Ein Tag der Befreiung!?

Protestantische Gedanken zum 8. Mai 1945

von Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt

80 Jahre ist es heute her. Mit der Unterschrift von Generalfeldmarschall Keitel, Oberkommandierender der Wehrmacht, unter die Kapitulationsurkunde im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst nahm das „Dritte Reich“, das mit dem dröhnenden Anspruch angetreten war, „tausend Jahre“ zu währen, nach 12 Jahren sein verdientes Ende unter den Trümmern und dem Schutt, die es über die Welt gebracht hatte. Während der 8. Mai in Deutschland-Ost als feierlich begangener „Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ zeitweise sogar ein gesetzlicher Feiertag war, führte er in Deutschland-West über Jahrzehnte ein tristes Schattendasein. Er wurde nicht be-, sondern übergangen: nicht als Tag der Trauer oder des Gedenkens, auch nicht als Tag nachdenklicher Dankbarkeit, dass der schrecklichste Krieg der Menschheitsgeschichte mit über 60 Millionen Toten und eines der grausamsten Regime endlich vorüber waren. Am besten nicht drüber reden: das war die subkutane Devise, mit der man in der BRD Jahr für Jahr den 8. Mai verstreichen ließ.

Es gab dort ja über die Jahrzehnte vieles andere, wichtigere zu tun. Das Wegräumen der Trümmer. Die Gründung eines neuen (bundes)deutschen Staatswesens. Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder. Die Rückkehr in die Völkergemeinschaft als respektierter Teil mit dem Beitritt zur UNO als Höhepunkt. Die ständige Furcht vor und Auseinandersetzung mit „Sowjetrussland“ und seinem anderen Teil Deutschlands. Ab 1970 aber auch die zunächst erbittert umstrittene, dann aber von allen Parteien getragene Annäherung an den „Ostblock“ auf der Basis partnerschaftlicher Verträge. Das alles ließ wenig Zeit zum Bedenken deutscher Schuld und Verantwortung.

Befreiung und Erinnerung

40 Jahre ging das so. Dann kam der 8. Mai 1985. Mit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, damals erst ein Jahr im Amt. Dass von den bis heute zwölf Bundespräsidenten zehn Protestanten waren, die meisten von ihnen stark im Glauben verwurzelt und in ihrer Kirche aktiv: Das ist kein Zufall, wie schon oft bemerkt worden ist. Für Protestanten ist das Wort (Gottes) die eine und einzige unser Gewissen verpflichtende Instanz. Daher der überragende Stellenwert der Predigt in der evangelischen Kirche, deshalb nennt man sie „Kirche des Wortes“. Leitung auf evangelisch vollzieht sich „sine vi sed verbo“, sagen unsere Bekenntnisschriften: ohne institutionelle Machtbefugnisse, allein durch die Überzeugungskraft des Wortes.

Genau so gestaltet sich auch die Aufgabenbeschreibung für das Amt des Bundespräsidenten, wie unsere Verfassung es sich gedacht hat. Das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik hat kaum operative Macht, er bestimmt keine Richtlinie der Politik. Aber er kann durch die Kraft seines Wortes einen Einfluss auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen ausüben, der gar nicht zu unterschätzen ist. Bei etlichen Bundespräsidenten gibt es Beispiele dafür, die bis heute nachwirken. Aber bis heute hat wohl keine präsidiale Rede eine so starke Langzeitwirkung entfaltet wie Weizsäckers Rede zur 40jährigen Wiederkehr des 8. Mai, die er im Bonner Bundestag hielt. Es gibt „große Reden“, die weniger durch ihren Gesamtduktus in die Geschichte eingehen, als vielmehr durch einen einzigen, oft lakonisch knappen Satz. An Kennedys „Ich bin ein Berliner“ 1963 denken da viele, und natürlich an M.L. Kings „I have a dream“ ein Jahr zuvor in Washington. So auch bei Richard von Weizsäcker. Es war ein einziger, einfacher Satz, der seine 8. Mai-Rede historisch werden ließ: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“.

Man kann sich heute schon ein wenig verwundern, warum dieser knappe Satz damals als so bedeutsam empfunden wurde. Aber heute ist der Abstand 80 Jahre, mehr als drei Generationen. 1985 gab es noch zig Millionen Zeitzeugen, die mit dem Erlebten unterschiedlichste, auch einander widerstreitende Erfahrungen und Narrative verbunden haben. Damals gehörte zu dieser klaren, eindeutigen Feststellung „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ noch Mut. Richard von Weizsäcker hat den Preis für diesen Mut zu spüren bekommen, mit Widerspruch und Unverständnis, auch aus seiner eigenen Partei. Nicht nur dort waren viele der Überzeugung: Der 8. Mai als Tag der Kapitulation Deutschlands war ein Tag der Niederlage, da gibt es nichts zu feiern - weshalb sie Weizsäckers Satz als viel zu positiv und eine Tragödie verkleisternd kritisierten. Aber es war doch auch damals schon so, dass eine Mehrheit der Deutschen dankbar war für dieses Aussage aus dem Mund des „Ersten Bürgers“. Viele atmeten auf, die Luft wurde frischer und freier in Deutschland-West.

„Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“: der Satz aus dem Talmud, zu Gedenkanlässen oft erinnert, bekam durch Weizsäckers Rede, in der er auch zitiert wurde, einen konkreten, befreienden Sitz im Leben. Das Erinnern und Aussprechen dessen, was deutsche Schuld war, die weder durch historische Vergleiche zu relativieren noch durch tiefsinniges Geraune wegzurationalisieren ist, machte die zweite deutsche Republik frei, „ein Volk der guten Nachbarn“ (Willy Brandt) zu werden, Frieden und Versöhnung zu suchen und zu leben mit „Erbfeinden“ in Ost und West. Als „gelernter Westdeutscher“ möchte ich hinzufügen: Bei manchem, was kritisch über sie gesagt werden muss - es ist das große, bleibende Verdienst der 1968er, dass die als erste eben diese Frage zum Thema der öffentlichen Debatte gemacht hat. Dass unser Land inzwischen weltweit für seine Erinnerungskultur respektiert wird, ist nicht zuletzt den „Achtundsechzigern“ zu danken.

Befreiung – aus dem Heute betrachtet

Aber das ist 40 Jahre her. In seinem damaligen Kontext war es, denke ich, richtig und notwendig, es so klar auszusprechen: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“. Heute allerdings unterliegt auch dieser Satz der Dynamik der Historisierung. Diese schärft den Blick dafür, dass er „objektiv“ wohl nicht so wahr ist, wie er damals von der Mehrheit der Deutschen empfunden wurde. Denn wer wurde eigentlich am 8. Mai von den alliierten Siegermächten befreit? Die Deutschen als Volk, wie es Weizsäckers Diktum nahelegte? Doch wohl nicht. „Die“ Deutschen waren nicht Hitlers Opfer und Geiseln. Sie hatten ihn bei den letzten freien Wahlen mit beträchtlicher Mehrheit gewählt, und eine Mehrheit von ihnen, das gilt heute als historisch gesichert, stand bis in die letzten Kriegsmonate hinter dem „Führer“. Auch deshalb haben ja noch Jahrzehnte danach viele Deutsche den 8. Mai negativ konnotiert.

Befreit hat dieser Tag in erster Linie jene, die unter dem NS-Faschismus zu leiden hatten, weil sie verfolgt und an Leib und Leben bedroht waren. Die Insassen der KZs und Arbeitslager vor allem, die Millionen Fremdarbeiter, die verschwindend wenigen Juden, die am Leben geblieben waren (exemplarisch für sie das Geschick des Dresdners Viktor Klemperer!) - aber auch jene, die mit größtem persönlichen Mut an je ihrem Ort versucht hatten, sich der NS-Ideologie zu widersetzen. All diese wirklich verfolgten und durch die Kapitulation befreiten Gruppen waren numerisch aber eben eine Minderheit. So gesehen kann man von heute her - vielleicht nicht moralisch, aber historisch - doch auch verstehen, warum Weizsäckers Feststellung vor 40 Jahren auch auf viel Widerspruch stieß und polarisierte. Vielleicht müsste man - vorsichtiger - so formulieren: Der 8. Mai 1945 war für die wirklich Verfolgten ein Tag der Befreiung. Für die Mehrheit war er ein Tag der Erleichterung, dass der Krieg vorüber war, aber eben auch ein bitter empfundener Tag der Niederlage, des gefühlten Untergangs des eigenen Landes. Der 8. Mai 1985 war ein Tag der Befreiung - für die Mehrheit der Deutschen, weil Richard von Weizsäcker erstmals historische Tatsachen klar und unmissverständlich ausgesprochen hatte, die bis dahin eher beschwiegen oder relativiert worden waren.

Aus protestantischer Perspektive

Ein protestantischer Blick auf diesen Tag kann schließlich eines nicht ungesagt lassen. Zur Redlichkeit des Erinnerns, die erst den Boden für Versöhnung bereitet, gehört die unkaschierte Feststellung, dass der deutsche Protestantismus sein Teil zur deutschen Schuld, die in den 8. Mai 1945 mündete, beigetragen hat. An dieser protestantischen Schuld tragen wir weiter. Hitler ist ja nicht als Dämon von außen über die Deutschen gekommen. Sein Aufstieg hatte viele Ursachen, die gut erforscht sind. Dazu gehört nicht zuletzt, dass die erste deutsche Republik, wie oft gesagt worden ist, eine Republik ohne Republikaner war. Vor allem das Bürgertum, in seinen staatstragenden Eliten protestantisch dominiert, blieb nationalistisch gesinnt und kaisertreu bis ins Mark. Es lehnte Demokratie und Parlamentarismus innerlich ab (anders als die überwiegend in den unteren Schichten angesiedelten Katholiken). Nach der Machtergreifung brachen die meisten evangelischen Landeskirchen, ihrem Status als Staatskirchen hinterher trauernd, schnell zusammen. Die „Bekennende Kirche“ blieb eine Minderheit. Und innerhalb ihrer war ein Theologe wie Dietrich Bonhoeffer ein Einzelgänger in dem, was er 1934, ein Jahr nach der „Machtergreifung“ bei einer ökumenischen Konferenz auf der dänischen Insel Fanö aussprach:

„Friede soll sein, weil Christus in der Welt ist, d.h. Friede soll sein, weil es eine Kirche Christi gibt, um deretwillen allein die ganze Welt noch lebt. Und diese Kirche Christi lebt zugleich in allen Völkern und doch jenseits aller Grenzen völkischer, politischer, sozialer, rassischer Art. Diese Brüder durch Christus gehorchen seinem Wort und zweifeln und fragen nicht, sondern halten sein Gebot des Friedens und schämen sich nicht, der Welt zum Trotz sogar vom ewigen Frieden zu reden. Sie können nicht die Waffen gegeneinander richten, weil sie wissen, dass sie damit die Waffen auf Christus selbst richteten. Noch einmal darum: Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört, zu hören gezwungen ist? Der einzelne Christ kann das nicht - er kann wohl, wo alle schweigen, die Stimme erheben und Zeugnis ablegen, aber die Mächte der Welt können wortlos über ihn hinwegschreiten. Die einzelne Kirche kann auch wohl zeugen und leiden - ach, wenn sie es doch täte -, aber auch sie wird erdrückt von der Gewalt des Hasses. Nur das eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“

Solche Worte waren damals Lichtjahre dem voraus, was in den Kirchen von Krieg und Frieden gesagt und gelehrt wurde. Und auch heute noch bleiben wir weit hinter dem zurück, was Bonhoeffer mit großer geistlicher, prophetischer Kraft als „biblische Zeitansage“ formulierte. In den 1980er Jahren, als die waffenstarrende Konfrontation zwischen Ost und West als Bedrohung des Weltfriedens empfunden wurde, formulierte Richard von Weizsäckers Bruder, der Philosoph Carl-Friedrich von Weizsäcker, einen leidenschaftlichen Appell an alle relevanten christlichen Kirchen, ein weltweites ökumenisches Friedenskonzil einzuberufen. Der Ruf stieß in den Kirchen auf wenig Resonanz, er verhallte.

So gesehen ist der 8. Mai, bei aller Dankbarkeit für die damals geschehene Befreiung von Krieg und Terror, für meine evangelische Kirche kein Tag der Freude, eher ein Tag des Nachdenkens und ja, auch der Buße. Wir wissen hoffentlich um Mitschuld und Verantwortung. Wir schöpfen aber Hoffnung aus Gottes Barmherzigkeit, von der wir leben, und die unendlich weiter reicht als unsere Vorstellungskraft. „Die Güte des Herrn Ist’s, dass wir nicht gar aus sind. Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß“ (Klagelieder 3,22).

Turmkreuz der Frauenkirche Dresden als Zeichen für Frieden und Versöhnung | Foto: Gunnar Baumann