Der Ruf aus der Tiefe

Er ist gottesdienstlicher Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk zugleich: der Altar in der Unterkirche. Ein Stein des Anstoßes, auch für Fragen zur Entstehung, zu Funktion und Botschaft.

von Grit Jandura

Wenn Besucher die Unterkirche betreten, richtet sich ihr Blick schnell auf den schwarzgrauen Monolithen in der Mitte des Raumes. Deutlich hebt er sich ab vom ansonsten vorherrschenden Sandsteinton des Bodens, der Wände und des Gewölbes. Der Altarstein steht genau da, wo die vier Arme der griechischen Kreuzform der Unterkirche aufeinandertreffen, direkt unterhalb des Scheitelpunktes des Kreuzgewölbes.

Der ungleichmäßig behauene Quader wirkt wuchtig, dennoch ist er nahbar. Menschen haben keine Scheu, an ihn heranzutreten und seiner Aussage nachzuspüren. Die ist keineswegs offensichtlich; und das ist gewünscht. »Ich mag die Idee, dass Dinge nicht so sind, wie sie zunächst scheinen«, sagt Anish Kapoor, einer der weltweit angesehensten Künstler unserer Zeit. Er schuf den Stein 1996.

1954 in Mumbai als Sohn eines indischen Hindu und einer irakischen Jüdin geboren, wuchs er zwischen Kulturen und Religionen auf und zog daraus Inspiration und Kraft. Bereits als Teenager wandte er sich der Kunst zu und ging nach einigen Jahren in einem israelischen Kibbutz zum Studium nach England. Dort lebt er seither. In seinen vielfach preisgekrönten Arbeiten widmet er sich den großen Themen der Existenz und arbeitet dabei mit Gegensätzlichkeiten: grelle Farben oder tiefstes Schwarz, spiegelnde Reflexionen oder lichtverzehrende Oberflächen. Indem Anish Kapoor den Auftrag für einen Altarstein der Unterkirche annahm, schuf erstmals seit 1945 wieder ein Künstler mit jüdischen Wurzeln einen Altar für eine deutsche Kirche.

Intensive Auseinandersetzungen

Dass es in den zu einer Unterkirche umzugestaltenden früheren Grufträumen der Frauenkirche einen Altar geben solle, stand bereits zu Beginn des Wiederaufbaus fest. Der Umsetzung gingen jedoch zahlreiche Gespräche voraus, weil es sich um eine neue Deutung eines historischen Ortes handelte. »Mit der modernen Gestaltung eines Altars, den es an dieser Stelle ja nie gegeben hatte, wollten wir ein Zeichen aus der Zeit setzen, in der die Frauenkirche originalgetreu rekonstruiert wurde«, erläutert Landeskonservator i. R. Prof. Gerhard Glaser. Er gewann Anish Kapoor für das Projekt. Mit ihm sowie mit Stiftungsverantwortlichen, Architekten, Denkmalpflegern und Kirchenvertretern galt es, viele Fragen zu klären. Wo sollte der Altar platziert und woraus gefertigt werden? Sollte er Bezüge zum Bährschen Raum aufweisen oder ein Kontrastpunkt sein?

Über den Standort in der Mitte des nach allen Himmelsrichtungen ausstrahlenden Raumes bestand schnell Einigkeit. Die Bedeutung der liturgischen Funktion ließ das Argument, ein mittiger Stein wäre bei der konzertanten Nutzung der Unterkirche nachteilig, zurückstehen. Auch das Verdecken des historischen Lotpunktes Bährs, den man in den Fundamenten gefunden hatte, wurde akzeptiert. Kontroverser diskutiert wurden Material und Form. Um als eigenständiges neues Element erkennbar zu sein, schlug Anish Kapoor Kalkstein vor. Dieser Naturstein aus dem irischen Kilkenny ist in seiner unbearbeiteten, natürlichen Form mattgrau und grob, kann aber durch eine spezielle Bearbeitung auch poliert und tiefschwarz erscheinen. Für den Altar der Unterkirche kombinierte Kapoor schließlich beides. Die Altarmensa gestaltete er als glatte Fläche mit einer markanten trichterförmigen Vertiefung. Die Seiten beließ er naturhaft rau.

Im Mai 1996 erreichte der Rohstein die Baustelle. Kurz vor dem Schließen des Hauptgewölbes der Unterkirche wurde der 11 Tonnen schwere Block mit einem Kran hinabgelassen. Im Juli begann Anish Kapoor dann mit den künstlerischen Arbeiten. In den Dienst gestellt wurde der Altar am 21. August 1996 mit der Weihe der Unterkirche. Landesbischof Volker Kreß ging in seiner Predigt auch auf die Mehrdeutigkeit des zu diesem Zeitpunkt noch unfertigen Monolithen ein. Er provoziere zum Nachdenken, verdeutliche aber, was zur Tiefe unseres Glaubens gehört. Man könne ihn als an die Erde gelegtes Ohr verstehen, »auf der Suche nach Herztönen in einer herzlosen Zeit«. Oder aber umgekehrt als »Verstärker, der die Rufe aus der Tiefe an Gottes Ohr bringen möchte«. Es steht allen Besuchern frei, ihre eigene Deutung hinzuzufügen.