dann bleibt am Ende des Tages diese Frage, die Hesekiel in seiner Vision von Gott gestellt bekommt: „Du, Menschenkind, meinst du auch, dass diese Gebeine wieder lebendig werden?“ Es ist die Frage aller Fragen, die hier ganz klar gestellt ist. Gott stellt sie auch uns – und wir müssen heute eine Antwort finden. Die Antwort, die Hesekiel findet, klingt zunächst seltsam. „Herr, du weißt das wohl.“ Statt eines starken Bekenntnisses zum Herrn über Leben und Tod ein verhaltenes, fast verklausuliertes Wording. Aber wäre es besser gewesen, wenn der Prophet da vollmundiger gesprochen hätte? Auch Luther hat in Worms längst nicht so dröhnend gesprochen wie viele Prediger am Reformationstag! Ich höre dieses „Herr, du weißt das wohl“ als ein Wort wirklichen Glaubens, weil es diese ungeheuerliche Frage wieder zurück in Gottes Hände legt. Es ist ein bescheidenes, demütiges Wort, von dem zu lernen uns gut täte.

Diese Weissagung von der Erweckung der Totengebeine heißt nun aber nicht, dass der irdische Tod, der auf jede von uns wartet, eigentlich gar keiner ist. In das ganz neue Leben, das uns durch die Auferstehung Jesu versprochen ist, können wir nur hineinsterben. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“: Was Johannes sagt, als er Jesus taufen soll, steht über unserem Leben und über vielem, was uns heilig ist. Es steht auch über der Kirche. Es bleibt ihr nicht erspart, auch zum Totenfeld zu werden. Und darum soll es uns auch nicht fertig machen, wenn uns unser Glaube manchmal wie tot erscheint. „Ich glaube die heilige christliche Kirche“, das kann doch nur heißen: ich glaube an diese Neu-Belebung der Gemeinde Jesu aus dem Tod. Und diese Wiedererweckung ist schon angebrochen: Wir sind mitten drin zwischen Pfingsten und der Wiederkunft Christi, nur dass Hesekiel dieses Geschehen der Erweckung der Gemeinde verdichtet zu einem einzigen Ereignis. Das, was sich in der biblischen Heilsgeschichte in viele Einzelakte auffächert, ist im Grunde ein großes zusammenhängendes Geschehen. Und weil wir von Pfingsten herkommen, tritt an der Stelle des Propheten für uns der, der gesagt hat: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“. Erst Er hat die wirkliche Macht, über das Totenfeld zu rufen: „Ihr verdorrten Gebeine, hört des Herrn Wort!“


Amen.

 

Predigt im Abendgottesdienst im Rahmen der Predigtreihe »Freiheit, Recht und Einigkeit?«

gehalten von Pfarrer Holger Treutmann,
Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR und ehemaliger Frauenkirchenpfarrer


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Liebe Gemeinde,
lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! So schreibt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien. Einen zornig-liebevollen Brief; einen Brief der Entrüstung. Ich muss mich doch schon sehr wundern – so beginnt er und spricht sie an: O ihr unverständigen Galater. Da hat er von der Freiheit in Christus gepredigt. Und nun Rückfall in die Knechtschaft. Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.

Ochsen bekommen ein Joch auf die Schultern gelegt, das allein schon ein erhebliches Gewicht hat, um dann den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Man ahnt die Nackenverspannungen und den schmerzhaften Druck der über die Schulterpartie auf die Vorderbeine abgeleitet wird. Kein aufrechter Gang; gebeugt – geknechtet. Dabei gehört es doch zu den Urbekenntnissen des Judentums. Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus der Knechtschaft in Ägypten befreit habe und in ein neues Land geführt. Das ist nicht nur die Einleitung zum 1. Gebot, sondern so etwas wie die Grunderklärung; die Selbstverpflichtung Gottes, dass er ein Volk um sich sammeln will, das frei sein soll. Keine anderen Herrscher über sich; nichts Irdisches soll die Menschen knechten. Freiheit in der religiösen Bindung an den einen und ewigen Gott, der nur Gutes für seine Schöpfung im Schilde führt.

Und immer wieder kommt dieses Freiheitsmotiv in der Geschichte des Volkes Israel zur Sprache. Immer wieder geht es um den Exodus, um die Auswanderung aus Knechtschaftsverhältnissen: Auszug aus Ägypten, Rückkehr aus der Fremde in Babylon, Befreiung aus den selbstgeschaffenen Bindungen an Großmächte, die das Volk aussaugen. Und auch im Christentum findet dieses Freiheitsmotiv seine Fortführung, wenn auch nicht faktisch, sondern eher im spirituellen Sinne, als eine Freiheit, die aus dem Inneren kommt, auch wenn die Bedingungen rundherum alles andere als frei waren, unter den Römern, unter den Führern der etablierten Religion. Paulus saß im Gefängnis und konnte sich dennoch als frei bezeichnen. Er wusste um eine Freiheit, die prinzipiell alles möglich macht. Alles ist mir möglich, aber nicht alles dient dem Guten. Ich liege in Fesseln und fühle mich doch frei, weil Christus in mir wohnt und seine Fesseln am Kreuz mir die ewige Freiheit schenken. So will ich jetzt schon leben. Was kann mir also passieren?

Bei den Galatern ging es um die Beschneidung. Müssen Christenmenschen, die zuvor keine Juden waren, erst die jüdischen Riten und Gesetze halten, ehe sie zur Gemeinschaft der Christusgläubigen zugelassen werden? Nein, sagt Paulus, es gibt auch den direkten Weg in die christliche Gemeinde, wenn der Glaube an Jesus Christus da ist. Das genügt. Übersetzt in heutige Konfliktlagen: Welche Regeln, welche Bindungen werden dir auferlegt, die dich knechten oder welche lädst du dir selbst auf, weil du meinst, nur so bist du Gott recht, und behinderst dich ständig daran, das zu leben, was in dir wohnt? Die Liebe Gottes zu jedem Geschöpf, die Jesus geradezu handgreiflich und sichtbar in die Welt gebracht hat. Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.

Freiheit, Recht und Einigkeit? In wenigen Tagen wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. In den ersten 19 Artikeln sind die Grundrechte formuliert. Und allein in 7 Grundrechten kommt schon in der Überschrift das Wort Freiheit vor. Freiheit der Person, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, die freie Wahl des Wohnortes, Freiheit der Berufswahl.

Der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio formuliert im Blick auf die Entstehung des Grundgesetzes: „Der Grundklang ist nicht Unterwerfung oder Aufopferung der persönlichen Freiheit um vermeintlich höherer Ziele willen. Der freiheitliche Staat formt nicht den Menschen als Material seiner Zwecke, sondern er selbst lebt allein von der Urteils- und Tatkraft seiner Bürger. Aus dem Wissen und Gewissen des einzelnen wächst der sittliche Horizont der res publica.“ (Udo di Fabio, Starker Staat durch starke Bürger, Rotary-Magazin 5/2024, S. 34 ff.) Hinzu kommt, dass im Vergleich zur Weimarer Republik auch dem Präsidenten deutlich weniger Macht zugesprochen wurde, so dass eine Alleinherrschaft einer einzelnen Person der Riegel vorgeschoben wurde. Auch die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung im Parlament, Rechtsprechung im Gericht, Rechtsdurchsetzung auf der Straße und in den Verwaltungen hat letztlich das Ziel die Freiheit der Staatsbürger zu gewährleisten und das Volk selbst zur Wahrnehmung von Verantwortung für das Gemeinwesen zu ermächtigen.

Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Schatz in unseren Tagen genug gewürdigt wird. Nicht wenige Länder um uns herum entscheiden sich für Regierungsformen, die alle Macht auf eine Position und Person konzentrieren. Notfalls werden vor Neuwahlen die Gesetze geändert, um das zu ermöglichen. Nicht wenigen auch in unserem Land ist die freiheitliche Demokratie zu kompliziert. Sie schielen zu Diktatoren von Großmächten, liebäugeln mit der Abschaffung von Freiheitsrechten im Grundgesetz – ich denke etwa an die freie Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien oder die oft unbequeme Meinungsfreiheit – und vergessen, wie besonders in Ostdeutschland einmel staatliche Kontrolle über der Freiheit der Person gestanden hat. Freilich, auch angesichts neuer Gefahren wie Künstliche Intelligenz, Fehlinformationen durch Bots oder Hetze, die ungestraft im Netz unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit firmiert, ist die Frage zu stellen, wie die Freiheitsrechte in die moderne Welt übersetzt werden können, ohne dass sie ihren Charakter als Freiheitsrechte verlieren.

Steht fest – lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen. Nein, unter der Machtgleichschaltung eines Putins und Chis, oder anderer pseudo-demokratischer Herren – auch die großen Player des Turbokapitalismus gehören dazu – möchte ich nicht leben. Das Christentum und die Kirchen waren eher Bremser als Protagonisten demokratischer Strukturen. Dennoch finden sich in den Freiheitsrechten des Grundgesetzes Werte des Christentums wieder. Die Freiheit der Person. Das Christentum – und das Judentum erst recht – dürfen sich zu Gute halten, dass es auch unter unfreien politischen Bedingungen, Menschen zur Freiheit ermächtigt haben. Manche Freiheit konnte und kann nur im Innern gelebt werden, andere Freiheit, die aus dem Glauben wächst, engagiert sich aber oft auch gegen das Regime eines übermächtigen Staates. Auch davon gibt es Erfahrungen besonders hier im Osten Deutschlands.

Freiheit endet da, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das ist im Grundgesetz so. Und das ist auch im christlichen Glauben so. Alle Botschaften Jesu weisen in diese Richtung. Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Dieses Sprichwort ließe sich unmittelbar aus der Bibel ableiten. Und auch Paulus plädiert dafür, aus der Liebe zum Nächsten, die eigene Freiheit nicht wahrzunehmen. Worte, die auch für die Ichlinge unserer Zeit laut werden dürfen, wenn der Staat beschimpft, ja gehasst wird, aber die eigene Freiheit der Meinungsäußerung über die Maßen ausgenutzt wird.

Lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen. Das gilt nicht nur für das Zusammenleben im Gemeinwesen. Es gilt auch für den einzelnen im seelsorglichen Bereich. Die Erzählung von der Heilung am Teich Betesda ist da für mich ein interessantes Beispiel. Jesus heilt einen Menschen, der 38 Jahre krank da liegt. Er fragt ihn, ob er gesund werden will. Was für eine Frage? Aber so dumm ist sie gar nicht. Denn der Kranke beantwortet sie gar nicht. Er ist gefangen darin, immer die Schuld in den Umständen oder in anderen zu suchen. Er antwortet nicht: Ja, bitte mach mich gesund. Er sagt: Ich habe keinen Menschen, der mich zum Teich trägt. Und wenn, dann komme ich immer zu spät, weil andere schneller sind. Angeblich heilt das Wasser wohl nur nach diesem Gesetz. Und in diesen Gesetzmäßigkeiten bleibt er gefangen. Und so gerät er in Missmut. Er macht sich zum Unheilspropheten seiner selbst. Und dann, als er geheilt ist, bleibt er relativ freudlos und weiß gar nicht, wem er es verdankt. Vielmehr wehrt er sich vor der Anklage, dass er am Sabbat sein Bett nicht tragen dürfe, mit der Weiterleitung der Schuld an den, der ihn geheilt hat. Der hat gesagt, ich soll mein Bett nehmen. Und seine neue Freiheit führt unter der Hand dazu, dass Jesus eines Tages gefesselt, gefangen und gefoltert wird.

Eine klug komponierte Heilungsgeschichte, die vor Augen führt wie leichtfertig geschenkte Freiheit verspielt wird und neuer Knechtschaft die Bahn ebnet. Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Darum lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.

Amen

Predigt im Gottesdienst mit Traujubiläum

gehalten von Pfarrer Holger Treutmann,
Senderbeauftragter der Ev. Landeskirchen beim MDR und ehemaliger Frauenkirchenpfarrer

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Winter ade, scheiden tut weh.
Aber dein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht.
Winter ade, scheiden tut weh.

Was für ein unpassendes Lied – zu dieser Jahreszeit, da die Natur sich in kräftigstem Grün und voller Blüte zeigt, und zu diesem Anlass – Traujubiläum und dann ist vom Scheiden die Rede.

Ja, wir haben Paare eingeladen, die sich vor 10 Jahren hier in der Frauenkirche haben trauen lassen. Schön, dass wir uns wiedersehen. Es waren natürlich noch mehr Trauungen im Jahr 2014, aber manche mussten absagen. Und nicht wenige leben wahrscheinlich als Ehepaar auch nicht mehr zusammen. Scheiden tut weh. Auch das soll heute einmal bedacht werden. Wir denken an die Paare, die sich getrennt haben. Und ich möchte das tun ohne jedes Urteil oder eine Wertung. Dass es wehtut denen, die sich der Liebe verschworen hatten, möglichen Kindern oder Angehörigen ebenso, dessen können wir wohl sicher sein. Ob es aber falsch war oder nicht genau richtig so, das Urteil darüber überlassen wir besser dem Höchsten allein, und denken mit Wohlwollen und Segenswünschen an die, die heute eben nicht da sind und sich nicht freuen können über ihr Traujubiläum.

Scheiden tut weh. Denn wer kennt das nicht, der über Jahre verheiratet ist: Den Schmerz, den es in der Ehe eben auch gibt, gerade weil man sich so liebt. Die Verletzungen, die tief gehen, gerade weil man sich so gut kennt. Den Schmerz, der einen manchmal fragen lässt, ob es gut ist, beieinander zu bleiben, oder ob es nicht leichter wäre, wieder allein und nur für sich selbst verantwortlich zu sein. Natürlich nicht immer, aber manchmal kommen solche Fragen. Beieinanderbleiben tut auch weh – neben dem großen Glück, das man erlebt, weil man sich hat. Denn Liebe ohne Schmerz, wahre Liebe ohne Leiden, gibt es nicht. Im Hohelied der Liebe heißt es nicht: Schmerz ist nicht in der Liebe, sondern die wahre Liebe treibt den Schmerz aus.

Nein, es heißt: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die wahre Liebe treibt die Furcht aus. Dem Schmerz entrinnen wir nicht, wenn wir uns der Liebe verschreiben. Vielmehr ist er Ausweis dafür, dass die Liebe lebendig ist. Jesu Leben war Leiden – nicht nur das – aber seine Liebe mit dem Leiden an dieser Welt macht die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung und einem jeden Geschöpf erst sichtbar. Deshalb müssen wir uns nicht fürchten, weil Liebe alles umfasst. Aber Schmerz ist sehr wohl in der Liebe.

Winter ade, Scheiden tut weh. Manchmal wird es kalt, gut sagen wir ein bisschen kühler, in der Partnerschaft. Dann heißt es: Wochenendbeziehung – klar geht das. Das hält die Liebe frisch, weil das Wiedersehen am Freitag und der Abschied am Sonntag zum Ausdruck bringen, was grundsätzlich gilt: Wir bleiben auch in der Partnerschaft eigene Persönlichkeiten, wir feiern den Abschied und das Wiedersehen immer neu. Aber die Möglichkeiten, aneinander teilzuhaben, in Freude und Leid, sind natürlich werden natürlich auch verknappt – das ist die andere Seite. Oder – dramatischer: Vielleicht sollten wir mal eine Zeit getrennt leben, um zu sehen, was wir uns noch bedeuten. So klingt es in der Krise manchmal. Oder undramatischer. Sie muss ins Krankenhaus, er muss mal den Haushalt schmeißen und entdeckt: Geht auch. Rollen in der Ehe können auch flexibler gestaltet werden. Und wenn Kinder da sind und sie langsam erwachsen werden: Gut, wenn die Alten mal aus dem Haus sind. Sturmfrei leben – mit allen Licht-, aber auch Schattenseiten; interessante Erfahrung für die junge, aber auch die alte Generation.

Wir sind beim Bibeltext aus dem Johannesevangelium. Jesus sagt: Ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut, wenn ich weggehe. Und er nimmt in seiner zweiten Abschiedsrede des Johannesevangeliums schon die Gedanken der Jünger vorweg: Rede uns das nicht ein! Du sollst nicht weggehen. Furcht kommt auf vor dem Verlust des Meisters; des Garanten einer ewigen Wirklichkeit; der Wirklichkeit ewiger Liebe Gottes zum Menschen. An ihm war es mit Händen zu greifen für die Jüngerinnen und Jünger und jetzt schwingt er Abschiedsreden. Es konnte ihnen nur sinnlos vorkommen, wo doch alles so schön war. Jetzt wird es geradezu bedrohlich. Und sie können gar nichts anderes mehr denken. Euer Herz ist voll Trauer, sagt Jesus, und trifft ihr Grundgefühl, das die guten Seiten seines Weggangs völlig aus dem Blick rückt.

Und so mag es vielen gehen, die um ihre Ehe ringen und um eine gelingende Partnerschaft. Da sucht eine Abstand und der andere sagt: Red‘ nicht. Was soll daran gut sein für uns. Oder umgekehrt. Da klammert der eine und die andere sagt: Du nimmst mir die Luft zum Atmen. Wahrscheinlich gehört es zur Kunst des gemeinsamen Lebens die Frage von Nähe und Distanz immer wieder neu auszubalancieren.

Jesus sagt: Es ist gut für euch, wenn ich weggehe. Mancher wünscht sich: Es sollte mal wieder ein Jesus kommen. Dann würden die Leute mehr glauben. Dann würde der verkehrten Welt ein Licht aufgehen. Jesus sagt: Es ist gut, wenn ich weggehe, denn sonst kommt der Paraklet nicht. Luther übersetzt mit „der Tröster“, Johannes beschreibt ihn dann näher als Geist der Wahrheit. Der Heilige Geist, wie wir ihn in der kirchlichen Tradition nennen. Zu Pfingsten wird er ausgegossen, so feiern wir. Und heute drei Tage nach Christi Himmelfahrt stehen die Jünger wie Kinder da, die von den Eltern übers Wochenende vergessen wurden. Jünger allein zu Haus. Bis der Paraklet kommt, der Heilige Geist zu Pfingsten.

Was soll daran gut sein? Ich finde, der Sonntag Exaudi ist der Sonntag, der am besten unserem Leben in einer säkularen Welt heute Ausdruck geben kann. Gottvergessen suchen wir hier irgendwie die Stellung zu halten. Halb enttäuscht, halb voller Hybris, dass eben keinen Gott gibt und wir die Herrscher der Welt sind oder zumindest die Dinge selbst richten müssen.

Ja, höre ich Jesus sagen, im Prinzip ist das richtig: Ihr seid selbständige Wesen. Ich regiere euch nicht unmittelbar rein. Aber haltet die Verbindung zum Heiligen Geist. Er wird kommen, er ist da, er ist die Liebe, die ewig ist und euch leitet in der göttlichen Wahrheit. Die Welt ist nicht gottverlassen, auch wenn ihr euch einsam fühlt. Nehmt wahr, was in euch ist; in jedem und jeder Kreatur: Die Liebe Gottes, die alles umfasst. So wie der Geist hört und nichts anderes sagt, als Jesus sagt. Und Jesus den Vater reden hört und nichts anderes sagt, als Gott will, so seid auch ihr verbunden mit ihm, wenn ihr vertraut, dass sein Geist in euch schon längst lebendig ist.

Darum unter anderem auch werden Ehen vor dem Altar geschlossen. Nein, es geht nicht darum, einen höchsten Wächter über die eheliche Treue zu etablieren, quasi als höhere Instanz und Versicherung, die das eigene Versprechen noch einmal heiligt; es mag darum gehen, um den Segen zu bitten, dass der Lebensweg des Paares behütet bleibt; es geht aber vor allem darum, dass jeder Mensch in der ehelichen Verbindung mit einem anderen darauf vertraut, dass er geliebt ist – vor aller Zeit, zu aller Zeit und bis in Ewigkeit, egal was kommen wird oder an Gutem oder Bösem geschieht oder getan wird. Nur wer sich dieser ewigen Liebe bewusst ist, wird den anderen nicht damit belasten, dass der Partner oder die Partnerin ihm oder ihr selbst das immer wieder unter Beweis stellen muss. Natürlich ist es schön, auch nach Jahren und immer wieder dieses „Ich liebe dich“ zu hören, weil die gemeinsamen Erfahrungen das Glück einer Ehe vertieft haben und das Herz diese Botschaft weitersagen muss. Aber ich muss mich nicht davon abhängig machen und mache auch mein Gegenüber davon nicht abhängig. Jeder und jede bleibt eine eigene geliebte Persönlichkeit. Das gibt Freiheit, auch andere, den Partner zuerst, die Kinder und auch die Welt zu lieben; auch dann, wenn der Schmerz in der Liebe spürbar wird.

Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in alle Wahrheit leiten, sagt Jesus im Johannesevangelium. Ich höre das als einen Trost: Geht gelassen, geht getrost und gesegnet gemeinsam und als einzelne. Wer sich von der inneren ewigen Liebe Gottes leiten lässt, wird Wege finden über Glück und Enttäuschung hinaus; Wege über Selbstzweifel und Anspruchsdenken hinaus; Wege über Schmerz und Behinderung hinaus; auch Wege, die Schuld und Scheitern nicht als Katastrophe werten müssen.

Alles ist Erfahrung – die Rede von Schuld und Urteil hilft nur selten weiter, sondern knechtet. Die Augen werden uns aufgehen, über die Sünde – weil wir zu klein über Gott gedacht haben über die Gerechtigkeit - weil wir selbst in uns ahnen, was jetzt zu tun ist über das Gericht – dass es am Ende nicht um Verurteilung geht, sondern wir alle miteinander staunen werden, wie unendlich weit Gottes Herz ist, und nur die die Dummen sind, die sich selbst für die Größten halten.

Winter ade, scheiden tut weh. Die Kälte dieser Welt mit ihren Maßstäben vergeht. Der Frühling kommt und die Wärme der Liebe Gottes lässt alles erblühen unter seinem Heiligen Geist. Christus spricht: Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Jesus geht, aber sein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht.

Amen

 

Gottes Reich – und es kam die Kirche

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

„Die Sache Jesu geht weiter“ hieß ein Buch, das vor 60 Jahren viel gelesen wurde. Genau davon handelt die Apostelgeschichte, die mit unserem Predigttext beginnt. Lukas berichtet in ihr, wie das mit dem Evangelium nach der Himmelfahrt Jesu weitergegangen ist. Jesus hatte seinen Leuten ja aufgetragen, sich nicht in einer frommen Blase, im Kuschelmilieu der Gleichgesinnten einzurichten, sondern sich aufzumachen und das Evangelium hinaus in die Welt zu bringen. Er hatte nicht bloß ein „Gemeindewachstumsprojekt“ ausgerufen, wie wir das in der Kirche so tun, sondern eine Gemeinde ins Leben gerufen, die ausstrahlend sein sollte bis an die Enden der Welt: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem, in Judäa und Samaria und bis an die Ränder der Erde“. Genau genommen schlägt nicht erst zehn Tage später an Pfingsten, sondern schon hier, als die Jünger dieses letzte Wort ihres Herrn hören, die Geburtsstunde der Kirche, der Christen als Global player.

I.

Bei dieser zweiten Himmelfahrtserzählung des Lukas – die erste am Ende seines Evangeliums, die wir eben gehört haben, ist ja viel knapper gehalten – lohnt es sich, mit dem Ende anzufangen. „Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr“, heißt es dort. Die Jünger: Leute, die buchstäblich das Nachsehen haben! Sie sind verzweifelt. Was da mit ihrem Herrn geschieht, der, so scheint es, in unerreichbare Höhe entschwunden ist - das ist ihnen im wortwörtlichen Sinn zu hoch. Und gar nicht engelgleich hauen ihnen die beiden Engel um die Ohren: „Was steht ihr da und seht fortwährend zum Himmel?“ Als hätten die Jünger nichts kapiert.

Also ich kann die Jünger da gut verstehen. 40 Tage liegen hinter ihnen, in denen ihnen Erfahrungen, ein riesiges Wechselbad zugemutet waren, die andere in 40 Jahren nicht durchmachen. Alleinsein und totale innere Leere, Wüstenerfahrungen eben – aber auch das Erlebnis intensiver Nähe und Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Die Katastrophe von Karfreitag, als ihnen war, als sei ihnen die Seele aus dem Leib gerissen. Dann die unheimliche Stummheit und Dunkelheit des Karsamstags, wo ihnen die Welt eingefroren erschien. Und dann der Beginn der neuen Woche und einer neuen unfasslichen Zeit, die mit dem leeren Grab am Sonntagmorgen auf dem Jerusalemer Friedhof anbrach. In dieser Zeit hatte sich der totgeglaubte Jesus ihnen als der Lebendige gezeigt. Sie konnten ihn wieder sehen, anfassen, mit ihm essen, über das Reich Gottes sprechen.

Das Ganze im Zeitraffer: Jesus ist tot – nein, er ist es doch nicht. Jesus ist nicht tot – aber er ist mehr wie vorher, sondern ganz anders. Das ist mehr, als manch einer fassen kann. Wer wollte die Jünger da kritisieren, dass sie wie angewurzelt dastehen, konsterniert nach oben gucken und sich erneut als solche fühlen, die das Nachsehen haben?

II.

Kritischer wird es, wenn wir statt der Jünger uns selbst ins Spiel bringen. Auch wir fühlen uns gerade in diesen Zeiten als solche, die das Nachsehen haben. Ich empfinde das vor allem in zweierlei Hinsicht. Einmal gibt es ein frommes, nach oben zum Himmel starrendes Nachsehen – oder sagen wir besser: eines, das sich für besonders fromm hält. Das ist gerade unter solchen verbreitet, denen es sehr ernst ist mit ihrem Glauben und ihrer Frömmigkeit. Da wird das leidenschaftliche Beten um das Kommen von Gottes Reich „wie im Himmel so auf Erden“ verengt auf die Melodie: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ Die persönliche, selbstbezogene Sehnsucht, in den Himmel zu kommen, gewinnt eine Macht, die das eigene Christsein völlig beherrscht. Wo aber der „Himmel“ auf das eigene Seelenheil reduziert wird, lässt man die Erde links liegen und in die unberechenbare Verfügung derer geraten, die keinen Himmel über sich kennen. Wenn uns das Heil so weltlos ist, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Welt darüber heillos wird. Unsere Erzählung will uns aus dieser nur nach oben gerichteten, von der Welt wegblickenden erbaulichen Versonnenheit aufwecken: „Was seht ihr da und seht zum Himmel und sucht nur dort das Heil?“ Wenn wir uns das nicht sagen lassen, bleiben wir Leute, die das Nachsehen haben.

Und es gibt noch ein zweites Nachsehen, das manchmal eine unheimliche Macht über uns ausübt. Das ist ein Nachsehen in noch unmittelbarerem Sinn – weil es weniger ein Nach-oben-Sehen als vielmehr ein Zurücksehen, ein Nach-hinten-Schauen ist. Das hat mit den einschneidenden Veränderungen zu tun, die uns in der Kirche, und seit einigen Jahren erst recht in der Welt von so vielen Richtungen hin abverlangt werden. Die gleich mehrfachen Mega-Krisen weltweit machen es ja unwiderleglich, dass wir alle auch Abschiede von liebgewordenen Gewohnheiten, Sicherheiten, Privilegien nehmen müssen, die uns über Jahrzehnte selbstverständlich waren. Aber der Mensch ist nun mal Gewohnheitstier, und so rebellieren unser Herz, unsere Gefühle heftig gegen vieles Neue, Ungewohnte, das uns immer erst einmal als Verschlechterung erscheint. Mich erinnert das an das hintergründige Wort eines katholischen Theologen, der einmal über seine Kirche feststellte: „Frag hundert Katholiken, was für sie das Wichtigste ist in der Kirche, und sie werden sagen: Die Messe. – Frag hundert Katholiken, was für sie das Wichtigste ist in der Messe, und sie werden sagen: Die Wandlung. – Sag hundert Katholiken, dass das Wichtigste in der Kirche die Wandlung ist, und sie werden sagen: Nein, es soll alles bleiben, wie es ist!“ In einem weiteren Sinn gilt das nicht nur für Katholiken, die an die Wandlung glauben. So aber laufen wir Gefahr, unsere Zukunft zu verspielen und Leute zu werden, die das Nachsehen haben.

III.

Ein französischer Theologe hat Anfang des 20. Jahrhunderts den berühmten gewordenen Satz geprägt: „Jesus verkündigte das Reich Gottes, und es kam die Kirche!“ (Alfred Loisy). Er wollte damit nur eine geschichtliche Entwicklung beschreiben – aber seine Kirche hat das als Provokation empfunden und ihn exkommuniziert. Wir Protestanten zitieren diesen Satz bis heute gern – er klingt so schön kirchenkritisch, das kommt bei uns immer gut. Unsere Himmelfahrtserzählung aber sagt uns etwas anderes. Denn wenn die leidenschaftliche Erwartung des Reiches Gottes, das diese alte Welt endgültig überwindet, das Entstehen der Kirche überflüssig machen würde: hätten dann die beiden Engel die Jünger so gescholten? In deren Nach-oben-Sehen drückt sich ja genau das aus: die Sehnsucht, dass Gottes Reich endlich anbrechen möge und der Unwille, stattdessen jetzt erst einmal auf dieser verkarsteten Erde weiterzumachen und Kirche, Gemeinde zu bauen.

Es ist also falsch, so zu fragen: Reich Gottes oder die Kirche? Wir können das an Paulus sehen. Er hat ja noch ganz in der sog. Naherwartung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Jesu gelebt – und war doch rastlos unterwegs, um Gemeinden zu gründen. Weil er Menschen gewinnen und sammeln wollte, die einander Mut und Ausdauer geben, sich auf den wiederkommenden Herrn einzustellen, sich bereit für ihn zu machen. Deshalb ist diese Suada der Engel an die Jünger so gemeint: Ihr werdet Jesus ja wiedersehen! Aber wenn ihr damit ernsthaft rechnet, dann habt ihr jetzt, solange ihr noch hier seid, keine Zeit zu verlieren. Denkt an den Auftrag, den er euch erteilt hat, seine Zeugen zu sein! Was in der Zukunft kommt, für uns persönlich und für unsere Kirche, können wir nicht genau wissen. Wir wissen aber, wer kommt. Das zählt.

IV.

Was bedeutet diese Himmelfahrtserzählung für mich? Ich möchte es so sagen: Von einem, der das Nachsehen hat, zu einem werden, der nach vorne ausgerichtet ist – das hat etwas mit Erwachsenwerden zu tun. Himmelfahrt, das lerne ich aus diesem Text, kann man auch als eine Art Initiationsritual zum Erwachsenwerden, zum Mündigwerden im Glauben ansehen. So wie Eltern, wenn es an der Zeit ist und sie klug sind, ihre Kinder loslassen und freigeben, lässt Gott seine Menschen in der Art los, dass er sich der unmittelbaren Anschauung, unserem direkten Zugriff entzieht. Aber nicht, um uns in den Nebel zu entlassen, sondern um in anderer, neuer Weise für uns da zu sein: so, dass wir die Kraft des Glaubens entdecken, den der von Jesus vor seinem Abschied versprochene Geist in uns weckt. Himmelfahrt heißt dann: Gott traut uns zu, dass wir als seine Zeugen für seine Sache sind, so dass andere aufhorchen und entdecken: er ist auch als Abwesender anwesend, er ist unter uns. So gesehen hat Jesu Himmelfahrt auch etwas Aufklärerisches: Sie macht uns im Glauben mündig, sie ist, frei nach Immanuel Kant, der Ausgang unserer Gottesbeziehung aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Die Parole lautet: Habe Mut, dich in deinem Glauben des Heiligen Geistes zu bedienen!

Es gibt zu unserer Szene eine mittelalterliche Darstellung, die ich sehr liebe. Man sieht darauf viele staunende Menschen auf einem Berg, und oben am Bildrand schwebt eine dicke Wolke gen Himmel, aus der zwei Füße ragen. Jesus entschwebt, und das letzte, was man von ihm sieht, sind seine Füße! Füße, mit denen er seinen Leuten vorausging. Füße, die nicht müde wurden, von Ort zu Ort zu gehen. Füße, die auch einmal mit kostbarem Öl gesalbt wurden. Füße, die die Last des Kreuzbalkens irgendwann nicht mehr tragen konnten. Füße, durch die die Nägel getrieben wurden. Und eben Füße, die dann nach der Auferweckung noch einmal über 40 Tage über die Erde gingen und bei den Jüngern auftauchten. Jetzt entschweben sie und lassen die Jünger und mit ihnen uns alle allein mit ihren eigenen Füßen zurück. Auf ihre eigenen Füße gestellt.
Was das heißt, wie uns Gottes Geist hilft, im Glauben mündig zu werden, auf eigene Füße zu kommen: das ist dann noch eine andere Geschichte. Mit der können wir noch zehn Tage warten. Dann ist Pfingsten. Heute ist einfach nur wichtig, dass wir – nicht obwohl, sondern weil wir den letzten Sinn unseres Lebens, die Frage nach der Zukunft dieser Welt und seiner Kirche ihm überlassen sollen – nicht mehr angestrengt nach oben oder nach hinten schauen müssen.

 

Amen.

Doppelfuge zweier Lieder

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

in der englischen Premier League kann man Erstaunliches erleben: Die Fans peitschen ihre Mannschaften in gewaltiger Lautstärke mit Gesängen auf Melodien anglikanischer Kirchenlieder nach vorn. Und das in einem weitgehend säkularen Land! Die Hymnen sind richtig populär, obwohl es Kirchenlieder waren. Musik ist nie harmlos: auch daran erinnert der heutige Sonntag Kantate. Ob es das innige Nachtlied ist, mit dem ich mein Kind leise in den Schlaf singe, oder ob es Kampf- und Siegeslieder sind, die das Adrenalin antreiben.

I.

Die kämpferischen und die innigen, leisen Töne: beides ist in dem eben gehörten Predigttext wichtig. Er kommt aus der Johannesoffenbarung, dem letzten Buch der Bibel. Entstanden um die Wende des ersten Jahrhunderts, ist es ein Schreiben, das sich an frühe Christengemeinden in Kleinasien richtet. Sie sehen sich bedroht vom religiösen Machtanspruch des Kaisers in Rom. Er muss als Gottheit verehrt werden. Wer das verweigert, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Manche Christen haben bereits einen Märtyrertod erlitten – wie in unserer Zeit Christen in islamischen Ländern. Der Verfasser der Offenbarung, der greise Johannes, ist auf die Insel Patmos verbannt. Um seine Adressaten nicht zusätzlich zu gefährden, verschlüsselt Johannes seine Beschreibung der schlimmen Verhältnisse in einer Art Geheimcode, indem er in für uns heute schwer zugänglichen Bildern spricht. Die Empfänger damals aber wussten, was Sache war. Von Zeit zu Zeit fügt Johannes aber Abschnitte ein, die die Schilderung der aktuellen und noch kommenden Schrecken unterbrechen. Dann ermutigt er die bedrängten Gemeinden zum Durchhalten und Festhalten am Christusglauben. Denn am Ende wird Jesus Christus siegen und sein Reich kommen. „Siehe, ich mache alles neu“: So lässt er den siegreichen Christus am Ende seines Briefes sprechen (Off 21,5).

Was sieht er nun, der alte Seher von Patmos? Er sieht etwas „wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt“. Ein bizarres Bild! Denn Feuer und Wasser sind Sinnbild für einander total ausschließende Gegensätze. Johannes aber sieht, wie sie sich friedlich mischen, gegen alle Naturerfahrung. Was könnte das bedeuten? Beim Meer kann einem in der Bibel das Schilfmeer einfallen, dessen Fluten einst gebannt wurden, so dass die Israeliten auf der Flucht aus der Sklaverei in Ägypten das rettende Ufer des Sinai erreichten. Und beim Feuer kann man biblisch an die Feuersäule denken, durch die Gott seinem Volk während der 40jährigen Odyssee durch die Wüste die Richtung wies. Diese alten Bilder sind wohl auch in Johannes aufgestiegen. Vom feurigen Meer her, das er sieht, hört er auch ein berühmtes Sieges- und Befreiungslied von damals singen. „Singt dem Herrn, denn hoch erhob er sich, Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt“: so hat es begonnen. Wahrscheinlich sind das die ältesten Worte der Bibel, etwa aus 1200 v. Chr. Zuerst gesungen von Mirjam, der Schwester von Mose, von der es heißt, sie habe dazu die Handpauke geschlagen.

II.

1300 Jahre später hört Johannes dieses Lied. Aber nun hat es einen anderen Klang. Das bedrohliche, menschenverschlingende Meer von einst ist jetzt kristallklar geworden. Es hat seine Schrecken verloren, und man sieht durch seine kristalline Oberfläche den Vorschein der Freiheit leuchten. Anders als heute, fast 80 Jahre nach der Flucht über das ostpreußische Frische Haff, wo den Alten der Schrecken über den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ noch einmal in die Glieder fährt, wenn das Fernsehen Dokumente jener Tragödie auf dem Meer zeigt. Da können die Angstträume noch kein Lied formen. Zu tief ist noch der „Name“ im kollektiven Gedächtnis, der das alles verursacht hat und an den so viele ihre Namen verschenkt hatten. Auch seine „Zahlen“ sind in unserem Gedächtnis – noch. Die sechs Millionen aus dem Volk Jesu zuerst, und viele Millionen weitere. Bild, Zahl und Name: auch uns sind sie kristallin geworden. Kristallnacht unseres Gedächtnisses.

Da geht es uns mit unserer Geschichte wie damals wohl dem Johannes. Auch er hatte einen Unterdrücker. Gajus Caligula hieß der Mann, was zu Deutsch „Soldatenstiefel“ heißt. Ein Terrorist auf dem Kaiserthron in Rom. Sein Leitmotto war: „Oderint dum metuant“ – Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten! Viele Generationen haben ihren Verbrecher an der Spitze. Mose und Mirjam den Pharao in Ägypten. Johannes von Patmos den Knobelbecher Caligula. Unsere Großeltern Hitler und Stalin, unsere Eltern Ulbricht und Honecker. Heute jagt uns der Stalin-Bewunderer Putin Schrecken ein. Weltgeschichte verläuft nicht zum Besseren, sondern wiederholt sich, in Variationen der Namen, Zahlen und Bilder und ihrer Unmenschlichkeiten.

III.

Aber dann mitten da hinein ein Gottesgeschenk: Leise, unter den dumpfen Tönen der alten Lieder, wie etwa Beethoven sie zu Beginn des Schlusssatzes seiner „Neunten“ andeutet, erklingt ein Weckruf: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudvollere.“ Und kaum hörbar zunächst, im Pianissimo der Celli, erklingt ein neues Lied: „Freude, schöner Götterfunken… Alle Menschen werden Brüder…“ Dazu braucht es Vorsänger, die sich auf die neuen, freudvollen Töne wirklich verstehen. Damals am Schilfmeer hat es eine Mirjam gegeben, und ein Mose ist in ihr Lied eingefallen, in einigem Abstand ihr folgend wie in einem Kanon die zweite Stimme. Freilich reichen die Solisten, noch nicht aus. Es muss dann noch ein richtiger Chor dazukommen – wie in Beethovens Vertonung von Schillers Ode an die Freude. Johannes auf Patmos nennt das jüdische Volk, dessen Lied er singen hört, die „Sieger“. Das sind freilich Sieger sehr eigener Art. Wer dem Gott der Juden und Christen anhängt, kann nicht auf Winnertyp und Kraftmeier machen. Und schon gar nicht durch einen Kirchenfürsten Angriffskriege absegnen lassen. Sondern er ist einfach nur ein in Abstürzen bewahrt bleibender Mensch.

Johannes sieht die singenden Sieger erhoben über den Unmenschen, „das Tier“ und sein „Bild“: die zu allen Zeiten verbreitete Staats-Propaganda. In der Antike in den Tausenden Herrscher-Statuen, heute in der Masse der Social-media-Bilder, der „hybriden Kriegsführung“, die verhetzen und Misstrauen säen will. Und über den „Zahlen seines Namens“ sieht Johannes sie auch singen: über der Herrschaft der Börsen, über den Zahlen von Bombentoten und vermeintlichen Impfopfern, dem Wahn von apokalyptischen Verschwörungsgeschichten. Auch darüber sieht Johannes das singende Volk stehen. Er meint damit keine Flucht in die Entrücktheit schöner Klänge. Sondern den Aufschwung in eine andere Wirklichkeit als die des Tieres und seiner Bilder- und Zahlenpropaganda.

IV.

Aber worauf gründet sich das? Jetzt kommt das andere Lied ins Spiel. Denn Johannes hört aus der Siegeshymne von Mirjam und Mose noch eine weitere, eine leisere Stimme heraus. Vielleicht so, wie wenn beim militärischen Zeremoniell des „Großen Zapfenstreichs“ inmitten pathetischer Märsche und Choräle plötzlich ein Lied wie „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ erklingt. Wie damals bei Angela Merkels Abschied. Unter dem Lied des Mose erklingt nun „das Lied des Lammes“. Mit dem Lamm meint Johannes Jesus. Mose und Jesus finden, in ganz verschiedenen Stimmlagen, zum selben Befreiungslied zusammen. Zwei Lieder ineinander, musikalisch ist das eine Doppelfuge. Altes und Neues Testament, Juden und Christen klingen in einer Tonart zusammen. Der Name „Jesus“ wird hier nicht ausgesprochen. In der Welt der Gewaltherrscher muss er ungenannt bleiben. Johannes, das ist raffiniert, gibt auch ihm, wie dem Tyrannen, einen Tiernamen: Agnus Dei, Lamm Gottes. Damit setzt er ihn bewusst gegen das große „Tier“ in Rom. Lamm versus Bestie. Mose befreit das Gottesvolk aus Fremdherrschaft, Jesus befreit die Menschheit aus den Todesschatten dunkler Mächte.

Mit dem Bild vom Meer beschreibt Johannes eigentlich ja die Situation der Christen und der Kirche zu allen Zeiten. Sie hat immer etwas Widersprüchliches. Die Kirche steht immer wieder im Exodus, mitten im Roten Meer, das Eis und Feuer zugleich ist. Sie wandert sozusagen durch Kälte und Feuer. Menschlich gesehen muss sie untergehen, denn sie hat, wie Stalin zynisch feststellte, keine Divisionen. Aber während sie eigentlich im Meer untergehen muss, singt sie das Lied des Mose und des Lammes, das Danklied der Geretteten. Singend greift sie nach Gottes Hand, der sie über den Wassern hält. Und sie weiß, dass sie damit aus der übermächtigen Schwerkraft des Todes hinausgehoben ist in eine neue Schwerkraft. Noch ist sie, sind wir alle zwischen beiden Gravitationsfeldern. Aber seit Christus auferstanden ist, ist die Gravitation der Liebe stärker als die des Hasses, die Schwerkraft des Lebens stärker als die des Todes. Soi ist das mit der Kirche: Immer scheint sie untergehen zu müssen, und ist doch schon gerettet. „Wir sind wie Sterbende, und siehe, wir leben“, hat Paulus diese Lage ausgedrückt (2. Kor 6,9). Und das gilt nicht nur für die Kirche Christi. Auch die aus dem Volk Jesu, die Menschen in Israel sind, wenn sie „siegen“, doch nur Gerettete und Überlebende. „Wer spricht von Siegen? / Überstehn ist alles“, dichtete Rilke.

Das Lied des Lammes hat keine lauten Instrumente, es verklingt im piano. Aber es verliert seinen Text nicht: „Dona nobis pacem – Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unseren Zeiten.“ Und darum wird Mirjams und Moses Siegeslied heute nur dann „freudvoller“ klingen, wenn wir dazu unser Agnus Dei singen: Lamm Gottes, der du trägst den Schmutz, das Elend der ganzen Welt, gib uns und ihnen allen deinen Frieden!

 

Amen.

 

Gott und die ungeordneten Verhältnisse

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

eine Geschichte um unerfüllte Lebenswünsche und familiäre Konflikte. Um Macht und Mobbing, um Sex und (ein bisschen) Crime. Lange hat man in der Kirche einen Bogen um sie gemacht. Sie ist erst mit der neuen Ordnung der liturgischen Texte vor fünf Jahren in unseren Gottesdiensten aufgetaucht. Doch was ist eigentlich anstößig an ihr? Dass zwei offenkundig starke Frauen mit eigenem Kopf hier die Hauptrollen spielen? In der von starken Frauen heute stark geprägten evangelischen Kirche bestimmt nicht mehr. Dass der Mann in dieser Geschichte eine etwas kraftlose Nebenrolle einnimmt, seiner Frau so ergeben, dass er zu allem, was sie will, Ja und Amen sagt? Warum eigentlich nicht? Warum sollte Abraham nicht dem folgen, was die gewitzte Sara sich so ausdenkt? Bleibt nur noch die Moral von der Geschichte: die Sexualmoral. Eine Frau bringt ihren Mann dazu, mit dem Hausmädchen ins Bett zu gehen: Wenn das nicht skandalös ist, was dann? Aber Vorsicht an der Bettkante! Wir tun gut daran, das, was uns heute pikant und peinlich ist, nicht gleich für anstößig zu erklären.

I.

Klar, ungewöhnlich bleibt die Geschichte. Jedenfalls für uns. Eine kinderlose Frau veranlasst ihren Mann, sich eine Nebenfrau zu nehmen, als Gebär-Mutter, weil ihre eigene Gebärmutter verschlossen bleibt. Auf dass er so doch noch Vater und somit sie zumindest indirekt Mutter wird. Auch wenn Leihmutterschaft heutzutage fast normal geworden ist: für uns gesittete Alteuropäer ist das schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Aber: Andere Länder, andere Sitten! Vor allem: Andere Zeiten, andere Sitten! Man muss also die damaligen Sitten kennen, um halbwegs unbefangen hören zu können, was die Geschichte von Hagar zu sagen hat. Jedenfalls drei Dinge sollte man wissen.

Erstens: Damals, in der Zeit der sog. Erzväter, war es Usus, dass eine Frau eine Leibmagd mit in die Ehe brachte, über die sie souverän verfügen durfte. Selbst der Ehemann hatte nur begrenzte Verfügungsgewalt über sie. Er konnte sie nicht mit in sein Bett nehmen wie seine eigenen Sklavinnen, die er nach Lust und Laune zu Gespielinnen machen konnte. Sara hatte also eine starke Stellung. Und sie füllte sie aus. Denn sie war eine starke Frau.

Zweitens: Auch das war zur Zeit der Patriarchen ein verbreiteter Rechtsbrauch, dass die Frau bei anhaltender Kinderlosigkeit dem Ehemann ihre Leibmagd in die Arme legte, damit er mit ihr ein Kind zeuge. Im Erfolgsfall musste die Magd „auf den Knien“ der Herrin das Kind zur Welt bringen – als sei es aus deren Schoß selbst hervorgegangen. Hagars Kind würde dann Saras Kind sein. Hagar hatte also eine ganz schwache Stellung. Und doch ist sie, wie sich zeigen wird, eine ungewöhnlich starke Frau.
Und zum Dritten unterscheidet auch dies die Zeit der alttestamentlichen Väter und Mütter von unserer Gegenwart, dass Kinderlosigkeit als soziale Schmach galt. In seinen Kindern lebte man fort. Wer keine hatte, hatte keine Zukunft. Eine kinderlos bleibende Ehefrau verlor dramatisch an Ansehen. Sie drohte an den Rand der Gesellschaft zu geraten. Ihre starke Stellung war vorbei.

So war das – damals. Und zumindest so viel muss man von damals wissen, um die Geschichte von Hagar auch heute zu verstehen. Denn um Hagar vor allem geht es hier: um die ägyptische Magd der Sara, die wiederum die rechtmäßige Ehefrau des Patriarchen Abraham war. Der aber, wie gesagt, spielt in dieser Geschichte keine tragende Rolle – um es freundlich auszudrücken. Noch ist Abraham nicht Vater. Noch ist er kinderlos – obwohl ihm Gott im Kapitel davor eine große Nachkommenschaft verheißen hat, „zahlreich wie die Sterne am Himmel“ (Gen 15,5). Verständlich die Desillusionierung bei Sara, der kinderlos Gebliebenen, über diesen Gott. Damit beginnt die Geschichte. Sara überredet Abraham, mit Hagar ein Kind zu zeugen.

II.

„Abraham gehorchte Sara. Und er ging hin zu Hagar, und sie ward schwanger.“ Am Anfang ist wirklich alles gut. Sara meint es gut. Abraham findet und macht es gut. Und Hagar tut es gut. Sara meint es mit sich selber nur zu gut. Hofft sie doch, mit Hilfe der Leihmutter endlich Mutter zu werden und ihr bedrohtes Sozialprestige halten zu können. Abraham findet es ungemein gut, ein Kind zu zeugen. Und Hagar tut es richtig gut, Mutter zu werden. Doch aus dem guten Anfang geht wenig Gutes hervor. „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären“ – nicht nur! Das Leben ist komplex. Es kennt auch den Fluch der guten Tat. In unserer Geschichte ist das gleich zweimal so. Hagar tut die Schwangerschaft so gut, dass sie, die Magd, auf die Stimme der Natur, also der Mutter in sich hört. Jetzt steht sie im Mittelpunkt – und wird hochmütig, auch ihrer Herrin gegenüber. So war das schon immer: Hierarchie und Dominanz bedeuten zwar, dass der Höhergestellte geachtet werden muss, provozieren aber gerade deshalb Widerstand. Aber Hochmut kommt vor dem Fall.

Die in ihrem Stolz gekränkte Sara lässt ihre Muskeln spielen und facht den Konflikt mit der Magd an zu einem Konflikt mit ihrem Mann. Sie beschuldigt Abraham, den Hochmut der Magd angefacht zu haben. Wer weiß, was er da so liebesgeflüstert hat in der Nacht mit Hagar! Und Sara zieht Gott mit in diesen Konflikt hinein. Er soll entscheiden zwischen ihr und dem fiesen Abraham. Der, um des lieben Hausfriedens willen, gibt nach und überlässt die zur Nebenfrau aufgestiegene Magd wieder der absoluten Verfügung ihrer Herrin: „Siehe, sie ist wieder in Deiner Hand, mach mit ihr, was Du willst!“ Und das tut Sara dann auch. Sie erniedrigt Hagar, die werdende Mutter - und das so sehr, dass der die Situation irgendwann unerträglich wird. Hagars Stärke erträgt die Stärke Saras nicht mehr. Sie emanzipiert sich. Sie entflieht ihrer Herrin in die Freiheit.

Der Weg dorthin aber ist konkret ein Weg – in die Wüste. Dort kann man, auf sich selbst gestellt, nicht lange überleben. Hagar hat noch Glück, sie findet eine Wasserquelle. Aber die macht es im Grunde noch schlimmer. Denn sie gibt gerade nur so viel her, wie man braucht, um zu merken, was fehlt. Die Quelle hilft für den Moment, aber nicht darüber hinaus. Hagar weiß das. Sie weiß, dass die Flucht in die Freiheit das Leben des Kindes unter ihrem Herzen und ihr eigenes gefährdet. Die starke Frau beginnt zu flehen: nicht zu irgendeinem Menschen, aber zu Gott.

III.

Halten wir, liebe Gemeinde, an dieser Stelle inne und schauen zurück. Am Anfang, als Sara ihr Geschick in die eigenen Hände nahm und ihrem Gatten die eigene Magd ins Bett legte, schien alles gut. Aber jetzt droht der gute Anfang ein schlimmes Ende zu nehmen. Saras Plan, mit Hilfe der Leihmutter zu einem Kind zu kommen, droht an ihrer eigenen Empfindlichkeit und Härte zu scheitern. Und die sich emanzipierende Hagar wird zu einer einsamen Frau. Keiner sieht, keiner hört sie, keiner spricht mit ihr. Frei, aber unendlich einsam. Auch so mancher von uns kennt das. Hat vielleicht vor 30 Jahren, in den frühen 1990ern, irgendwie Ähnliches erlebt und erlitten. Von den Verwüstungen, die falsche Versprechungen und arrogantes Gebaren der „Wessis“ bei vielen Ostdeutschen auf dem Weg in die Freiheit sozial – aber eben auch seelisch! – angerichtet haben, ist ja inzwischen überall die Rede.

Wohl dem, dem in einer solchen Lage jemand begegnet, den man mit Fug und Recht Bote Gottes nennen kann. So wie es Hagar jetzt widerfährt. Die Person verrät nicht, wer sie ist. Aber sie macht der Wüsten-Einsamkeit Hagars ein Ende. Mit einer ganz schlichten Frage. So wie bei Hagar: „Woher kommst Du? Wohin willst Du?“ Hagar hat wohlweislich nur auf den ersten Teil, die Frage nach dem Woher geantwortet. Dann schweigt sie. Aber sie hört auf die Stimme des unbekannten Fremden, sie hört und hört. Bis ihr ein Licht aufgeht und sie erkennt, wer da wirklich mit ihr redet.

Manchmal braucht es Zeit, bis man erkennt, dass eine persönliche Anrede, dass Worte des Anderen Zukunft versprechende Worte sind. Worte, die aus der Wüste der Einsamkeit herausführen. So wie bei Hagar: „Du wirst einen Sohn gebären. Und Du sollst ihn Ismael nennen“. Als sie das hört, weiß sie, dass sie Zukunft hat, Sara hin, Sara her. Wenn sie, Hagar, dem Neugeborenen einen Namen geben kann, dann ist sie mehr als nur eine Leihmutter. Dann wird das zur Welt kommende Kind ihr Sohn sein und bleiben. Ismael, das heißt wörtlich: Gott hört. Aber Hagar gibt nicht nur ihrem Sohn, sie gibt auch ihrem Gott einen Namen und nennt ihn den „Gott, der mich sieht“. Im Rückblick ist es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen: Ich wurde gesehen! Ich wurde erkannt!

IV.

Gott hört – Gott sieht mich! Wer diese beiden Namen am Ende der Geschichte im Ohr hat, der blickt auf die ganze Geschichte nun doch noch einmal anders zurück. Am Anfang war davon ja nichts zu spüren, dass Gott hört und dass Gott sieht. Gott schien sein Versprechen an Abraham nicht gehalten und Sara Kinder versagt zu haben. Doch am Ende heißt er gerade wegen dieser Geschichte so: Gott hört – Gott sieht mich. Bedenkt man die Geschichte Hagars von ihrem Ende her, dann kann man entdecken, dass Gott auch dann genau hört und genau sieht, wenn wir nichts mehr von ihm spüren, wenn Gott sich uns verfinstert hat. Oder wenn ich gar meine, er habe sich aus meinem Leben verabschiedet. Ja, Gott hört und Gott sieht…

Die Kirche hat leider zu oft Gottes Aufmerksamkeit für uns mit der Allgegenwart eines Spions verwechselt. Sie hat aus Gottes beharrlicher Begleitung einen unerbittlichen Big brother is watching you gemacht: „Und wenn im Fall des Falles / man sich im Dunkel versteckt, / der liebe Gott sieht alles / und hat Dich längst entdeckt“, sang Hilde Knef. Nur dass ein solcher Gott kein „lieber“ Gott mehr ist. Und eine Kirche, die mit Gottes Auge und Gottes Ohr Menschen einschüchtern will, ist nicht Kirche Christi. Einer solchen Kirche ist in Hagars und in Gottes Namen zu widersprechen. Denn er ist ein Gott, der jeder und jedem von uns genau zuhört. Aber er tut es, um zu erhören.

Deshalb redet mit ihm! Redet auch dann mit ihm, wenn Ihr nichts von ihm spürt! Denn dessen sollen wir uns gewiss sein: Gott bleibt auch in größter Ferne noch der Gott, der dich hört und dich sieht. Und er hört und sieht dich gern. Ja, Gott sieht uns weiß Gott merkwürdige Gestalten ausgesprochen gern. Und er sieht uns, wie jeder wirklich Liebende, noch lieber als sich selbst.

 

Amen.

 

Die Taufe: Ein großes Ostern

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Osternachtsgemeinde, und in ihrer Mitte: Liebe Täuflinge,

vor einigen Jahren habe ich einen 15jährigen Jungen getauft. Beim Gespräch vorher erzählte er, dass ein Klassenkamerad, als der von seiner bevorstehenden Taufe gehört hatte, ihn erstaunt fragte: „Bist du etwa Christ?“ Das passt zu dem, was die Statistiken sagen: In unserer Stadt wird nur noch jedes sechste neugeborene Kind getauft. Und es passt zu dem, was kürzlich in der Zeitung zu lesen war. Da gab ein Jugendlicher aus Dresden auf die Frage, wie er sich von seiner Lebenseinstellung her bezeichnen würde: als Christ, als religiöser Mensch oder als Atheist, die kernige Antwort: „Keine Ahnung. Ich bin einfach nur normal.“ Der Satz hat‘s in sich!

Tatsächlich ist es ja längst so, dass man sich eher dafür rechtfertigen muss, dass man dieser verstaubten Organisation Kirche noch angehört, als dass das noch als normal gilt. Glaube, Kirche, Christsein: das wird heute von sehr vielen als uncool angesehen, irgendwie als Symptom eines realitätsfernen Gutmenschentums. So zeigt sich, dass die Frage gar nicht so abwegig ist: Seid Ihr 14, die Ihr Euch entschieden habt, in dieser Nacht getauft zu werden, irgendwie unnormal? Meine Antwort klingt vielleicht erstmal irritierend: Ja, das ist wirklich so! Und zwar deshalb, weil die Taufe etwas Besonderes, etwas absolut nicht Alltägliches, ja sogar etwas Einmaliges ist. Einmal getauft heißt nämlich: ein für alle Mal getauft! Da kann auch ein Kirchenaustritt später nichts dran rütteln. Da, wo Menschen und Gott sich berühren, da wird alles Normale durchbrochen.

I.

Das eben gehörte Predigtwort ist der sog. Taufbefehl, mit dem Jesus das Sakrament der Taufe, wie wir es in der Kirche ausdrücken, „eingesetzt“ hat. Er bildet das Ende des Matthäusevangeliums. Es sind die letzten Worte Jesu vor seinem endgültigen Abschied von dieser irdischen Welt. Letzte Worte haben es in sich. Wenn sie von einem berühmten Menschen publik werden, faszinieren sie die Nachwelt. Da wird dem letzten Wort gerne die Bedeutung eines Vermächtnisses zugeschrieben. „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Man sollte meinen, nach einem so schönen letzten Wort hätten die Jünger diesen schmerzlichen Abschied doch ganz gut bewältigen können. Ich bin bei dir: Wer das einem weinenden kleinen Kind zuflüstert, spürt, wie tröstlich und beruhigend diese Versicherung wirkt. Die Jünger aber sind zunächst mal nur untröstlich. Dieses irrsinnige Wechselbad der Gefühle, durch das sie die letzten sechs Wochen seit Karfreitag gegangen waren, überfordert sie. „Matthäi am Letzten“: diese Wendung, die von diesem Ende des Matthäusevangeliums herstammt, steht daher für Desaster, Chaos, Zusammenbruch.

Wie ist denn die Lage, als dieses letzte Kapitel im Matthäusevangelium beginnt? Jesus wurde hingerichtet am Kreuz und dann begraben. Ein Stein versiegelt das Grab, Zeichen der Endgültigkeit des Todes. Alle Hoffnungen der Jünger am Kreuz brutal durchkreuzt. Aber dann die unglaubliche Erfahrung: der Stein vor dem Grab ist am Sonntagmorgen weggewälzt. Er markiert nicht das letzte Wort über Jesus – und auch nicht das letzte Wort Gottes über uns. Damit wir unser Vertrauen ins Leben nicht unter Leid- und Todeserfahrungen begraben müssen, darum feiern wir Gottesdienst, Sonntag für Sonntag, immer ein kleines Ostern. Und erst recht feiern wir die Taufe: die mehr ist als nur ein kleines Ostern, sondern schon ein richtig großes, weil eben einmaliges. Der Grabstein Jesu wurde zur Kanzel für Gottes Engel, als er den verstörten Frauen zurief, was wir eben im Osterevangelium gehört haben: „Fürchtet euch nicht! Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden!“ (Mk 16,6) Das ist der Kern des Evangeliums, damals vor fast 2.000 Jahren in Jerusalem und heute Nacht in der Frauenkirche. Und das ist auch der Grund, warum wir taufen. Der Gekreuzigte ist auferstanden! Christus lebt und hat uns seine Begleitung und Beistand versprochen „bis an der Welt Ende“. Das gilt im doppelten Sinn: zeitlich und räumlich. Was wir in unserem Leben an aufbauender Nähe Gottes erfahren haben, wird, wenn wir einmal zu Grabe getragen werden, nicht mit uns begraben. Es bleibt. Über den Tod hinaus.

II.

Das Osterevangelium erzählt dann am Ende, dass der Engel die Jünger nach Galiläa schickt, um dort dem Auferstandenen zu begegnen. Nach Galiläa, wo Jesus seine Geschichte mit ihnen begonnen hatte, als sie noch als Fischer in den Dörfern am Ufer des See Genezareth lebten. Klingt doch wunderschön – aber Markus notiert: „Zittern und Entsetzen hatte die Jünger ergriffen“. Ich finde es ganz wichtig, dass die biblischen Osterberichte so unverblümt festhalten, dass das Wunder der Auferstehung die ersten Zeugen erst einmal nur verstört. Das sagt uns etwas Wichtiges: Wenn es selbst für die, die Jesus ihr Leben geteilt, ihn so intensiv erlebt und kennengelernt hatten, keine zweifelsfreie, unerschütterliche Glaubensgewissheit gibt, um wieviel mehr und selbstverständlicher gilt das dann auch für uns, die wir nie die Chance hatten, Jesus leibhaftig kennenzulernen!

Liebe Täuflinge, ich will Euch die Freude an dem großen Ereignis, das Euch heute widerfährt, in keinster Weise madig machen. Im Gegenteil, es soll diese Freude eher bestärken, wenn ich sage: Auch Eure Taufe ist keine Garantie vor Zweifeln und Erschütterungen im Glauben. Der Glaube, dessen Basics Ihr in den letzten Monaten kennengelernt habt, ist kein fester, unangreifbarer Besitz, kein Vorrat, den man sich gewissermaßen auf Flaschen ziehen kann, um ihn bei Bedarf jederzeit abzugreifen. Glaube ist ein Weg mit Höhen und Tiefen, und es gehören auch Sackgassen und Irrwege dazu. Eben darum kann man allein, für sich selbst auch nicht Christ*in sein. Darum gibt es die Kirche, die Gemeinde als soziale Gestalt des Glaubens. Wir brauchen die Gemeinschaft der Glaubenden, wir brauchen Paten, Freund*innen, die für uns da sind und für uns beten. Darum ist Eure Taufe heute nicht nur das Zeichen für das Band zwischen Euch und Gott. Sie knüpft auch ein Band zwischen Euch und der Gemeinde Jesu, wo immer Ihr eine gemeindliche Heimat findet.

Jesus steht in Galiläa bei seinen Jüngern, gezeichnet mit den Wunden der Kreuzigung. Eben so, nicht als Superman, als strahlender Auferstehungs-Hero, sagt er zu Beginn seines Taufbefehls: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden!“ Dieser Macht Gottes vertraut Ihr Euch heute in Eurer Taufe an. Sie wird Euch nicht einfach vor irdischem Leiden bewahren, diese Macht, denn Gott ist kein Glücksspielautomat. Er hat uns das Leben nicht als Dauer-Honeymoon versprochen. Gott bewahrt uns nicht vor Katastrophen. Aber Ihr werdet in Eurem Leben die Erfahrung machen: Er bewahrt in Katastrophen.

III.

Eine persönliche Erinnerung zum Schluss. Es war im Sommer 1990, mitten in der Wendezeit. Ich war ich mit Freunden in der damaligen Gerade-noch-DDR unterwegs. Es war ein Sonntag, wir radelten durch die Uckermark. In einer kleinen Dorfkirche gingen wir zum Gottesdienst. Die Kirche war überraschend gut gefüllt. Das hatte damit zu tun, dass eine Taufe gefeiert wurde. Wir, an Taufen gewöhnt, nahmen das als normal. Aber als die junge Pastorin zur Taufansprache ansetzte, stockte ihr bald die Stimme. Sie setzte neu an, kam aber nicht weit. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie, sie könne jetzt einfach keine Taufansprache halten, weil sie persönlich zu sehr berührt sei: drei Jahre sei es her, dass sie in dieser Kirche die letzte Taufe hatte! Sie habe sich oft leer und zermürbt gefühlt, weil die Gemeinde immer kleiner wurde und die Kinder ohne Gott heranwuchsen. Aber jetzt brachten Eltern ihr Kind zur Taufe. Das war für sie eine überwältigende Erfahrung.

Beim Kaffee hinterher kamen wir mit dem Taufvater ins Gespräch. Lupenreine DDR-Sozialisation. Bis Anfang 20 keine Kirche von innen gesehen. Dann sei er im Urlaub an der Ostsee aus purer Neugier mal in einen Gottesdienst gegangen. Nur ein paar Leute seien da gewesen. Aber die hätten ihn so freundlich aufgenommen, das habe ihm gefallen. Ein Jahr später, wieder im Urlaub, die gleiche Erfahrung in einer anderen Kirche. Dann habe ihm jemand ein „religiöses Buch“ in die Hand gegeben, das ihn gefesselt habe. So habe es angefangen. Immer öfter sei er dann zum Gottesdienst gegangen. Und irgendwann dann sei ihm völlig klar gewesen: jetzt will ich getauft werden! Seither war die Angst vor Repressionen verschwunden. Er fühle sich frei, zu dem zu stehen, was sein Leben verändert und ihm einen anderen Boden unter den Füßen gegeben habe. –

Eine unscheinbare Geschichte. Nichts Spektakuläres. Papst Benedikt wurde einmal gefragt: Wie viele Wege zu Gott gibt es eigentlich? Er gab die einfache und einfach wahre Antwort: „So viele wie es Menschen gibt!“ – Also, liebe Täuflinge: Auch Eure Wege zu dieser österlichen Nacht heute waren 12 ganz verschiedene. Und sie werden verschieden bleiben. Aber in einem waren, sind und werden sie gleich sein: Es waren Wege mit Gott und zu ihm hin. Und damit Wege hin zu der Fülle und Tiefe des Lebens. Denn der Herr ist auferstanden, Halleluja!

 

Amen.

 

Ein Lied gegen den Staubsauger

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

„Der Herr erniedrigt und erhöht. Er hebt den Dürftigen und den Armen aus Staub und Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten“. Diese Worte aus Hannas Jubellied klingen wie eine alttestamentliche Ouvertüre zum Magnificat, dem Lobgesang der schwangeren Maria. Damit hebt seismographisch schon etwas an von dem, was Ostern ans Licht gebracht hat. Hergebrachte Ordnungen werden auf den Kopf gestellt, die Verhältnisse kommen zum Tanzen. Umwertung aller Werte.

I.

Das Alte Testament weiß von Ostern noch nichts. Eine Auferstehung von den Toten klingt dort nur an wenigen Rändern leise an. Aber österlich ist, dass wir heute der Spur einer Frau folgen. Neben Hanna aus unserem Predigttext haben wir vorhin im Evangelium auch Maria Magdalena, Maria und Salome namentlich genannt gehört. Gleich vier Frauennamen in den biblischen Texten eines Gottesdienstes – das gibt es sonst fast nie! Sie kennen sicher den plumpen Kalauer, den man aber auch frauenfreundlich hören kann: Warum hat sich das Christentum überhaupt ausgebreitet? Weil die ersten Zeugen der Auferstehung Frauen waren! Tatsache ist jedenfalls, dass Frauen die Wegweiser zum Auferstehungsjubel sind.

Ostern 2024 erinnert uns an eine vorösterliche Frau. Hanna, die nach dem Bericht des 1. Samuelbuchs Hunderte von Jahren vor Jesu Auferstehung eine ganz persönliche Auferstehung erlebt. „Es war ein Mann, der hieß Elkana. Der hatte zwei Frauen: die eine hieß Hanna, die andere Peninna. Peninna aber hatte Kinder, Hanna aber hatte keine Kinder.“ Mit diesen Sätzen beginnt das 1. Samuelbuch. Sie klingen lakonisch, bergen aber viel Tragik. Kinderlosigkeit bedeutete für Frauen im alten Israel den sozialen und seelischen Tod. Hanna hatte ihn erlitten. Nichts würde von ihr bleiben ohne Nachkommen. Kein Gedanke, kein Wort, kein Name. Immer wieder fleht sie zu Gott, er möge ihr doch einen einzigen Sohn schenken. Und dann kommt er doch noch. Sie kann ihn nur Samuel nennen, denn das heißt zu Deutsch: Gott hört. Durch diese Geburt wird für Hanna alles anders. Wie es dazu gekommen sein mag, interessiert sie sichtlich nicht. Was sie besingt, ist Gott, als Geber aller Gaben. Er ist der Grund ihrer Freude: „Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn“.

II.

Hannas Jubel über ihr Kind und die Osterfreude über das Geschenk neuen Lebens machen nachdenklich im Blick auf die Zahl der Mütter und Väter, die ein geschenktes Leben meinen nicht annehmen zu können. Neben den immer schon vorhandenen sozialen und psychischen Gründen gibt es ein neueres Phänomen: immer weniger behinderte Kinder kommen noch zur Welt. Weil man aufgrund der heute enormen Möglichkeiten vorgeburtlicher Diagnostik ein solches Leben für nicht mehr zumutbar hält, dem Kind nicht, und sich selber nicht. Vor allem aber spiegelt Hannas Leiden auch das Leid vieler Frauen, die kinderlos geblieben sind. Die Gründe sind vielfältig. Die einen finden nicht den richtigen Partner. Andere haben den Kinderwunsch angesichts der Anforderungen in Ausbildung und Beruf und der immer noch viel zu wenig familienfreundlichen Berufsbedingungen erst mal zurückgestellt. Irgendwann merken sie schmerzlich, dass dieser Wunsch wohl unerfüllt bleiben wird. Das bekannte Wort von Konrad Adenauer, der trocken feststellte: „Kinder kriegen die Leute immer“ gilt längst nicht mehr. Auch dazu mag Ostern aufrütteln, alles Menschenmögliche zu tun, damit das Leben den Vorrang erhält vor dem Tod und ein neuer Blick auf das Aufwachsen von Kindern in dieser Welt Raum gewinnt. Da haben wir in unserem reichen Land noch viel Luft nach oben.

Hannas Geschichte lässt vermuten, dass ihre Kinderlosigkeit biologische Ursachen hatte. Aber ihr Kinderwunsch bleibt so ungebrochen wie ihre Verzweiflung. Sie klagt, und sie betet. Not lehrt beten, diese Redewendung klingt oft abschätzig. Aber wer betet, versucht, was ihn quält, nicht nur bei sich zu lassen. Wer betet, tritt gleichsam einen Schritt neben sich und kann noch einen anderen Blick auf sein Leben bekommen, weil er ahnt, dass er sein Leben nicht aus eigener Kraft meistern muss. Aber Beten versteht sich nicht von selbst. Es muss gelernt werden. Sonst kann man in der Not nicht darauf zugreifen. Als der berühmte Philosoph Karl Jaspers gefragt wurde, warum er eigentlich kein Christ sei, gab er zur Antwort: „Niemand hat mich beten gelehrt“.

Hanna lässt sich trotz vieler scheinbar unerhört gebliebener Gebete offenbar nicht irre machen. „Nicht müde werden / sondern dem Wunder / langsam / wie einem Vogel / die Hand hinhalten“, schreibt die Dichterin Hilde Domin in einem knappen Fünfzeiler. Hanna ist nicht müde geworden. Und macht dann die überwältigende Erfahrung, dass ihr Gebet nicht ins Nichts hineingesprochen war. Gott tut das Unerwartete, tut Wunder. Das lässt Hanna ein frühes „Tedeum“ anstimmen: Ihm, dem Schöpfer und Geber des Lebens gehöre ich und alles, was ist. Er allein hat die Erde gemacht und ist heilig, und er hat mein Leben verwandelt. – Wie Maria später im Magnificat, macht Hanna Gott groß. Beide Frauen greifen singend bis zum Himmel.

III.

Umso erstaunlicher, dass dieses himmelhoch jauchzende Lied zugleich ganz auf der Erde bleibt, dass das Leid nicht weggedrückt wird. Erniedrigung, Armut, Tod: all das, was einem den Himmel wie zugemauert erscheinen lässt, wird mit Gott in Verbindung gebracht. „Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht.“ Und noch stärker der Satz: „Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Gut und Böse nicht verteilt auf Gott und Teufel, sondern in den einen Gott hineingelegt. Wenn er der Grund aller Dinge ist, dann kann er auch aus dem Fürchterlichen, Unsäglichen nicht einfach ausgeklammert werden. Da sind Abgründe berührt, die den Theologen Kopfzerbrechen machen, seit es den Glauben gibt.

All das klingt an in Hannas Lied. Wir dürfen uns seine Melodie nicht wie eine Mozartarie, sondern sehr komplex, eher wie eine Mahler-Sinfonie vorstellen. Liebe Gemeinde, ja, Ostern ohne Karfreitag wäre unmöglich. Denn zu den komplexen Tonfolgen gehört auch Jesus am Kreuz. Gott lässt ihn elend sterben. Der Tod und Gott geraten an Karfreitag so intensiv an- und ineinander, dass das Nichts und das Sein, das Böse und das Gute kaum noch zu unterscheiden sind. Das ist die unerklärlich dunkle Seite Gottes. Auferstehung heißt, dass eben nicht der Tod, sondern Gott das letzte Wort in der Geschichte Jesu gesagt hat – und deshalb auch in unserer Geschichte das letzte Wort haben wird. Und zwar ein bejahendes, lebendig machendes Wort. In Hannas Lied klingt das schon an. Am Ende jeder Zeile steht die positive Aussage: Wenn Gott denn tötet, so macht er erst recht lebendig. Wenn er hinabführt zu den Toten, so bringt er erst recht wieder herauf. Wenn Menschen auf der Schattenseite leben, werden sie einmal einen Ehrenplatz bekommen.

Aber gilt das denn auch für uns heute, in unseren kleinen oder großen Katastrophen, in denen wir das Gefühl haben, das etwas in uns abgestorben ist? Kommt dadurch etwa der Partner wieder zurück, der mich verlassen hat? Ist damit etwa das Zerwürfnis mit dem eigenen Kind beigelegt, das sich seit Monaten nicht mehr gemeldet hat? Ist damit die schwere Krankheit geheilt? Ja, wenn Gott Totes wieder lebendig machen kann, dann kann das möglich sein. Wir dürfen von Gott nicht zu klein denken. Es kann aber doch auch so sein, dass es mir plötzlich gelingt, die Aufgaben anzunehmen, die mir das Alleinleben stellt. Es kann auch so sein, dass ich mit einem Mal einen anderen, verstehenden Blick darauf gewinne, dass mein Kind seine Wege jetzt ohne mich gehen will, vielleicht muss. Es kann sogar so sein, dass mir in der Krankheit die Augen für Vieles aufgehen, was ich im Getriebe der aktiven Alltagsroutine gar nicht erkannt hätte.

IV.

Beim Sinnieren über unseren Predigttext kam mir plötzlich eine skurrile Erinnerung aus der Kindheit. Meine Eltern hatte eine Zugehfrau, die die Angewohnheit hatte, beim Staubsaugen laut und ausdauernd zu singen. Das ist eine ganz schöne Energieleistung, denn ein Staubsauger heult und rauscht, er macht auf sich aufmerksam, als wolle er sagen: Staub ist überall, unter den Betten und auf den Regalen, unter dem Teppich und auf den Lampen. Nichts ist so verlässlich wie der in Windeseile wiederkehrende Staub. Ein Staubsauger wird nie arbeitslos, er kann heulen und immerfort sein altes Lied singen. Es lautet: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub.“ Die Beerdigungsformel: Du bist Erde und sollst zur Erde werden, du Pflanze, du Tier, du Mensch. Diese Wahrheit, die wir so gekonnt verdrängen, dass wir unentrinnbar vergehen: der Staubsauger heult sie uns unbeirrt in die Ohren.

Wie gesagt, bei unserer Putzfrau kam zu dem unablässigen Jaulen des Geräts fröhlicher Gesang hinzu. Ein seltsames Duett, das da ertönte, die Stimmen kämpften miteinander. Was könnte man bei solcher Tätigkeit singen? Staubsaugerlieder gibt es wohl keine. Aber Frühlingslieder würden passen. Oder jetzt zu Ostern: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Wäre das ein Missbrauch dieses schönen Händel-Arie? Das ist doch wirklich eine Gegenmelodie: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er mich aus dem Staub erheben“ (Hi 19,25), sagt der geschlagene Hiob an einem Tiefpunkt seines Lebens Auch Hanna singt ihr Lied gegen den Staub: „Gott hebt den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche.“
Dieser Gesang spinnt sich fort in unseren Osterliedern. Die sind allesamt Spott- und Protestlieder gegen den Tod und alle tödliche Gesinnung auf Erden. „Muss ich von hier nach dort – / er hat den Weg durchlitten. /Der Fluss reißt mich nicht fort, /seit Jesus ihn durchschritten“ (EG 117,3) – heißt es in dem Osterchoral, den wir jetzt singen. Dasselbe so ausgedrückt: Der laute, nervige Heulton des Staubsaugers bleibt uns erhalten. Doch darüber erheben sich die schönen Melodien, als jubelnde Oberstimme über dem Getöse. Ein schönes Gleichnis: Der Ton der Vergänglichkeit wird durchdrungen – und manchmal, in österlichen Momenten sogar übertönt vom Gesang des Lebens.

Das wäre für dieses Mal mein Ostertipp für Sie: Singen Sie doch mal beim Staubsaugen, und Sie kommen ganz von selbst, mitten im Diesseitigen, Alltäglichen auf die Spur der Auferstehung! Ja, Christus ist auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Halleluja!

 

Amen.

 

Vollendete Liebe

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Schwestern und Brüder,

vielleicht haben Sie es eben beim Hören gemerkt: Der Passionsbericht des Evangelisten Johannes stimmt zwar in wichtigen Fakten mit den drei anderen Evangelisten überein, aber in einem tieferen Sinne unterscheidet er sich doch sehr von ihnen. Bei Matthäus, Markus und Lukas fällt wenig Licht in die dunkle Szenerie auf Golgatha, gleicht die Passion Jesu eher einem Foto, das in drastischer Anschaulichkeit zeigt, was ist. Johannes‘ Passionsbericht hingegen gleicht einem Gemälde, in dem der Künstler ausdrückt, was über all das Schreckliche hinausweist, was den Blick des Betrachters transzendiert. Johannes sieht, was sich da abspielt an dem Ort namens Schädelstätte, nicht mit den Augen des Reporters und Chronisten, sondern des Glaubenden. Mit den Augen dessen, der erkennt, dass auf Golgatha mitten in all dem Schrecken – etwas Heilvolles geschieht.

Das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14): so formuliert Johannes zu Beginn seines Evangeliums das Geheimnis der Sendung Jesu. Das soll, so meint er, sogar für das Grauen auf Golgatha gelten. Was also ist an Karfreitag geschehen? Ich will mich heute mit Ihnen ganz auf das eine Wort konzentrieren, das Johannes als das letzte des Gekreuzigten überliefert. Letzte Worte eines Sterbenden haben ja ein besonderes Gewicht. Achten wir also darauf, inwiefern in diesem letzten Wort Jesu etwas von der verborgenen Herrlichkeit dessen aufscheint, der da elend zu Tode gebracht – in johanneischer Sprache: erhöht – wird. Im Griechischen ist es ein einziges Wort. Im Deutschen lässt es sich nur in einem kleinen Satz ausdrücken: „Es ist vollbracht“.

I.

Es ist vollbracht“. Das heißt zunächst ganz schlicht: Es ist vorbei, es ist überstanden! Das meint gewiss auch dies: das erleichterte Aufseufzen des Gefolterten, dass es endlich vorbei ist mit dem Schrecken. Den zermürbenden Verhören, den tiefen Enttäuschungen. Einer aus dem engsten Kreis hatte ihn den Häschern ausgeliefert; ein anderer, der immer den 150prozentigen gegeben hatte, hatte ihn verleugnet; der Rest war in Panik in alle Richtungen gestoben. Endlich vorbei damit.

„Es ist vollbracht“, es ist ausgestanden. Jede von uns kann ganz leise den Ton dieses Wortes mitnehmen: wie immer es einmal mit meinem Sterben sein wird, Gott hat diese Schwere und Einsamkeit auch durch, er wird auch mir nah sein, wenn es einmal zu Ende geht. Er wird zu mir durchdringen, mich ansprechen, wenn ich für andere nicht mehr erreichbar bin. So kann ich schon in guten, gesunden Tagen über mein Sterben nachdenken und mit Gott darüber reden – etwa mit den Trostliedern unseres Gesangbuchs: „Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür“ (EG 85,9). Als meine Mutter starb, haben wir diese Paul-Gerhardt-Strophe an ihrem Sterbebett gesungen. Das war sehr tröstlich.

II.

„Es ist vollbracht“. Im Mund des Gekreuzigten ist das nun aber noch etwas sehr anderes, noch mehr als das befreite Aufseufzen, das es nun vorbei ist mit den Qualen. Es ist zugleich, so zeichnet es Johannes in sein Gemälde ein, ein Wort der Überwindung, ja des Sieges. Es will sagen: es ist nicht nur etwas beendet, sondern es ist vollendet. Was Gott mit der Sendung des Sohnes gewollt hat: das ist vollbracht. Die Liebe, mit der Gott den Sohn in die verloren gegangene Welt gesandt hatte, um diese Welt wieder heimzuholen: diese Liebe ist an ihr Ziel gekommen. Jesus selbst hatte ja gesagt: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Diese im Wortsinn unglaubliche Liebe ist in Jesu Lebenshingabe am Kreuz zu ihrer tiefsten Auswirkung gekommen. In dieser Liebe steckt alles drin, was die Welt braucht.

„Es ist vollbracht“ – es fehlt nichts mehr. Von Gott her ist alles geschehen. Alles, was zwischen uns und Gott steht: all das hat das Lamm, das die Schuld der Welt trägt, ans Kreuz getragen und es so aus der Welt geschafft. Nun gilt, was Paulus im Römerbrief in tiefster Erleichterung ausruft: „Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes“ (Röm 8,39). Wir sind und bleiben von Gott geliebt, und das ist das Beste und Wichtigste, was von uns zu sagen ist. Martin Luther hat das wunderbar ausgedrückt: „Gott liebt die Sünder, nicht weil sie schön sind, sondern sie werden schön, weil sie von Gott geliebt sind“. Es gibt nichts Schöneres, als geliebt zu sein. Das gilt schon im normalen Leben. Gott hat darüber hinaus seine Liebe so vollbracht, dass sie, anders als unsere Liebe, nicht erkaltet, sondern ausreicht für immer. Damit ist das Entscheidende über uns gesagt. Von Gott geliebt zu sein, das ist im Tiefsten unsere Identität. „Wer bin ich? – Der oder jener? / Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer“, fragt sich Dietrich Bonhoeffer in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle. Am Ende seines Gedichts kommt er zu der Antwort: „Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott / Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott.“

III.

„Es ist vollbracht“: Das schließt alle ein. Auch wenn sie sich selbst ausschließen, weil sie vielleicht zu viel Böses erlebt haben, um noch an einen lieben(den) Gott zu glauben. Nur wer sich selbst so zum Maß aller Dinge machte, dass er meinte, er hätte das alles gar nicht nötig, es sei doch einfach lächerlich, dass Jesus sich auch seinetwegen in solche Unkosten hätte stürzen müssen – nur der würde sich selbst ausschließen, sich um alles bringen. Aber: ob die Liebe, die Jesus am Kreuz vollbracht hat, nicht auch da noch Mittel und Wege hat, um auch solche Leute zum Staunen zu bringen, dass Gott es sich für sie so viel hat kosten lassen – wer weiß das schon?! „Es ist vollbracht“. Was wir vollbringen sollen, ist nur dies: uns dieser Liebe auszusetzen, uns nicht gegen sie zu sperren (was manchmal ja verdammt schwierig ist!), und nicht zuletzt: etwas von ihr weiterzugeben. Wo Menschen sich von dieser Liebe bewegen lassen, da wird die Welt heiler.

„Es ist vollbracht“. Wenn uns Schuld, das Gefühl, dass alles irgendwie sinnlos ist, wenn uns Selbsthass und Einsamkeit in Abgründe ziehen, dann soll gelten: Schau auf ihn, auf seinen Tod! In diesem Tod ist doch der Tod schon gestorben, den Du jetzt sterben willst. Schau auf ihn – und nun kehre zurück zu denen, die Dich als Lebenden brauchen. Denken Sie an das Wort aus dem 139. Psalm: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Von allen Seiten! Also auch von der Seite des Todes. Seit er auch auf diese Seite gegangen ist, seit er das alles selbst kennengelernt hat, seither sind wir auch auf dieser Seite, auf der uns kein Mensch mehr begleiten und helfen kann, nicht verloren und verlassen. Gott will den Tod nicht mehr loswerden, damit der Tod ihn, Gott, nicht mehr loswerden kann. Und das heißt: wo immer der Tod auch hinkommt – da ist Gott immer schon da!

Was also ist vollbracht? Alles – denn Gott hat den von uns selbst zugeschütteten Weg zu ihm und zueinander wieder freigeschaufelt:

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn

muss uns die Freiheit kommen.

Dein Kerker ist der Gnadenthron,

die Heimstatt aller Frommen.

Denn gingst du nicht die Kechtschaft ein,

müsst‘ unsre Knechtschaft ewig sein.

 

Amen.

Lieben und lieben lassen

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

wenn mir der Kopf gewaschen wird, ist das alles andere als angenehm. Ich meine natürlich nicht das Shampooniertwerden beim Friseur, sondern wenn ich etwas gesagt oder getan habe, das jemand anderer so unmöglich findet, dass er mich richtig rundmacht. Das kann ich dann schnell als demütigend empfinden. Jesus war zu solchen Kopfwäschen durchaus fähig. Er war ja mitnichten „das liebe antiautoritäre Kerlchen, zu dem wir ihn gerne weichzeichnen“ (F. Steffensky). Denken wir nur an die Szene, wie er wutentbrannt im Tempel großreinemacht. Oder an die harten Wehe-Rufe in Richtung „Pharisäer und Schriftgelehrte“, also der klerikalen Klasse. Jesus nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er frömmelnde Gesetzlichkeit, Heuchelei und Menschenverachtung entdeckte. Anderen den Kopf waschen: davor hatte er wahrlich keine Scheu.

I.

Heute, am Abend vor seinem Tod am Kreuz, ist es anders. Da kniet Jesus nieder, um seinen Jüngern die Füße zu waschen. Und dies nun im wortwörtlichen Sinn. Er übernimmt einen Dienst, der in „guten Häusern“ damals üblicherweise den Sklaven oblag. Damit stellt Jesu die gängige Hierarchie von Herr und Knecht auf den Kopf, oder besser gesagt, vom Kopf auf die Füße. Denn dass es bei Jesu Fußwaschung nicht einfach um die übliche Fußpflege und Körperhygiene ging, macht der Evangelist Johannes sofort klar, indem er die Fußwaschung nach dem abendlichen Mahl ansetzt. Es war damals üblich, sich die Füße waschen zu lassen, bevor man sich „zu Tisch“ begab, was konkret hieß, sich auf das Speisesofa zu legen. Also müssen die Füße der Jünger längst vom Staub des Tages gereinigt gewesen sein. Damit wird deutlich, dass Jesus mit dieser Handlung um ein besonderes Zeichen setzen will. Es ist einfach und klar: Die Liebe. Jesu Liebe zu den Seinen. Und dass diese sich multipliziert und weiter verströmt in die Liebe der Seinen untereinander. Diese Liebe ist die Liebe Gottes, die bereit ist, bis zu Äußersten zu gehen. Tags darauf wird sich das am Kreuz unüberbietbar zeigen. „Er erniedrigte sich selbst, wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich und war gehorsam bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,7): so bringt Paulus diese Liebe in großartiger sprachlicher Verdichtung auf den Punkt. Und genau dies nimmt Jesus am Abend davor zeichenhaft vorweg, indem er seinen Jüngern die Füße wäscht. Die Fußwaschung ist ein Liebesdienst. So wie man jemand, die man sehr gern mag, fest in die Arme schließt. Menschen, die etwa in der Pflege anderen die Füße waschen, wissen, dass es dabei nicht nur um Reinigung geht, sondern auch um Zeit, Nähe, Zuwendung und Geborgenheit. Wer wollte dazu Nein sagen?

II.

Einer tut es: Petrus. Ausgerechnet Petrus, der leidenschaftlichste Gefolgsmann Jesu, der spätere „Apostelfürst“. Er kann diese Umwertung der Hierarchie nur als unerträglich empfinden. „Du, Herr, willst mir die Füße waschen?“ Und auch Jesu milde Einrede kann ihn nicht umstimmen: „Niemals sollst du mir die Füße waschen!“ Demütig klingt das, und bescheiden. Ist es aber nicht! Wenn Petrus nämlich seinem Herrn nicht erlaubt, an ihm diesen Sklavendienst auszuüben, macht er sich auf eine sehr subtile Art zum Herrn über Jesus. Er hat ein klar definiertes Bild seines Herrn, und dem muss Jesus entsprechen. In diesem Wortwechsel zwischen Jesus und dem selbsternannten Klassensprecher seiner Jünger wird auch uns gesagt: Wer sich seine Liebe, sein Sich-zu-uns-Herabbeugen nicht gefallen lässt, weil das in sein Bild eines allmächtigen, souveränen Gottes nicht passt, der trennt sich vom Gott der Liebe. „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“: Erst diese klare, warnende Ansage bringt Petrus zur Einsicht.

Wie wäre es, wenn wir uns in diesem zunächst so entsetzten Petrus wiedererkennen? Wir tun uns ja auch oft schwer damit, uns helfen zu lassen. Ein chinesisches Sprichwort bringt diese Wesensart treffend auf den Punkt: „Warum hassest du mich denn? Ich habe dir doch gar nicht geholfen!“ Ein hintergründiges Blitzlicht darauf wirft eine alte jüdische Erzählung. Als Rabbi Jishmael nach Hause kommt, will ihm seine Mutter zur Begrüßung die Füße waschen. Der Rabbi wehrt ab und erklärt, dass nach dem 4. Gebot – „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ – er verpflichtet sei, seiner Mutter die Füße zu waschen. Worauf sich die Mutter bei anderen Rabbinen heftig über ihren Sohn beschwert: Der habe gegen das 4. Gebot verstoßen, weil er ihr, seiner Mutter, die Ehre verweigere, ihm als angesehenen Lehrer die Füße zu waschen… So kompliziert ist das mit uns.

Sich helfen, sich (be)dienen zu lassen heißt eben auch, in dem Moment ein Stück eigener Selbstbestimmung preiszugeben. Wer mir hilft, bekommt auch ein Stück Macht über mich. Wer mich füttert, macht mich zum Kleinkind. Wer mich schützt, macht mich zum Schwächling. Unsere Freiheit und Selbstbestimmung sind hohe, kostbare Güter. Die Mehrzahl der Menschen weltweit lebt unter Bedingungen, wo ihnen diese Güter verwehrt bleiben. Deshalb ist es sehr menschlich, dass ich mich innerlich dagegen wehre, wenn jemand ungefragt Jesus spielen und mir die Füße –oder gar den Kopf – waschen will. Und gerade das Symbol der Fußwaschung ist ja auch zweideutig und kann zwiespältige Empfindungen auslösen.

III.

In der katholischen Kirche seit jeher Usus, hat es sich in manchen evangelischen Gemeinden über die Jahre auch eingebürgert, dass die Pfarrer*innen am Gründonnerstagabend den Gottesdienstbesuchern die Füße waschen. Für viele ist das aber doch auch eine nicht einfache, irgendwie intime Situation, auf die sich einzulassen innere Überwindung kostet. In der katholischen Kirche kommt noch ein gewichtiges inhaltliches, theologisches Moment hinzu. Der Gründonnerstag ist gewissermaßen der katholischste aller Tage im Kirchenjahr, weil er der Tag der Einsetzung von gleich zwei hochheiligen Sakramenten ist: der Eucharistie, und des Weihepriestertums – also dem Institut, mit dem die katholische Kirche steht und fällt. Deshalb ist es üblich, dass die Bischöfe an diesem Abend nur Priestern die Füße waschen. Weil Jesus ja auch „den Zwölf“, und nicht einfach jedem die Füße gewaschen habe. Von dieser ehernen Tradition her haben die Bilder von Papst Franziskus, wie er alljährlich an diesem Abend dem „Volk“ die Füße wäscht, und zwar solchen, die am unteren Ende der sozialen Skala stehen, Aufsehen erregt. Der „Stellvertreter Christi auf Erden“ beugt sich herab, wäscht und küsst fremde Füße. Sogar von Gefangenen, Frauen und Muslimen! Das hat viele beeindruckt, mich auch. In der Katholischen Kirche gab es aber auch heftige Kritik, und zwar von beiden Seiten. Die Konservativen finden das unwürdig und wittern darin eine schleichende Zersetzung des Weihepriestertums. Die Liberalen dagegen weisen darauf hin, dass auch bei diesem heiligen Spiel die Rollenverteilung in Wahrheit unveränderlich bleibt. Der Papst, Bischof oder Priester wäscht anderen die Füße: So wird zwar für diesen Moment die Hierarchie auf den Kopf gestellt – aber in dieser ritualisierten Umkehrung nur umso mehr bestätigt. Denn wer demütig die Füße anderer waschen darf, der darf ja auch in die Rolle des Herrn schlüpfen, während die anderen immer nur die Jünger spielen dürfen.

Deshalb bleibe ich, auch als Protestant, skeptisch gegenüber diesem Gründonnerstagsritual, auch wenn wir als Pfarrer*innen kein eigener „Stand“, sondern einfach Teil der Gemeinde sind. Denn wenn wir anderen die Füße waschen, wird doch irgendwie transportiert, dass wir als Pfarrer*innen ein eigener „Stand“ sind. Das ist aber nicht evangelisch, denn wir sind Teil der Gemeinde. Heute Nachmittag haben, wie Sie vielleicht in der Zeitung gelesen haben, einige Dresdner Pfarrer*innen an verschiedenen Stellen der Stadt, auch bei uns vor der Tür auf dem Neumarkt, Passant*innen die Füße gewaschen. Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein, ob ich, aus den genannten Gründen, da auch mitgemacht hätte, wenn ich gefragt worden wäre. Aber dennoch finde ich diese Aktion inmitten einer Stadt mit 80% Menschen, die gut ohne Glaube und Kirche leben, ganz großartig! So muss Kirche in einer areligiösen Umwelt wahrgenommen werden: zu den Menschen hingehen, wo sie unterwegs und zuhause sind, statt in ihren Mauern zu warten, dass die Menschen zu ihr kommen. Großer Respekt vor dem Mut der Kolleg*innen, die das heute Nachmittag gemacht haben! Denn Mut braucht es bei einer solchen Aktion schon.

IV.

Aber noch einmal zu unserer Freiheit und Selbstbestimmung. Das in hohen Ehren! Der Petrus in uns, der sich so schwer helfen, dienen lassen will, braucht das alles bei Jesus nicht zu befürchten. Wenn er uns die Füße wäscht, ist das keine falsche Demut, die Herrschaftsverhältnisse nur umso mehr zementiert. Denn Jesus lässt seine Aktion in die unmissverständliche Erwartung münden: „Wenn nun ich, euer Herr, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr einander die Füße waschen.“ „Einander“ sagt Jesus, und nicht „anderen“. Alle sind also aufgefordert und ermächtigt, sich gegenseitig zu helfen, zu dienen und nicht zuletzt in der Vielfalt der unterschiedlichen Gaben zu ergänzen. Diakonie, dienende Liebe soll keine Hierarchien aufbauen. Nicht nur die katholische, auch unsere evangelische Kirche hat an dieser Stelle noch viel Luft nach oben! Obwohl es durch den Grundgedanken des Allgemeinen Priestertums uns ja eigentlich unsere geistliche DNA eingeschrieben ist.

Was sind ansprechende Liebes-Gesten heute? Wie kann innerhalb einer christlichen Gemeinde Liebe und ein liebevoller Umgang eingeübt werden? Für mich wäre ein aktiver und teilnehmender Blickkontakt wichtiger als etwa das Überreichen einer Blume. Denn Gesehenwerden ist eines unserer Urbedürfnisse. Indem ich mein Gegenüber ansehe, gewinnt diese*r Ansehen. Die berühmte Aktionskünstlerin Marina Abramovic hat vor Jahren im Museum of Modern Art in New York eine Performance inszeniert, bei der sie zwei Stühle einander gegenübergestellt hat, dazwischen ein einfacher Tisch. Auf dem einen Stuhl saß sie selbst, regungslos und schweigend. Der Stuhl gegenüber war frei für jeden Besucher. Marina Abramovic schaut ihr jeweiliges Gegenüber an: ruhig, langanhaltend, aber aktiv und aufmerksam, teilnehmend. Einige sprechen anschließend über ihre Erfahrungen mit diesem Blick der Künstlerin, mit dem Gesehenwerden. Sie beschreiben wie die anfängliche Fremdheit zwischen ihnen und Marina Abramovic sich während dieses Anschauens in eine intensive Nähe verwandelt habe. Ein fremder Blick, in dessen Botschaft „Du, ich sehe dich“ sie ihr Ich finden konnten.

Jesus jedenfalls hat die Kirche gewollt und gesendet als eine Gemeinschaft von Menschen, die sich gegenseitig wahrnehmen, die dienen und sich dienen lassen. Wir sagen ja gerne: Leben und leben lassen! Jesus aber traut uns noch mehr zu: Helfen und sich helfen lassen! Lieben und lieben lassen!

Amen.

 

Victor quia victima

Impuls zur Geistliche Sonntagsmusik
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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I.

Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945, bei der die drei Siegermächte die Neuordnung Europas nach Kriegsende absteckten, verblüffte Stalin seine Kollegen Churchill und Roosevelt mit der Frage: „Und der Papst? Wie viele Divisionen hat der Papst?“ Diese berühmt gewordene Frage verrät nicht nur Stalins Verachtung der Religion. Sie offenbart auch ein klares Glaubensbekenntnis: Das Bekenntnis zur nackten irdischen Macht. – Auch das geflügelte Wort des Alten Fritz, dass „Gott immer mit den stärkeren Bataillonen“ ist, ist ein Ausfluss dieser Weltsicht. Wer etwas werden will, braucht Machtmittel. Nur Einfluss führt zu Erfolg, weil Stärke uns Menschen imponiert.

Aber bitte nicht bequem mit dem Finger auf „die da oben“ zeigen, was in den aktuellen Zeiten ja so populär ist. Diese Vorstellung ist nämlich kein Sondergut der sog. „Mächtigen“. Wir alle sind ihr mehr oder weniger verhaftet. Wir sind Menschen, und als solche – das erzählt die Bibel schon auf ihren ersten Seiten – wollen wir über uns selbst hinaus, wollen wir nach oben. Unseren Wert, unsere Person definieren wir über unsere Leistungen und unser Prestige. „Hast du was, dann bist du was“ lautet unsere Version dessen, was der Apostel Paulus immer wieder über den Menschen „unter dem Gesetz“, wie er es ausdrückt, zu sagen hat.

In Colmar, einer Stadt im Elsass, steht der berühmte Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. Er hatte diesen Altar ursprünglich für die Kapelle eines Hospitals geschaffen, in dem man das sog. Antoniusfeuer behandelte. Eine Hautkrankheit, bei der die Kranken von schmerzhaften Krämpfen geschüttelt und von eitrigen Beulen befallen waren. Wenn ein solcher Kranken eingeliefert wurde, legte man ihn zunächst drei Tage in die Kapelle. Dort fiel sein Blick auf das Altarbild des Gekreuzigten, der sich im Todeskampf windet. Sein Leib ist, dem des Kranken ähnlich, voller Eiterbeulen und zeigt bereits die Farbe der Verwesung.
„Jesus Christus hielt es nicht wie einen Schatz fest, so wie Gott zu sein. Sondern er entäußerte sich und wurde ganz wie ein Mensch, und seiner Erscheinung nach nicht anders als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und war gehorsam bis zum Tod an Kreuz.“ (Phil 2,6) So hat Paulus in seinem Christuslied aus dem Philipperbrief das Geheimnis der Menschwerdung Gottes ausgedrückt. Dieser neutestamentliche Psalm wird an Palmsonntag in den Kirchen gebetet. Seine Aussagen hat Grünewald jenen Kranken im Hospital so anschaulich vor Augen gehalten, dass sie mit einem Blick den am Kreuz gequälten Christus als den Mit-Leidenden, den Gefährten ihres eigenen Elends entdecken konnten. Auch eine Art des Therapiebeginns.

II.

Die frühen Christen haben dieses Christusgeheimnis mit drei kurzen Worten paradox so ausgedrückt: Victor quia victima –Sieger, weil er sich besiegen ließ! Das ist unausschöpflich und ein ganzes Leben lang nicht hinreichend zu erfassen, Gottseidank nicht. Was diese Aussage meint, lässt sich am ehesten erahnen, wenn wir uns das Gegenbild vor Augen halten: uns. Wir möchten nach oben. Er ging nach unten. – Wir halten, was wir einmal erworben haben, mit aller Kraft fest: Geld, Ansehen, Familie, Heimat. Er ließ all das hinter sich und lieferte sich total aus. – Wir halten uns gerne in der Nähe derer auf, von deren Glanz auch etwas auf uns abfällt. Er suchte die Nähe derer, um die die anderen einen weiten Bogen gemacht haben. – Wir möchten leben, etwas gelten, Einfluss wahrnehmen. Er nahm Knechtsgestalt an und endete entsprechend zwischen zwei Verbrechern. Wir haben das Bild von Gott, dass er als „Allmächtiger“ und Höchster doch dazwischenfahren und das Leid und Elend dieser Welt mit einem Federstrich beseitigen könnte, ja müsste. Er reagiert nicht auf die zynischen Rufe der Leute unter seinem Kreuz: „Wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann steig doch einfach runter, das muss dir dann doch ein Leichtes sein!“

In diesem von brutaler irdischer Gewalt gezeichneten Menschen am Kreuz demonstriert Gott seine Macht und Stärke. Nicht mit Artillerie und Divisionen. Friedrich Nietzsche, Pastorensohn und großer Religionskritiker, hat das auf seine polemische Weise genau verstanden, als er gegen das Christentum seinen berühmten Vorwurf einer „Sklavenmoral“ erhob. Damit hat er sich zum aufrichtigen Anwalt einer Welt gemacht, die das Geheimnis eines solchen göttlichen Macht, dieses victor quia victima aus sich heraus niemals verstehen kann. Ein an einen Galgen genagelter Gott, der aller Welt in seiner Ohnmacht zur Schau gestellt wird: das verstehe, wer will! Gebe Gott, dass wir es zumindest verstehen wollen, auch wenn wir es mit unserem Verstand letztlich niemals verstehen – sondern es einfach nur für uns wahr sein lassen können.

Amen.

 

Den Tod opfern

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

der Tod macht nicht nur traurig wie sonst nichts auf der Welt, sondern auch verlegen und hilflos wie sonst nichts auf der Welt. Das war schon damals so, als Jesus den qualvollen Tod am Kreuz starb. Seine Freunde, die ihr Leben mit ihm geteilt hatten, sind in alle Himmelsrichtungen auseinander gerannt. Und irgendwie hat sich das bis heute fortgesetzt: Verlegenheit, auch viel Aggression liegen bis heute über dem Geschehen auf Golgatha. Dass ein Mensch unsäglich leiden, und zwar für andere leiden muss, das zerschlägt alle Erklärungen. Über den Tod eines Menschen kann man nicht zur Tagesordnung übergehen. Über den Tod dieses Menschen schon gar nicht.

Aber wie dann damit umgehen? Wie kann unsere Trauerarbeit im Blick auf die Passion Jesu aussehen? Indem wir gerührt dem traurigschönen Schlusschor von Bachs Matthäuspassion lauschen: „Wir setzen uns mit Tränen nieder, (…) ruhe sanfte, sanfte Ruh“? Unser Text zeigt uns eine andere Richtung auf: „Ihr seid erlöst mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes, das schon von Ewigkeit her zu diesem Tod ausersehen war“. M.a.W.: Dieser Mensch ist nicht gestorben, um uns in Fassungslosigkeit und Verstummen zu stürzen, sondern um uns aus Abgründen zu erlösen. Die Bewegung geht hier von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Gestern zum Morgen, vom Alten zum Neuen. „Erlöst von unserem nichtigen Wandel“: das ist das Gestern, das Alte. Glaube und Hoffnung: das ist das Neue, was Zukunft eröffnet, uns den nächsten Tag verlockend macht. Und da mittendrin Jesus Christus. Ihn hat Gott von Ewigkeit her zu dem bestimmt, was hier mit dem Bild des „Lammes“ ausgedrückt wird. Wir haben hier drei entscheidende Worte: Opfer, Erlösung und Hoffnung. An ihnen müssen wir uns orientieren, wenn wir uns diesen Text mit seinen feierlich-fremd klingenden Wendungen erschließen wollen.

I.

Opfer – Erlösung – Hoffnung. Sie meinen, das spiele für uns heute keine Rolle mehr? Weit gefehlt! Unsere Alltagsrealität ist aufgeladen davon, bis in die banalsten Dinge hin: viele Werbespots spielen mit diesen Dimensionen. Das angepriesene Produkt verspricht so viel Erlösung, dass das Opfer – der Preis – harmlos dagegen ist. Oder denken Sie 23 Jahre zurück, damals auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre bei der CDU. Ihr Verursacher Helmut Kohl hatte die gut gemeinte Idee, den durch seine Umtriebe ausgelösten finanziellen Schaden für seine Partei persönlich wiedergutzumachen, indem er beträchtliche Beträge aus der eigenen Tasche sowie von befreundeten Persönlichkeiten seiner Partei zukommen ließ. Kein kleines, ein erhebliches Opfer. Aber geholfen oder irgendwie erlöst hat es ihm nicht. Kohl blieb einsam. Unser Text hat eben recht, wenn er sagt: „Nicht mit Silber oder Gold könnt Ihr erlöst werden“. Erlösung aus seiner Sicht sieht anders aus: Der alte Mensch muss vergehen, ein neuer Mensch heraufkommen.
Nur: Ein neuer Mensch werden, das Alte hinter sich lassen – wie soll das denn gehen? Um das wenigstens ein bisschen zu begreifen, müssen wir auf den Menschen schauen. Auf dich und auf mich, auf unser enormes Potential, Leben zu stören, gar zu zerstören. In wie vielen Beziehungen macht man einander kaputt. Oder das Mobbing, also den Kollegen am Arbeitsplatz durch juristisch schwer zu belangende Nadelstiche gezielt außer Gefecht zu setzen. Und auch richtig Tragisches ist da zu nennen. Ich habe es vor Jahrzehnten in meiner ersten Gemeinde erlebt. Ein Mann überfährt auf dem Weg zur Arbeit ein kleines Kind. Urplötzlich kam es hinter einem geparkten Auto hervor, der Mann hatte keine Chance auszuweichen. Das Kind stirbt noch auf der Straße. Die Staatsanwaltschaft wird keine Anklage erheben. Der Mann aber erhängt sich wenige Wochen nach dem Unfall, weil er mit dem, was er schuldlos angerichtet hat, nicht mehr leben kann.

Jeder Mensch, liebe Gemeinde, auch der mit der besten Kinderstube, ist fähig, schreckliche Schuld auf sich zu laden. Und schreckliche Schuld zieht einen Menschen immer in der Nähe des Todes – bis dahin, dass ihm kein Gott und nichts auf dieser Welt, sondern einzig der Tod als Erlöser erscheint. In diesen Tod aber, so sagt unser Text, hat sich Gott selbst hineinbegeben. Und jetzt denken Sie einmal an das Wort aus dem 139. Psalm: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Von allen Seiten! Da kann dann nur heißen: auch von der Seite des Todes! Seit er, der Lebendige, auch auf diese Seite gegangen ist, seit er selbst durch all das durch ist, seither sind wir auch auf dieser Seite, in der wir in eine letzte, abgrundtiefe Einsamkeit hinein müssen, weil uns da kein Mensch mehr begleiten und helfen kann, nicht verloren und verlassen.

Das gilt zunächst natürlich für den Tag, der auf uns alle wartet, wenn unsere letzte irdische Stunde schlägt. Dann wird er da sein, liebe Gemeinde, Jesus Christus, dem auch diese Stunde geschlagen hatte. Dann wird er da sein und unser Buch des Lebens aufschlagen. Jedes Jahr, jeder Tag ist darin festgehalten, das Gelungene und die Halbheiten, das Große und das Peinliche. Liebe, die wir gegeben und Schuld, die wir auf uns geladen haben. Kein Buch des Lebens liest sich wie das andere. Nur in einem sind sich alle Bücher gleich: Die erste Seite ist schon beschrieben! Und zwar nicht von uns, sondern von Gott. „Von Ewigkeit her“, wie es unser Text ausdrückt. Und der allererste Satz wird lauten: Jesus Christus ist auch für Dich am Kreuz gestorben! Von allen Seiten sind wir von Gott umgeben, und seit dem Tod Jesu auch auf der dunkelsten Seite.

Aber nicht nur für das Ende unseres Lebens ist wichtig, was da steht. Vielmehr gilt: Gott hat uns im Tod Jesu auch darum von der Seite des Todes her umgeben, damit uns keine Schuld, keine Verzweiflung und Not mehr in den Tod ziehen kann, und damit so die Herrschaft des Todes schon über unser Leben ein für alle Mal gebrochen wird. Und seit der Auferweckung Jesu vom Tod wissen wir: am Kreuz ist nicht nur Jesus gestorben, sondern erst recht ist da der Tod gestorben, in den es dich immer wieder zieht. Und nun kehre zurück zu den Lebenden und lebe! In dem theologisch wohl tiefgründigsten Osterlied, den wir haben, Martin Luthers „Christ lag in Todesbanden“, ist das so in Sprache gebracht (EG 101,4): „Es war ein wunderlicher Krieg, / da Tod und Leben rungen. / Das Leben, das behielt den Sieg, / es hat den Tod verschlungen. / Die Schrift hat verkündet das, /wie ein Tod den andern fraß. / Ein Spott aus dem Tod ist worden.“

II.

Der Tod nur noch ein Gespött: wer kann da noch ruhig bleiben? Nicht nur fürs letzte Stündlein ist das wichtig. Nein, es soll unser Leben schon hier und heute fundamental verändern. Wie sagte unser Text: Mittendrin zwischen alt und neu, Vergangenheit und Zukunft steht Jesus Christus. Das heißt für uns: mitten in unser Leben mischt sich der Gekreuzigte ein. Seinen Feind hat er dabei klar im Visier. Es ist der Tod in all seinen Verkleidungen, in denen er sich in unser Leben einschleicht. Wo Beziehungen abbrechen, wo Türen knallen und Schweigen sich ausbreitet, da nimmt Er das Wort und bittet uns: Schaut auf mich! Schau du auf mich, die du stumm neben deinem Partner lebst, der du deine Freundin tief verletzt hast. Schau auf mich, der du die Unversöhnlichkeit gegen den, der dich verletzt hat, nicht ablegen kannst. Schau auf mich, die du über deine Einsamkeit weinst. Schau auf mich, der du dich selbst nicht mehr ertragen kannst, wenn du in den Spiegel siehst – siehst du, dass dein schuldbeladenes Leben dort am Kreuz hängt? Du Mensch, du bist nicht allein, mein Kreuz umgibt dich von allen Seiten. Und jetzt lass, was an dir hängt und auf dir lastet, dort hängen – und kehr zurück ins Leben! Und sorge für dein Leben, so wie Gott im Tod Jesu für dein Leben gesorgt hat. So will Gottes Liebe uns neu machen.

Dem Mann, der das Kind totfuhr und sich erhängte, was könnten wir als neue Menschen, die für das Leben Sorge tragen, ihm sagen? Vielleicht dies: Du hast ein Leben beendet, du wolltest es nicht, aber es ist passiert. Gott will das Leben, das Leben des Kindes wie auch dein Leben. Deshalb denk daran, im Buch des Lebens dieses Kindes steht derselbe erste Satz wie auch in deinem: Jesus Christus ist auch für dich am Kreuz gestorben. Das Kind ist nun unverletzbar aufgehoben bei Gott. So wie auch Du – aber Jesus Christus soll das letzte Opfer gewesen sein! Deshalb wirf den Strick weg, schau auf das Kreuz und glaube, dass dort auch Deine Schuld hängt. Und nun laß sie dort hängen, geh und kehre ins Leben zurück! Jesus Christus, der für Dich Gekreuzigte, weiß wohl, wie er mit Deiner Vergangenheit fertig wird.

Und den Eheleuten, die sich nach vielen Jahren getrennt haben, was können wir denen sagen? Vielleicht dies: Ihr, die ihr euch einmal vor Gott versprochen habt, beieinander zu bleiben in hellen und dunklen Tagen, euer Versprechen ist euch zu schwer geworden. Schweigen hat sich über eure Beziehung gelegt, der Tod feiert Triumphe. Aber euer Gott steht auf der Seite des Lebens. Schaut auf das Kreuz und seht: Das Opfer, das dort gebracht wurde, hat auch eure Schuld geopfert. Sie soll euch nicht mehr belasten. Deshalb kehrt in euer Leben zurück, und lebt als solche, die um das Lamm Gottes wissen, das auch eure Schuld aushält. Jeder von euch ist mehr, und noch anderes als euer Scheitern aneinander!

Liebe Schwestern und Brüder, lasst uns so in diesen Wochen der Passionszeit den Weg zum Kreuz Jesu, zum Geheimnis des Lammes mitgehen: Durchaus verlegen und fassungslos darüber, dass das nicht nur so war, sondern offenbar auch so nötig war, in seiner ganzen Schrecklichkeit. Aber erst recht staunend über die Liebe, die in diesen Schrecken eingewickelt ist. Gott ist es im wahrsten Sinn des Wortes todernst mit uns. Und deshalb ist es etwas Besonderes mit dieser Liebe: sie übersieht nichts. Sie sagt nicht zu mir: ich bin okay, du bist okay, alles okay! Mach dir nichts aus deinen Fehlern, alles nicht so schlimm! Nein, am Kreuz müssen wir lernen, dass Gott zu uns sagt: Du bist ganz und gar nicht okay, sondern ein trauriger Sünder. Mach dir viel daraus, es ist schlimm! Es steht so schlimm um dich, dass du es selber gar nicht tragen kannst. Aber ich will, dass Du leben kannst, mit aufrechtem Gang! Deshalb nehme ich es dir ab und lade es mir auf. So wirst du okay, so wirst du der neue Mensch, den ich mir von Anfang an gedacht habe. Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Schuld unserer Welt – erbarme dich unser!

 

Amen.

 

Der Teufel steckt in uns selbst

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

kennen Sie den Hollywood-Streifen „Ein unmoralisches Angebot“? Er erzählt die Geschichte eines jungen Ehepaares, Diana und David. David ist Architekt, Diana Immobilienmaklerin. Bei beiden läuft es perfekt: sie sehen blendend aus, sind erfolgreich in ihren Berufen, verströmen eine glamouröse Aura. Umso härter treffen sie die Auswirkungen der Schuldenkrise. Nun kommt es zur Schlüsselszene, die dem Film den Titel gibt. Sie spielt in der Villa des Milliardärs John Cage, der die beiden zu sich eingeladen hat. „Sie haben etwas, was ich nicht habe“, sagt Cage zu David mit Blick auf dessen wunderschöne Frau, gespielt von Demi Moore. „Geld kauft nicht alles“, entgegnet David, „es gibt Grenzen.“ – „Aber nicht viele“, erwidert Cage, vom großen Robert Redford mit smarter Arroganz gegeben. „Nehmen wir an, ich böte Ihnen eine Million Dollar für eine Nacht mit Ihrer Frau.“ Die Kameraführung ist großartig in diesem Moment. Lange verharrt sie auf den Gesichtern von Diana und David. Empörung spiegelt sich in ihnen, und Abscheu. „So eine Nacht geht schnell vorüber, und das Geld, das ich Ihnen biete, reicht für Jahre Ihres Lebens“, sagt Cage. David und Diana sind sich einig. „Der Teufel soll Sie holen“, sagen sie unisono. Zugleich lassen ihre Gesichter Verunsicherung erkennen. Man merkt, das Böse hat seine Saat ausgeworfen. Das unmoralische Angebot des Milliardärs wird nicht ins Leere gehen.

Das Ehepaar ist sich einig. Menschen und die Liebe, sie dürfen niemals käuflich sein. Aber sie sind auch überzeugt: Wir sind stark genug als Paar, wir schaffen das. Unsere Liebe hält diese Challenge aus. Liebe ist doch stark wie der Tod, also ist unsere Liebe allemal stärker als dieser neureiche Parvenü, der mit seinen Millionen wedelt. Soll er seine Nacht kriegen – wir kriegen seine Million und können dann noch schöner miteinander leben. Meinen Körper kann er haben, meine Seele kriegt er nie. – Aber natürlich haben sie die Rechnung ohne ihre Seelen gemacht. Mit dieser einen Nacht träufelt sich schleichend und unaufhaltsam das Gift des Misstrauens und der Angst in ihre Ehe ein. Der Riss, den diese Nacht aufgetan hat, wird immer tiefer, er lässt sich nicht mehr kitten. Es wird deutlich: Ethik und Moral sind mehr als eine Frage der guten Sitten. Sie sind ein heilsamer Schutz vor den Abgründen, die wir alle in uns haben. Kein Mensch, auch kein Christenmensch ist frei von Begierden, seien sie erotischer, finanzieller oder anderer Art.

I.

Von einem unmoralischen Angebot, genau genommen sogar von dreien, erzählt auch der eben gehörte Predigttext dieses Sonntags. Die berühmte Geschichte von der Konfrontation Jesu mit dem Versucher in der Wüste. Ich möchte die Geschichte heute einmal etwas weiterspinnen und überlege mir, was sich, nachdem der unheimliche Unbekannte sich schließlich getrollt hat, sich danach noch hinter den Kulissen abgespielt hat. Vielleicht könnte es so gelaufen sein:
Als der Verführer aus der Wüste zurückgekehrt war, sein Gewand abgelegt und seinen Schal vom Gesicht gewickelt hatte, umringten ihn seine Kumpane, neugierig, was er ihnen von der Begegnung mit dem seltsamen Propheten in der Wüste berichten würde. Doch als sie sein übellauniges Gesicht sahen, ahnten sie schon, dass sein Unternehmen daneben gegangen war. Einer sagte: „Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass du einen, der so entschlossen in die Einsamkeit der Wüste geht, mit so ein paar Fragen aus den Angeln heben kannst?“

Der Versucher hatte sich hingesetzt, den Sand aus den Sandalen geschüttelt, und antwortete: „So war das nicht. Das waren ja nicht nur meine Fragen. Es waren auch seine. Und es hat ihn ganz schön mitgenommen. Gerade das mit dem Brot. Er war gerädert von dem langen Fasten. Und wenn Brot da ist, und alles, wofür es steht, also was es so materiell braucht zum Leben: Essen und Trinken, Kleider und Schuhe, Haus und Hof, Geld und Gut – na, dann ist die Welt doch fast immer in Ordnung. Aber hier war nur öde Wüste.“ – „Und“, fragten die anderen, „was hat er angenommen?“ – „Nichts“, sagte der Verführer, „er hat einfach nur geantwortet. Ziemlich clever, muss ich zugeben. Nicht nur vom Brot lebe der Mensch, sondern vor allem anderen vom Vertrauen auf Gott. Nun ja, da hab‘ ich ihn beim Wort genommen. ‚Gut‘, habe ich gesagt, ‚wenn du so sehr auf deinen Gott vertraust, sogar in den materiellen Grundlagen, dann muss man ja auch etwas von ihm zeigen, für alle, die nicht an ihn glauben.‘ Bin mit ihm also auf die Zinne des Tempels gestiegen und habe zu ihm gesagt: ‚Und jetzt wirf dich runter! Wenn es deinen Gott gibt und er hier wirklich wohnt, dann wird er schon seine Engel schicken und die werden dich tragen!‘“ – „Und“, riefen die anderen gespannt, „wie hat er reagiert?“ – „Er hat lange überlegt da oben. Schließlich habe ich ja nichts Gottloses gesagt. Im Gegenteil, ich habe sogar aus seiner Bibel zitiert, einen Psalmvers! Ich kann euch sagen, er saß ganz schön in der Klemme. Hat sich gar nicht wohl gefühlt. Aber dann hat er sich doch nicht drauf eingelassen. Irgendwas von wegen ‚Du sollst Gott nicht testen‘, hat er gemurmelt. Aber die Fragen – die bleiben ja. Irgendwann kommt der Tag, da werde ich ihn daran erinnern. Wenn sie ihn aufhängen werden – und ich sage euch voraus, das werden sie! –, dann werde ich ihm diese Frage noch einmal stellen. Unter seinem Galgen werde ich stehen, und ihm zurufen: ‚Wenn du wirklich bist, der du zu sein behauptest, dann steig doch runter vom Galgen und zeig uns, dass dein Gott dich nicht so elend hängen lässt!‘ Und ich wette, er wird sich erinnern. Darauf freue ich mich jetzt schon. Die Frage, ob wirklich Verlass ist auf seinen Gott, die wird ihn verfolgen, bis es ihn nicht mehr gibt.“

„Und weiter“, fragten die anderen, „du wolltest ihn doch noch mehr fragen?“ – „Ja, ich habe noch einen letzten Versuch gemacht. Auf den höchsten Punkt der Wüste habe ich ihn geschleppt. Gutes Wetter, grandioser Ausblick, Dörfer, Felder, die Schiffe auf dem Meer. Als ob man die ganze Welt sähe. Und dann habe ich alles auf eine Karte gesetzt. Wollte ihn überreden, auf das einzige zu setzen, worauf wirklich Verlass ist. Auf sorgfältig kalkulierte Macht. Ohne Macht, ohne Einfluss kann man ja nichts gestalten, nichts zum Besseren verändern. Mit genug Macht, sagte ich ihm, könnte er alles strategisch planen, selber in die Hand nehmen. Sich mit den jüdischen Volk verbinden und den Aufstand gegen die römischen Besatzer vorbereiten. Ist doch sowieso die einzige Hoffnung, die noch bleibt. Von allein, oder vom Beten kommt das Reich Gottes doch nie! Wir müssen es selber schaffen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich habe ihm ausgemalt, wie das Volk danach in Gerechtigkeit und Frieden leben würde – mit ihm als gefeiertem Revolutionsführer. Ihr könnt mir glauben, das hat ihm ganz schön zugesetzt. Er kennt sich ja aus. Hat ja auch ein weites Herz für die, denen es elend geht. Und ich glaube, eigentlich weiß er auch, dass dies der einzige Weg ist, etwas zu erreichen: taktisch klug vorgehen, strategisch denken. Mehrheiten organisieren, die Religion die Machtmittel gezielt einsetzen. Zum Besten der Menschen natürlich.“

„Aber das muss ihn doch endlich überzeugt haben“, meinten die Freunde des Versuchers. – „Nein, auch da hat er abgelehnt“, erwiderte er kopfschüttelnd. – „Aber warum? So weltfremd kann er doch gar nicht sein! Das ist doch etwas Gutes, gegen fremde Besatzer aufzustehen, für Freiheit und Selbstbestimmung.“ – „Ja, das weiß er wohl auch. Aber er behauptete, es käme darauf an, wem man damit dient. Mein Angebot komme ihm vor, als solle er sich mir unterwerfen. Aber anbeten könne man nur Gott und sonst keinen. Sein Weg sei ein anderer. Selbst wenn er dabei in der Welt keinen Erfolg habe. Schade eigentlich, wir hätten ihn gut gebrauchen können. Aber eins sag ich euch schon jetzt voraus: meine Fragen werden ihn nicht mehr loslassen. Ihn nicht, und seine Leute erst recht nicht. Es werden die Fragen ihres Lebens sein.“ – Sprach‘s, zog sich Mantel und Schal um, und verschwand wieder im trüben Staubnebel der Wüste, aus dem er gekommen war.

II.

Tja, liebe Gemeinde. Irgendwie so könnten sie geredet haben danach, diese geheimnisumwitterte Gestalt, die unser Text den „Versucher“ nennt, und seine Entourage. Und jetzt halten wir einmal einen Moment inne und versuchen, das Dunkel, das ihn umgibt und das er liebt, etwas aufzuhellen. Indem wir uns ausmalen, wie das wäre, wenn er uns heute ansprechen würde. Vielleicht würde er es so versuchen: „Na, ihr späten Jünger*innen des Herrn, was hat er nur gegen das Brot gehabt, euer Meister? War das nicht eine Riesendummheit? Aus Steinen Brot machen - wer wollte im Ernst dagegen etwas sagen? Ihr versucht doch Jahr für Jahr, versteinerten Herzen Bot für die Welt zu entlocken! Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, sagt ihr doch gern. Und so ist es doch nun mal im Leben: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Zynisch findet ihr das? Dann macht doch die Augen auf, geht mal in den Sudan oder die Favelas von Sao Paulo. Dann werdet ihr merken, dass in Wahrheit ihr die Zyniker seid, wenn ihr meint, das Bekenntnis zu eurem Gott im Himmel sei das erste und der Einsatz für eine gerechtere Welt erst das zweite.“

Wahrscheinlich würden wir erst einmal betreten schweigen. Bis nach einer Weile sich jemand ein Herz fassen und vielleicht so dagegen halten würde: „Natürlich müssen wir Brot für die Hungernden besorgen, keine Frage! Das hat Jesus auch gewusst. Aber die Frage ist doch, worauf man sich im letzten verlässt. Worauf ist wirklich Verlass, nicht nur im Leben, sondern dann, wenn einem auch das Brot nicht mehr hilft: im Sterben? ‚Worauf du dich eigentlich verlässt, das ist dein Gott’, hat Martin Luther gesagt.“ – „Brav zitiert“, könnte der Versucher entgegnen. „Immer gut, wenn man den Katechismus parat hat. Aber noch lange nicht überzeugend. Die Bedeutung des Materiellen könnt ihr doch gar nicht weg reden. Bis heute ist meine Empfehlung die einzig vernünftige: verlasst euch aufs Brot! Seht zu, dass ihr genügend Energiereserven habt, Öl, Gas, Kohle. Passt auf, dass euer Bruttosozialprodukt nicht absinkt. Ihr redet doch immer von Wachstum und Wohlstand für alle. Ihr sagt doch immer: Erst das Fressen, dann die Moral! Der Mensch muss satt werden, muss Geld haben für ein anständiges Leben. Euer Jesus ist doch ein naiver Gutmensch. Du sollst Gott allein dienen und sonst keiner anderen Macht?! Wie weltfremd!“
Soweit die vorgestellten Worte des „Versuchers“ zu uns Heutigen. Und nicht wahr, eigentlich wirken seine Argumente überhaupt nicht teuflisch. Sondern eher nach normalem gesunden Menschenverstand. Ich denke jedenfalls, wir hätten ihnen ehrlicherweise nicht allzu viel entgegenzusetzen. Denn unser in die Ungerechtigkeiten dieser Welt kräftig mit hinein verstricktes Leben zeigt nur zu sehr, dass er mit seiner Sichtweise so falsch nicht liegen kann.

III.

Ich denke, wir stehen viel öfter, als wir ahnen, selber auf der Zinne des Tempels und sagen: Los, Jesus, spring, damit wir wenigstens einmal einen stichfesten Beleg haben, dass es sich lohnt, etwas bringt, an dich zu glauben! Und liefere uns diesen Beweis doch möglichst jetzt, so wie wir’s brauchen! – Eben so, wie es der Versucher damals von Jesus wollte. Denn in Wahrheit, liebe Gemeinde, ist dieser sogenannte Satan nichts anderes als die Ursache für unsere allzumenschliche Neigung, nicht ins Offene, Ungesicherte zu gehen, alles sicherzustellen und die Welt, die Mitmenschen und uns selbst festzuschreiben, in Schubladen einzusortieren. Das Unerwartete, das Bruchstückhafte, das unsere Kalkulationen sprengt: das scheut der Teufel wie das Weihwasser. Der Teufel sitzt ja im Detail, wie man so sagt. Im Detail, also da, wo wir es gerne übersehen, verbirgt er sein teuflisches Wesen, um gerade so sein Unwesen zu treiben. Aber eben dieses Detail, in dem er sich eingerichtet hat, das ist nichts anderes als – wir selbst.

Und weil wir uns diese Erscheinung, anschaulich gemacht mit Hörnern, Schwanz und Pferdefuß, als den Un-Menschen schlechthin vorstellen müssen, lässt er sich so gerne im Menschen nieder. Ohne den Menschen, ohne uns ist er nichts, eine klägliche Null. Wie ein Parasit, um zu existieren, eine Niederlassung braucht, wo er sich einnisten kann, so auch der Böse. Er lebt davon, sich in uns breit zu machen, das Unterste nach oben zu kehren, um seine Niederlassung planvoll zu verwüsten und so mit Methode aus Menschen Unmenschen zu machen. Deshalb ist das Unmenschliche teuflisch, ist die Unmenschlichkeit in all ihren Formen die Hölle auf Erden.

Es gibt die etwas rätselhafte Ansage Jesu: „Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Teufel.“ Das heißt doch wohl: ein Mensch, der Ja sagt, aber Nein meint, ist unzuverlässig. Ein unzuverlässiger Mensch macht auch seine Umwelt chaotisch. Wo das passiert, wo man sich auf nichts und niemanden mehr verlassen kann, das ist wirklich – der Teufel los. Verlassen wir uns dagegen auf Gott, dann verlassen wir uns auf den Menschen in uns, nicht auf den Unmenschen. Das, denke ich mir, hat Jesus gemeint, als er dem Teufel erwiderte, dass wir allein Gott dienen sollen. Und der Teufel, der soll dorthin fahren, von wo er kommt und wo er hingehört.

 

Amen.

 

Der »13. Februar«: Nicht vom Himmel gefallen

Impuls im Rahmen der »Nacht der Stille« am Gedenktag anlässlich der Zerstörung Dresdens 1945
gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Was für die New Yorker „9/11“ ist, und für die Israelis inzwischen der 7. Oktober, ist für die Dresdner der 13. Februar. Das Datum, kommt ohne Jahreszahl aus. Es gibt ein Davor und ein Danach. Jede*r Dresdner*in weiß, dass heute vor 79 Jahren um 21:45 Uhr die apokalyptischen Reiter aus der Luft ankamen. Wie in so vielen Städten in jener Zeit, die es nicht weniger verheerend, manche noch verheerender traf. Hamburg, Köln, Würzburg, Pforzheim u.v.a. Als Christen brauchen wir uns an den elenden Debatten nicht beteiligen, wie viele Dresdner am 13. Februar und in den Tagen danach ihr Leben verloren. Wir können nur sagen: Es macht den Schrecken und die Trauer über das, was vor 79 Jahren geschah, nicht größer oder kleiner, wenn die Zahl der Opfer mehr oder weniger hoch veranschlagt wird. Schrecken und Trauer machen sich doch daran fest, was Menschen, als Ebenbilder Gottes geschaffen, Böses ersinnen und einander antun können.

Quälend ist die Frage nach dem Warum. Weil sie, wie jede Frage nach historischen Wurzelgründen, niemals abschließend und für jeden rational nachvollziehbar beantwortbar sein wird so wie eine naturwissenschaftliche Frage. Und doch ist die Warum-Frage unvermeidlich, ja verzweifelt notwendig. Für jeden denkenden Menschen ist einsichtig: der Schrecken des 13. Februar hat seinen Ausgang nicht mit dem Start der britischen und amerikanischen Jagdflieger genommen. Die Bomben sind in jener Nacht nur in einem unmittelbaren, buchstäblichen Sinn vom Himmel gefallen. In einem tieferen historischen Sinn sind sie es nicht. Das Warum des 13. Februar reicht viel weiter zurück. Weiter auch als zum Beginn des 2. Weltkriegs, der sich am 1. September zum 85. Mal jähren wird. Auch der 30. Januar 1933, der „Tag der Machtergreifung“ ist nicht als der historische Wurzelgrund anzusehen dafür, dass aus deutschen Städten Trümmerwüsten wurden. Man muss noch weiter zurückblicken.

Kurz vor Weihnachten ist Gunther Emmerlich gestorben. In einer Fernsehsendung zum Wiederaufbau der Semperoper, deren Ensemble Emmerlich früher angehört hatte, sagte er, er habe ein einziges Mal von Erich Honecker einen klugen Satz gehört. Bei der Einweihung der wiederaufgebauten Semperoper am 13. Februar 1985 habe Honecker, gesagt: „Die Flammen, die von Deutschland ausgegangen waren, kamen am Ende auf uns zurück.“ Tatsächlich ein bemerkenswerter Satz. Die ideologische Position der DDR-Führung zur Zerstörung Dresdens war über 40 Jahre ja in eine ganz andere Richtung gegangen: Dresden als unschuldiges Opfer des „anglo-amerikanischen Imperialismus“. Eine Haltung, die bis heute auf fruchtbaren Boden fällt, wie wir wissen.

„Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ - ein oft zitiertes Wort aus der jüdischen Tradition. An diesem 13. Februar 2024 müssen wir uns erinnern, um einen Weg zu erkennen, der uns in der aus allen Fugen geratenen Aktualität Zukunft eröffnet. Der 13. Februar vor 79 Jahren kam ja deshalb, weil die allermeisten Menschen 1933 eben nicht sahen oder sehen wollten, was sich da anbahnte. Hitler und Konsorten kamen ja nicht mit jener brutalen Gewalt an die Macht, die sie dann entfesselten. Sie kamen ganz legal und sauber ans Ruder, auf konstitutionellem Weg, im Frack und mit Ernennungsurkunde, weil zu viele glaubten, man könne die Feinde der Demokratie, wenn sie erst einmal „eingebunden“ wären in die Regierung, schon irgendwie zähmen oder gar entzaubern. Aber die Lehre von 1933 ist, dass das nicht funktioniert. Dass man das verhindern muss, bevor es zu spät ist. Dass Demokrat*innen sich rechtzeitig verständigen müssen, wann man Stopp sagen muss, bevor man sich den Feinden der Demokratie nicht mehr entgegenstellen kann. So gesehen ist „Nie wieder“ eigentlich immer. Aber ganz konkret ist es jetzt. Viele bekommen es inzwischen mit der Angst zu tun, Geschichte könnte sich doch wiederholen. Es ist vielleicht die wichtigste Lehre aus dem Elend unserer Geschichte des letzten Jahrhunderts, dass die erste deutsche Demokratie nicht daran gescheitert ist, dass die Nazis und die Feinde der Republik zu viele waren - sondern weil die Demokraten zu wenige waren. Viel zu wenige haben vor 100 Jahren beherzt und überzeugt die Demokratie verteidigt. Wir alle sind jetzt gefragt, das uns Mögliche zu tun, dass sich diese dunkle Geschichte nicht wiederholt. Denn Demokratie wird von jeder und jedem von uns lebendig gehalten., „Die da oben“ gibt es bei Licht besehen in einer Demokratie gar nicht.

Viele, die vorher vielleicht noch nie eine Demonstration mitgemacht haben, sind aufgeschreckt worden über die bekannt gewordenen Pläne in der AfD und ihrem geistigen Umfeld, Teile der Bevölkerung unseres Landes zu stigmatisieren, zu vertreiben. Wir wissen, wo das enden kann. Genauso wachsam müssen wir aber sein, wenn es um die Freiheit der Kunst, der Kultur, der Bildung und der Forschung geht. In den Hinterzimmern der intellektuellen Rechten werden längst Strategien zur Umerziehung der Köpfe und Kulturen entwickelt. Und heute sehen wir schon in manchen Orten und Landkreisen, wie versucht wird, Mittel für politische Bildung zu streichen, ein Kulturzentrum zu schließen, ein Festival abzusägen. Das ist kein Zufall, nein, es sind neben der Justiz immer die Kultur und die Medien, an die sich die Feinde der Freiheit zuerst wagen, weil sie die Macht der kritischen Wahrheit fürchten. Im Dresden des Jahres 1933 ging die Gleichschaltung der Theater, Konzerthäuser, Bibliotheken und Hochschulen schnell und reibungslos über die Bühne. Dresden war die Stadt der ersten Bücherverbrennung im Frühjahr 1933. Es muss weiter möglich sein, dieses Land und diese Stadt zu lieben, und sich gerade deshalb kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Aber noch wichtiger ist, dass wir in diesen Kontroversen nicht verhärten und selbst ausgrenzend werden. Eine offene Gesellschaft funktioniert nur, wenn wir wieder lernen, konservativen, liberalen und linken Stimmen das gleiche Recht auf Gehör zu geben und aus unseren nur der Selbstbestätigung dienenden Meinungsblasen herauskommen. Es reicht nämlich nicht, nur auf eine bestimmte Partei zu zeigen und pauschal vor „dem Faschismus“ zu warnen. Die Zerstörung der liberalen Gesellschaft beginnt im eigenen Kopf! Wir müssen bei uns selbst anfangen, müssen die Toleranz, die wir von anderen einfordern, auch selbst üben und aufhören, uns wegen jeder Meinungsverschiedenheit oder einem vor Jahren in völlig anderem Kontext gesagten Wort zu zerfleischen. Wir sollten Menschen immer zugestehen, dass sie sich verändern können. Für Christ*innen versteht sich das sowieso von selbst. Wir müssen jetzt mehr denn je um gemeinsame Nenner ringen.

Denn das Einzige, das wirklich zählt, ist das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Verfassung, die die beste aller Gesellschaftsordnungen ist, und allemal die beste, die wir in Deutschland jemals hatten. Sie ist aber auch die Einzige, die sich selbst abschaffen kann, wenn man im Andersdenkenden schon den Feind sieht. Lassen wir das nicht länger zu, und tragen wir unsere Konflikte so aus, wie es die Verfassung vorsieht: in den Parlamenten, in Parteien und Organisationen, bei Wahlen oder eben im friedlichen Gesicht-Zeigen auf der Straße. Unser Grundgesetz basiert auf der aus den Erfahrungen der NS-Tyrannei geronnenen und für die Mütter und Väter der Verfassung nicht verhandelbaren Grundüberzeugung, dass alle Menschen die gleiche Würde haben, unabhängig von ihrer Ethnie, Kultur, Religion und sexuellen Orientierung.

Eben dies, und das ist eine neue „Qualität“, wird inzwischen von einer wachsenden Zahl an Menschen bestritten. Leider gerade auch in Dresden, das die Jugendorganisation der AfD schon zur sog. „Hauptstadt der Bewegung“ ausgerufen hat. Wenn in einer solchen Situation Christen nicht aufgerufen sind, nicht zu schweigen, sondern hörbar etwas dagegen zu setzen - wann dann? Auch als Kirche steht es uns wohl an, uns für den ersten Satz unserer Verfassung einzusetzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser schlichte und schlichtweg wunderbare Satz ist das ins Säkulare übersetzte jüdisch-christliche Menschenbild, auf das sich Politiker*innen gerne berufen. Dass diese Überzeugung ab 1933 in Deutschland nichts mehr galt, hat, was Dresden betrifft, am Ende zum 13. Februar 1945 geführt.

Die wiederaufgebaute Frauenkirche steht auf acht Pfeilern. Diese Pfeiler stehen heute Abend für acht Grundwerte der offenen, demokratischen Gesellschaft, die allen Demokrat*innen, und seien ansonsten die Meinungsunterschiede zwischen ihnen noch so groß, gemeinsam und nicht verhandelbar sind. So wird diese Kirche auch in einem metaphorischen Sinn von ihren acht Pfeilern als Platzhalter für gesellschaftliche Grundwerte getragen. Denn die Frauenkirche, das ist ihr Spezifikum, hat sich von allem Anfang an, seit 1743 als Kirche eines offenen und selbstbewussten Bürgertums verstanden.

So sind wir an diesem Abend, mit der „Nacht der Stimmen“ für das Lob unserer Demokratie und ihre Verteidigung gegen ihre Verächter ganz in der Tradition der Frauenkirche unterwegs. Ich danke allen, die diesem Anliegen in dieser Stunde ihre persönliche Stimme leihen!

Göttlicher Verriss         

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

haben Sie schon mal eine Gottesdienstkritik gelesen? Alle reden zwar vom unaufhaltsamen Niedergang der Kirchen, aber Gottesdienstkritiken haben erstaunliche Konjunktur. Auch Gottesdienste sind nicht mehr von der Mode ausgenommen, alles zu „evaluieren“, von der Universität bis zum Supermarkt um die Ecke. In einem Magazin gibt es schon seit Jahren die Rubrik „Mein Kirchgang“. Sie erzählt uns, ob in Buxtehude, in Bad Tölz oder sonstwo die Liturgie sehr gut ist (das gibt fünf Sterne) oder sehr schlecht (nur ein Stern). „Eine lebhafte Predigt, nur spricht die Pastorin einen Tick zu schnell – nicht einfach, den Gedanken immer zu folgen“, hieß es letztes Jahr über einen Gottesdienst in Rostock. Drei Sterne. Dafür war die Atmosphäre wohl toll: fünf Sterne. – Früher besorgte in der Kirche so etwas alle paar Jahre die Visitationskommission. War der Pfarrer ein eher schlichter Prediger, gab der Superintendent (Superintendentinnen gab es noch kaum) ihm hinterher in einem schriftlichen Bescheid den natürlich „brüderlich“ gemeinten Rat, doch auch mal einen wissenschaftlichen Kommentar zum Predigttext zu Rate zu ziehen. Heute würde sich das kein Superintendent mehr trauen. Dafür schreiben Journalisten Gottesdienstkritiken – und sie tun es insgesamt erstaunlich wohlwollend! „Einen Tick zu schnell“ sprach die Rostocker Pastorin. Das lässt sich doch gut korrigieren.

I.

Ganz anders ist das in diesem Predigttext des Propheten Amos. Der ist eine Gottesdienstkritik, die sich gewaschen hat. Freundlich kann man sie nun wirklich nicht nennen. Keine feinfühlige Bemerkung über den Schönheitsfehler der zu schnell vorgetragenen Predigt – nein: „Geplärr“ nennt Amos die Lieder, harsch und gnadenlos. Schärfer geht es kaum mit der Gottesdienstkritik. Da ist etwas, was man mit Freude ansehen soll, in Wahrheit unansehnlich, und der Gott, für den man feiern will, mag gar nicht mehr hinsehen. Er mag es auch nicht riechen, weil es zum Himmel stinkt. Weg mit dem Geplärr des Gesangs, mit dem Zirpen der Harfe! Dieser Text ist ein Solitär in der Bibel: Nirgendwo sonst steht dort, dass Gott die Gottesdienste seiner Leute hasst und verachtet.

Was ist es denn, dass Gott so brachial reagiert? Warum weist er die ganzen Gottesdienste, und was in ihnen musiziert wird, so in Bausch und Bogen ab? Für den Propheten Amos ist die Antwort klar: Es ist die alltägliche Ungerechtigkeit im Land Israel, die die feierlichen liturgischen Hymnen an den Gott der Gerechtigkeit Lügen straft, als Heuchelei entlarvt. Weil sie eine unübersehbare Gegenpredigt bildet gegen das, was in den gottesdienstlichen Versammlungen an schönen, poetischen Worten und Tönen produziert wird. Gott mag von all dem nichts mehr sehen, nichts mehr riechen, weil die sozialen Verwerfungen im Land dem feierlichen liturgischen Bekenntnis zum Gott des Rechtes Hohn sprechen.

Auf den wenigen Seiten, die das Buch des Propheten Amos in der Bibel umfasst, erfahren wir vieles über die katastrophalen sozialen Verhältnisse im Nordreich Israel im 8. vorchristlichen Jahrhundert. Die Wohlhabenden treten die Habenichtse in den Staub und drängen sie vom Weg ab, anstatt ihnen den Weg auf den staubigen Straßen zu erleichtern. Reiche nehmen von den Armen viel zu hohe Steuern, um ihr hochmögendes Leben zu finanzieren. Sie sind korrupt, verlangen Bestechungsgelder und verhindern, dass die Armen vor Gericht ihr Recht bekommen. Sie verkaufen zu drastisch überhöhten Preisen billige Ware. „Spreu statt Korn“, sagt Amos, bebend vor Zorn über eine so verkommene Gesellschaft. Und fügt hinzu: Wer so skrupellos Gottes Recht mit Füßen tritt, der doch ein Freud der Armen und Anwalt der Rechtlosen ist, darf nicht beten und Lieder singen, als ob alles zum Besten stünde. Seine alltäglich gelebte Ungerechtigkeit macht sein sonntägliches Lied zum hohlen Geplärr und sein Beten zur verlogenen Geste. Der sonntägliche liturgische Gottesdienst muss unter der Woche im Alltag weitergehen, wie Paulus sagte. So geradlinig dachte auch schon Amos, der Prophet. Nur wenige haben das in seiner Nachfolge vermocht. Ein fernes Echo auf Amos und dessen Gottesdienstkritik ist Dietrich Bonhoeffer mit einem berühmten Satz aus dem Jahr 1935: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Sein Ruf, man muss es so sagen, ist in der Bekennenden Kirche absichtsvoll überhört verhallt.

II.

Was aber fangen wir heute Morgen mit so einer Polemik über Gottesdienste von vor 2.800 Jahren an? Auf jeden Fall sollte sie uns neu bewusst machen, dass es nicht ausreicht, wenn wir wie im Guide Michelin Liturgie, Predigt, Musik und Atmosphäre unserer Gottesdienste mit mehr oder weniger Sternchen auszeichnen. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich finde es sehr gut, dass in unserer Kirche heute viel ernsthafter als früher hingesehen wird, was die Qualität unserer Gottesdienste betrifft. Und dass die Qualität eines evangelischen Gottesdienstes sich eben nicht, wie ich es aus meiner Jugend kenne, nur in der Güte oder Dürftigkeit der Predigt erschöpft. Ein Gottesdienst ist viel mehr als die Predigt. Er ist ein komplexes Gesamtkunstwerk. Deshalb ist es gut, dass es heute professionelle Gottesdienst-Coaches gibt, die oft aus der Schauspielerei kommen.

Aber wenn wir den Propheten Amos ernst nehmen und seine Gottesdienstkritik nicht als eine Provokation in einer speziellen geschichtlichen Situation historisieren, die uns nichts mehr angeht, dann darf es bei solchen zarten Anfängen nicht bleiben. Die Fragen müssen tiefer gehen. Zum Beispiel: Wieviel haben denn unsere Gottesdienste mit dem Alltag draußen vor den Kirchentüren zu tun? Ist unsere oft sehr poetische Gottesdienstsprache, von den Gebeten bis zur Predigt, nicht zu sehr auf die fromme Einzelseele bezogen und verliert darüber die großen Fragen und Themen der Welt und unserer Zeit aus dem Blick? Sicher, nach den Hochzeiten der sog. „Politischen Predigt“ als eine Folge der 68er war die Wende hin zu einer mehr seelsorglichen Verkündigung wichtig. Aber alles zu seiner Zeit. Unsere Zeit verlangt danach, den Glauben in diese wahnsinnig komplexe Welt, die manchen Angst und viele wütend macht, hineinzudenken. Seelsorge ist nicht nur auf den einzelnen Menschen bezogen. Auch Gesellschaftssorge ist Seelsorge. Auch darum hängt seit zwei Woche draußen unser neues Banner.

Dabei ist es aber ganz wichtig, dass ich sensibel für die Frage bin: Klafft mein sonntägliches Reden über Gerechtigkeit und mein eigenes Handeln an den Wochentagen auseinander? Geißele ich vielleicht nur im Gottesdienst mit wohlfeilen Worten die zunehmende soziale Kälte, tue aber unter der Woche nichts dafür, dass es wärmer wird in diesem Land? Rede ich sonntags mal eben über obszöne Managergehälter und freue mich am Montag, wenn mein schönes krisenfestes Beamtengehalt auf mein Konto eingeht? Predige ich sonntags hier davon, dass alle Menschen von Gott mit der gleichen Würde versehen sind, und bleibe dann lieber stumm, wenn jemand wieder eine antisemitische oder gegen Migranten gerichtete Bemerkung loslässt? Wettere ich auf der Kanzel gegen unseren way of life, der mit dazu beiträgt, dass es immer mehr Klimaflüchtlinge gibt, und kaufe dann bei Aldi oder Lidl, und nehme das Auto dorthin? Ein schöner Schein von Gottesliebe ohne Auswirkung in dem, was ich nach dem Kirchgang daheim, an der Arbeit oder sonstwo tue, eine religiöse Wellness ohne Wirkung in meinem Leben? Gott, sagt Amos, hasst diese Art des Festes.

III.

Was heißt diese herbe Ansage für uns im Zusammenhang der alle anderen großen Krisen überwölbenden und diese teilweise auch bewirkenden Mega-Krise Erderwärmung? Klar ist: Was zu Amos‘ Zeit Sozialkritik war, ist in unserer Zeit ökologische Kritik, und beides sind global gesehen ja zwei Seiten derselben Sache. Klimapolitik ist im weltweiten Maßstab längst auch Sozialpolitik. Zugleich ist das bei uns ungeheuer kompliziert. Auf der einen Seite wird die Apokalypse an die Wand gemalt. Dafür stehen jene, die sich tief pessimistisch zur „Letzten Generation“ erklären. So ein Alarmismus gewinnt aber die anderen nicht, sondern schreckt sie ab, und so verpufft er. Das ist immer auch eine Gefahr von prophetischer Ansage. Vielleicht würden die „Klimakleber“, wenn sie uns Christ*innen überhaupt noch zu Kenntnis nehmen, uns wie bei Amos entgegenschleudern: Wir hassen eure Feste, das heuchlerische Getue, wenn ihr „Erntedank“ feiert. Wir können eure festlichen Schöpfungslieder nicht mehr hören, solange ihr nicht umkehrt! Das wäre eine sehr schlichte, ich würde sagen: unterkomplexe Art der „Predigt“. Aber kann ich sie deshalb einfach wegwischen? Vielleicht gräbt sie ja irgendwann mal jemand wieder aus, wenn das Bethel mit Namen Frauenkirche Dresden von der Hitze so geschliffen und verdorrt sein wird, dass wir für unsere Gottesdienste endgültig in die Sächsische Schweiz ausgewichen sind, wo Wiesen und Wald noch einen Rest an Kühlung bieten? – Eigentlich wissen wir ja alle, was in Sachen der Bewahrung von Gottes Schöpfung dran ist und nottut. Und doch ist die Macht unserer Gewohnheiten, das Festhalten unseres Lebensstils so stark und zäh, dass die Sünde des Phlegmas stärker ist als alle Einsicht.

Liebe Gemeinde, es ist und tut schon gut, sich solch unbequemen Fragen auszusetzen, wie sie der Prophet Amos hier stellt. Achten wir also in den kommenden Wochen des Zugehens auf Ostern auf diesen Zusammenhang von Lehre und Leben, Sonntag und Alltag. Achten wir miteinander darauf, dass unsere Passionsklage über unsere verwundete Welt, genauso wie dann unser Osterjubel über den Triumph des Lebens und des Friedens, offen, ehrlich und authentisch klingt, auf dass Gott hinsehen und hinhören mag. Er wird uns auf diesem Weg ein starker Fels und eine Burg sein.

 

Amen.

 

Leuchtender Schatz, lädierte Gefäße

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Pray – it pays!“ war auf einer Postkarte zu lesen, die mir einmal in die Hände kam. Bete – es zahlt sich aus! Auf der Karte waren drei Kleriker in Soutane abgebildet, die triumphierend lächelnd um ein Luxusauto herum standen. Die Postkarte war wohl ironisch gemeint – hoffe ich jedenfalls. Die Haltung, die sie aufs Korn nimmt, ist aber weiter verbreitet, als man meint. Das zeigt sich beim Blick in entferntere Gegenden der Christenheit. In Südostasien, in Teilen Afrikas, vor allem aber in Amerika, Nord und Süd, erfreut sich der prosperity gospel großer Beliebtheit. Das ist eine theologische Richtung (wenn man das denn noch „theologisch“ nennen will), die den unverblümt rüberbringt, dass sich Glauben so richtig lohnt. Und zwar nicht erst fürs Jenseits, sondern auch und erst recht schon jetzt fürs Diesseits. Je fester du glaubst, desto wahrscheinlicher, dass du zu materiellem Wohlstand kommst! Pray – it pays! eben. Vor einiger Zeit las einen Artikel über einen Gottesdienst in einer der Pfingstgemeinden, die in Brasilien seit langem überall aus dem Boden sprießen. 1.500 Menschen hoben da ihren Geldbeutel zum Himmel und beteten: „Jesus, mach mich zum Sieger, mach mich reich!“

Freilich, das ist nur ein bizarrer Auswuchs einer Haltung, die uns näher ist, als wir uns dessen bewusst sind – weil sie wohl allgemein menschlich ist. Wie oft habe ich in Gesprächen mit von schwerem Leid getroffenen Menschen Sätze gehört wie: „Herr Pfarrer, wieso ausgerechnet ich? Ich habe so viel gebetet in meinem Leben. Warum bestraft mich Gott?“ Ich sage das ohne Kritik an denen, die so empfinden. Weil ich ahne, dass etwas von dieser Haltung auch in mir selber steckt und ich nicht davor gefeit wäre, vielleicht ähnlich zu empfinden und mit Gott zu hadern, würde mich einmal etwas Schweres aus der Bahn werfen. So ein bisschen steckt in jedem von uns das Bild, dass unser Verhältnis zu Gott ein wenig dem von Vertragspartnern gleicht, wo man auf der Basis von Leistung und Gegenleistung voneinander etwas erwarten und ggf. einfordern kann.

I.

Dass der Glaube aber kein Mittel zum Zweck ist, das ist es, worum es dem Apostel Paulus in unserem Predigttext geht – ein Abschnitt, in dem ich etwas vom Herzschlag seines Glaubens, seiner Theologie vernehme. Dieser große, und doch von den Annehmlichkeiten des Lebens überhaupt nicht verwöhnte, sondern vielfach angefochtene und gequälte Mensch spricht hier erstaunlicherweise von einem Schatz, den die besitzen, die an Christus glauben. Pray – it pays etwa auch hier?? Aber es hat etwas sehr Spezielles auf sich mit dem Schatz, von dem Paulus hier spricht. Es verhält sich mit ihm ganz anders als mit dem, was für uns große, faszinierende Schätze sind. „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen“, sagt Paulus. Gar nicht so weit von hier liegt der alte böhmische Königsschatz verwahrt, im Prager Veits-Dom. In einer siebenfach verschlossenen Kammer. Deren sieben Schlüssel sind jeweils bei einem anderen Würdenträger des Staates deponiert. Ganz anders dagegen der Schatz, den Paulus hier meint. Der ruht nicht in einer verschlossenen Truhe an unerreichbarem Ort, sondern wird herumgetragen. Und dies in sehr porösen, zerbrechlichen Gefäßen. Nicht platinveredelt und durch Schlüssel abzusichern. Dieser Schatz leuchtet nicht einsam und verlassen nur für sich selbst. Nein, er leuchtet der Welt entgegen. Es ist Gottes Schatz – also unvergleichlich wertvoller, leuchtender als alle Kronjuwelen dieser Erde.

Diesen Schatz, so Paulus, gibt es seit Jesu Tod und Auferstehung. Es ist zunächst einmal ein sehr fremder Schatz. Denn er kommt von ganz weit her – und hat doch unentwegt mit uns zu tun. Es ist ein Schatz, der alles, was auf Erden wertvoll ist, in Frage stellt – und gerade so nach uns fragt. Das ist der wunderbare Schatz des Evangeliums vom Tod Jesu Christi und von seinem Leben. Und wir, liebe Gemeinde, wir sind die „irdenen Gefäße“ für diesen Schatz. Bei diesem Bild, das Paulus da gebraucht, muss man sich ganz normale Tonkrüge vorstellen. Nicht wertvoll, einfache Gebrauchsgegenstände, und doch geeignet zur Lagerung von edlem Wein, wichtigen Dokumenten wie etwa die berühmten Textrollen von Qumran am Toten Meer. Paulus sagt: Wir, die Gemeinde Jesu, sind diese einfachen, porösen Behältnisse, in denen Gott seinen Schatz auf Erden verwahrt.

Aber „verwahrt“ ist das falsche Wort. Denn Gott versteckt seinen Schatz ja nicht. Vielmehr vertraut er seinen Schatz, vertraut er Tod und Leben Jesu uns sterblichen Wesen an. Göttlicher, ewiger Schatz in menschlichen, vergänglichen Gefäßen! Weltlich, menschlich gesehen mehr als unklug. Aber bei diesem Schatz ist jede menschliche Vorsicht fehl am Platz, denn er soll den Normalsterblichen nicht unzugänglich bleiben wie Prager Königsschatz. Das Evangelium will unter die Leute, denn es will allen Sterblichen zum Leben, zu einem Leben mit Gott verhelfen.

II.

Deshalb muss dieser Schatz mit leichtem Handgepäck transportiert werden, müssen seine Gefäße offen sein. Er ist keine Reliquie zum Schauen und Bewundern wie die Kleinodien des sächsischen Königshauses nebenan im Grünen Gewölbe, sondern er ist zum Zugreifen da. Er soll ausgeteilt werden. Deshalb sind die Boten des Evangeliums nach den Regeln göttlicher Weisheit keine großen und tollen Menschen, die Abstand um sich verbreiten, wenn sie erscheinen. Nein: Wenn das Evangelium unter die Leute soll, dann müssen auch seine Boten unter die Leute. Ungeschützt, wie Paulus unter die Leute ging. Nicht wie ein Kardinal-Erzbischof, sondern so bescheiden und dürftig, dass die Leute in Korinth Anstoß nahmen an dem geplagten Mann. „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“, bekommt Paulus von Gott zu hören, als er unter dem von ihm selbst empfundenen Ungenügen als Apostel schier verzweifelt. Paulus ist das Musterbeispiel einer angeschlagenen Führungspersönlichkeit der Kirche – kein smarter Glaubensmanager. Er hat der Welt nichts zu sagen – als nur das Wort von einem am Kreuz brutal Hingerichteten. Aber das hat er zu sagen. Mit diesem Wort zieht er los, zieht er durch die Welt.

Und das ist kein Zufall. Denn es ist nun einmal Gottes Art, sich im Schwachen, Unansehnlichen, Menschlich-Allzumenschlichen erkennen zu geben. Jesus selbst: sein Gottsein ins Menschliche hinein verborgen wie die Goldmünzen in einen Tonkrug. Jesu Wort: ganz menschlich, durch kein äußeres Merkmal als Gottes Wort selbst zu erkennen. Die Sakramente: Wasser, Brot und Wein sieht man nicht an, was Gott dadurch bewirkt. Die Bibel: auf lückenlos menschliche Weise zustande gekommen, mit einer komplizierten Entstehungsgeschichte, jedem Zugriff der Kritik ausgesetzt – und doch den Schatz enthaltend. Die Kirche: ausstrahlungsarm, ohne Kraft, oft zwielichtig und deprimierend weltlich, auf Menschen mehr hörend als auf Gott – und doch Gemeinschaft der Heiligen. Wir Pfarrer*innen: immer wieder enttäuschend, ängstlich, mutlos, leisetreterisch und faustdicke Sünder wie alle anderen – und doch von Gott mit einer Sendung versehen, die nicht ungültig wird. Die Korinther irren sich in ihrer Einschätzung des Apostels, weil sie sich über Gott und die Art, wie er sich zu erkennen gibt, überhaupt irren. In der Schwachheit zeigt er sich uns.

So setzt das Evangelium denen zu, die ihm glauben. Aber gerade in dieser Zumutung des Glaubens gegen den Augenschein ist es Gottes gutes Wort, das Schluss macht mit der Übermacht des Todes. Deshalb sagt Paulus von den Sterbenden „Siehe, sie werden leben“. Denn während wir und alles Geschaffene unterwegs sind vom Anfang zum Ende, vom Werden zum Vergehen und somit vom Leben zum Tod, ist das Evangelium, das seinen Ausgang am Kreuz genommen hat, unterwegs vom Tod zum Leben. „Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, auch uns auferwecken wird und wird uns vor sich stellen“: Gott will uns bei sich haben – uns, die Taugenichtse. Und wen Gott an seiner Seite ertragen will, der hat auch das Recht und die Pflicht, sich selber zu ertragen. Denn der, der die Schuld der Welt auf seine Schultern genommen hat, spricht uns frei, von allem, womit wir einander und insgeheim uns selbst anklagen.

III.

Dann, liebe Gemeinde, sind aber auch wir, die tönernen Gefäße des Gottesschatzes, dazu da, unsererseits freizusprechen, wo die Welt verdammt und verurteilt. Wie schnell und wie oft geschieht das, gerade in der aktuellen Zeit. Und wie selten, wie mühsam wird freigesprochen! Keine Frage, es ist eine mühsame Arbeit, dem Menschen, den man nur gar zu gut zu kennen meint, von dem man ein festes Bild hat, zu vergeben. Was hat Gott sich dafür mühen müssen! Aber seit Jesu Tod sind wir für diese mühsame Arbeit da. Als in den 1960ger Jahren, mitten in der Hochzeit des Kalten Krieges, die katholischen Bischöfe Polens völlig überraschend den Christen in Deutschland die Hand reichten und die Tür zur Versöhnung aufstießen, hin zu dem Volk, das zahllose Polen vom Leben zum Tod befördert hatte, da geschah so etwas: Freispruch in Gottes Namen mitten in einer Welt, die verurteilt und verdammt. Und Nelson Mandela, der, als er endlich die Möglichkeit dazu hatte, darauf verzichtete, die zur Verantwortung zu ziehen, die ihm die besten Jahrzehnte seines Lebens genommen hatten, sondern ihnen die Hand reichte, hat es auch demonstriert, dass es das geben kann – obwohl es so wahnsinnig mühsam ist.

Liebe Schwestern und Brüder, unsere Versuche, Gottes Schatz unter die Leute zu bringen, werden oft fehlschlagen. Wo man in Gottes Namen einander freispricht, wird man schon mal als naiver Gutmensch verlacht. Auch das hat Paulus gewusst. „Ich bin ein Narr um Christi willen“: da eckt man an, da sind keine weltlichen Lorbeeren zu ernten. Aber in Gottes Namen anzuecken, Narr um seinetwillen zu sein, ist keine Schande. Denn da können wir das Bild, das Paulus verwendet, ganz unmittelbar nehmen: Je mehr wir anecken, je lädierter die Gefäße sind, desto mehr sieht man ja von dem Schatz darin. Desto besser kann eine lebenshungrige Menschheit zugreifen und Gottes Leben zu sich nehmen.

Deshalb ist uns das, was wir in der Kirche so gern und ausdauernd tun, schlichtweg verboten: darüber zu jammern, dass wir so tönerne Gefäße sind und es mit der Kirche nur noch bergab geht, wir vor lauter Abgründen stehen. Ja, es steht ernst um unsere Kirche, und wir nehmen es auch ernst, weil wir ihre miserable Lage selbst verschuldet haben. Und doch bleibt es dabei: wir haben viel Grund, zu staunen, dass Gott seine Kirche nicht insolvent erklärt, sondern unerschöpfliche Reserven für uns hat. Als tönerne, angeschlagene Gefäße sind wir für Gott so brauchbar, dass er mit uns alle Morgen neu etwas anfangen will. Seine Kraft ist in uns Schwachen mächtig.

 

Amen.

 

»Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.« 2. Mose 20; 2

Geistlicher Impuls von Maria Noth, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenkirche Dresden
anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2024

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Liebe Gemeinde, liebe Gäste,

diese Erinnerung spricht Gott auf dem Berg Sinai zu Moses bevor er die Gesetzestafeln – den ethischen Grund des Judentums und damit auch des Christentums – übergibt.

Erinnere dich!, erinnert Gott Moses und die Israeliten. Erinnert euch an die Befreiung aus der Sklaverei! Erinnert euch an den hohen Wert der Freiheit! Sie, diese Freiheit, stellt Gott den 10 Geboten voran. Aber erscheinen Freiheit und Gebot nicht als Widersprüche? Weit gefehlt: Vielmehr vermittelt Gott hier Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, um der so zerbrechlichen Freiheit ein stabiles Fundament zu geben: Du sollst nicht töten, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst nicht neiden… Freiheit ist alles andere als selbstverständlich. Sie ist eine Gnade Gottes, der die Israeliten aus der Knechtschaft befreit hat. Wir Menschen tragen die Verantwortung, durch unser Tun und Handeln dieses hohe Gut zu bewahren. Gott gibt uns mit seinen Geboten eine Orientierung dafür. Das hat nichts an Aktualität verloren!

Erinnere dich! Diese göttliche Aufforderung hat heute, am 27. Januar, eine besondere Kraft. Vor 79 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Auschwitz - ein UN-Ort, an dem mehr als eine Millionen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Polinnen und Polen und andere Verfolgte durch die deutschen Nationalsozialisten umgebracht wurden. Auschwitz: Ein Synonym für den Massenmord an über 6 Millionen Menschen; für die unbeschreiblichen Gräueltaten, die aus Rassismus, Ausgrenzung und Herrschaftsanspruch erwuchsen. Hier wurden die Freiheitsgesetze Gottes, die Juden und Christen miteinander teilen, aufs Schändlichste verachtet. Auch Abertausende Christinnen und Christen haben den Gott Moses‘ und Aarons, die als Säulen des Alten Testaments links und rechts unseres Altars sitzen, und den Juden Jesus Christus mit Füßen getreten. Auch hier in Dresden und an dieser Kirche.

Be-Freiung von Auschwitz? Am Ende der ultimativen Unfreiheit von Freiheit zu sprechen, ist kaum möglich. Es bleibt ein riesiges leeres Feld. Ein Ort, an dem Wiederaufbau unmöglich gemacht wurde. Aber Auschwitz soll uns ein Erinnerungsort; nicht ein Berg Sinai, sondern ein tiefes Tal Sinai sein, das Gottes „Erinnere dich!“ dauernd und laut in die Welt ruft. Das uns heute – gerade angesichts erstarkender rassistischer und freiheitsverachtender Strömungen – die Fragilität von Frieden und Freiheit vor Augen führt.

Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass die Dresdner Frauenkirche nur gut zwei Wochen nach dem Ende des Konzentrationslagers Auschwitz durch den Krieg zerstört wurde, den Deutschland selbst angezettelt hatte. Sie wurde wiederaufgebaut durch den versöhnenden Schulterschluss unzähliger Menschen, der irgendwie ja auch als Gottes Gnade verstanden werden kann.

Der Jude Jesus Christus, Gottes eingeborener Sohn – er kniet menschlich, all zu menschlich, die nahende Kreuzigung sehend, seinen Vater anflehend, in der Mitte des Frauenkirchen-Altarbildes: oberhalb der grob wieder zusammengefügten Bruchstücke des Altartisches, die inmitten allen barocken Glanzes wie Stachel an eigene Schuld und an die Gefahren von Unfreiheit und Zerstörung erinnern. Er kniet auf einem fragmenthaften, zerbrechlichen Fundament, über das keine noch so schön wieder errichtete Kirche hinwegtäuschen kann.

Machen wir es zu unserer persönlichen, gesellschaftlichen und christlichen Praxis, an Gottes gnädige Führung und an seine Freiheitsgebote zu erinnern; das freiheitliche Fundament, das uns Gott anvertraut hat, durch unser Tun und Wirken zu bewahren und zu stärken: an einem Gedenk-Tag wie heute und an jedem Tag und jedem Ort, an dem Menschenrechte mit Füßen getreten werde.

Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“, erinnert uns der gnädige Gott.


Amen.

Hebräers Liste

Predigt gehalten vonFrauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

„Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen; sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ Ein oft gebrauchter Satz, der Antoine de Saint-Exupéry zugeschrieben wird, dem berühmten französischen Piloten und Mystiker, der den „Kleinen Prinz“ geschrieben hat. Der Satz hat seit Jahren Hochkonjunktur in Coachings, Workshops und Seminaren und längst Eingang in diverse Unternehmensphilosophien gefunden. Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass man Menschen nicht gewinnt und motiviert, wenn man sie mit Appellen unter Druck setzt. Es macht allen mehr Freude und lässt sie leichter zum „Werkzeug“ greifen, wenn sie eine Vision vor Augen haben. Dann tut man am Ende auch eher das, was Sinn macht bzw. was im Sinn der Firma ist. Aber eben freiwillig und nicht wie ein Getriebener.

I.

Sehnsuchtsbilder wie solche vom weiten, endlosen Meer, und Visionen setzen Energien frei. In den USA, die als eine Willensnation aus der Kraft von Visionen gegründet wurden und bis heute daraus leben, muss jeder Politiker, der sich um die Präsidentschaft bewirbt, den Leuten möglichst erhabene Visionen präsentieren über ein Amerika, dessen beste Zeit immer erst kommen wird, in möglichst poetischen Sprachbildern. Bei uns ist das bekanntlich völlig anders. Ob Angela Merkel oder erst recht Olaf Scholz - beide würden sich eher die Zunge abbeißen, als in blumigen Worten ihre „Visionen für Deutschland“ auszubreiten und die Leute auf damit einer emotionalen Schiene in Schwung zu bringen. Der dröge Hanseat Olaf Scholz kann sich da ja auch auf seinen legendären Vorgänger und Landsmann Helmut Schmidt berufen, von dem das ebenso legendäre Wording stammt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“

So hätte Helmut Schmidt dem Verfasser des Hebräerbriefs vermutlich einen Arztbesuch nahegelegt. Denn auf eine echte Vision, eine Offenbarung im Wachtraum sozusagen, greift der vorhin gehörte Predigttext aus dieser Schrift zurück. Wenn man ihn so auf sich wirken lässt, dann könnte man glatt auf die natürlich irreale Idee kommen, unsere Unternehmensberater und Personal Coaches hätten ihre Visionskiste aus der Bibel abgekupfert. Allerdings weiß man leider gar nicht, wer den Hebräerbrief, ein Schwergewicht im Neuen Testament, verfasst hat. Man weiß noch nicht mal, an wen er eigentlich gerichtet ist. Sicher ist: Es muss ein hochgebildeter Mensch gewesen sein, sein Griechisch ist das beste, gepflegteste im Neuen Testament. Und er war bestens vertraut mit dem Glauben und der Bilderwelt des alten Israel. Was ihn spürbar umtreibt, ist die Sorge um die zum Christusglauben gekommenen Juden, deren Gemeinden Erschöpfungs- und Resignationserscheinungen zeigen. Es war ja auch frustrierend, 40 oder 50 Jahre, nachdem Jesus Christus seine bald bevorstehende Wiederkunft angesagt hatte, immer noch auf ihn zu warten - und für diesen Glauben nun auch noch Verfolgungen an Leib und Leben auf sich zu nehmen. Da waren viele versucht, zu ihren alten jüdischen Gemeinden zurückzukehren. Die jüdische Religion als traditionelle war im römischen Reich nämlich gesetzlich geschützt - noch.

II.

Am Anfang allerdings stehen keine Visionen und Sehnsuchtsbilder. Wie so oft, wenn Sorgen uns treiben, greift der Verfasser des Hebräerbriefes zu Aufforderungen, zu Imperativen. Kennen wir alle aus dem ff: Zieh dich warm an - fahr vorsichtig, ruf mich an, wenn du da bist - mach jetzt endlich deine Hausaufgaben - geh bitte zum Arzt - nimm endlich mal ein paar Tage Auszeit, du weißt ja, ich meine es nur gut mit dir. Man kann fast im Umkehrschluss sagen: Je mehr Appelle jemand von mir hören muss, desto näher steht sie mir, desto mehr liebe ich sie.

Der Autor des Hebräerbriefs fühlt sich seinen Adressaten emotional tief verbunden. Deshalb beginnt er diesen Abschnitt auch mit lauter Aufforderungen. „Stärkt“, „macht“, „jagt“, „seht darauf“, „seid nicht abtrünnig oder gottlos“, und „ihr wisst ja“. Dabei nimmt der Verfasser das Bilderalbum des Alten Israel zur Hand und blättert auf den ganz alten, schon fast vergilbten Seiten. Alte Gesetze werden in Erinnerung gerufen. Die Psalmen werden zitiert. Der berühmte Esau, der aus der einem Augenblicksbedürfnis heraus den väterlichen Segen und sein Erbe verspielt, wird warnend als Menetekel an die Wand gemalt. Den christusgläubigen Juden, verwurzelt in ihren Heiligen Schriften, werden die Ohren geklingelt haben. So viele Anspielungen! Aber wie das mit Appellen so ist: Sie bewirken oft das Gegenteil. Der Macht eines Bildes kann man kaum entkommen. Negative, unheilschwangere Bilder können eine lähmende Wirkung entfalten. Doch weil der Autor des Hebräerbriefs seine Gemeinden nicht nur liebt, sondern auch ein sehr kluger Mensch ist, weiß er das. Er besinnt sich, obwohl er Antoine de Saint-Exupéry noch nicht kennen kann, und tut, was die Propheten immer schon gerne taten: er stellt eine Vision in den Raum. Etwas freier übertragen und unsere heutige kirchliche Lage im Hinterkopf, lautet sie so:

Wenn du eine Gemeinde bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Strukturen zu entwerfen, Sitzungen vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und Gruppen und Kreise zu bestücken. Stattdessen wecke in ihnen die Sehnsucht nach der großen, ewigen Stadt!

III.

Was steckt da drin? Welchen Mut, welche Energien will der Hebräer-Autor mit dieser Vision bei seinen erschöpften Adressaten freisetzen? Ich lese ihn so: Im Himmel ist die Stadt, in der ihr leben wollt. Kein menschlicher Stadtplaner und Stararchitekt hat sie entworfen und geplant, sondern Gott selbst. Gott ist der wirkliche Richter. Die, unter denen ihr zu leiden hattet, die Täter und Unterdrücker, die werden in diese Stadt nicht reinkommen. Vor ihnen müsst ihr euch dort nicht mehr ängstigen. Woran ihr jetzt schon glaubt, oft mühsam und gegen den Augenschein, das werdet ihr dort erleben. Da werdet ihr vom anstrengenden Glauben ins befreiende, beseligende Schauen kommen. Mit Myriaden von Engeln werdet ihr singen, ihr werdet eure Eltern, Großeltern, Urgroßeltern wiedersehen - und auch alle, die irgendwann nach euch dorthin kommen. Alle eure Vorbilder, die Gerechten unter den Völkern sind schon dort. Der Verfasser nennt sie zu Beginn dieses 12. Kapitels eine „Wolke der Zeugen“. Die Festversammlung wartet auf euch. Jerusalem, die auf Erden zerstörte Sehnsuchtsstadt wird ganz neu aufgebaut sein. Gewalt und Blutvergießen, wie bei Kain und Abel und seither in jeder Menschheitsgeneration, wird es nicht mehr geben. Das einzige Blut, wovon noch die Rede sein kann, ist das Blut, das Jesus vergoss. Für euch. Erinnert euch, wie sehr er die Menschen liebte. Für euch gab er sich hin, und dort werdet ihr ihm begegnen.

Bei diesem Bild kommt mir eine mediterrane Stadt am Abend vor Augen, mit angestrahlten Mauern aus weißem Muschelkalk. Mit dem Geruch von angedünsteten Zwiebeln, Gemüse und hunderterlei Gewürzen. Kerzenschein fällt aus hohen Fenstern auf die Pflaster, Musik dringt aus den Häusern auf die Straßen. Türen öffnen sich immer wieder für Gäste. Für uns sind es Urlaubsbilder. Der Autor unseres Textes sagt seinen Adressaten: es ist nicht nur Urlaub, das wird einmal für immer so sein. Es ist schon für euch gebucht.

IV.

Aber wie konnten die Angeschriebenen hoffen, in dieser Stadt Bürgerrecht zu bekommen? Hier greifen nicht Bonusmeilen o.ä., sondern - Listenplätze. Es ist eine uralte Vorstellung, die hier mit einfließt: Die Namen der Gerechten sind im Himmel notiert. Davon sprach auch Jesus, als er sagte: „Freut euch, dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind“ (Lk 10,20). So war es schon immer: Namen werden genannt und gesammelt, auf Gäste- und Akkreditierungslisten, in Kundenkarteien usw. Was tut man nicht alles, um auf diverse Listen zu kommen. Oder auch nicht zu kommen, wenn es sich um Adresslisten für Werbenewsletter handelt. Namen werden auch notiert, wenn Menschen getauft werden. Nicht nur in den Kirchenbüchern, um der kirchlichen Bürokratie willen. Taufe, das heißt, von Gott beim Namen gerufen und ins Buch des Lebens eingeschrieben zu werden. Unsere Taufe bringt einen rettenden Listenplatz für diese ewige Stadt.

Eine berühmt gewordene Liste, die sich buchstäblich lebensrettend ausgewirkt hat, hängt in der Gedenkstätte Jad Vashem in Jerusalem. Dort ist die gesamte Geschichte der Shoa, der Vernichtung der europäischen Juden dokumentiert. Wenn man als Deutscher durch ihre Säle läuft, ist das kaum auszuhalten. Drei Mal war ich bisher dort. Jedes Mal war es so: Man spricht immer weniger mit denen, mit denen man dort hin ist, damit die Sprache der Täter nicht gehört wird. Am Ende des Elends, am Ende unsagbarer Fotos, Ausstellungsstücke und Dokumente, werden dann auch Zeugnisse von Mitgefühl und Liebe gezeigt. Von den „Gerechten unter den Völkern“, wie sie in Israel genannt werden. Das sind solche, die damals dem Mut hatten, unter Einsatz ihres Lebens Juden zu helfen und retten. In einer Vitrine dort liegen einige vergilbte Papiere. Auf ihnen sind mit Schreibmaschine die Namen der 1.200 jüdischen Arbeiter*innen aufgelistet, die 1944 von einer Emaillefabrik in Krakau ins mährische Brünnlitz umgezogen wurden. Ihre Arbeit war als kriegswichtig eingestuft worden. Damit waren sie dem Zugriff der Vernichtungslager entzogen. Unterschrieben ist die Liste von einem deutschen Fabrikanten. Heute ist sein Name weltbekannt: Oskar Schindler.

Brünnlitz war keine glanzvolle Stadt wie unsere Urlaubsziele am Mittelmeer. Schon gar nicht die ewige Stadt. Aber wer auf die Liste für den Transport dorthin kam, für den änderte sich alles. Er war faktisch vom Tod zum Leben durchgedrungen. Die Liste war nicht Teil von Oskar Schindlers Unternehmensphilosophie, kein Mittel zu einem anderen Zweck, sondern die DNA, der eigentliche Zweck seines Unternehmens. Schindlers Liste - jahrzehntelang nur Eingeweihten ein Begriff, bis Steven Spielberg mit seinem epischen Film sie ans Licht der Weltöffentlichkeit brachte.

Einen Platz im Himmel zu haben, liebe Schwestern und Brüder, ändert auch alles. So ein bisschen wie Schindlers Liste hat sich das wohl für die frühen Christen an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert angefühlt. Der Verfasser des Hebräerbriefes erinnert sie daran. Versäumt nicht Gottes Gnade, wörtlich auch: Gottes Zuneigung. Der ganze Zweck, die eigentliche DNA des Unternehmens Kirche ist eure Ankunft in der himmlischen Stadt. Und darum stärkt die müden Knie und Hände und lauft geradewegs auf dieses Ziel zu. Eure Namen stehen schon auf der Liste.


Amen.

Vom Kult zum echten Leben

Predigt gehalten von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

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Liebe Gemeinde,

Es ist jetzt bald vier Jahre her. Als damals im März 2020 der erste einschneidende Corona-Lockdown auch die Gottesdienste traf, die Orgeln ruhten und die Kanzeln und Kirchenbänke eine Staubschicht ansetzten, da fand eine ganz andere Gemeinde den Weg in die zentral gelegene Innenstadtkirche. Menschen in wirtschaftlicher Not bekamen dort Lebensmittel. Die Kunden der „Tafel“ gingen einzeln durch den Mittelgang, nahmen sich vor dem Altar eine Tasche mit gespendetem Essen und verließen die Kirche durch die Seitentür. Ganz ruhig, besonnen, mit dem nötigen Abstand. Über etliche Monate des damaligen Lockdowns fand die Tafel der norddeutschen Stadt Heimat in der großen evangelischen Kirche am Marktplatz.

I.

So könnte vielleicht aussehen, was Paulus hier mit dem Ausdruck „vernünftiger Gottesdienst“ meint. Eine merkwürdige Wendung. Wir finden einen Gottesdienst schön oder langweilig, tröstlich oder begeisternd - aber haben Sie schon mal gehört, dass jemand gesagt hat: „Das war heute ein vernünftiger Gottesdienst“?? Ich noch nicht. Was ist vernünftig? Für den Aphoristiker Lichtenberg jedenfalls nichts Heiteres. Er sagt: „Die meisten Leute glauben, alles wäre vernünftig, was man mit ernsthaftem Gesicht tut.“ Nun, aus Kindersicht hat der Mann Recht. Wenn uns in der Kindheit von den Eltern mit genervtem Ton gesagt wurde: „Jetzt seid doch mal vernünftig!“, dann bedeutete das stets, dass der Spaß jetzt vorbei ist. Aber ernsthafte Gesichter, die ja durchaus typisch für eine protestantische Gemeinde sind, machen bestimmt noch keinen „vernünftigen Gottesdienst“. Was aber dann? Paulus‘ Antwort hat es in sich: „dass ihr euren Leib hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei.“ Ein herbes Wording! Im besten Fall löst es Bilder aus dem Bereich der Sexualität aus. Aber das hat der alles andere als sinnenfreudige Paulus ganz bestimmt nicht gemeint. Abgesehen davon liefert mir mein Kopfkino Gruselszenen von entmündigten Klosterbrüdern und -schwestern, oder von christlichen Märtyrern, die von Islamisten ermordet wurden. Aber was für Bilder auch immer diese Ermahnung des Apostels in uns auslöst: der Anspruch einer Ganzhingabe ist, wenn wir ehrlich sind, mit unserem milde verbürgerlichten Christentum, das sich mehr in Abstand als in Verbindlichkeit eingerichtet hat, nicht vereinbar. Und überhaupt, wo bleibt da die von uns Protestanten gern beschworene christliche Freiheit? Eigentlich lässt sich dieser Anspruch nur leben, wenn man die sog. Evangelischen Räte ernstnimmt, also Keuschheit, Armut, Gehorsam. Das Gespür für den Graben zwischen biblischem Anspruch und bürgerlicher Wirklichkeit hat der Katholizismus uns voraus. Er ist da ernsthafter, radikaler.

Wie können wir diesen steilen Anspruch, den Paulus hier aufmacht, mit unserem bürgerlichen Leben zusammenbringen, das voller Absicherungen ist, weit weg von echten Opfern? Paulus ist überzeugt: Unser Getauftsein kann nicht dazu führen, dass wir einfach unser privates Glück und Wohl suchen, sondern dass wir Weihnachten, Gottes Kommen in diese Welt weiterschreiben. Oder wie es Jesus gesagt hat: Wir können und sollen Salz der Erde, Licht der Welt sein. Unser Leben soll durchscheinend sein für das ewige Licht, das zur Weihnacht dieser Welt einen neuen Schein gegeben hat. Kein Anspruch für Ängstliche. Aber ist er unerreichbar? Das ist er dann nicht, wenn wir ihn erden. Dazu gibt uns Paulus selbst eine Hilfe, obwohl er so steil formuliert. Denn eigentlich beschreibt er hier den Weg vom Kultischen zum echten Leben. Oder anders gesagt: den Weg heraus aus dem Tempel, also aus der Kirche, in den Alltag. Das Opfer wird nicht mehr kultisch inszeniert, es kehrt in das wirkliche Leben ein, es wird existenziell. Die Zuwendung zum Heiligen, das Kennzeichen des Gottesdienstes, wird fassbar in der Hinwendung zum Mitmenschen.

II.

Religionsgeschichtlich dienen Opferdienste der Besänftigung der Gottheit. In der Bibel finden wir dann das Ende des Menschenopfers: In der grausigen, aber wichtigen Geschichte von der Opferung bzw. Nicht-Opferung Isaaks, und dann natürlich in der Deutung von Jesu Tod am Kreuz als Opfer, das alle weiteren Menschenopfer ad absurdum führt. Paulus gibt diesem Gedanken in unserem Text nun noch einen anderen Spin. Einen durchaus verwegenen. Der religiöse Ernstfall findet nicht mehr im Tempel, also in der gottesdienstlichen Versammlung statt, sondern im Umgang der Gemeindeglieder miteinander, aber auch in der Familie und im Beruf. Und da komme ich noch einmal auf die harte, für viele auch traumatische Zeit während der Pandemie zurück. Denn so gesehen war jene eine Art Probe aufs Exempel für das, worum es Paulus in unserem Abschnitt geht. Als der erste Lockdown auch die Kirchen geschlossen hatte, da waren wir buchstäblich zu dieser Bewegung von innen nach außen, von der Kirche zur Welt, ins richtige Leben gezwungen. Die Gottesdienste konnte gar nicht mehr anders geschehen als außerhalb der Kirchenmauern, und sie wurden, trotz digitaler Andachten, trotz verschickter Predigten etc. mehr und mehr ein Dienst, den die Menschen in den Gemeinden einander gegenseitig getan haben. Im aufmerksameren Wahrnehmen, wer besonders einsam ist, im Einkaufen für alte Nachbarn, in mutmachenden Botschaften oder Telefonaten mit Alten und Kranken, oder mit jungen Konfis, für die es elend war, dass sie sich nicht mehr treffen können.

Was sonntags gepredigt, gebetet und gesungen wird, und was montags dann getan wird, muss also etwas miteinander zu tun haben. Es ist eine bündige - Paulus würde eben sagen: vernünftige, weil sinnhafte - Fortsetzung des sonntäglichen Gottesdienstes in der Kirche, wenn jemand seinen Geschäftspartner nicht übervorteilt, wenn einer den Dauerstreit mit den Nachbarn beilegt, wenn ein dauerschwacher oder schwieriger Schüler nicht aufgegeben wird. Gottes Liebe will sich jederzeit und überall entfalten. Deshalb soll der Gottesdienst nicht nur liturgisch schön und stimmig sein und ein Gefühl der religiösen Wellness hervorrufen - das soll er durchaus auch! -, sondern vor allem soll er auch „alltagstauglich“ sein. Dietrich Bonhoeffer hat kurz vor seinem Tod in einem geradezu prophetischen Wort geschrieben: „Es geht in der Kirche der Zukunft nur um zweierlei, nämlich um das Gebet und um das Tun des Gerechten unter den Menschen“.

III.

Wir sind am Beginn eines Jahres, das von so vielen schwierigen Rahmenbedingungen, von so viel weltweiten Mega-Krisen überschattet ist wie gefühlt seit Jahrzehnten nicht mehr. Das alles greift tief in unser Alltagsleben ein. Und die Ungewissheit, was dieses Jahr uns bringen wird, wann und wie und ob überhaupt wir wieder zu mehr gewohnter Normalität zurückkehren, war vielleicht noch nie so groß und für viele beängstigend wie dieses Jahr. Wie die Jahreslosung, ebenfalls ein Pauluswort: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Kor 16,14) ist auch der markante Anspruch, den Paulus in unserem Text auflegt, an der Stellschraube der Liebe und Barmherzigkeit festgemacht: „Ich ermahne euch aber, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer…“ Die Erneuerung des Denkens, von der Paulus im Folgenden spricht, heißt also, dass wir nicht dem hinterherlaufen, was die Welt als Maßstab setzt. Sondern dass wir der Welt das sagen und in ihr tun, was sie sich nicht selbst sagen kann, sondern so nur wir als Gemeinde Jesu sagen und tun können. Es ist die Erzählung von dem Gott, der uns nicht unseren schuldhaften Verstrickungen, unseren Trostlosigkeiten und Misstrauen überlasst, die immer dort entstehen, wo wir uns selbst an Gottes Stelle setzen und alles für machbar erklären.

„Das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“ ist unterm Strich also das, was dem Erbarmen Gottes entspricht und den Menschen gut tut, ihrem Wohl dient. Und eben das ist „vernünftig“. Es ist also nicht darum vernünftig, weil es jemand mit ernstem Gesicht tut. Sich den vernünftigen Gottesdienst im Alltag der Welt von Gottes Barmherzigkeit selbst vorgeben zu lassen, kann heiter und ausgelassen geschehen. Nach unserem evangelischen Verständnis sind Gotteshäuser wandel- und veränderbar, und Gottesdienste auch, Gottseidank. Die Gemeinde Jesu ist zu Großem fähig, wenn sie Kleine und Schwache in ihre Mitte holt, statt sich nur in kultischer „Feierlichkeit“ zu ergötzen. Wie bei der eingangs genannten Innenstadtkirche in Norddeutschland, die in Corona-Zeiten die örtliche Tafel zu sich holte. Und als die Pandemie und die Lockdowns endlich vorbei waren, konnten auch Kinder wieder auf ihrem Boden spielen, Obdachlose sich in den Gemeindehäusern ausruhen - und Gott nahm sich eine Tasse Kaffee und sah lächelnd zu. „Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“.


Amen.

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe

Predigt gehalten im Neujahrsgottesdienst von
Landesbischof Tobias Bilz

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Liebe Neujahrsgottesdienstgemeinde,

für mich war die erste halbe Stunde die größte Herausforderung.

Ich verrate Ihnen, dass ich mich auch am Experiment zur neuen Jahreslosung beteiligt habe. Bis jetzt habe ich noch nicht öffentlich davon gesprochen. Warum eigentlich? Weil ich mir nicht sicher war, welche Erfahrungen ich damit mache oder ob ich überhaupt damit durchhalte?
Ich bin mir meiner Schwächen bewusst, kenne die Grenzen meiner Fähigkeit zu lieben und mache die Erfahrung, dass gute Vorsätze – zumindest bei mir – überhaupt nicht helfen! Sie bauen sich viel zu schnell wie ein Riese vor mir auf und überfordern meine Kräfte. Ich will aber von der Liebe nicht überfordert werden. Dafür ist sie mir einfach zu schade.

Aber ich wollte ihnen von meiner ersten halben Stunde erzählen.

Es war ein Montag, schon Adventszeit. Ich war in der Bischofskanzlei und dachte: So, Tobias, jetzt gilt es! Stell dich der Herausforderung! In diesem Moment ist etwas passiert mit mir. Ich habe ungeplant und überwältigend stark zwei Dinge empfunden. Zuerst: Das kann ich nicht machen, einfach auf Liebe umschalten. Das geht so nicht. Es ist ein Geschehen, das sich ereignet oder eben nicht. Ich kann und muss natürlich etwas tun – Alles, was ihr tut… – dass es aber in Liebe geschieht, das ist ein Geheimnis. Ich habe in diesem Moment eine ganz tiefe Ohnmacht gespürt. Nicht, weil ich an Menschen gedacht hätte, die für mich nicht liebenswert sind oder an Aufgaben, die ich nur widerwillig tue, Nein! Für mich ist die Liebe eben ein Geheimnis. Wenn es sich nicht offenbart, kann ich es auch nicht machen.
Ich habe dabei empfunden, dass es hier um einen Bereich in meiner Persönlichkeit geht, auf den ich keinen Zugriff habe. Es ist der Bereich der inneren Einstellungen und Motive. Deshalb ganz zugespitzt: Entweder, ich habe dort Liebe und lasse sie einfach in alles einfließen, was mein Leben ausmacht oder ich habe dort keine, dann wird es auch mit Anstrengung nicht gelingen.

Die zweite Empfindung: Die kann ich noch schwerer beschreiben. Ich habe gedacht: Dieser Satz ist eine Provokation! Mir kam es so vor, als ob mich das Wort Gottes zum Duell herausfordert – es war, als ob eine Person vor mir steht, die mit mir kämpfen will. Für mich war es der Jakobus. Das überrascht sie wahrscheinlich. Es gibt einen Brief von ihm in der Bibel. In diesem Brief ermahnt er: Kommt mir nicht mit eurem Glauben, ich will eure Taten sehen! Jakobus schreibt, dass er mir und uns den Glauben nicht glaubt, wenn er nicht in Taten mündet. Jakobus ist der Apostel der Forderung.

Das hat mich in ein großes Dilemma gebracht. Es gilt zu handeln, die Liebe aber kann ich nicht machen. Liebe und Pflichterfüllung bekomme ich nicht zusammen. Ich habe sofort die Waffen gestreckt. Jakobus hatte gewonnen, bevor wir so richtig zu Kämpfen begonnen hatten.

Aber damit war die Sache für mich nicht erledigt. Ich hatte ja die Neujahrspredigt vor der Brust und wollte unbedingt eine ermutigende Botschaft für sie gewinnen. So habe ich den Text weiter meditiert und siehe da, es hat sich eine ganz kleine Tür aufgetan, durch die ich zum Jahresanfang gehen will:

Es geht hier nicht um besondere Taten, mit denen ich einem Anspruch gerecht werde. Noch genauer: Die Tat wird eigentlich gar nicht erwähnt! Die ganz wörtliche Übersetzung lautet: Alles von/bei euch geschehe in Liebe! Alles ist einfach alles! Nichts in eurem Leben soll von der Liebe ausgeschlossen sein. Damit wird die Liebe zum Resonanzraum, in dem sich alles abspielt. Resonanzraum, damit meine ich die uns umgebende Atmosphäre. Die Frauenkirche hier in Dresden ist zum Beispiel ein Resonanzraum. Sie schafft eine bestimmte Atmosphäre. Sie wird natürlich geprägt durch Worte und Taten – hier etwa durch die Musik. So stelle ich mir den Resonanzraum der Liebe vor. Er umgibt mich und setzt sich zusammen aus dem, was wir an Liebe mitbringen und was an Liebe von uns ausgeht.
Wir bestimmen gemeinsam die Atmosphäre, in der wir leben und in diesem Jahr soll uns das besonders bewusstwerden. Dazu dient die Jahreslosung! Dieser Vers ist nicht nur gedacht als persönliche Handlungsanweisung, sondern als Maxime für die Gemeinschaft! Dort, wo wir sind, soll ein Resonanzraum der Liebe entstehen. Wir bleiben also gefordert.

Die Liebe hat aber auch mit Gott zu tun. Sie kommt aus seiner Welt. So helfe ich mir gegen den kämpferischen Jakobus mit einem anderen Briefeschreiber aus der Bibel. Johannes, seinem ungleichen Bruder: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Für mich ist der Resonanzraum der Liebe mit der Gegenwart Gottes verbunden. Wie wunderbar, wenn man diesen Satz als Trauspruch hat.

Übrigens: Drei weitere Sätze unserer Challengeteilnehmer*innen haben mich besonders angesprochen. Frau Huntczek sagt: „Ich glaube, dass viel mehr Liebe in der Welt ist, als wir vielleicht denken.“ Herr Pontius beschreibt das Geheimnis der Liebe mit Hilfe eines „Mantels aus Segen“, der ihn in einem besonderen Moment eingehüllt hat und Frau Parade hat festgestellt, dass Liebe und Stress nicht zusammenpassen. Nein, ich muss es genauer zitieren: „In der Liebe sein“ und Stress sind wie zwei Pole, die sich abstoßen.

Liebe Neujahrsgemeinde,

mir hat sich eine ganz kleine Tür aufgetan, durch die ich mit der Jahreslosung gehen will. Hinter der Tür liegt für mich der Resonanzraum der Liebe. In diesem Raum möchte ich leben, und ihn mit anderen gemeinsam einrichten. Gott ist schon da.
Wenn es stimmt, dass genug Liebe in der Welt ist, brauche ich sie jedenfalls nicht mühsam herbeiführen.

Ich will mit dieser Einsicht meinen Lebensraum im neuen Jahr gestalten und den vielen Lieblosigkeiten, die es auch gibt, nicht gestatten, mein Leben zu bestimmen. Könnten wir uns in diesem Anliegen verbinden? Sie sollen wissen, wie ich es meine. Deshalb möchte ich ihnen ein Beispiel erzählen, wie es gehen könnte:

Mir ist es in diesen Tagen passiert, dass ich mich so sehr über jemanden geärgert habe, dass ich mich ihm gegenüber verschlossen habe. Verschlossen heißt bei mir, dass ich innerlich sage: „Jetzt ist Schluss!“ Bei der nächsten Begegnung habe ich ihn mit steifer Hand begrüßt. Mein Blick war kühl. Die gemeinsame Zeit in einer Besprechung war dann so, wie sie eben ist, wenn man nur noch „ganz sachlich“ ist, Augenkontakt eher meidet und kein Wort zu viel sagt. Danach habe ich mich vor allem unwohl mit mir selbst gefühlt. Was wird aus mir werden, wenn ich auf diesem Weg weitergehe? Beim nächsten Treffen habe ich mich wieder bewusst geöffnet. Ich habe die Erleichterung bei meinem Gegenüber gespürt. Da war tatsächlich eine Resonanz. Wir sind wieder zusammen unterwegs. Jetzt ist es auch möglich zu reden, ohne Vorwürfe, stattdessen mit der Zuversicht, dass Raum und Zeit da sind, um sich zu verständigen.

Was wäre, wenn wir das gemeinsam üben? Uns gegenseitig immer wieder eine neue Chance einräumen?

Wie gesagt, die erste halbe Stunde war für mich die größte Herausforderung. Ich fühlte mich richtig unter Druck. Dann habe ich mich entschieden, aus der Jahreslosung eine Parole zu machen. Eine Selbstaufforderung, die eigentlich nur helfen soll, mich an all das zu erinnern, was mir bewusst geworden ist. Also meine Parole lautet: “Aus Liebe!“

Damit gehe ich jetzt schon eine ganze Weile. Aus der Challenge wird ganz langsam eine Gewohnheit. Mein Unterbewusstsein jedenfalls fängt an zu glauben, dass ich es wirklich will. Und es macht mit, immer häufiger.
So bin ich sehr zuversichtlich. 2024 kann wirklich zu einem Jahr der Liebe werden. Ja, es ist eine Challenge. Gemeinsam und mit Gottes Hilfe könnte es die schönste Herausforderung werden, die vor uns liegt.

AMEN.

Ältere

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