Ein stadtbildprägender Zentralbau

George Bährs Innenraum der Frauenkirche ist ein zeitloser Raum. Ein Kirchraum mit Altar, Kanzel, Taufstein, Orgel und Sitzplätzen. Ohne zusätzliche Ausstattung, nur gestalteter Raum, gestaltetes Material, gestaltete Oberflächen in variierenden Formen, Farben und Licht.

von Dipl.-Ing. Thomas Gottschlich, Architekt

Für die Raumwahrnehmung gibt es nicht, wie Martin Struck es 2004 richtig beschrieb, wie beim Hören oder Sehen ein eigenes Organ. Jedem Menschen stehen dafür vielmehr Bilder aus seiner Erfahrung zur Verfügung, die sich auf Basis des entscheidenden Faktors Licht zu Raumeindrücken zusammensetzen. Gleiches gilt für die Raumerfahrung. Ohne das Erfahren durch Begehen, Sitzen oder Stehen, das Wahrnehmen von Begrenzungen und Erweiterungen sowie der eigentlichen Akustik des Raumes können wir uns den Raum nicht vollständig erschließen. Folglich gibt es keine einheitliche Auffassung, wie ein bzw. auch dieser Raum aufzufassen ist. So beginne ich ihn zu beschreiben.

Ein Miteinander aus Nähe und Weite

Neuartig an der Grundrissanordnung der barocken Frauenkirche über dem griechischen Kreuz ist die Wölbung der Innen- und darüber der Hauptkuppel über dem gesamten Gemeinderaum. Das kleine Baufeld, das George Bähr zur Verfügung stand, gab den Ausschlag für die Zentralbauform, die in der Renaissancezeit aufgrund ihrer gestalterischen Einheit und Ruhe als die Idealform galt. Die Kirchen, die stets in Zusammenhang mit der Frauenkirche genannt werden und etwa zeitgleich, jedoch mit anderen Wölbkonstruktionen entstanden sind, haben auf der Basis des lateinischen Kreuzes Sitz- und Gewölbeanordnungen ganz im Sinne der barocken, auf Bewegung ausgerichteten Bauweise.

Hier in der Frauenkirche richtet sich die Gemeinde auf fünf bis sechs Ebenen übereinander ein und an dem vom Altar vorgerückt und gegenüber dem Kirchenschiff erhöht in der Lesekanzel stehenden Pfarrer aus. Nur wenige Plätze gibt es, von denen aus der Besucher den Pfarrer nicht sehen kann. Der Pfarrer in der Lesekanzel geht einen deutlichen Schritt auf die Gemeinde zu, die Gemeinde formiert sich um sein Wort. Übt der Pfarrer sein Amt am Altar aus, entzieht er sich ihr wieder ein wenig zugunsten seines Gesprächs mit Gott. Es entsteht Nähe und Weite.

Ebenso bei den Emporen. Sie sind integraler räumlicher Bestandteil des Innenraums. Je höher sie angeordnet sind, desto mehr treten sie zwischen die Pfeiler zurück und bilden eigene, auch akustische Räume, teilweise mit eigenem Gewölbe und mit unverwechselbaren Blickbeziehungen in die Innenkuppel und den Kirchraum.

Geht der Blick vom Kirchenschiff hinauf, so rahmt die Gemeinde den Weg nach oben ins Helle. Blickt man von den Emporen hinunter, weitet sich der Raum und der Zentralraum erhält neue und tiefere Dimensionen. Gerade die Hauptfenster spielen hier eine bedeutende Rolle. Nahezu gleich groß verteilen die Fenster in den Nebenachsen ebenso viel Licht, nur eben seitlich und indirekt, so dass die Hauptfensterachsen noch heller erscheinen. Dazu stellen sich je nach Tages- und Jahreszeit Helligkeit und Dunkelheit ein und verändern die Wahrnehmung.

Auf der horizontalen Achse vom Eingang D bis zum Altar entwickelt sich das liturgische Ausstattungsprogramm, das vom Eintreten in den Gemeinderaum über die Lesekanzel und den Taufstein zum gestalterischen wie inhaltlichen Höhepunkt, dem Altar-und Orgelprospekt, führt. Wort und Musik stehen neuerdings gleichberechtigt an einem Ort. Tritt das Wort hervor, ruht die Musik. Spricht die Musik, tritt das Wort zurück. Oder beide treten hörbar zusammen hervor, in den Raum hinein und auf die Gemeinde zu. Oder beide schweigen und lassen den Altar-/Orgelprospekt zum stillen Ort des Betrachtens werden. Unterschiedliche Aufgaben werden hier gestalterisch-künstlerisch an einem Ort verbunden und lösen bekannte Sichtweisen und Trennungen auf.

Räume aus Licht

Schaut man entlang der Vertikalachse in die Innenkuppel, durch sie in die Hauptkuppel hinein und bis zum Laternendach hinauf, sieht man Räume, die zunächst noch durch das an die gotische Vorgängerkirche erinnernde Bildprogramm der Evangelisten bestimmt wird. Nicht mehr plastisch, aber illusionistisch wird die farbige Oberfläche bis zum inneren Laternenhals hochgeführt. Schnell aber entstehen neue Räume aus Licht, Räume zum Licht hin, Gedankenräume, die der eigenen Wahrnehmung entspringen. Dieser Raum schreibt Ihnen keine bestimmte Art der Wahrnehmung vor. Ihre kann sich entfalten, jedes Mal neu und jedes Mal anders.

Die leise Bewegung in dem auf Ruhe und Gleichmäßigkeit ausgerichteten Raum wird durch die Farbigkeit unterstützt. In erdigen Farben ist der Innenraum gehalten. Das Aufstreben der Pfeiler wird durch die wiederholende Gestaltung der Emporenbrüstungen aufgehalten und in harmonischen Einklang gebracht. In der horizontalen Farbenentwicklung tritt Gold noch sehr verhalten von der Chorschranke sich zum Altar hin steigernd als höchste Farbwertigkeit im Innenraum in Erscheinung. Ebenso in der vertikalen Entwicklung beginnt sich das Gold von den Rosetten bis hin zum Innenkuppeldruckring zu steigern. Nur dort also, wo sich das Höchste auch im liturgischen Sinn befindet, am Altar-/Orgelprospekt und bei den Evangelisten-Darstellungen.

In diese wiederhergestellte historische Farbigkeit hat die Gemeinschaft der am Wiederaufbau Beteiligten das Leitmotiv für den Wiederaufbau des damaligen Landesbischofs: „Die geheilte Wunde zeigen“ eingewoben und tiefergehende Sichtweisen zugelassen. Am Altar und an den wenigen Stuckresten im Altarraum sind historische Zustände teilweise bis in die Mal- bzw. Goldfassung erhalten geblieben und konserviert in die umliegende Neufassung integriert worden. Mit guten Augen oder auf den zweiten Blick, beim näheren Herantreten kann man sie erkennen. Damit wird die Geschichte dieses Ortes auf anschauliche Art und Weise mit der Gegenwart verknüpft und für alle Zeiten gesichert, ohne Einschränkung der gewünschten liturgischen Aussage.

Hören wir uns um. Die Frauenkirche ist ein Zentralraum, der sehr direkt in Resonanz mit der dargebotenen Musik tritt. Es reichen nur wenige Singstimmen im Altarraum oder ein tiefer gestimmtes Soloinstrument aus, und schon entfaltet sich der nuancenreiche Hörraum. Im anderen Fall, mit vielen Musikern, will der Raum verstanden sein, um auch ein klanglich überzeugender Resonanzkörper zu werden.

Gebaute Geborgenheit

Die Frauenkirche kann über sieben Portale betreten werden. Bähr hat die Kirche von allen Seiten bis auf die östliche zugänglich gemacht. Ein offenes Haus, ein Ort des sich Versammelns, der Einkehr und der Besinnung auf das Wesentliche, eine Begegnungsstätte mit Gott und mit sich selbst. George Bährs Frauenkirche ist gebaute Geborgenheit, ist gebautes Zusammengehörigkeitsgefühl. Auch wenn die Kirche nicht voll besetzt ist oder Sie sich allein hier im Kirchraum befinden, das Gefühl, verloren in einem großen Raum zu sitzen, gibt es hier nicht.

Dieser Kirchenbau, der bautechnisch mutig aus regionalem Sandstein errichtet wurde, entstand nicht vorrangig als zeitgemäßer Ausdruck des Selbstverständnisses seines Auftraggebers – dem Rat der Stadt Dresden- oder gemäß der damaligen bestimmenden liturgischen Auffassung der protestantischen Kirche, sondern er wurde als Haus Gottes für die Menschen der inzwischen zu groß gewordenen Gemeinde außerhalb der ehemaligen Stadtmauern gebaut. Als ein Raum, in dem sich die Gemeinde versammeln und geistliches Wort und Musik hören konnte.

In der Frauenkirche sind Stille und Weite, Nähe und Distanz, Helles und Dunkles, Sichtbares und Unsichtbares, Begreifbares sowie Nichtwahrnehmbares, Licht und Schatten, begrenzte Räume und sich ausdehnende Räume. Alle Aspekte des Seins sind gebaut vorhanden. Der Innenraum der Frauenkirche damals wie heute ist ein zeitloser Raum.

 

Der Text entstand anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 350. Geburtstag George Bährs.